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Turambar
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Mannheim


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  RE: Unter fremden Monden Datum:06.07.11 19:35 IP: gespeichert Moderator melden


2.


Alfons Basstong stand vor dem hübschen kleinen Vorstadthäuschen, die Hände in den Hosentaschen. Genau soetwas suchte er für sich und seine Lieben inzwischen schon seit fast zwei Jahren. Als ihm Yildiray Torun mit zwei Pappbechern voll dampfendem Kaffee entgegenkam, hellte sich seine Stimmung auf. Leider nur vorübergehend.

Im Vorbeigehen kam ihm zunächst der Name auf dem Klingelschild vage bekannt vor. Als er dann zusammen mit Torun die Einsatzstelle in Augenschein nahm, verstärkte sich das Unbehagen, das ihn in letzter Zeit immer öfter beschlich, wenn sich eine ermüdende und lange Ermittlung mit unbefriedigendem Ausgang andeutete. Hier, in diesem schönen kleinen Haus, dessen Einrichtung eine gemütliche, helle Stimmung ausstrahlte, war dieses Gefühl besonders stark. Der offene, ansprechende Wohn – und Kochbereich, Fliesen und Teppiche in warmen Farben, dazu die nicht wirklich teure, aber dezent individuelle Einrichtung kontrastierten brutal mit den Angestellten der Spurensicherung in weißen Overalls mit ihren Plastikbeuteln, den Kameras, dem abgedeckten Körper im Raum.

Basstong bekam von seinem älteren Kollegen zwei Ausweise gereicht. Er warf einen kurzen Blick darauf, starrte erneut die Leiche an, um anschließend einen genaueren Blick auf die Papiere zu werfen. Als er die Namen einordnen konnte, pfiff er leise durch die Zähne.

„Mommsen, Claire und Mike. Das war das Grab, richtig? Die Eltern des Mädchens, das nur ein paar Tage gelebt hat. Wer liegt unterm Tuch, Yildiray?“
„Keiner von den Beiden.“
„Aber es ist ihr Haus.“
„Und der Tote war wohl ihr Gast letzten Abend. Er hatte keinen Ausweis bei sich, aber er heißt Gregorij Fährmann. Höchstwahrscheinlich jedenfalls. Der Vater von Claire Mommsen hat ihn hier gefunden und identifiziert, ist aber ein wenig durch den Wind, wie’s aussieht.“
„Wo sind die Eheleute Mommsen?“
„Unbekannt. Bisher sind sie nicht erreichbar. Bei den jeweiligen Arbeitgebern sind beide heute unentschuldigt nicht erschienen. Und die jeweiligen Handys sind hier im Haus.“
„Riecht ganz schön nach Ärger.“
„Oh, erst in einer halben Stunde.“
„Warum?“
„Dann erscheint hier Frau Staatsanwalt Knirb auf der Bildfläche.“
„Na, besten Dank!“
„Kommt noch besser: Den Brand von letzter Nacht übernimmt sie auch.“
„Du, ich hab‘ noch ein paar Tage Urlaub. Am besten nehme ich den gleich, meine Frau und mein Sohn sind beide krank, dann geht das vielleicht sogar durch…“
„Was? Frau und Kind krank und du hier draußen? Alfons, du bist ein Idiot.“
„Danke. Aber jetzt bin ich hier, und das mit dem Urlaub war ein Scherz, mein Alter.“
„Schon klar. Aber das ist sowas, das werde ich nie verstehen. Die Familie alleine lassen, wenn sie den Hausherrn brauchen, und das wegen einem Beruf? Wird mir immer ein deutsches Rätsel bleiben, dieses Verhalten.“

„Oder einfach nur eine deutsche Dummheit. Jetzt schieß aber mal los: Was hast du bisher an Infos?“
„Nichts.“
„Nichts?“
„Wo sollen die herkommen? Todeszeitpunkt irgendwann letzte Nacht, Todesursache unklar. Ehepaar Mommsen seit heute morgen veschwunden, darum ist ihr Vater hierher gefahren und hat sich mit seinem eigenen Zweitschlüssel Zutritt verschafft. Die Balkontür war offen, das Haus leer, im Wohnzimmer die Leiche eines Freundes der Familie, vier benutzte Gläser, eine leere Flasche Wein und eine obskure Zeichnung.“
„Für nichts ist das recht viel, Yildiray, also weiter: Was für eine Zeichnung? Wieso vier Weingläser? Wo sind die Mommsens?“
„Schau es dir selber an. Die Gläser gehen ins Labor, die Betten sind unbenutzt. Soviel dazu. Aber, Alfons?“
„Hm?“
„Ich finde nach wie vor, daß du nach hause zu deiner Frau gehörst. Aber wenn du das schon nicht machen willst, dann fahr jetzt wenigstens gleich ins Präsidium.“
„Gleich?“
„Ewwet, sofort! Jedenfalls bevor die Knirb auftaucht. In unserem Büro wartet nämlich ein Herr Roland Falk, das ist der Vater von Claire Mommsen. Ich habe bisher nur kurz mit ihm geredet. Darum fährst du jetzt hin, hörst dir alles an, was er zu sagen hat, schreibst ein Protokoll, blablabla, huschdibuschdi, liest eh keine Sau. Und dann machst du Feierabend. Klar?“
„Damit kann ich leben.“

Je länger Alfons Basstong sich mit Claires Vater unterhielt, desto verworrener erschien ihm der Mann. Dreimal ließ er sich von Roland Falk schildern, wie er den Vormittag zugebracht hatte, wie er das Haus der Mommsens vorgefunden hatte, und was er dort bis zum Eintreffen der Polizei getan hatte. Am Ende hatte Basstong drei verschiedene Versionen der Ereignisse zur Auswahl. Als es darum ging, die Beziehung zwischen dem Verstorbenen und den Eheleuten Mommsen zu schildern, wurde es noch zusammenhangloser. Einzig in einem Punkt schien sich der Alte ganz sicher zu sein: Zwischen den Mommsens und Gregorij Fährmann hatte es keinen Streit gegeben.

„Was wollen sie eigentlich noch hören? Die Balkontür stand offen, das habe ich ihnen schon drei Mal erzählt.“
„Nein, zweimal. In ihrer ersten Version…“
„Sie sind zu hektisch. Da muss jemand reingekommen sein, hat Gregorij getötet und Claire und Mike entführt.“
„Da müssen wir die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten, die…“
„Was sie müssen, ist meine Tochter suchen! Sie ist niemals freiwillig verschwunden. Und Mike auch nicht. Keiner von beiden würde einfach nicht zur Arbeit gehen, ohne wenigstens dort anzurufen.“
„Auch dafür kann es Gründe geben, Herr Mommsen…“
„Falk!“
„Tut mir leid. Herr Falk. Nach ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn wird inzwischen gesucht. Aber es kann auch eine völlig undramatische Erklärung geben. Man muss nicht immer gleich vom Schlimmsten ausgehen.“
„Klar, sie haben leicht reden.“
„Vielleicht. Aber ich muss das von einem unbeteiligten Standpunkt aus sehen, Herr Falk. Sonst wäre ich im falschen Beruf. Ihre Tochter und ihr Mann sind für uns zunächst einmal wichtige Zeugen, also werden wir sie auch mit allen Mitteln suchen.“
„Sie werden sie nicht finden!“
„Warum glauben sie das, Herr Falk? Wenn sie noch irgendwas wissen, wenn sie noch irgendeine Idee haben, dann raus damit.“
„Ich weiß nur eins: Sie werden sie nicht finden!“

Staatsanwältin Helena Knirb war ein rotes Tuch für Yildiray Torun. Nicht nur, weil sie bereits einmal gegen ihn ermittelt hatte. Aber ihr hartnäckiges Beharren darauf, ein aussichtsloses Verfahren wegen Körperverletzung gegen ihren eigenen Mitarbeiter zu eröffnen, war ihrem Verhältnis nicht gerade zuträglich gewesen. Die Staatsanwältin war noch relativ jung, neununddreißig Jahre. Dafür wies ihr Körper spitze Ecken und Kanten an den Stellen auf, wo nach Toruns Meinung weiche, volle Rundungen hingehörten. Bis vor zwei Jahren hatte sie eine Brille mit zentimeterdicken Gläsern getragen, inzwischen verwandelten entsprechende Kontaktlinsen ihre unerträglich hellblauen Augen in zwei stechende Bedrohungen. Sie lächelte nie, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Dennoch war es ein offenes Geheimnis, daß beinahe alle ihre Zähne mit goldenen Brücken versorgt waren. Über den Grund gab es viele Spekulationen, die eigentliche Wahrheit aber war Helena Knirbs Geheimnis. Und diese waren niemals öffentlich; hätte sie einen Mann gehabt, so würde sie ihre privaten Geheimnisse auch vor ihm verbergen.

Aber sie hatte keinen Mann, jedenfalls keinen, der es über das Stadium eines Helena Knirbschen Geheimnisses hinaus gebracht hatte. Dafür hatte sie ihre Mitarbeiter, unter anderem gab es dort auch faule und niederträchtige Machos wie Yildiray Torun. Hätte sie noch lächeln können, dann wäre das eine gute Gelegenheit gewesen: Das Lächeln des Jägers, der eine wehrlose Beute wittert. Aber der Pfuscher von einem plastischen Chirurgen hatte bei der letzten Behandlung einen Fehler gemacht. Daß es sein letzter gewesen war, war ihr ein schwacher Trost. Daß der Mann inzwischen Alkoholiker war, von Harz Vier lebte, und seine Frau sich von ihm getrennt hatte, war für Helena Knirb schon deutlich befriedigender. Also lächelte sie nicht, als sie den erbärmlichen Komissar rauchend im Einsatz vorfand, sondern genoß einfach nur den inneren Triumph.

Was Yildiray Torun durchaus bewusst war. Er wusste, daß die Staatsanwältin nach Gelegenheiten suchte, um ihm Ärger zu machen, er wusste, daß er an der Einsatzstelle laut Dienstvorschrift nicht rauchen durfte, und er wusste auch zu gut, was Staatsanwältin Knirb noch mehr auf die Palme brachte, als ein rauchender Torun.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
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Turambar
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Mannheim


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  RE: Unter fremden Monden Datum:09.07.11 13:35 IP: gespeichert Moderator melden


3.

Selbstverständlich blieb Helena Knirb nach außen absolut ruhig. Um genau zu sein: Sie trug demonstrativ Eiseskälte zur Schau. Selbstbeherrschung war das Wichtigste, auch wenn der Zorn in ihr kochte. Sie beherrschte die Situation, ohne Wut und Verachtung zu vergessen, wahrte sie die Fassung, um dann im richtigen Moment vernichtend zuschlagen zu können. Schon die Aussicht darauf verschaffte eine beinahe erregende Genugtuung. Leider gab es keine Regelung, die es ihr erlaubte, diesen impertinenten Komissar dafür büßen zu lassen, daß er sie penetrant duzte. Verweise wegen Rauchens prallte sowieso an Torun ab; mehr als ein Dutzend Mal hatte sie ihn deswegen schon abmahnen lassen, aber leider wurde das immer viel zu lax gehandhabt. Es war frustrierend, wie sich dieser aalglatte Hund jeder Strafe entzog: Beim letzten Mal hatte er eine geradezu lächerliche Lohnkürzung hinnehmen müssen, sowie eine zeitweise Versetzung in den Innendienst. Torun hatte sich zwei Wochen krankschreiben lassen, war danach ganz offiziell wieder seiner regulären Tätigkeit nachgegangen und hatte fünfzig Euro in die Kaffekasse gezahlt.

Er machte sich über sie lustig, was schlimm war. Er leiß sie auflaufen, was noch schlimmer war, und er entzog sich ihr, zollte ihr keinerlei Respekt, was das Allerschlimmste war. Sein erniedrigendes „Du“ war nur der Gipfel des Eisbergs von Insubordination. Als Helena Knirb erfahren hatte, daß Torun nicht nur den Brand der letzten Nacht untersuchte, sondern auch für diesen neuen, wesentlich interessanteren Fall mit den Ermittlungen betreut war, witterte sie eine Gelegenheit. Also delegierte sie zwei Fälle kurzerhand an einen jüngeren Kollegen. Wie ein Schatten würde sie in diesen Ermittlungen hinter Torun stehen, und wenn er nicht von selbst einen gravierenden Fehler beging, dann würde sie ihn ganz diskret und unauffällig dazu verleiten.

Nachdem sie die Einsatzstelle in Augenschein genommen, sowie sich einen Überblick über die Fakten verschafft hatte, war sie sich des Sieges beinahe sicher. Das alles wirkte einigermaßen komplex, außerdem würde die Geschichte auch in den Medien ihre Wellen schlagen. Es sollte ein leichtes sein, Torun in diesen Wellen untergehen zu lassen. Vorfreude ließ ihr Herz höher schlagen.

Es war nicht etwa so, daß Torun Gedanken lesen konnte. Aber er hatte eine feine Nase, sowie ein noch feineres Gespür für Stimmungen. Insbesondere im Umgang mit dieser unangenehmen Staatsanwältin steigerten sich seine Konzentration und seine Wahrnehmung soweit, daß es beinahe schmerzhaft war. Gleichzeitig gab er sich Mühe, besonders schnoddrig und demotiviert zu erscheinen. Die meisten Kollegen hätten sich wohl eifrig Notizen gemacht, wenn Staatsanwältin Helena Knirb auf sie einredete. Turun steckte lieber die Hände in die Hosentaschen und starrte ihr mit leicht gesenkten Augenliedern unverwandt ins Gesicht. Er würde sich später sehr wohl an jedes Wort erinnern, aber das brauchte die nervige Furie nicht zu wissen. Dafür drehte er sich ab und an leicht zur Seite und gähnte.

