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Fachmann
Leipzig
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Die andere Hälfte der Brosche
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Datum:06.08.07 19:17 IP: gespeichert
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Die andere Hälfte der Brosche
Lyon 1503
Regelrecht selbstverliebt begann dieser Freitagmorgen. Obwohl der Oktober bereits in voller Blüte stand, verwöhnte die Sonne die mittelalterlich, bezaubernde Kulisse der Stadt.
Man mochte meinen es sei einer dieser warmen Spätsommer Tage.
Und, man könnte glauben, die Bürger Lyons wollten diesen Tag noch einmal in ganzer Länge ausnutzen. Denn obwohl noch nicht mal die zehnte Stunde erreicht war, versammelten sich Tausende auf dem Marktplatz.
Aber genauso wie die Oktobersonne den Herbst nicht wirklich betrügen konnte, so floh sehr schnell, beim näheren Hinsehen, der Eindruck das die Lyoner hier nur zum lustigen Treiben versammelt waren.
Aber lauschen wir, ganz unschicklich, dem Gespräch zweier junger Hausfrauen aus der Menge.
„He, Marie!“, sprach eine füllige Blondine, ihre Nachbarin an.
„Weißt Du welche von den drei Huren heute unter den Henker kommt?“
Die Angesprochene, eine hübsche Brünette, zuckte etwas verlegen mit den Schultern.
„So richtig bin ich mir nicht sicher. Glaube aber die Ältere von ihnen. Aber das ist doch völlig egal! Hauptsache ist doch, dass man endlich etwas gegen das diebische Zigeunergesindel unternimmt.“
Die Blonde nickte zustimmend, meinte dann aber noch.
„Man sagt jedoch das nicht Eine von ihnen etwas gestanden hat. Nicht mal unter der härtesten Folter.“
Marie winkte ab.
„Das sind Zigeuner! Und Zigeuner sind anders wie wir! Wurden nicht Zwei von den Dreien vor einem halben Jahr der Stadt verwiesen? Allein ihre Rückkehr bedeutet der Galgen. Da kannst Du sehen, was die von Recht und Zucht halten.“
Aber schämen wir uns, für unser Lauschen. Lassen wir die beiden ehrbaren Frauen allein mit ihrer Philosophie.
Eine Woche zuvor sind Unbekannte in der Nacht in die Saint Lukreziakirche eingebrochen. Ihre Beute war nicht unermesslich im Wert. Viel schlimmer jedoch, als der Raub selbst, wog der Frevel für die Lyoner.
Schon einen Tag später griff man in der Vorstadt drei junge Zigeunerinnen auf. Zwei davon standen schon im Bann. Bei Einer fand man dann auch ein Stück vom Kirchenschatz.
Die Mädchen beteuerten zwar ihre Unschuld, doch das nützte ihnen wenig.
Man legte sie unter den Henker. Aber trotz seiner besten Kunst, wollte Keine gestehen. Zu guter letzt entschied der hohe Rat zu Lyon, dass die Beiweiße auch so reichten. Alle Drei wurden zum Tod durch den Strang verurteilt.
Heute sollte die Erste, ein dreiundzwanzig jähriges Mädchen, das Schafott besteigen. Die beiden Anderen sollten ihr am nächsten Montag folgen.
Aber sehen wir wieder auf den Markt. Eine wunderliche Alte, in Lumpen gehüllt, hatte das Blutgericht erklommen. In der einen Hand ein Armesünderglöckchen. Wie ein Herold sprach sie auf die Bürger ein. Ja sie schien eine regelrecht zündende Rede zu halten.
Mancher winkte ab, Viele lachten die Alte aus. Die Meisten jedoch kümmerten sich gar nicht um sie. Dennoch, man konnte meinen das Weib hatte so etwas wie Narrenfreiheit hier in Lyon.
Die brünette Marie tippte ihrer blonden Nachbarin auch amüsiert auf die Schulter.
„He sieh doch Garwina! Die alte Clementine ist wieder dabei. Noch nie erlebt das die sich entgehen lässt wenn ein Zigeuner zum Teufel fährt!“
Doch Garwina konnte den Spott der Freundin nicht teilen.
„Wenn Du das erlebt hättest, was Clementine wiederfahren, so würdest Du nicht so reden!“
Dennoch, als Außenstehender, hätte man sehr schnell Maries Meinung verstanden.