„Hallo, Herr Turun, hören sie mir eigentlich zu?“
„Doch, doch. Erzähl weiter, bin ganz Ohr.“
„Ich will die Wohnung von diesem Herrn Fährmann noch heute geöffnet haben. Ich will, daß sie dabei sind und alles auf den Kopf stellen. Und mit sie meine ich sie, also sie persönlich, ist das angekommen? Die Wohnung wird anschließend versiegelt. Welche Angehörigen des Opfers haben sie bisher ermittelt?“
„Was frägst du mich? Bin ich das Melderegister?“
„Achten sie bitte ein bisschen auf ihren Ton, Herr Torun. Ich gehe davon aus, daß ich eine vollständige Liste um siebzehn Uhr in ihrem Vorbericht finde. Bis dahin haben sie dann natürlich sämtliche Angehörigen auch kontaktiert.“
„Ich werd‘ sehen, was sich machen lässt.“
„Wie sie das anstellen, interessiert mich gar nicht. Mich interessiert das Ergebnis. Wenn sie nicht einmal eine läppische Vorermittlung auf die Reihe kriegen, sollten sie sich vielleicht ins Archiv oder so versetzen lassen. Und sollten sie versuchen, meine Ermittlungen zu manipulieren, sollten sie dabei an ihre Dienstakte denken. Wenn sie denn soweit denken können.“
„Ich denk‘ gerade an mein Bett. Bin ja nicht mehr so jung und steh nicht mehr so unter Strom, daß ich zwei Tage durcharbeiten kann. Darf ich auch laut TVÖD gar nicht; erstens: Kein Versicherungsschutz. Zweitens: Du willst ja ein ordentliches Ergebnis. Wer übermüdet ist, schlampt.“
„Herr Torun, das ist ihr Problem.“

Nachdem sie ihn stehengelassen hatte, um ihre Zähne in den Hals des Leiters der Spurensicherung zu schlagen, atmete Torun tief durch. Die Kopfschmerzen deuteten sich bereits an. Wenn er nicht bald nach hause kam und sich hinlegen konnte, würde kein Ibuprofen und noch nicht einmal mehr Novalgin helfen.

Egal, das war es wert. Sie hatte angebissen. Während sie davon ausging, ihn in eine Falle locken zu können, würde er sein Spiel mit ihr treiben. Auch wenn das riskant sein mochte, der Reiz des Spiels war stärker, also ließ er sich von seinen eigenen Affekten treiben. Eine Zeit lang hatte er Helena Knirb sogar bemitleidet. Da war diese Aura des Hasses, von der sie ständig umgeben war. Auch wenn sie das in ihrer intriganten Art nach außen trug, hatte Torun recht schnell bemerkt, daß die Basis im Grunde genommen Selbsthass war. Tief sitzende, persönliche Enttäuschungen und Zurückweisungen, die ich in zwanghafter Autoaggresivität manifestiert hatten. Daß sie Zorn und Haß auf ihre Umwelt projizierte, war wohl nichts anderes als ein Selbstschutz, ein Abwehrmechanismus.

Erst als Torun feststellte, wie sich die Staatsanwältin daran weidete, wenn sie ihren Mitmenschen ihr eigenes Unheil der Seele weitergab, verlor er sein Mitleid, und ersetzte es durch intensiv gelebte Abneigung. Was immer dahinter stecken mochte, inzwischen hatte er erleben müssen, wie mehrere seiner Kollegen unter den Schikanen dieser Frau regelrecht zusammen gebrochen waren. Einer war komplett aus dem Polizeidienst ausgeschieden, zwei andere hatten sich versetzen lassen. Das Schlimme dabei war, daß er ganz genau wahrnehmen konnte, was für eine Freude diese Staatsanwältin dabei empfand, was für einen Triumph sie dadurch erlebte.

Das Gleiche hatte Torun bei Helena Knirb während der Sichtung des Wohnhauses der Mommsens gespürt. Unter der schwelenden Glut verbissenen Zorns hatte sie geradezu jubiliert. Wahrscheinlich war sie sich dessen nicht bewusst, was sie für Torun ausstrahlte, aber er nahm es sehr wohl wahr: Kleine Gesten, eine leichte Veränderung ihrer Körperhaltung, ein Zucken der Pupillen. Der feine Geruch sexueller Erregung; ein Hauch von Feromonen, der bei Helena Knirb auf Torun allerdings eher abstoßend als anregend wirkte.

Interessierte sie sich überhaupt für die Ermittlung? Oder war ein Toter und ein verschwundenes Ehepaar für sie nur Mittel zum Zweck, um einen Schlag gegen ihren Erzfeind zu führen?

Torun wollte den Gedanken abschütteln, immerhin waren die Ergebnisse ihrer Arbeit für gewöhnlich tadellos. Außerdem hatte er er noch etwas gespürt, wenn auch nur für einen kleinen Moment, als sie zusammen vor der Leiche des Gregorij Fährmann standen. Vor der Leiche und dem Plakat mit den seltsamen Zeichnungen. Es mochte eine Sekunde gedauert haben, maximal vielleicht zwei, in denen Helena Knirbs Augenlider kurz zuckten, die Pupillen sich minimal weiteten, und die Anspannung ihres Körpers kaum merklich geringer wurde. Zu dem Geruch von fieser Lüsternheit gesellte sich ein flüchtiger Hauch von unbestimmter Angst. Was einigermaßen seltsam war, denn Ängstlichkeit gehörte nun wirklich nicht zu Helena Knirbs vorherrschenden Wesenszügen.

Die Kopfschmerzen wurden stärker, Toruns Gehirn schrie nach Ruhe. Wahrscheinlich hatte sie in dem Moment schlichtweg realisiert, daß dieser Fall auch von ihr selbst eine Menge Arbeit verlangen würde, sowie daß der Ausgang ungewiß war. Eine Untersuchung, bei der sie nicht am Ende einen Angeklagten vor Gericht stellen konnte, war für Helena Knirb eine Art Supergau. Torun trat seine Zigarette auf dem Gehsteig aus und stieg in seinen Dienstwagen. Im Handschuhfach fand er einen Streifen Novalgintabletten und schluckte zwei, die er mit abgestandenem Mineralwasser herunterspülte. Bevor er den Motor startete, zündete er sich eine weitere Zigarette an, und wählte Basstongs Nummer auf seinem Diensthandy.

„Wie weit bist du, Alfons?“
„…“
„War eigentlich klar. Sei so gut und frag diesen Falk, ob er irgendwelche Verwandten oder Bekannten von Gregorij Fährmann kennt. Auch Arbeitgeber und so…“
„…“
„Nö. Die Register checkt schon der Kurti. Der soll sie mir per Mail schicken, ich leite das an dich weiter. Fährst du dann eigentlich nach hause?“
„…“
„Klar. Aber du könntest mir trotzdem einen Gefallen tun.“
„…“
„Doch, doch. Aber ich bekomme grade wieder Kopfweh. Scheyß Wetterwechsel. Wenn du für die nächsten drei Stunden meine Anrufe bearbeiten kannst…“
„…“
„Dann leite ich die Anrufe auf dein Handy um. Aber ich warne dich: Die Knirb hat mich gefressen. Kann gut sein, daß sie dir auf die Nerven geht.“
„…“
„Ja, du mich auch.“

Yildiray Torun stellte die Rufumleitung ein und schaltete sein Diensthandy aus. Eine halbgerauchte Zigarette flog aus dem offenen Fahrerfenster und landete zischend in einer Pfütze, deren Oberfläche sich im Wind kräuselte. Für eine Minute verharrte Torun hinter dem Steuer, die Augen geschlossen, die Finger trommelten langsam auf das Lenkrad. Frische, kühle Luft wehte durch die heruntergekurbelten Fenster; so belebend dieser kalte Hauch eigentlich sein sollte, Torun fühlte nur ein überwältigendes Bedürfnis nach zwei Stunden Tiefschlaf. In einer halben Stunde würde das Novalgin seine Wirkung zeigen. Dann war an Autofahren nicht mehr zu denken, also legte Torun den ersten Gang ein, und machte sich davon.



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  RE: Unter fremden Monden Datum:10.07.11 19:42 IP: gespeichert Moderator melden


4.

Wieso machte dieser Torun es ihr so einfach? Seit fast drei Stunden landete sie jedes Mal, wenn sie die Nummer wählte bei diesem Versager Basstong; Torun selbst hatte sich verkrochen, zog es vor, nicht erreichbar zu sein. Daß sie bis zum Abend einen adäquaten Bericht von ihm bekommen würde, war reichlich utopisch. So kam es, daß Helena Knirb um kurz vor fünf keinerlei Gedanken mehr an Toruns Ultimatum verschwendete, vom Versagen ihres ungeliebten Mitarbeiters war sie zutiefst überzeugt. Bereits vor über einer Stunde hatte sie eine schriftliche Rüge verfasst, die sie um viertel nach fünf einfach abschicken würde. Also cum tempore, fast schon zuviel der Milde. Seitdem beschäftigte sie sich mit den Akten zu anderen Fällen, die sie dringend abschließen musste, um sich umso akribischer den aktuellsten Ermittlungen widmen zu können. Als das Faxgerät piepsend zum Leben erwachte, wirkte das zunächst beinahe wie ein Schock. Völlig perplex starrte sie auf die eng bedruckten Seiten, die unter Klicken und Rattern von der klotzigen Maschine ausgeschieden wurden.

Mit beiden Händen griff sie nach den Zetteln, während ihr erstickende Wut den Hals hinaufkroch. Dicht hielt sie Toruns Bericht vor das Gesicht, so dicht, als wollte sie ihn mit ihrer etwas zu langen und viel zu schmalen Nase in Fetzen schneiden. Natürlich war das Protokoll alles andere als gut; eigentlich sogar recht schlampig, voller Fehler und viel zu kurz. Aber die wesentlichen Daten waren aufgeführt, wogegen sie vergeblich nach Formfehlern suchte. Ihr Oberlippe zitterte leicht, während sie den Bericht in ihre Aktentasche stopfte. Für heute hatte sie genug, immerhin hatte sie selbst auch nur zwei Stunden am frühen Morgen geschlafen, zwei weitere Stunden war sie anschließend mit einer außerdienstlichen Vergnügung beschäftigt gewesen. Was sowohl befriedigend und entspannend gewesen war, andererseits aber auch ziemlich anstrengend. Jedenfalls war somit ein verfrühter Feierabend nur gerechtfertigt.

Doch zuvor musste sie immerhin noch einen Versuch unternehmen, Torun zu erreichen, was sie zunächst über seinen privaten Festnetzanschluß probierte. Was sie besser hätte bleiben lassen. Eine Frauenstimme meldete sich am anderen Ende der Leitung, im Hintergrund plärrte ein Kind, wahrscheinlich eines der vier Bälger Toruns. Die Stimme gab in eher leidlichem Deutsch zu verstehen, daß der Hausherr nicht zu sprechen sei. Nein, auch nicht für eine Vorgesetzte, und überhaupt: Wenn es wegen der Arbeit sei, warum Frau Knirb eigentlich die Privatnummer anrufe. Nein, es sei ihr völlig egal, ob die Anruferin die Staatsanwältin, die Bundeskanzlerin oder die Päpstin wäre. Dann wurde aufgelegt; Staatsanwältin Knirb kochte vor Zorn. Sie drückte die Wahlwiederholungstaste, legte sich eine niederschmetternde Rede zurecht, um dieses impertinente Weib in ihre Schranken zu weisen. Wozu sie nie Gelegenheit bekam: Nach einer halben Minute ununterbrochener Schimpftiraden auf Türkisch, verbales Sperrfeuer ohne Unterbrechung, war es Helena Knirb die auflegte, und stattdessen Toruns Diensthandy anwählte.

Eigentlich rechnete sie damit, erneut bei Komissar Basstong zu landen, doch das war nicht der Fall. Dafür fand sie sich auf Toruns Mailbox wieder. Auch nicht gerade das Gelbe vom Ei, aber besser als nichts.
„Einen schönen guten Abend, Herr Torun, Staatsanwältin Knirb hier. Falls sie noch kein Memo erhalten haben: Die Teambesprechung beginnt morgen früh um acht. Bis dahin erwarte ich von ihnen ein paar etwas exaktere Informationen als in diesem reichlich dürftigen Bericht. Erstens: Die Aussagen von Gregorij Fährmanns Arbeitskollegen. Zweitens: Eine genaue Darstellung der Beziehung des Verstorbenen zu den Eheleuten Mommsen. Drittens: Eine Auflistung und Bewertung sämtlicher privater Dateien und Korrespondenz auf Fährmanns Rechner. Viertens: Das Ergebnis der Befragung der Nachbarn der Mommsens, sowie von deren Arbeitgebern, speziell die Protokolle der Befragung der Teilnehmer von dieser Feier, auf der die Beiden gewesen sind. Und sie sollten ihren Mullah, oder was immer sie da genau anbeten, um Gnade bitten, daß mir ihr unverschämtes Weib niemals alleine über den Weg läuft.“

Ein paar Akten steckte sie in ihre Aktentasche, um sie mit nach hause zu nehmen. Dann ab ins Auto und nichts wie weg, die grimmigen Gedanken mit etwas Spaß vertreiben. Mochten die meisten Leute Helena Knirb für frigide halten, sie wusste für sich, daß das keineswegs zutraf. Allerdings brauchte sich auch niemand für ihr Sexualleben zu interessieren. Solange ihre kleinen Ausschweifungen stets geheim und verborgen blieben, entging sie dem Risiko der Kompromittierung. Dafür wählte sie ihre Partner immer mit größter Sorgfalt aus. Zur Not versicherte sie sich, ein Druckmittel zu besitzen, um die nötige Diskretion von ihnen zu erzwingen.

Kurz bevor sie auf die Autobahn abbog, begann das private Mobiltelephon auf dem Beifahrersitz wie eine räudige Katze zu plärren. Im Fahren warf sie einen kurzen Blick auf den Absender der SMS:
Mettfresse.
Mit einem einem belustigten Pfeiffen auf den Lippen fuhr sie rechts ran und schaltete den Warnblinker ein. Der Inhalt der Nachricht bestand aus genau drei Zeichen.

SOS

Niemand konnte sie sehen, also gestattete sie sich ein hämisches Grinsen, zog die Oberlippe hoch und ließ das Gold ihrer Zähne aufleuchten. Der Dreckskerl hatte ziemlich lange ausgehalten, wenn auch nicht lange genug. Zeit für ihn, das Feld zu räumen, damit sie sich ein anderes, besseres Spielzeug zulegen konnte. An diesem Abend hatte sie ohnehin Anderes vor, so sparte sie sich immerhin den Umweg über die spießige Neubauwohnung dieses Versagers. Rasch tippte sie das Codewort in ihr Handy ein – „Agonie“ – und schickte es an eine im Adressbuch eingespeicherte IP – Adresse.

Ein paar Kilometer weiter begann in einer stockdunklen Wohnung im zehnten Stock eines Wohnblocks der Bildschirm eines Laptops zu leuchten. Irgendwo im Dunkeln war ein leises, metallisches Klirren zu hören, gefolgt von einem gedämpften Verzweiflungsschrei, der in ein schnaubendes Wimmern überging. Ein spezielles Programm erfasste automatisch den Text der erhaltenen Nachricht, erkannte die Buchstaben A-G-O-N-I-E als Eingabebefehl und unterbrach einen Stromkreis in einer angeschlossenen Hardware. Drei schnell aufeinanderfolgende Klicklaute hallten durch die Dunkelheit, als die Elektromagnete der Schlösser nicht mehr mit Strom versorgt wurden. Eine Kette glitt ratternd durch eine Öse, und während mehrere Lichter im Raum angingen, stürzte ein massiger Körper imTürrahmen zwischen Korridor und Badezimmer zu Boden. Aus einem verzweifelten wurde ein erleichtertes Wimmern, während sich der Mann in einer Pfütze aus Urin zusammenkrümmte.

Mit Hedja Goldblum war Helena Knirb mittlerweile seit vier Jahren zusammen. Dennoch weigerte sie sich hartnäckig, diese als eine „feste Partnerin“ zu bezeichnen. Solche Verbindlichkeiten konnte sie definitiv nicht gebrauchen, persönliche Bindungen haten in ihrem Leben keinen Platz. Niemals würde sie Hedja etwa sagen, daß sie sie liebe, zumal das eine glatte Lüge wäre, denn Helena Knirb liebte ausschließlich Helena Knirb. Von dieser Überzeugung wich sie kein Jota weit ab, wer daran zu zweifeln wagte, den zerrieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger.

Hedja wusste es besser, dennoch hütete sie sich, das gegenüber ihrer Partnerin jemals anklingen zu lassen. Dafür beteuerte sie stets gerne ihre eigene Liebe und Ergebenheit, sehr zu Staatsanwältin Knirbs Freude und Belustigung. So ließ es sich auskommen, Hedja bekam was sie wollte: Viel Aufmerksamkeit, manchmal ganz normalen Sex und häufiger nicht ganz so normalen Sex. Gelegentlich spielte sie auch die Assistentin bei Helenas Männersessions, aber was das Wichtigste war: Sie war der einzige Mensch, der annähernd so etwas wie ein Vertrauensverhältnis zu Helena Knirb aufrechterhielt. Darauf war sie mehr als stolz; diese Momente, wenn die strenge, harte Staatsanwältin sich bei ihr ausweinte, beinhalteten für sie eine solche Innigkeit und Wärme, daß sie im Gegenzug alles für ihre Herrin zu tun bereit war.

Für den Abend war ausnahmsweise einmal ganz normaler Sex angesagt. Weniger normal war, daß Helena Knirb anschließend im Bademantel auf dem Balkon rauchte. Hedja witterte eine Gelegenheit; hier brauchte jemand Zuwendung und Verständnis. Und natürlich eine besonders pflegende Fußmassage: Mit Öl und Creme bewaffnet machte Hedja sich an die Arbeit.

„Viel Stress heute, Helena?“
„Warum? Weil ich rauche?“
„Auch. Und wegen… Weil du so abgelenkt warst. Nicht bei der Sache, hast mich hart arbeiten lassen.“
„Deine Zunge hat sich eben angefühlt wie ein Stück Kiefernholz, wenn du’s genau wissen willst.“
„Tut mir leid.“
„Ich hatte Stress bei der Arbeit. Es ist dieser Machotyp, der Rambo – Kommissar.“
„Torun, ja?“
„Haargenau. Verdammt, ich will meinen Respekt. Den mir der Saukerl verweigert, und das macht er absichtlich. Weil er mich reizen will!“
„Muss wirklich ein mieses Dreckschwein sein.“
„Diese dauernde Überheblichkeit, das freche „Du“, seine ewige Raucherei. Aber am Allerschlimmsten ist es, daß ich an diesen scheyßglatten Wikser nicht rankomme. Abmahnungen? Beschwerden? Prallt alles von ihm ab!“
„Du musst ihn in die Ecke drängen, ihm eine Falle stellen. Wie soll ich mit dir glücklich sein, wenn dieser Mann es auf dich abgesehen hat? Wenn er dich so belastet und bedrängt?“
„Ich erwische ihn schon noch. Bei dem Fall, den ich heute übernommen habe, kann er nur Fehler machen. Er wird eiskalt auflaufen, und dann sorge ich dafür, daß er fliegt. Oder zumindest mal bis zur Pensionierung wieder Streife fährt.“
„Kann ich dir irgendwie helfen? Wenn du willst, stelle ich ihm eine verruchte kleine Falle, wie bei diesem Richter vor ein paar Monaten, der…“
„Bist du wirklich so dämlich, Hedja? Wenn das funktionieren würde, hätte ich dich schon längst auf ihn angesetzt, glaub mir. Aber das zieht bei ihm nicht. Nein, ich erwische ihn über die Arbeit. Ich habe da schon so eine Idee, wie ich ihn dazu bringe, sich ein richtiges Dienstvergehen zu schulde kommen zu lassen.“

Tatsächlich funktionierte es beim zweiten Mal deutlich besser, Hedjas Zunge erledigte einen hervorragenden Job. Dabei setzte Helena Knirb Hedjas Körper zur Anspornung weiter unten etwas unter Strom, bis sie mit dem Ergebnis vollauf zufrieden war. Diese Zufriedenheit konnte sie sich sogar bis zum nächsten Morgen bewahren, bis sie in der Teamsitzung wieder mit ihrem Erzfeind konfrontiert war.



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5.

Es war ein Bild des Jammers, das die Mitglieder der Besprechung abgaben. Augenringe, ungewaschene Haare oder Bartstoppeln fanden sich bei fast allen der Anwesenden. Ein sichtbar übermüdeter Alfons Basstong übergab einen Stapel Papiere an Yildiray Torun, der selbst über die Nacht kaum vier Stunden geschlafen hatte. Die Pathologin döste schier über ihrem Kaffe ein, da sie genau wie Michael Krantz, der Leiter der Spurensicherung, eine unplanmäßige Nachtschicht eingelegt hatte. Lediglich Helena Knirb wirkte frisch und ausgeruht, als sie die Sitzung kurz eröffnete, um dann das Wort an Torun zu übergeben.

„Bevor ich ich näher auf Gregorij Fährmann eingehe, muss ich noch was zu Beat Wasenstein sagen. Falls es bei irgendjemendem gerade wegen Müdigkeit nicht präsent ist: Das ist das Brandopfer aus der Sachsenstraße. Es ist ja leider so, daß solche Sachen nicht nacheinander passieren, sondern immer gleichzeitig. Und jetzt wird’s dann toll, weil diesmal ist das wahrscheinlich kein Zufall. Beat Wasenstein ist jedenfalls keines natürlichen Todes gestorben. Ich geb‘ euch mal eine kurze Zusammenfassung des Obduktionsberichtes. Und Danke an Gundula, daß du das heute nacht noch durchgezogen hast.“
Ein kurzes Nicken von der Pathologin, die anschließend gleich ihren Kopf wieder sinken ließ.

„Nach Gundulas Erkenntnissen wurde Dr. Beat Wasenstein zunächst mit einem Barbiturat betäubt, das ihm wohl oral eingeflößt wurde. Anschließend wurde mit einer Spritze aus der Halsvene Blut entnommen. Die Todesursache ist Strangulation, der Todeszeitpunkt zwischen zehn und elf Uhr vorgestern abend. Eine Tatwaffe konnte noch nicht zugeordnet werden. Anschließend wurde der Brand gelegt, als Brandbeschleuniger wurden mit Reinigungsbenzin getränkte Papiere verwendet. Bücher und Zeitungen, die es in der Wohnung wohl zuhauf gab. Michael ist an der Auswertung des Tatortes dran, aber wegen der Brandschäden wird das noch ein wenig dauern, außerdem erschien die Sicherung der Spuren im Haus der Mommsens zunächst wichtiger. Was wir aber dringend brauchen sind die Fingerabdrücke und DNA – Spuren von den Gläsern in Wasensteins Küche. Wenn du da schon was hast, Michael…“

Der Techniker machte eine abwehrende Handbewegung, wozu er energisch den Kopf schüttelte.
„Sorry, Yildiray, zaubern kann ich nicht. Aber bis Mittag wissen wir bescheid.“
„Das passt doch. Dafür warst du ja mit den anderen Sachen extrem schnell. Michael und Gundula ihr wisst ja schon bescheid. Für die Anderen: Die Verbindung zwischen den Fällen ist das Blut von Beat Wasenstein, von dem sich Spuren in einem der Weingläser im Haus der Mommsens fanden. Gundula hat das gecheckt, es ist frisches Blut, das wohl aus der Entnahme kurz vor der Tötung stammt. Bisher kann man davon ausgehen, daß Gregorij Fährmann das Blut dabei hatte, sofern sich niemand sonst außer diesen drei Leuten im Haus der Mommsens aufgehalten hat. Und dafür gibt es keine Hinweise.“

„Mike und Claire Mommsen hielten sich zwar ganz in der Nähe des Brandes auf, haben die Betriebsfeier aber erst verlassen, als der Notruf deswegen schon bei der Feuerwehr eingegangen war. Das haben wir überprüft. Bleibt also Herr Fährmann, über dessen Tagesablauf wir allerdings kaum Nennenswertes in Erfahrung bringen konnten. Er scheint ein ziemlicher Einzelgänger zu sein, auch seine Wohnung ist unauffällig, beinahe schon unpersönlich. Einen Rechner haben wir dort nicht gefunden, ebensowenig wie in seinem Auto, das bei den Mommsens in der Einfahrt steht. Dafür aber einen angeschlossenen WLAN – Rooter in der Wohnung.“

Hier wurde er kurz von Basstong unterbrochen, der darauf hinwies, daß das Auto der Mommsens mit vier zerstochenen Reifen in der Nähe des Restaurants gefunden worden war. Genauso wie Fährmanns PKW wurde es mittlerweile untersucht. Aus der Frage, wie das Ehepaar Mommsen ohne Auto bei dem Unwetter nach hause gekommen waren, entsprang eine kurze Diskussion, die vom Leiter der technischen Untersuchung beendet wurde.

„Leute, die beiden sind von Fährmann mitgenommen worden. Die Spuren aus seinem Auto sind noch nicht ausgewertet, aber die Rückbank war nass, und wer soll da sonst gesessen haben? Im Haus der Mommsens finden sich keine Spuren einer weiteren Person, außer natürlich von Roland Falk.“

„Ich denke das Gleiche, Michael, aber solange wir keine Ergebnisse haben, wollte ich da auch gar nicht näher drauf eingehen. Wir finden’s schon noch raus. Viel wichtiger: Gregorij Fährmann ist anscheinend eines natürlichen Todes gestorben. Ich weiß zwar nicht, wie du zwei komplette Obduktionen plus Auswertung in so wenig Zeit schaffst, Gundula…“
„Eigentlich vier, Torun. Aber die anderen waren ziemlich simpel. In Wahrheit habe ich in der Pathologie ein paar Klone von mir gezüchtet, die für mich die ganze Laborarbeit übernehmen, während ich nur schnipple und Wagner höre. Ob der Tod wirklich natürlich war, kannst mal zurückstellen. Es kann einen Haufen Gründe für eine ICB geben, die Histologie und Serologie sind noch nicht ausgewertet.“

„Okay, aber da es auch keinerlei Spuren von Giften und keine äußeren Gewaltspuren gibt, entnehme ich mal deinem Bericht, daß er einfach eine spontane Hirnblutung erlitten hat.“
„Wie du auf spontan kommst, ist mir ein Rätsel. Soll ich das geschrieben haben?“
„Ja, steht so in deinem Geschreibsel“
„Ich sollte morgens um fünf keine Berichte mehr tippen. Aber es ist egal, verstorben ist er definitiv an einer Hirnblutung, und zwar ohne Fremdeinwirkung.“
„Das meinte ich doch. Zwischen eins und zwei Uhr.“

An dieser Stelle übernahm Alfons Basstong das Wort.
„Da ist noch eine weitere Sache, die wir in den Ermittlungen im Auge haben sollten. Weil sonst wär’s ja zu einfach, und wir wollen uns ja nicht langweilen, oder?“
Als Antwort bekam er aus der Runde nur genervtes Stöhnen und einen eiskalten Blick von Helena Knirb zurück.
„Yildiray und ich hatten erst kürzlich mit den Eheleuten Mommsen zu tun, dabei ging es um einen Fall von Grabschändung. Ein Täter konnte da bisher nicht ermittelt werden. Die beiden hatten eine Tochter, die allerdings wenige Tage nach der Geburt verstorben ist. Das war vor über vier Jahren. Jetzt wurde der Grabstein mit Schmierereien besudelt, auf dem Grab selbst wurde ein Feuer entzündet. Weil kein anderes Grab angerührt wurde, und es in der letzten Zeit keine einschlägigen Fälle in der Umgebung gab, gehen Yildiray und ich von einem gezielten Anschlag aus.“

In den folgenden Minuten versuchte Basstong, die Beziehung zwischen den Mommsens und Gregorij Fährmann darzustellen, was allerdings recht vage war, da er sich größtenteils auf die Aussagen von Claires Vater stützen musste. Über Fährmann selbst hatten sie nur wenige Informationen. Bei seinen Arbeitskollegen war er nicht unbeliebt gewesen, allerdings pflegte er mit ihnen keine Kontakte jenseits der Arbeit. Er war unverheiratet, hatte keine Verwandten und außer Roland Falk und den Mommsens hatten sie bisher auch keine engeren Freunde ermitteln können.