Die Alte da oben benahm sich wahrlich wunderlich. Sie schnitt Grimassen, vollführte seltsame Tänze und schrie regelrechte Hassparolen unter die Menge.
„Hört mich! Die Zigeuner sind die Kinder des Satans! Sie rauben euer Geld, schütten Gift in die Brunnen! Und in der Nacht schleichen sie in euere Kirchen. Dort vollziehen sie widerliche Kulte. Dazu tanzen sie unzüglich.“
Und um ihre Rede den Lyonern anschaulicher zu machen, hob die Alte ihr knochiges Bein, was kam von Fetzen verhüllt war. Dann stakste sie affektiert über das Schafott.
Mancher lachte darüber, die Anderen sahen aber nur mitleidig auf die Närrin.
Doch Clementine ließ sich nicht beirren.
Hörbar stampfte sie mit dem Fuß auf, und fuhr fort.
„Und dann, als wenn dies Frevel nicht schon genug wäre, dann schleichen sie in euere Häuser, wenn ihr schlaft. Und greifen sich euere Kinder!“
Bei diesen Worten traten der Alten die Augen unnatürlich hervor und ihr zur Grimasse verzogenes Maul tropfte vor Geifer.
Blitzschnell stieß ihr dünner, sehniger Arm unter den Lumpen hervor und ihre länglichen schmutzigen Finger krallten sich wie Geierklauen.
Obwohl die meisten der Anwesenden das schon unzählige Male in den letzten Jahren von Clementine kannten, gab es doch immer noch Welche die erschrocken zurück wichen.
Und dies war wirklich ein Höhepunkt in ihrer Rede. Mit schriller, sich überschlagener Stimme fuhr sie fort.
„Und dann! Dann fressen diese Dämonen unsere unschuldigen Kinder! Ja sie fressen sie! Diese Bestien! Unsere Kinder, die so unschuldig sind wie die Engelein.“
Und mit diesem Aufschrei brach Clementine zusammen. Weinend und schluchzend kniete sie auf dem Schafott.
Und jedes Mal, noch Heute, trat Stille ein auf dem Marktplatz zu Lyon.
Betroffen sah man zum Blutgericht empor, oder einfach irgendwie weg.
Und dieses seltsame Gefühlskonglomerat aus Mitleid, Abscheu und Unsicherheit verblieb, bis sich Bewegung von Ende der Grevegasse bemerkbar machte.
Der arme Sünderzug näherte sich vom Hochgericht.
Regelrecht etwas befreit wandte sich die Masse in jene Richtung.
Im Schutz der Stadtgarde rollte der Henkerskarren heran.
Vorweg schritt Monsieur Vouse, der Scharfrichter von Lyon.
Die Aufmerksamkeit der Menge galt jetzt ihm und der Delinquentin, welche mit auf dem Rücken gefesselten Händen, aufrecht auf dem Karren stand.
Sie war ein hübsches Weib. Auch wenn sie des Satans war. Schwarze, wilde, lange Locken umwallten den schmalen Leib. Dieser war in ein hellgraues Sünderhemd gehüllt, welches ihr bis zu den Knien reichte. Die Füße waren nackt.
Die seichte Oktobersonne spielte ein letztes Mal auf ihrer bronzefarbenen Haut.
Als der Zug das Zentrum des Marktes erreichte, holten die Knechte die junge Sünderin vom Wagen.
Nun erstarb auch die Starre in Clementine. Kaum wurde sie der Zigeunerin ansichtig, schlug ihre Agonie in Aggression um.
Als der Henker die Verurteilte die Stufen empor führen wollte, erwartete Clementine sie bereits mit tödlichem Zynismus.
„Na Du Satansluder, kommst Du endlich! Habe schon gewartet! Möchte Dir ein Wiegenlied singen, wenn Du zur Hölle fährst!“
Die junge Zigeunerin hatte schon auf der Folter mit dem Leben abgeschlossen. Und in den letzten zwei Tagen, seit man das Urteil über sie fällte, sogar ein wenig Frieden mit sich, der Welt und Gott gefunden.
Aber dieser unverholende Hass, das ließ sie noch einmal erschauern.
Unsicher verweigerten ihre nackten Füße den Dienst und verharrten auf der Sprosse, wo sie stand.
Ängstlich sah sie auf den Henker.
Der nickte nur und überließ sie seinen Knechten.