Was am Ende übrigblieb, war ein Haufen von Fragen und ein noch größerer Haufen von Arbeit. Einer der rätselhaften Punkte war auch die Zeichnung, die sie im Wohnzimmer der Mommsens gefunden hatten. Es stand fest, daß Gregorij Fährmann der Zeichner gewesen war, da sie mehrere ähnliche Skizzen in seiner Wohnung gefunden hatten. Über die Bedeutung aber waren sie sich nicht klar. Alfons Basstong wurde schließlich mit der Mammutaufgabe betraut, sämtliche Schriften und Zeichnungen in Charons Wohnung zu sichten und auszuwerten.

Nach der Sitzung war Helena Knirb mehr denn je überzeugt, daß Yildiray Torun sich mit dieser Ermittlung eine blutige Nase holen würde. Und wenn sie ein bisschen nachhelfen würde, gab es gute Chancen, daß er recht bald von der Bildfläche verschwände. Auf dem Weg ins Gericht wählte sie die Nummer eines Redakteurs, mit dem sie nicht nur dienstlich oft zu tun hatte, sondern dem sie auch in einem ganz anderen Bereich schon begegnet war. Wobei sie natürlich darauf geachtet hatte, daß er sie bei der entsprechenden Session nicht erkannt hatte. Wozu gab es Gesichtsmasken und Augenbinden? Jedenfalls besaß sie von ihm sehr wohl einige Photos, die ihr nun eine sehr diskrete Zusammenarbeit garantierten. Immerhin ging es um Informationen, die keinesfalls im Zusammenhang mit ihrem Namen auftauchen durften. Sehr wohl aber im Zusammenhang mit dem Namen Yildiray Torun.

Roland Falk betrat die Wohnung in Anglerkleidung und Handschuhen. Eine rationale Erklärung für sein Vorgehen hatte er nicht. Aber als er das Präsidiumverlassen hatte, beschlich ihn ein Gefühl, daß sich schnell zu einem inneren Drang steigerte. Eigentlich war es mehr das Fehlen eines Gefühls. Seine Tochter war weit weg, so weit weg, daß er sie kaum mehr spüren konnte. Also irgendwie unbegreiflich weit weg. War er den ganzen Tag schon unruhig und nervös gewesen, langsam steigerte sich dieser Zustand bis zu einer Art Extase.

Die wirren, tanzenden Gedanken in seinem Kopf ähnelten dem kühlen, frischen Wind, der durch die Straßen der Stadt pfiff. Sie glichen dem ständig wechselnden Antlitz des Himmels, strahlendes Blau in schnellem Wechsel mit weißen Wolken, grauen Wolken und dicken Wolken, aus denen kurze aber heftige Schauer auf das Land prasselten. In sicherer Entfernung zu dem Haus, in dem Charon wohnte – gewohnt hatte – parkte er seinen Wagen und setzte einen Anglerhut auf. In der linken Hand hielt er eine Teleskopangel, in der rechten eine leere Sporttasche, während er zielstrebig auf den Eingang des Hauses zuging. Den Leuten auf der Straße nickte freundlich aber unbeeiligt zu. Er fand Charons Namen auf dem Klingelschild, drückte dann aber auf einen Klingelknopf weiter oben. Als sich eine Stimme an der Sprechanlage meldete, rief er „Stadtbrief!“ worauf sich die Haustür mit einem Summen öffnen ließ.

Vor Charons Wohnung zog Roland Falk die Handschuhe an. In der Anglerhose aus Gummi mit integrierten Stiefeln begann er durch die Aufregung zu schwitzen, dennoch brauchte er keine zehn Sekunden um mit einem Dietrich das recht primitive Schloß an Charons Wohnungstür zu knacken. Er schloß die Tür schnell hinter sich und sah sich in der Wohnung um. Einmal erst war er hier gewesen, was allerdings Jahre her war. Verändert hatte sich augenscheinlich kaum etwas. Zielstrebig ging er in Charons Arbeitszimmer. Das Herz schlug ihm dabei bis zum Hals; er wusste, daß er keine Zeit hatte, daß jeden Moment Polizei auftauchen konnte, um die Wohnung auf den Kopf zu stellen. Aber viel Zeit brauchte er auch garnicht. Auf Charons Schreibtisch fand er sofort, wonach er suchte. Hastig rollte er einen Stapel von Zeichnungen zusammen, die er mit einer Mappe voller Photografien in die Sporttasche steckte. Sein Blick fiel auf Charons Klapprechner. Kurzerhand zog er das Netzteil aus der Steckdose und stopfte alles zu den Zeichnungen und Photos. Kurz sah er sich nach weiterer Hardware um, vor allem suchte er nach einem Drucker, fand aber keinen.

Nach kaum fünf Minuten zog er die Wohnungstür wieder hinter sich zu und verließ das Wohnhaus, diesmal mit Angel in der rechten, und einer vollen Sporttasche in der linken Hand. Als er zu seinem PKW zurückging, fuhren zwei Polizeiautos an ihm vorbei. Um einen unbeteiligten Ausdruck bemüht, legte er Angel und Tasche in den Kofferraum und fuhr nach hause.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
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  RE: Unter fremden Monden Datum:14.07.11 22:43 IP: gespeichert Moderator melden


Sechstes Kapitel:
Hangar C



1.

Die Dunkelheit hatte sich verändert. Noch immer war sie genauso undurchdringlich wie während der Zeitlosigkeit, aber ihre erdrückende Masse und Gestalt war verschwunden. Das Ende des entsetzlichen Schwarzen Breis war endlich erreicht. Mike spürte eine Oberfläche unter sich, also flog er nicht mehr, sondern lag auf festem Boden. Im ersten Moment war er froh, überhaupt wieder irgendetwas zu spüren. Da war vorher nur ein elend langes Nichts gewesen, angefüllt von Übelkeit und Todesangst. Vor dem Schwarzen Brei hatte er mit Claire…

Sein Gehirn wurde von einer Woge aus glühender Lava verschüttet, die alles Übrige auslöschte. Dann explodierte ihm der Kopf. Sein ganzer Körper krümmte sich erst zusammen, streckte sich dann wieder, krampfte erneut zusammen. Schrilles, langgezogenes Gebrüll hallte durch die Finsternis, zerriss grotesk die totale Stille, die hier vorher geherrscht hatte.

Noch nie hatte Mike solche Schmerzen erleiden müssen. Mit achtzehn Jahren war er mit seinem Skateboard beim Grinden über ein Treppengeländer schwer gestürzt. Mit dem Hintern voraus war er damals auf einer Stufe gelandet und hatte sich das Steißbein zertrümmert. Im Vergleich zu dem, was sein Kopf jetzt gerade erlebte, waren die Schmerzen damals ein Witz gewesen. Oder wären es gewesen, wenn Mike etwas hätte denken können. Die brennende Hölle mitten in seinem Kopf überlagerte alles andere. Es spielte keine Rolle mehr, wo er war, was mit ihm passiert war, wie er hierher kam. Agonie und Vernichtungsschmerzen waren alles, was noch von Bedeutung war.

Und es hörte nicht auf. Im ersten Moment hatte Mike gehofft, er würde einfach sterben oder wenigstens das Bewusstsein verlieren. Leider war ihm soviel Glück nicht vergönnt. Nach ein paar Minuten ebbten die hohlen, kreischenden Schreie ab, die ohne daß er es merkte aus seiner Kehle kamen. Es folgte ein gutturales Röcheln und Stöhnen, nicht etwa, weil die Schmerzen nachließen, sondern einfach nur aus dem Grund, daß Mike keine Kraft mehr hatte. Zugleich erschlafften auch seine krampfenden Muskeln. Die Hände hörten auf, mit dumpfen, wiederhallenden Schlägen auf den Boden zu trommeln. Der Hinterkopf schlug nicht mehr unkontrolliert gegen den Grund. Die Beine stellten die hektische Strampelei ein, dafür tränkte sich die Jeans zwischen Mikes Oberschenkeln mit Nässe.

Insgesamt dauerten die Krämpfe etwas mehr als zehn Minuten, anschließend verschwanden die Schmerzen genauso plötzlich, wie sei eingesetzt hatten. Sie hinterließen Mikes Geist völlig leer. Offene Augen starrten in lichtlose Schwärze, Blut floß aus Nase und Augenwinkeln, Speichel aus dem Mund.

Nach und nach fand Mike wieder zu sich, geführt von vergleichsweise leichten Schmerzen. Eine Platzwunde an seinem Hinterkopf pochte und zog. Seine Finger brannten, wo er sich drei Nägel abgerissen hatte, weil sich seine Händen unwillkürlich in den kalten, stahlharten Boden gekrallt hatten. Ergänzt wurden diese kleineren Wunden von einem gewaltigen Muskelkater, der nach und nach jeden Muskel seines Körpers zu erfassen begann. Dazu noch ein paar kleinere Abschürfungen und blaue Flecken, die er sich beim Krampf zugezogen hatte. Und eine ehemals warm – nasse Hose, die allmählich unangenehm kalt wurde. Mike begann zu zittern. Dennoch: All das war beinahe ein Genuß, verglichen mit dem, was er wenige Augenblicke zuvor erlebt hatte. Aber das Schmerzgedächtnis des Menschen ist eine eigenartige Sache: Ab einer bestimmten Intensität können starke Schmerzerlebnisse rasend schnell verdrängt werden; partielle Amnesie.

Mike setzte sich auf. Im ersten Moment war ihm schwindelig, er kämpfte gegen den Brechreiz an, besiegte ihn, und stellte sich auf die Füße. Zuerst verharrte er in der Hocke, eine Hand stützte sich auf den glatten, kalten Boden. War er blind? Er blinzelte mit den Augen, doch die Schwärze um ihn herum blieb undurchdringlich. Die Luft war kalt, es roch leicht ölig und ein wenig nach Rost. Keinerlei Windhauch berührte sein Gesicht, und es war vollkommen still um ihn herum.

Der Untergrund unter seinen nackten Füßen bestand anscheinend aus spiegelglattem Metall, kalt und in der Dunkelheit unendlich weit und eben. Langsam kehrten die Fragen zurück, und mit den Fragen kam die Angst. Wo war er? Wie kam er hierhin? Wo waren Claire und Charon? Träumte er? Sein ganzer Körper schmerzte, an manchen Stellen mehr, an manchen weniger. Wieso empfand er die Schmerzen als angenehm? Weil er kurz zuvor…

Ihm wurde wieder schlecht. Das Alles musste ein Traum sein. Allerdings konnte er sich nicht erinnern, jemals in einem Traum wirklich Schmerzen erlebt zu haben. Schmerzen waren generell ein Signal für den Körper, aus einem Traum augenblicklich zu erwachen, um sicherzustellen, daß der Körper nicht tatsächlich ein Problem hatte. Mike richtete sich auf. Verzweifelt versuchten seine Augen, irgendwas zu sehen, die Dunkelheit irgendwie zu durchdringen. Er drehte sich ein paarmal langsam und vorsichtig um sich selbst, blieb stehen, als er einen Hustenanfall bekam. Die bellenden Hustentöne verschwanden in der Dunkelheit, in weiter Ferne hallten sie wieder. Unwillkürlich musste Mike an eine große Höhle denken. Eine Höhle mit glattem Metallboden.

Obwohl er sich fast sicher war, alleine zu sein, begann Mike in die schwarze Stille zu rufen.

„Hallo?
HALLO!!!!“

In der Ferne hallte die Stimme wieder, Mike begann mit vor sich ausgestreckten Händen in irgendeine beliebige Richtung ins Dunkle zu gehen.




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  RE: Unter fremden Monden Datum:16.07.11 21:37 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo Turambar,
ich bin erst beim Zweiten Kapital, aber deine Geschichte nimmt mich gefangen.
Bisher ist sie in puncto Struktur, Handlung und Sprache vorzüglich (und ich bin mir sicher, daß sie es bleiben wird).
Was ich insbesondere daran liebe, hat Bluevelvet bereits viel besser formuliert, aber um ein weiteres Glanzstück deiner Formulierkunst zu zitieren: "Die Nackenhaare waren nicht das Einzige, was sich aufgerichtet hatte."
Du verstehst es, Dinge geistreich und witzig zu umschreiben und es zu vermeiden, in Platitüden abzugleiten.
Viel Erfolg weiterhin. Auf das Ende der Geschichte bin ich sehr gespannt; ebenso auf weitere Beiträge von Dir.
Mit vielem Dank für deine Mühe, die Du Dir gemacht hast,
Jean
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Turambar
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  RE: Unter fremden Monden Datum:16.07.11 23:59 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo, Jean.

Danke für die Blumen! Klar, es ist manchmal schon beinahe Arbeit, es steckt auch einiges an Zeit darin, aber wenn ich keinen Spaß dabei hätte, würde ich nicht schreiben. Umso mehr freut es mich, wenn es Leser gibt, die ihrerseits Spaß an der Geschichte finden.

Auf das Ende wirst du freilich noch eine Weile gespannt warten müssen. Da kommt noch so Einiges. Damit der Titel dann auch irgendwann mal einen Sinn ergibt, geht´s jetzt mal weiter in der fremden Welt mit "Hangar C".

Grüße, Turambar.
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  RE: Unter fremden Monden Datum:17.07.11 00:00 IP: gespeichert Moderator melden


2.

Wenn Augen über längere Zeit absoluter Dunkelheit ausgesetzt sind, steigert sich deren Lichtempfindlichkeit massiv. Plötzliche, blendende Helligkeit kann in dem Fall ein gewisses Problem darstellen.

Als mit einem mal das Licht anging, und Mike in gleißende Helligkeit gehüllt wurde, kehrte spontan der Vernichtungsschmerz zurück. Mit einem zittrigen Schrei riß er die Hände vors Gesicht und ging in die Knie. Die furchtbaren Schmerzen dauerten zwar nur den Bruchteil einer Sekunde an. Aber von totaler Verwirrung und Überraschung überwältigt krümmte er sich auf dem Boden zusammen, den Kopf in den Händen geborgen. Die plötzliche, unvorstellbare Helligkeit, maximaler Kontrast zur Finsternis vorher, war einfach unerträglich, dazu kam das überlaute Grölen einer blechernen, brutal verstärkten Computertimme.

„BLEIBEN SIE STEHEN. NEHMEN SIE DIE ARME ÜBER DEN KOPF UND BLEIBEN SIE UMGEHEND STEHEN. ERSTE WARNUNG. LEGEN SIE SÄMTLICHE WAFFEN VORSICHTIG AB UND GEHEN SIE FÜNF SCHRITTE ZURÜCK. ZWEITE WARNUNG. DEAKTIVIEREN SIE IHR EXOSKELETT UND BLEIBEN SIE REGUNGSLOS, BIS ZUM EINTREFFEN DER SCHÜTZER. DRITTE WARNUNG. BEI NICHTBEACHTUNG WIRD DER GESAMTE HANGARBODEN UNTER STROM GESETZT, IN SIEBEN – SECHS – FÜNF – VIER – DREI – …“

Dem absurden Inhalt zum Trotz rechnete Mike damit, in den nächsten Momenten wie auf einem Elektrogrill verschmort zu werden. Die Blechstimme in ihrer Lautstärke war nach der vorangegangenen Stille einfach zu überzeugend, zu beängstigend, um Zweifel an ihrer Autorität zuzulassen. Allerdings war er schlichtweg nicht in der Lage, den Aufforderungen zu folgen. Nach dem unvollständigen Countdown jedoch brach die Durchsage einfach ab; es geschah gar nichts. Das Licht jedoch leuchtete weiterhin mit unverminderter, grausamer Härte, drang selbst durch Mikes Finger und Lider. Mike wagte nicht, die Augen zu öffnen, oder die Hände aus seinem Gesicht zu nehmen. Er fürchtete, durch die plötzliche Reizüberflutung erblindet zu sein. Nach einer Weile hörte er trotz des Pfeiffens in seinen Ohren Schritte näherkommen: Rasche, dumpfe Schläge auf dem glänzenden Metallboden. Wiederhall in der abnormalen Weite des Raumes, in dem er sich befand. Eine leichte, unangenehme Vibration der Fläche, auf der er lag.

Jemand blieb direkt vor ihm stehen. Mike versuchte die Augen zu öffnen, versuchte, durch die Finger zu blinzeln, aber sobald er es versuchte, fuhr das grelle Licht wie ein glühendes Messer durch sein Gehirn. Ein derber Stiefel stieß unsanft gegen seine Schulter, und eine Stimme sprach ihn an; diesmal allerdings wenigstens eine durchaus menschliche. Vielleicht ein bisschen zu kratzig und ein bisschen zu tief, aber dennoch in gewisser Weise ein Hoffnungsschimmer nach der Einsamkeit. Verstört versuchte Mike sich zu erinnern, wann er das letzte Mal mit jemandem gesprochen hatte, es schien eine Ewigkeit her zu sein. Kaum konnte er sich überhaupt an menschliche Stimmen erinnern, genausowenig, wie er sich bis vor ein paar Minuten an Licht hatte erinnern können. In seinem eigenen Haus, Claire und Charon. Das schien Jahre her zu sein.

„Heda! Was ist los mit dir? Das hier ist Sperrgebiet, oder war es jedenfalls bis vor ein paar Tagen. Wie bist du reingekommen? Ist doch alles abgeriegelt.“
Mike brachte kein einziges Wort heraus. Aber wenn er die Lider fest geschlossen hielt, konnte er die Hände von den Augen nehmen, ohne das Gefühl zu haben, daß das Licht ihn umbrachte. Der kratzige Bass redete weiter auf ihn ein.
„Was ist? Kannst du aufstehen? Du kannst hier jedenfalls nicht liegen bleiben. Komm einfach mit mir mit fürs erste, dann sehen wir weiter. Wenn sie feststellen daß eine weitere Humankomponente hier ist, und ich nicht reagiere, dann habe ich ein Problem. Und das mache ich ganz sicher auch zu deinem Problem, das sei dir geschworen.“
Mikes Stimme höhrte sich stumpf und hohl an. Gebrochen, so als hätte er sie seit langem nicht benutzt. Was Unfug war, erst vor Kurzem hatte er aus Leibeskräften geschrien.
„Ich kann nichts sehen. Viel zu hell.“
„Jaaaaa, die Hallenbeleuchtung macht schon was her, das stimmt.“
„Wo bin ich?“
„Das hier ist Hangar C. Wie bist du reingekommen, verdammt?“
„Keine Ahnung. Ich war einfach da. Was ist Hangar C? Wo ist das, also welche Stadt, welches Land?“
„Mann, dich hat’s ja bös verrissen. Bist du vielleicht Ausschuß? Aber dann dürftest du ja wohl kaum so rumrennen, erst recht nicht hier. Oder hast Probleme mit deinem Erasor? Soll in letzter Zeit ja öfter vorkommen.“
„Entschuldigung, ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Aber so langsam geht’s wieder einigermaßen mit den Augen. Du hast nicht zufällig eine Sonnenbrille dabei, oder?“
„Ob ich was habe? Verdammich, du brauchst echt Hilfe, Mann.“

Mike nahm die Hand, die ihm gereicht wurde, und stand langsam auf. Er blinzelte, die Helligkeit schmerzte, aber sie brachte ihn nicht um. Er war auch nicht blind, allerdings erkannte er lediglich verschwommenen Schemen, genaugenommen einen einzigen, ziemlich großen, der jetzt vor ihm stand.

„Siehst du mich, ja?“
„So einigermaßen.“
„Ich bin Hauser. Humanunterkomponente für das Sicherungssystem von Hangar C.“
„Ich bin Mike.“
„Dann latsch mir einfach hinterher, Mike. Ich bring‘ dich mal aus dem Licht raus und beschaff‘ dir frische Hosen. Dann sehen wir weiter.“

Mike bemühte sich, den zügig voranschreitenden Schatten nicht aus den Augen zu verlieren. Die Augen hatte er immer noch zu Schlitzen zusammengekniffen. Er versuchte, den Blick auf den Boden zu richten, aber das war genauso fatal. Das glatte Metall strahlte und glänzte, spiegelte das grellweiße Leuchten, das den Raum füllte, mit voller Kraft wieder. Das Licht hatte keinerlei Wärmewirkung, so daß Mike trotz der Bewegung bald am ganzen Körper vor Kälte zu zittern begann. Vor Mund und Nase bildeten sich bei jedem Atemzug kleine Wölkchen.

Auch Hausers Atem kondensierte in der kalten Luft, allerdings hatte dieser mit der Kälte kein Problem. Sein großer, massiger Körper steckte in einem voluminösen, dunkelgrauen Daunenoverall, an den Füßen hatte er schwere Stiefel und auf dem Kopf eine braune Pelzmütze. Darunter hervor quoll langes, graues Haar. Wenn er sich zu Mike umdrehte, zeigte er einen ebenso grauen, langen Bart, eine große, rote Hakennase und zwei kleine, hellgraue Augen unter buschig – grauen Brauen.

Vor Hauser und Mike baute sich eine Wand auf, scheinbar endlos und glatt nach rechts und links verlaufend, ebenso endlos baute sie sich in die Höhe auf. Das Materiel war das selbe, schimmernde Metall wie der Boden, genauso glatt und fugenlos. Erst als Hauser die Hand ausstreckte, und mit zwei Fingern kräftig gegen die makellose Fläche drückte, schoß ein Teil der Wand zischend nach unten, und schuf eine dunkle Öffnung, in die Hauser hineinging. Mike folgte ihm durch die Tür, drehte sich aber auf der Schwelle um, um einen blinzelnden Blick in den Raum hinter ihm zu werfen.

Die Halle hatte groteske Ausmaße; daß sie absolut leer war ließ sie nur noch riesenhafter erscheinen. Alles war von dem ekelhaft grellen, weißen Licht erfüllt, das Boden und Wände leuchten ließ. Was Mike nirgendwo entdecken konnte, war eine Lichtquelle; entweder leuchtete die Luft, oder das Licht wurde von dem Metall ausgestrahlt, aus dem hier alles bestand. Die wahren Ausmaße von Hangar C ließen sich nur erahnen, da Boden und Wände Ton in Ton waren. Nur durch die Winkel dazwischen entstand überhaupt ein Effekt von Räumlichkeit. Als würde man das Innere einer beleuchteten Keksdose aus der Perspektive eines Bakteriums sehen. Mike sah nach oben, die Decke des Hangars befand sich – konservativ geschätzt – zweihundert Meter über seinem Kopf. Durch nichts unterschied sie sich von Boden und Wänden, außer durch die Position. Er hätte genausogut dort oben stehen können, die Füße am Dach, den Kopf nach unten, weil dort die Schwerkraft genau entgegengesetzt wirkte. Ein Alptraumbild, das in Mikes Magen Übelkeit auslöste. Er wandte sich angewidert ab, und folgte Hauser in den Schatten.

Sie gingen einen engen Koridor entlang, der genau wie die große Halle aus Schimmermetall bestand. Auch hier suchte Mike vergeblich nach einer Lichtquelle. Allerdings war das Leuchten hier deutlich schwächer, so daß Mike nun seine Augen endlich ganz öffnen konnte. Am Ende des Ganges befand sich eine Tür, ein Oval aus Metall mit einem Drehkreuz in der Mitte, aber immerhin eine richtige Tür, nicht eine Öffnung, die aus dem Nichts auftauchte. Mit Fugen außen herum, einem Klicken, als Hauser den Schließmachanismus betätigte, und sogar einem leichten Qietschen, als die Pforte kurz danach aufschwang.

„Nun, herzlich willkommen in meinem Humankokon, bemitleidenswerter Mike!“

Hausers „Humankokon“ war tatsächlich so etwas wie ein richtiges Zimmer, und es wirkte noch nicht einmal ungemütlich oder steril, so wie die Welt aus sterilen, kalten Flächen, aus der sie gerade kamen. Die Wände waren mit Tüchern behängt, auf dem Boden lagen Teppiche, einzig die Zimmerdecke war frei, und beleuchtete des Innere von Hausers Refugium. Die Einrichtung war jedoch eher spartanisch; ein Tisch und zwei Stühle, ein paar Schränke, ein Sofa und ein Bett. In einer Ecke befand sich so etwas wie eine Kochstelle, in einer anderen ein weiterer kleiner Tisch mit Stuhl, darauf ein leicht gewölbter, ovaler Monitor. Der Bildschirmschoner zeigte eine wogende, weibliche Brust. Hauser zeigte auf eine weitere Tür an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers.

„Was hältst du von einer Dusche mit Dampftrockner? Neben dem Waschbecken findest du auch einen Konverter, der dir Kleidung in deiner Größe bereitstellt. Alles kein Problem. Wenn du fertig bist, müsste der Kaffe das auch sein.“
„Danke, Hauser. Nur – äh – eine Kleinigkeit: Wie funktioniert dieser Konverter denn genau?“
Der riesenhafte Kerl legte seine Pelzmütze auf den Eßtisch, wobei er Mike mit einem leichten Kopfschütteln betrachtete.
„Irgendwas hat dir wohl komplett das Hirn weggeblasen. Hoffentlich gibt das keinen Ärger. Bei dem Konverter einfach auf die Schalttafel drücken, dann geht die Klappe auf, du nimmst die Sachen raus und ziehst sie an. Bekommst du das hin? Nicht, daß ich dich auch noch waschen muss, oder so. Das würde doch wohl keiner von uns wollen, oder?“
„Wohl kaum.“




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  RE: Unter fremden Monden Datum:17.07.11 18:31 IP: gespeichert Moderator melden


3.

Für Mike Mommsens Verstand war das „Badezimmer“ irgendwie eine Abnormität zuviel. Ihm wurde schwindelig, der glänzende Raum begann sich um ihn zu drehen und zu wirbeln. Als blanke Panik in ihm aufstieg, hatte er wieder das Gefühl, sich unmittelbar übergeben zu müssen. Im letzten Moment identifizierte er eine blanke, glänzende Metallkugel als Toilette, die er mit zwei zitternden Fingern antippte. Darauf klappte die obere Hälfte der Kugel lautlos zurück und gab eine trichterförmige Öffnung frei, in der eine durchsichtige, hellblaue Flüssigkeit stand. Ein penetranter Geruch nach Desinfektionsmitteln ging von der Brühe aus. Nachdem Mike sich übergeben hatte, wurden Erbrochenes und blauer Schleim mit einem lauten Zischen abgesaugt. Mike zog den Kopf zurück und setzte sich auf den Boden, bevor seine schwammigen Knie völlig den Geist aufgaben. Im selben Moment klappte der Deckel mit einem hohlen Klicken wieder zu. Mike umklammerte seine Knie; Überwältigt von Verzweiflung begann er hemmungslos zu schluchzen.