Vouse betrat als Erster und allein das Schafott.
Sacht, aber entschieden drängte er Clementine zurück.
„Komm, las gut sein, Clementine. Gehe in Frieden und las mich mein Werk verrichten.“
Die Alte gab nach und ließ sich bis zum Rand des Gerüstes drängen.
Dann führte man das Mädchen herauf und stellte es unter den Strick.
Wieder herrschte Schweigen im Rund als der Gerichtsdiener hinzu trat und noch einmal das Todesurteil verkündete.
Die Delinquentin trug den Strick schon um den Hals. Sie stand bereits auf dem Schemel, da sandte sie noch einen letzten Blick zum strahlend blauen Himmel, als der Trommelwirbel einsetzte.
Es würde das Letzte sein, was sie hörte. So glaubte sie.
Doch da vernahm sie noch einmal die Stimme der alten Närrin, welche einen Singsang anstimmte.
„Siehst Du mein zart Vögelein.
Wie es mir entfleucht.
Wohin gehst Du nur Hin.
Mein Herz bricht allein…“
In diesem Augenblick trat Monsieur Vouse gegen den Schemel.
Das Mädchen starb schnell.
Auch die Masse zerstreute sich nun flugs.
Nur Zwei blieben zurück.
Clementine und das tote Mädchen.
Die Alte stand unter der Leiche und sah empor. Zufriedenheit hatte sich auf ihre Gesichtszüge gelegt, ja ein kleiner Hauch von Frieden.
Auf dem Heimweg fragte Marie nach.
„Garwina, was meintest Du vorhin mit, was Clementine erlebte?“
Die dralle Blonde blieb kurz stehen.
„Du weißt es nicht?“
Die Angesprochene schüttelte ihre brünetten Locken.
Garwina dachte kurz nach und begann ihre Antwort mit einer Frage.
„Wie alt glaubst Du ist Clementine?“
Marie stockte und meinte.
„Na so um die 60zig.“
Garwina lächelte.
„Clementine ist kaum Vierzig. Sie sieht nur so alt aus. Vor zwanzig Jahren war sie sogar ne regelrechte Schönheit.“
Marie konnte das zwar kaum glauben, erwiderte jedoch nichts.
Doch musste sie auch nicht, Garwina fuhr fort.
„Damals lebte sie in einem Dorf, wenige Meilen vor der Stadt. Sie war auch nicht arm, oder gar wirr im Kopf. Ihr Vater war ein Großbauer. Mit siebzehn Jahren war Clementine eine der glücklichsten Frauen. Sie hatte ihre große Liebe gefunden. Ein junger Bursche aus dem Nachbarort. Und weder Seine, noch ihre Eltern waren gegen die Verbindung. Kaum war die Ehe vollzogen, fruchtete ihre Liebe. Allerdings fiel da der erste Schatten auf ihr zartes Gemüt.“
Zartes Gemüt? Marie grübelte. Sehr fragwürdig nach dem Erlebten. Aber sie schwieg weiter und hörte zu.
„Clementine war hochschwanger als Soldaten ihren jungen Mann mit sich nahmen. Als sie niederkam war es ein süßes Mädchen. Ihre ganze verbliebene Liebe verschenkte sie an das Kind. Dann kam noch die Nachricht vom Tod des Mannes. Nun war das Kind der Mittelpunkt ihres Lebens. Nie ließ sie es auch nur einen Augenblick aus den Augen. Eines Tages, das Kind zählte ganze 9 Monate, kamen Zigeuner ins Dorf. Selten fand Clementine Zerstreuung. Aber an einem der Abende ging sie dann doch mal zu den Gauklern. Das Kind nahm sie auf dem Arm mit sich. Nie hätte sie es allein gelassen.
Sie hatte wohl doch ein wenig getrunken. Am folgenden Tag hatte Clementine große Wäsche. Nachdem sie alles gewaschen hatte und die vielen Lacken auf den Anger zum Bleichen gebreitet hatte, überkam sie doch etwas Müdigkeit. Das kleine Mädchen war immer bei ihr. Wo sie auch war. Es ruhte schlummernd in einem Korb. Jedenfalls gab Clementine, nach der Arbeit, sich ihrer Müdigkeit hin. Sie schlummerte neben ihrer Tochter ein. Stunden später erwachte sie. Ihr erster Blick fiel in den Korb. Und ein riesiger Schreck durch fuhr sie. Das Kind was ihr aus dem Korb entgegen lächelte, war nicht das Ihre. Es war nicht mal ein Mädchen, sondern ein Knabe. Obendrein noch ein entstellter Wechselbalg. Sofort fiel es Clementine wie Schuppen von den Augen. Am vorherigen Abend hatte sie die verstohlenen Blicke einiger Zigeuner bemerkt. Nun kam ihr eine böse Ahnung. Flugs ergriff sie den Wechselbalg und eilte zum Ort wo die Zigeuner lagerten. Doch da war Niemand mehr.