Anfangs hatte er versucht, sich damit zu beruhigen, daß er einfach nur einen besonders wirren und intensiven Traum erlebte. Doch gleichzeitig war ihm klar, daß er in dem Fall längst hätte erwachen müssen. Vor allem deswegen, weil trotz all der Wunderlichkeiten, denen er sich gegenüber sah, ein ungebrochener Ablauf von Ereignissen stattfand. Träume waren sprunghaft, Träume ignorierten Zeit und Raum. Das hier war zu vollständig, Details passten mit perverser Perfektion ineinander, die Wahrnehmung blieb lückenlos. Möglichkeit zwei: Das Haus war eingestürzt, er war unter Trümmern begraben worde, von der Feuerwehr ausgebuddelt, von Ärzten in ein künstliches Koma versetzt, künstlich beatmet. Irgendeine Intensivstation, der Kreislauf vollgepumpt mit Narkosemitteln und schmerstillenden Drogen. Die letzten, komatösen Halluzinationen eines zerquetschten Gehirns…

Möglichkeit drei.
Mike hob den Kopf. Die völlig verrückte Wirklichkeit dieses Ortes beharrte penetrant auf ihrer Existenz. Vergebens die irrsinnige Hoffnung, daß wenigstens die einzelnen Komponenten des Raumes ihre Position gewechselt hatten. Auch kleine, rosa Elephanten waren nirgends zu sehen, geschweige denn eine Gruppe tanzender Elfen. Mikes Wahrnehmung beharrte auf der aberwitzigen Idee, die Umgebung tatsächlich für real zu halten. Mikes Denken scheiterte schmerzhaft an der Frage nach dem Warum.

Überall umgab ihn hier das bekannte, undefinierbare Metall. Lichtspendend, ekelhaft unnahbar und steril. Nur, daß hier im „Badezimmer“ auch Wärme abgestrahlt wurde. Mike warf seine Klamotten mitten in der Metallkammer auf den Boden und stellte sich vor ein Konstrukt, das er für die Duschkabine hielt. Die bestand natürlich auch aus dem omnipräsenten Material, war etwas mehr als zwei Meter hoch und maß an der breitesten Stelle mehr als einen Meter im Durchmesser. Dem Raum zugewand befand sich eine ovale Öffnung in dem eiförmigen Metallklotz. Im Inneren des Dusch - Eis war es etwas heller als im Rest des Badezimmers. Als Mike hineinstieg, wurde es zusätzlich auch noch gleich etwas wärmer. Wenig überraschend war das Fehlen jeglicher Armaturen. Keine Wasserhähne, kein Duschkopf, noch nicht einmal Seife oder Shampoo. Gegenüber der Eingangsöffnung bemerkte Mike in der konkaven Innenhülle der Kabine eine leichte Ausbuchtung, etwa handtellergroß, die in entgegengesetzter Richtung zur restlichen Oberfläche gewölbt war. Mike erinnerte sich, wie er die Klokugel geöffnet hatte. Mit einem verzweifelten Seufzer tippte er mit zwei Fingern gegen die Auswölbung. Die Öffnung hinter ihm schloß sich binnen Sekundenbruchteilen, oberhalb der futuristischen Bedienfläche leuchtete eine blaue Schrift auf.

„Bitte die Handfläche auf das Bedienfeld legen!“
Mike presste seine Hand auf den blanken Metallhügel. Nichts passierte. Mit einem ungläubigen Kopfschütteln nahm er die Hand wieder weg. Diesmal erschien ein roter Punkt dort, wo vorher die Schrift gewesen war. Ein hektisches, hochfrequentes Piepsen erklang in der Duschkabine. Nach ein paar Sekunden war Mike überzeugt davon, die Anlage beschädigt zu haben. Eben als er sich darüber freuen wollte, erloschen Licht und Piepsgeräusch, dafür bekam er wieder etwas zu lesen.
„Biocode unbekannt. Geben sie bitte die Registriernummer ihres Exoskeletts ein und wiederholen sie den Vorgang!“

Einen Moment starrte Mike mit offenem Mund die Buchstaben an. Dann tat er das Naheliegendste, ballte seine weitestgehend schmerzfreie linke Hand zur Faust und versetzte der bescheuerten Schaltfläche einen kräftigen Hieb. Damit erreichte er immerhin den Effekt, daß nun beide Hände gleichermaßen weh taten. Dafür verschwand die Schrift, jenseits der Innenwand des Dusch – Eis hörte er zorniges Klicken und Brummeln. Mit einem gewissen Stolz und ängstlicher Befriedigung bildete Mike sich ein, die tolle Maschinerie immerhin aus dem Konzept gebracht zu haben. Zweifelnd las er die nächste Information:
„Bitte Reinigungs – und Wundversorgungsprozedur manuell auswählen!“
Ah, ja. Genau, nichts einfacher als das. Mike tippte ein paarmal schnell hintereinander auf das Bedienfeld.
„Kommando unbekannt. Wiederholen?“
Er hob beide Hände und legte alle zehn Fingerkuppen zugleich auf die Erhebung.
„Reinigungs – und Wellnessprogamm, Standartausführung, Dauer: 10 Minuten. Programm starten?“
Einmaliges Antippen mit dem Zeigefinger. Die Schrift wurde grün und blinkte.
„T -10.00
T -09.59
T -09.58“


Das Innere des Dusch – Eis füllte sich mit wohlriechendem Dampf. Mineralisch, angenehm frisch und pricklend. Mike schloß die Augen, während die Metallschale um ihn herum Unmengen von Flüssigkeit in winzigen Tröpfchen auf seinen Körper sprühte. Ströme von warmer Flüssigkeit liefen belebend über seinen Körper. Nur für einen Moment kehrte die Angst zurück, als sich urplötzlich die gesamte Kapsel mit Wasser füllte. Doch bevor Mike den Fehler machen konnte, vor Schreck einzuatmen und seine Lungen mit der ominösen Flüssigkeit zu füllen, wurde das Vollbad blitzartig wieder abgesaugt. Der Vorgang wiederholte sich mehrmals, angenehme Wärme, beinahe schon erregende Zufriedenhait breitete sich in Mikes Körper aus. Bei „T -1.01“ begann das Ei rasch zu vibrieren. Genau in dem Moment, als Mike sich der erektilen Wirkung dieser Stimulation gewahr wurde, war sein Körper trocken, hinter seinem Rücken öffnete sich die ovale Eingangstür der Kabine. Er warf noch einen kurzen Blick auf das Schriftfeld,
„T -0.00
Vielen Dank, daß sie Somatica – Duscheinheiten vertrauen!“

dann machte er sich in Hausers Badezimmer, daß durch die Annehmlichkeit des Duschvorgangs einen großen Teil seines Schreckens eingebüßt hatte, auf die Suche nach dem Bekleidungskonverter.

Eine weitere Halbkugel, die stark an den Toilettenglobus erinnerte, identifizierte Mike als Waschbecken. Immerhin schwebte das Teil etwa in Bauchhöhe vor ihm an der Wand. Rein interessenhalber tippte er die Auswölbung der Wand oberhalb des Beckens an. Sofort füllte sich die Halbkugel mit klarer Flüssigkeit. Einen halben Meter neben dem Waschbecken befand sich eine weitere Bedientafel. Diesmal drückte Mike sofort mit der gazen Handfläche auf die Wölbung. Die blaue Schrift erschien in diesem Fall unter der Schalttafel.
„Biocode unbekannt. Geben sie bitte die Registriernummer ihres Exoskeletts ein und wiederholen sie den Vorgang!“
Mike stöhnte auf; alles klar machen zur Bedienung mittels Faustschlag!

Hauser warf seinen Kälteschutzanzug auf das Bett und ging in Unterwäsche und Exoskelett zum kleinen Tisch mit dem konvex gewölbten Monitor. Er tippte mit zwei Fingern gegen die wogende Brust, die daraufhin verschwand. Dafür gingen mehrere Bildfenster auf, die hochaufgelöste Splatterfilme mit widerlichen, eindeutig pornographischen Szenen zeigten. Hauser stieß einen leisen Fluch aus. Mit ein paar gezielten Fingerstrichen schloß er sämtliches illegales Material auf seinem Mediocom. Dafür öffnete er ein Kommunikationsfenster, wählte in der Liste „Militärschutz“ aus und setzte eine Rückmeldung ab. Mit schnellen Fingerbewegungen füllte er die Auswahlfelder des Standardformulars. Der Typ, der sich so unvermittelt im Hangar materialisiert hatte, gab ihm Rätsel auf. Bei diversen Punkten blieb Hauser nichts anderes übrig, als die Auswahlmöglichkeit „unbekannt“, beziehungsweise „nicht definiert“ einzutragen. Dafür setzte er das Feld für „Dringlichkeit NRK“ auf „maximal“.

Nachdem er nun seine vordringlichste Pflicht erledigt hatte, machte er sich daran, das lästige Exoskelett abzulegen. Es mochte ja sein, daß Somatica in letzter Zeit Fortschritte gemacht hatte, was Bequemlichkeit, Gewicht und Sicherheit betraf. Aber Hausers Ausrüstung war schon ein paar Jahre älter, und außerdem gab es da so ein paar Kleinigkeiten, an die er sich niemals gewöhnen würde. Nachdem er die Komponenten für Arme, Beine und Torso abgebaut und im entsprechenden Schrank vertstaut hatte, entledigte er sich des lächerlichen Beckenschutzes. Immerhin gehörte er zu den Privilegierten, die zumindest im privaten Bereich auch diese Komponenten ablegen konnten. Verdammt, das war ihm einfach wichtig. Er kratzte sich nun mal gerne am Sack, und ebenso gerne befummelte er ausgiebig seinen aufgeblähten, labberigen Schwantz. Nicht, daß sich dabei irgendwas dort unten regte. Das Teil blieb immer aufgedunsen und schlaff, egal was er damit anstellte. Aber weil es in den letzten Monaten doch deutlich dicker geworden war, entstand bei längerem Tragen des Genitalschutzes doch immer ein unangenehmer Druck in der Dödelhülse. Das einzige was dagegen half, war eine ausgiebige, wenn auch lustfreie Massage. Was sollte da auch passieren? Selbst das verbotene, pornographische Material auf seinem Mediocom löste keinerlei sexuellen Reiz bei ihm aus. Eigentlich wusste Hauser gar nicht, wie sich soetwas wie sexuelle Erregung überhaupt anfühlte. Deher vermisste er in dem Zusammenhang auch nichts. Trotzdem fühlte es sich irgendwie richtig an, sich am Mediocom ver botene, sexuelle Brutalitäten reinzuziehen, während man die lästige Schwellung am Schwantz wegmassierte.

Als Mike aus der Dusche kam, saß Hauser am Eßtisch, wo er dampfendes, dunkles Gebräu aus einer ziemlich normal wirkenden Thermoskanne in zwei Blechbecher kippte. Die Flüssigkeit roch tatsächlich nach Kaffe. Mike spürte, wie dieser vertraute Geruch ihn ruhiger werden ließ.

Gekleidet in lange Unterwäsche aus einem undefinierbaren, aber sehr angenehm zu tragenden Material setzte sich Mike zu Hauser an den Tisch und testete den Kaffee. Besonders gut war das Zeug nicht, es erinnerte ihn an die erbärmliche Instant – Brühe, die der Automat in Claires Firma ausspuckte. Gemessen an all den Verrücktheiten, die Mike in der letzten Stunde hatte erleben müssen, war selbst diese Plörre ein erhabenes Zeichen von Normalität und von Wahrhaftigkeit. Gleichzeitig mißfiel ihm aber der durchdringende Blick, mit dem Hauser ihn über den Tisch hinweg anstarrte. Mike starrte zurück, ohne dadurch eine Reaktion zu provozieren.

„Und? Was ist los, Hauser?“
„Deine Kleidung ist unspezifisch generiert, richtig?“
„Was weiß ich? Hauptsache, die Maschine hat überhaupt etwas für mich ausgespuckt. Ein bisschen renitent, das Teil.“
„Biocode unbekannt?“
„Ja, genau das musste ich ein paar Mal lesen.“
„Was stimmt nicht mit dir Mike? Ich hoffe, du wirst mir kein Problem machen.“
„Ehrlich gesagt, ich habe noch nicht mal eine Ahnung, was denn ein Problem für dich wäre. Vielmehr hab‘ ich den Eindruck, für mich selbst das größte Problem zu haben.“
„Das kann ich kaum bezweifeln. Wie gesagt, ich bin schon bereit, dir zu helfen. Aber ich weiß wirklich nicht wie. Da wirst du Spezialisten brauchen.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Spezialisten wirklich begegnen will.“
„Kommt drauf an. Ich hoffe mal, du bist keiner von diesen Postapokalyptikern, stehst auch nicht mit denen in Verbindung oder so?“
„Ich habe noch nicht mal eine leise Ahnung, wovon du redest.“
„Immerhin. Aber wie gesagt, ich kann dir nicht wirklich helfen. Ich weiß noch nicht mal, wie du hier reingekommen bist.“
„Ich ja auch nicht.“
„Der Hangar ist stillgelegt und abgeriegelt. Nichtmal eine Stachelratte kommt hier rein oder raus.“
„Toll. Und was ist mit dir?“
„Was soll mit mir sein? Ich bin Bestandteil des Sicherungssystems, ich bin schon seit… Keine Ahnung. Jedenfalls ziemlich lange hier drinnen.“
„Du kannst nicht aus?“
„Nee. Selbst wenn ich wollte: Ich wüsste noch nicht mal wie.“
„Was für’ne Scheyße.“
„Wieso?“
„Weil du mich also auch nicht nach draußen bringen kannst.“
„Ich nicht. Aber du wirst kaum hier bleiben können. Ich denke, es wird ein paar Stunden dauern, aber die Schützer wissen bescheid, daß du hier bist. Die werden dich rauslassen. Die können dir auch helfen.“

„Ich wüsste nur gerne, was für Hilfe ich von denen bekommen werde.“
„So wie’s ausieht, hat’s dir irgendwie sämtliche Biosupressoren zerschossen. Du kommst hier ohne auch nur eine Exokomponente an, du hast noch nicht mal einen Erasor. Oder läuft der bei dir als Implantat? Aber auch dann hat das Teil irgendwie seinen Geist aufgegeben.“
„Was bitte ist ein Erasor?“
„Ruheüberwachung? Mann, bei dir ist ja alles weg! Entweder hat’s dir die Erinnerungsspeicher weggeschossen, oder du stammst aus `ner ganz anderen Welt oder so.“
„In dem Fall würd‘ ich selbst eher auf die zweite Möglichkeit tippen.“
„Ja, so siehst du aus. Sehr witzig.“
„Für mich nicht.“

Mike gähnte. Hauser hatte aus einer mikrowellenartigen Apparatur ein dampfendes Päckchen geholt. Den Inhalt quetschte er aus dem prallen Alubeutel auf zwei Blechteller. Die Pampe sah zunächst einfach nur fies aus, aber der Geruch war in Ordnung, und weil Mike plötzlich regelrecht Heißhunger verspürte, aß er den graubraunen Brei mit zunehmendem Genuß. Gut, solange man die Augen schloß, und das unästhetische Zeugs nicht ansah, schmeckte es eigentlich vorzüglich. Nach dem Essen kam die Müdigkeit. Hausers Kaffee half dagegen recht wenig, so daß Mikes Kopf immer schwerer und schwerer wurde. Je öfter er zwinkerte und gähnte, desto unruhiger wurde Hauser.

„Blos nicht einschlafen, Mike!“
„Warum? Schlaf ist genau das, was ich jetzt brauche.“
„Ohne Erasor? Du bist ja wahnsinnig, das ist Selbstmord. Und mich bringst du dabei genauso in Gefahr!“
„Du könntest mir endlich mal erklären, was an diesem beschyssenen Erasor so wichtig ist.“
„So langsam glaube ich, daß vielleicht genau das dein Problem ist.“
„Soso.“
„Man hört ja immer wieder solche Schauermärchen: Die Leute merken es nicht, wenn der Erasor den Geist aufgibt. Ignorieren den amtlichen Warnhinweis. Dann schlafen sie ein, und dann geht das mit dem Träumen los. Das killt dir dann alle Biosupressoren. Die meisten kriegen’s nicht mal mehr mit, drehen einfach durch. Das Üble ist, daß dieser trauminduzierte Wahn zuerst auf die Systeme zur Aggressionsregulierung geht. Und auf den Erogen – Supressor. Kannst dir ja denken, was das bedeutet.“
„Äh – Neulich hab‘ ich im Affekt dem Vater einer Schülerin eine geschallert. Aber das hat nichts mit einem Traum zu tun gehabt.“
„Sicher?“

Für einen kurzen Moment hatte Mike wieder das Bild vor Augen, daß auch in seinem Kopf aufgetaucht war, als er den netten Rassisten von Nebenan geohrfeigt hatte. Was hatte das mit einem Traum zu tun? Hausers Geschwätz hörte sich für ihn nach billiger Sensationspropaganda an. Er fragte sich, ob es in dieser seltsamen Welt wohl ein futuristisches Pendant zur Bild – Zeitung gab, aus dem Hauser seine Märchen bezog. Morgen früh (Wie spät war es eigentlich? Gab es hier denn soetwas wie ein Gestern und ein Morgen?) wollte er zum Frühstück mit Hauser zusammen mal einen Blick in diese Zeitung werfen. Sollte amüsant werden.

Mikes Kopf rutschte aus der Hand und bettete sich auf seinen auf dem Tisch ausgestreckten Arm. Liegen wäre besser, aber so ging es auch. Ein kurzes Flattern der Augenlider zeigte ihm, daß Hauser aufgestanden war und einen seiner Schränke öffnete. Dann blieben Mikes Augen geschlossen; tiefe, ruhige Atemzüge füllten seine Lungen.

Leider nur für zwei Sekunden.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
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Turambar
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  RE: Unter fremden Monden Datum:21.07.11 21:24 IP: gespeichert Moderator melden


4.

Ein stechender Schmerz fuhr Mike in den Hals, gefolgt von einem ekelhaften Brennen. Er fuhr mit einem Schrei hoch, wobei er seinen Stuhl umstieß, der polternd auf dem Teppich landete. Hellwach war er mit einem Mal; er hörte seinen Puls in den Ohren hämmern, das Herz schlug viel zu schnell und die Haut am ganzen Körper begann zu jucken.

Mit riesigen Pupillen starrte Mike Hauser an, zitternd am ganzen Leib. Der große Mann mit den langen, grauen Haaren und dem Vollbart hatte den Tisch zwischen sich und Mike gebracht, in einer Hand hielt er eine Art Injektor aus Glas mit einer kurzen Nadel am Ende, von deren Spitze ein winziger Tropfen Blut perlte. In der anderen hatte er einen kurzen Gegenstand aus dunklem Metall, der in etwa die Form eines großen Eddings hatte. Am Ende des „Stiftes“ glühte ein rotes Licht, das nun direkt auf Mike gerichtet war.

„Was in aller Welt war das, Hauser? Bist du wahnsinnig?“
„Ob ich wahnsinnig bin? Bist das nicht eher du? Tauchst aus dem Nichts in einem Versiegelten Hangar auf, hast keine Ahnung, wie du reinkommst, wo du herkommst, hast alle Erinnerungen verloren. Mich fragst du, ob ich wahnsinnig bin?“
„Hab‘ ich dir irgendwas getan? Angegriffen? Dich auch nur mit blutgierigen Blicken angeschaut?“
„Du siehst katastrophal aus, Mike. Wenn das überhaupt dein Name ist. Du bist völlig von der Rolle, und ich werde nicht warten, bis du angreifst.“
„Ich habe nicht vor, dir irgendwas zu tun!“
„Ach, wirklich? Sagst du jetzt. Aber wenn du einschläfst, was passiert dann?“
„Wenn ich schlafe, dann doch erst recht nicht! Ich schnarche noch nicht mal!“
„Du hast völlig den Verstand verloren! Du willst schlafen, ohne Erasor? Dann wirst du durchdrehen, und bringst uns beide um! Du wirst nicht schlafen!“

Mike war fassungslos. Was sollte dieser Unfug? Das dauernde Gerede von einem Erasor, diese Angst, die Hauser offensichtlich vor Träumen hatte, noch dazu vor fremden Träumen? Kopfschüttelnd stellte er seinen Stuhl wieder auf, setzte sich, stand wieder auf, weil sein Herz immer noch raste, seine Nerven bis zum Äußersten gespannt waren. Dabei ließ Hauser ihn keinen Moment aus den Augen, aus seinen kleinen, blitzenden Augen. Das rote Licht blieb konsequent auf Mikes Brust gerichtet. Schließlich lehnte Mike Mommsen sich gegen die Spüle, weil seine Beine zu zittern begannen.

„Also gut, ich werde nicht schlafen. Würde mir auch schwerfallen, bin total aufgekratzt. Was zum Teufel hast du mir da reingedrückt? Was willst du von mir, Hauser?“
„Was soll ich von dir wollen? Nichts. Aber dir sollte klar sein, daß du tot wärest, wenn ich dir nicht geholfen hätte.“
„Geschwätz.“
„Mitnichten. Du erinnerst dich an die Durchsage? Als das Licht anging?“
„So vage.“
„Der Boden hätte sich wirklich unter Strom gesetzt, wenn ich den Mechanismus nicht deaktiviert hätte. Genauso wie die Wände und Decken des Hangars.“
„ist ja super.“
„Eigentlich darf ich den Mechanismus nur in besonderen Fällen deaktivieren.“
„Soll ich dir jetzt dafür dankbar sein?“
„Du solltest mir dafür dankbar sein, daß ich dir das Sympathomimetikum gespritzt habe, bevor du einschlafen konntest.“
„Ausgerechnet. Normalerweise schlafe ich nämlich ganz hervorragend, bringe dabei niemanden um, bekomme keine Wahnvorstellungen, oder sonst irgendwas. Und das alles ohne einen Erasor.“
„Ja, man sieht, wie gut dir das bekommt.“
„Ich habe keine Ahnung, wie ich hier herkomme, aber ich gehöre hier nicht hin. Das ist klar. Das meiste, was du mir erzählst, ist echt maximal kryptisch. Ich habe noch nie so eine Dusche gesehen, ich habe noch nie so einen Hangar gesehen. Aber ich weiß ganz gut, woher ich komme. Ich bin mit meiner Frau und einem Freund zuhause im Wohnzimmer gesessen, wir haben Wein getrunken, die Stimmung nach dem Gewitter genossen, und etwas gespielt. Dann ist irgendwas passiert, und jetzt bin ich hier. Wenn du mich vorhin wirklich gerettet hast, dann bin ich dir dafür dankbar. Aber dieser ganze andere Scheyß ist eine Farce.“

„Und jetzt sag‘ ich dir mal, wie das auf mich wirkt: Du bist völlig durchgeknallt, wahrscheinlich weil du unter dem Einfluß von Träumen stehst. Mit deiner Frau? In einem eigenen Wohnzimmer? Wein? Also beim besten Willen, dann müsstest du zu den höchsten Funktionären gehören. Und so siehst du wirklich nicht aus. Was du da von dir gibst, ist nicht mehr als eine wirre Phantasie.“
„Für mich ist das hier gerade eine Phantasie. Wie ein Traum. Oder genauer gesagt: Wie ein Trip. LSD oder Psilos. Sowas in der Art. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, ich bin Lehrer an einem Gymnasium, meine Frau arbeitet für die Forschungsabteilung eines Pharmaunternehmens. Das eigene Haus haben wir gekauft, weil Claire schwanger war, aber das Kind haben wir verloren. Und das Haus behalten. Du willst mir jetzt ernsthaft erzählen, mein ganzes Leben war ein Traum?“
„Was sonst? Du erzählst mir hier Dinge, die gibt es gar nicht. Was für ein Leben du wirklich hattest, wer du wirklich bist, kann ich dir nicht sagen. Aber das, was du da erzählst, ist völlig konfuser Mist. Traumscheyß eben. Alles was ich tun kann, ist mit dir auf die Schützer warten. Mit denen gehst du in ein Zentrum der NRK, und ich hoffe, daß die dich dann irgendwie wieder hinbiegen können.“
„Was ist NRK?“
„Nationale Ruhephasen Kontrolle. Aber da du ja anscheinend nichts mehr weißt, wird dir das auch nichts sagen.“
„Nee, nur, daß ich gerade ganz sicher träume.“
„Tust du nicht.“
„Danke, sehr hilfreiche Bemerkung. Hast du selbst jemals geträumt, Hauser?“
„Zum Glück nicht!“

Er konnte nicht anders. Mike fing an zu lachen. Erst gluckernd, dann zunehmend schrill, wurde er geradezu von einem hysterischen Lachkrampf geschüttelt. Es war unmöglich, das Gelächter zu unterdrücken, obwohl er sich Hausers verblüfftem Blick bewusst war. Hauser, der einfach nur mit offenem Mund dastand, regungslos, das rote Licht nach wie vor auf Mike gerichtet. Aus Hausers Sicht musste Mike jetzt erst recht als armer Irrer gelten. Von Lachsalven geschüttelt, setzte Mike sich nun doch wieder an den Tisch, stützte die Ellenbogen auf und barg sein Gesicht in den Händen. Nach einer Weile wurde aus dem Lachen ein Weinen. Voller Verzweiflung schluchzte er in tränennasse Handflächen. Als Mike sich schließlich beruhigt hatte und aufschaute, hatte Hauser sich ebenfalls wieder gesetzt. Wie zuvor saß er ihm gegenüber, auf dem Tisch die leere Kanne, zwei leere Kaffebecher, sowie der dünne Zylinder aus dunklem Metall, mit dem Hauser Mike bedroht hatte. Das rote Leuchten an der Spitze war verloschen.

„Tut mir leid, Hauser, jetzt musst du mich erst recht für verrückt halten.“
Hauser antwortete mit einem langsamen Nicken.
„Aber wie grotesk ist das eigentlich: Ich rede mit einer Traumfigur, die mir aus dem Brustton der Überzeugung versichert, daß ich wach bin. Daß das hier alles real ist, im Gegensatz zu meinem ganzen Leben. Dann erzählt mir diese Figur, daß sie selbst noch nie geträumt hat. Phantastisch! Es könnte gar nicht besser passen?“
„Soll ich diese Traumfigur sein?“
„In der Tat!“
„Du hast Nerven…“
„Nicht mehr, Hauser. Spätestens, seit du mir die Spritze gegeben hast nicht mehr. Aber: Wenn du wirklich real sein solltest, wenn es diesen Hangar und die abgefahrenen Dusche und alles wirklich gibt, dann habe ich ein richtiges Problem.“
„Ah! Erste Erkenntnis. Immerhin mal soviel Einsicht.“
„Freu dich nicht zu früh. Weil dann komme ich nämlich aus einer ganz anderen Welt, bin für dich sozusagen ein Außerirdischer.“
„Ich mach‘ mal noch mehr Kaffee.“

Die Müdigkeit war völlig verflogen. Mike spürte leichtes Kopfweh, aber immerhin hatte seine Herzfrequenz sich wieder einigermaßen normalisiert. So sinnlos die Vorstellung auch sein mochte, sie hatte einen gewissen Reiz: Er war einfach nur irgendwie in eine fremde Dimension, ein fremdes Paralleluniversum geraten. Oder hatte eine Zeitreise gemacht. Immerhin war er dann nicht verrückt, oder lag unter Drogen in einem Krankenhaus im Koma. Hauser mochte ihn immer noch für verrückt halten, schien aber davor mehr Angst zu haben als vor der Vorstellung, Mike könnte ein „Außerirdischer“ sein.

„Wie wäre es, Mike, wenn du mir einfach mal von „deinem Leben“ erzählst. Spielt ja eigentlich keine Rolle, ob das jetzt irgendwelche Phantasien sind, oder eine ominöse andere Welt. Erzähl einfach, und schlaf dabei nicht ein. Sonst müsste ich dich wirklich außer Gefecht setzen, eine zweite Dosis kann ich dir nämlich nicht geben.“
„Ist das dafür da? Zum außer Gefecht setzen?“
Mike zeigte auf den dunklen Metallzylinder.
„Das hier? In der Tat, ja. Ein Schuß, und du wärest für die nächsten zwanzig Stunden gelähmt. Wäre aber scheyße für mich, weil ich dich dann beatmen müsste.“
„Ist ja herrlich.“
„Erzähl einfach, Mike!“

Mike erzählte. Er redete von seiner Arbeit, von Claire, von Häusern, Autos und Urlaubsreisen. Hauser hörte zu, ohne Fragen zu stellen. Aber nach und nach stieg seine Verwunderung. Ab und zu schüttelte er den Kopf, oder strich sich ungläubig über den Bart. Mike wurde bewusst, daß Vieles von dem, was er berichtete, für Hauser genauso unglaublich war, wie für Mike die Funktionen des Badezimmers. Nach einer Weile begann Mike von Claires Schwangerschaft zu erzählen. Hauser hörte ihm mit offenem Mund zu, als würden die Kinder in seiner Welt vom Storch gebracht. Oder von einem mit Mikroprozessoren vollgestopften, elektronischen Äquivalent dazu.

Über eine Stunde verging, bis Mike wieder schwieg. Anfangs tat Hauser es ihm gleich. Zwischen ihnen auf dem Tisch eine leere Kanne und zwei leere Kaffebecher. Hausers ganze Haltung hatte sich verändert. Er zeigte Interesse, seine Furcht vor Mike schien fast verschwunden zu sein.

„Was ist mit den Träumen?“
„Was meinst du, Hauser?“
„Na, die Träume. Du hast mir so viel erzählt, und es ist unglaublich. Du hast mich gefragt, ob ich jemals geträumt habe. So als würdest du genau wissen, was das ist.“
„Genau weiß ich das nicht. Niemand weiß das genau. Aber für mich – in meiner Welt – sind Träume ganz normal. Ich träume jede Nacht, eigentlich immer wenn ich schlafe. So wie jeder andere Mensch auch.“
„Wie ist es?“
„Träumen?“
„Genau.“
„Kann man schlecht beschreiben. Manchmal schön, manchmal furchtbar. Meistens keins von beidem, aber es ist wichtig. Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, daß Träumen sogar überlebenswichtig sind.“
„Warum denkst du, daß du jetzt gerade träumst?“
„Erwischt. Denke ich nämlich gar nicht. Weil Träume ganz anders sind, als das hier. Aber wie soll ich das beschreiben, wenn du selber nie geträumt hast…“

Mike verstummte, als das Klopfen begann. Langsame, dumpfe Schläge tönten durch das Zimmer. Mike konnte die Vibration des Bodens spüren; der Schall selbst war omnipräsent, ging von den schimmernden Metallstrukturen des Raumes aus. Gerade als Mike Hauser fragen wollte, was der Lärm zu bedeuten habe, erhob sich der Bärtige mit einem Seufzen. Während Hauser zur Eingangstür ging, warf er Mike einen Blick zu, der beinahe gequält wirkte.

„Mike, vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Aber zwei Sachen solltest du wissen: Als der Alarm ausgelöst wurde, musste ich Meldung machen. Du wirst vielleicht bald verstehen, warum. Die Schützer wären so oder so hier angerückt. Und wenn ich dich wirklich falsch eingeschätzt habe, nur für den unwahrscheinlichen Fall, daß deine Welt, von der du erzählt hast, vielleicht doch nicht so falsch ist: Es tut mir leid.“

Hauser öffnete die Tür.



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  RE: Unter fremden Monden Datum:23.07.11 19:27 IP: gespeichert Moderator melden


5.

Die Schützer sahen auf jeden Fall ganz anders aus, als Mike befürchtet hatte. Keine Roboter, keine gehörnte Monster oder Dämonen, noch nicht einmal bewaffnete Finsterlinge in Nazi – Uniformen. Von Hauser eingelassen wurden zwei eher schmächtige Männer, einer mit runder Brille und Glatze, der andere mit kurzen, grauen Haaren und einem hängenden Augenlid. Beide trugen unspektakuläre, graue Anzüge, matt glänzend und einigermaßen schlecht geschnitten. Unter dem Jackett graue Westen und schwarze Hemden mit Stehkragen.

Ihr harmloses Äußeres, ihre Unscheinbarkeit war jedoch trügerisch, was Mike schnell erkannte: Beide trugen in der rechten Hand jeweils einen dieser dunkel glänzenden Gegenstände, mit bedrohlich rot leuchtendem Punkt am Ende. Die beiden seltsamen Waffen wurden prompt auf Mikes Brust gerichtet. Er verspürte kein besonderes Interesse, die Wirkung eines solchen Rotlicht – Eddings kennenzulernen. Mike warf Hauser einen abschätzenden Blick zu, und sah, daß er schwitzte. Während der Kurzhaarige neben der geschlossenen Tür stehen blieb und auf Mike zielte, setzte sich der andere an den Tisch, wo er bedächtig ein zusammengefaltetes Papier und einen Stift aus der Tasche zog. Einen richtigen Stift, einen zum Schreiben, wie Mike anerkennend feststellte.

„Irgendwelche Probleme mit dem Fremdling, Hauser?“
Die Stimme des Schützers klang, als hätte er Kreide gefressen.
„Nichts Ernstes. Als er einzuschlafen drohte, hat er vier Einheiten Lysikat P erhalten. Ansonsten kooperativ, der Mann. Alles Bestens.“
„Schön, Hauser! Sehr schön! Das freut uns doch alle, oder?
Der Schützer lächelte Mike zu, Mike lächelte zurück, worauf das Gesicht des Grauen versteinerte.
„Den Vorfall bitte schriftlich bestätigen, Hauser. Und hier das Narkolytikum eintragen.“
„Wo geht er hin?“
„Hauser, das betrifft sie nicht mehr. Ihr Standort ist Hangar C.“

Hauser überflog das Dokument, füllte einige Zeilen aus, und gab dem Schützer den Wisch zurück. Ohne ein weiteres Wort zu Hauser stand der Graue auf und wandte sich an Mike.
„Sie sind?“
„Und sie?“
Als hätte er einen Schlag erhalten, verzog der Schützer sein Gesicht. Dafür drehte er sich wieder zu Hauser und schüttelte den Kopf. Dessen Angst war beinahe greifbar. Für einen Moment rechnete Mike damit, daß der Schützer den graubärtigen Riesen auf der Stelle töten würde. Stattdessen zeigte er einfach auf Mike, dann auf einen von Hausers Schränken. Hauser riss die Tür auf und kramte einen Daunenoverall und Stiefel hervor, die er Mike reichte.

„Draußen ist es arschkalt, Mike. Das solltest du lieber anziehen.“
„Ehrlich? Diese beiden Graumänner sehen in dem Zwirn nicht aus, als kämen sie aus dem sibirischen Winter.“
„Hä?“
„Vergiss es, Hauser. Und danke für den Kaffee.“

Die Schützer wirkten ungeduldig. Kaum, daß Mike fertig angezogen war, winkte der mit der Kreidestimme hektisch mit seinem Rotlicht – Edding.
„Wenn sie uns dann bitte folgen würden!“

Rot.
Farben und Weite waren wie ein Schock für Mike. Verschwunden war der enge Tunnel aus glänzendem Metall, durch den er mit Hauser zu dessen Zimmer gegangen war. Das Licht nicht mehr schummerig weiß, sondern ein grelles Spiel aus satten Rottönen. Lange, leicht gewellte Hänge von beinahe neongrellem Pink zogen sich zu einem weiten Tal hinab, dahinter reihten sich karge Höhenzüge aneinander; alle Flächen schienen makellos, schimmerten und glänzten rot und rosa. Über den gewaltigen Bergketten waberte eine riesige, orangerote Scheibe. Es hätte eine Sonne sein können, aber das Licht war kalt, viel zu kalt. Diese Sonne strahlte keinerlei Wärme ab. Genau wie das Innere des Hangars wirkten auch hier draußen die Dimensionen gewaltiger als alles, was Mike bisher gesehen hatte. Und genau wie der Hangar erschien auch die Außenwelt viel zu leer, viel zu verlassen.

Unter Mikes schweren Stiefeln knirschte es. Er bückte sich, seine Hnad fuhr über den von Fußspuren zertrampelten Boden. Verblüfft zerdrückte er die Masse die er aufgenommen hatte, und zwar zu einem Schneeball. Die eintönigen, rosanen und roten Flächen, die sich makellos in die Ferne erstreckten, ergaben einen Sinn: Die ganze Welt war tief verschneit.

Mike blinzelte, erstaunt betrachtete er die beiden Schützer rechts und links neben ihm. Ihre Anzüge waren nicht mehr länger grau, sondern leuchtend grün. Die vormals bleichen Gesichter leuchteten beinahe purpurn. Er drehte sich nach der Tür um; die Außenwand des Hangars erhob sich abartig hoch, sie allein schien das rote Licht nicht zu brechen, stumpf und grau dehnte sie sich leblos und gleichmäßig in alle Richtungen aus.

„Scheyße, wie geht das? Wo ist der Tunnel, durch den ich mit Hauser in seine Wohnung gekommen bin?“
Der glatzköpfige Schützer drehte sich ruckartig herum, sein Gesicht befand sich kaum fünf Zentimeter von Mikes Gesicht entfernt, wenn auch ein bisschen tiefer. Der Rotlicht – Edding bohrte sich in Mikes Bauch.“
„Sagen sie ihren Namen!“
„Mike Mommsen.“

Die Glatze ging wieder auf Distanz, das Purpurgesicht entspante sich. Sogar die seltsame Waffe ließ der Mann sinken.
„Schön, Mommsen, sehr schön! Das freut uns doch alle. Das Wohnareal von Humanunterkomponente Hauser hat rotiert, um uns Zugang zu gewähren.“
„Ach so. Ich hätt’s wissen müssen.“
„Sie wussten’s nicht. Darum sind wir ja hier, um ihnen bei ihrem kleinen Problem zu helfen. Mal sehen, vielleicht werden wir ja noch richtig gute Freunde, Mommsen!“
„Da hab‘ ich meine Zweifel.“
„Und wenn schon. Wenn sie dann bitte zum Cruiser vorangehen würden!“

Mikes Blick folgte dem ausgestreckten Arm. In einiger Entfernung stand nahe der Mauer des Hangars ein Gefährt, das wie eine Mischung aus Pistenraupe und Monstertruck aussah. Neben dem Fahrzeug standen drei weitere Männer in leuchtend grünen Anzügen. Mike nahm an, daß die Anzüge im künstlichen Licht des Hangars grau gewsen wären.

Als sich die Tür hinter Mike und den beiden Schützern geschlossen hatte, stieß Hauser einen langen, zitternden Schrei aus. So ruhig war der Fremde in der Gegenwart der Schützer gewesen. So verdammt ruhig, als würde er es überhaupt nicht spüren. Hausers ganzer Körper fühlte sich wie Wachs an, er konnte nichts anderes mehr tun, als sich auf seine Pritsche zu legen. Zitternd und mit einem unangenehmen Flimmern vor Augen zog er die Knie an und rollte sich auf seinem Bett zusammen. Ein ekelhaftes Kribbeln und Jucken zog sich seinen Nacken hinauf, kroch ihm unter die Schädeldecke, als der Erasor anlief. Hausers rechte Hand zuckte nach der kleinen, fünfeckigen Metallscheibe zwischen den Schulterblättern. Sie befand sich genau an dem Punkt des Rückens, den seine Finger so gerade nicht erreichen konnten.

Kurz vor dem Einschlafen schwamm ein seltsamer, wirrer Gedanke durch seinen Kopf, gefolgt von einem noch unglaublicheren Gefühl. Vor seinem inneren Auge tauchte der mysteriöse, dunkelhäutige Fremdling auf, der so selbstverständlich über Träume redete. Der so unbeeindruckt von den gräßlichen Schützern blieb. Fremdartige Erzählungen von einer andersartigen Welt. Hauser fragte sich zum ersten Mal, wie es wohl wäre, ohne Erasor einzuschlafen.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Hauser das Gefühl, daß ihm etwas ganz Wichtiges fehlte. Ein beinahe schmerzhaftes Gefühl der Unvollständigkeit suchte ihn heim, rumorte in seinen Eingeweiden und zog an seinen nutzlosen Hoden. Es war das Abwegigste, das Absurdeste, was ein Mensch überhaupt denken konnte, aber Hauser wünschte sich einen Traum. Und er wünschte sich eine Frau; nicht wie in den illegalen Filmen, die er sich ansah, sondern eine richtige Frau, mit der er…

Als er einschlief, unterbrach der Erasor sämtliche Denkvorgänge. Weder würde Hauser jemals träumen, noch würde er jemals mit einer Frau zusammen sein. Dafür hatte er immerhin nur noch ein paar wenige Wochen bis zu seinem Tod vor sich, was Hauser aber im Gegensatz zu den Schützern nicht wissen konnte.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
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Siehst du, genau das mag ich an euch Vampiren. Sex und Tod und Liebe und Schmerz, das ist alles immer dasselbe für euch. (Buffy)

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  RE: Unter fremden Monden Datum:07.01.12 20:02 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo Turambar,

Eine wirklich schöne Geschichte, die sehr gut geschrieben ist. Ich hoffe du setzt sie irgendwann mal fort, auch wenn hier zu wenig Feedback kommt. Ich würde mich schon dafür interessieren, wie es ihr ergangen ist und ob die beiden sich wiederfinden. Auch frage ich mich, ob ihr Vater irgendwas verheimlicht und eine Ahnung hat, wo die zwei hinsind. Fragen über Fragen, und nur Fortsetzungen können sie beantworten.
Meine Geschichten:
Das Vampirimperium 2020
Inhaltsverzeichnis Das Vampirimperium 2020

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