Sie fragte einen Jeden, der ihr über den Weg lief. Doch immer zuckte man nur die Achseln und konnte ihr nicht helfen. Tagelang suchte sie ihr Kind. Zu guter Letzt, völlig verzweifelt, fand sie nach Lyon. Auch hier suchte sie. Ohne Erfolg. In einer Nacht, als es in Strömen regnete, wandelte sich ihr Leben und ihr Geist. Sie nahm den Wechselbalg und ging zur Kirche von Saint Lukrezia. Dort legte sie den Jungen auf die Stufen des Portals. Kurze Zeit später nahm sie die Kellerbehausung in der Nähe des Markts als Wohnung. Wo sie heute noch vegetiert. Seit dieser Zeit, ihr unbändiger Hass auf Alles was nach Zigeuner richt.“
Marie hatte es längst die Sprache verschlagen. Die Geschichte hatte ihre Einstellung zur absonderlich Verrückten geändert. Eine Weile lief sie stumm und nachdenklich neben der Freundin.
„Hat man jemals etwas von ihrer Tochter in Erfahrung bringen können?“
Garwina schüttelte den Kopf.
„Nein, nie! Clementine glaubt das die Zigeuner ihr Kind gefressen haben.“
„Und, was wurde aus dem Knaben? Ich meine dem Wechselbalg?“
Auch hier konnte Garwina nicht helfen.
„Das weiß auch Keiner. Man hat ihn nie gefunden. Obwohl man nach ihm schaute. Auf dem Portal war er nicht. Aber man glaubt das Clementine zu dem Zeitpunkt schon verwirrt war. Ob sie ihn wirklich dort ablegte, oder was auch immer, das mag Gott wissen.“
Beide Frauen hatten ihr Heim erreicht.
Der Tag neigte sich dem Ende. Ein leichter Wind kam auf, mit der Abenddämmerung.
Noch immer stand Clementine unter dem Galgen. Seicht spielte der Wind mit ihren grauen Haaren, genauso mit den Schwarzen der Toten.
Clementine sah der Leiche ins Antlitz. Lachte die Hure?
Der frühe Nachtschatten hatten die Züge des toten Mädchens entstellt. Doch Clementine haderte damit.
Lacht sie Dich aus?
Es war Zeit zu gehen. Doch noch konnte sich die Alte nicht trennen.
Sie musste sicher sein das das Weib dort tot war. Nicht das irgendwelche Hexenkünste es noch vereiteln. Clementine griff nach den bleichen Zehen der Hängenden. Sie waren kühl.
Entschlossen, das Letzte zu versuchen, trat Clementine einen Schritt zurück.
Im Inneren der Fetzen ihres Wamses fand sie, was sie suchte. Ihre knöchernen Finger führten eine kleine Brosche hervor. Besser gesagt die Hälfte einer Brosche. Denn sie war in ihrer Mitte zerbrochen. Ein stehender Reiher zierte das Schmuckstück. Man konnte erahnen das einst ein Zweiter dazu gehörte.
Wie eine Hostie hielt sie die Brosche der Toten entgegen.
„Siehst Du das?! Hörst Du mich im hintersten Höllenfeuer?! Das bin ich! Und der andere Teil, mein Kind! Sag es Satan! Wenn meine Zeit gekommen ist, dann werde ich auch in der Hölle nach ihr suchen.“
Eine Weile lauschte Clementine noch in die Nacht. Sah auf die Leiche. Doch nichts tat sich. Satan schwieg. Dieser Feigling.
Mit einem tückischen Lächeln wandte sich die Alte ab. Ihr Weg führte zu dem, was ihr Heim sich nannte. Ein Loch. Ein Kellerloch. Sie hatte diese Stube gewählt nicht weil sie arm war. Nein es war etwas anderes. Das einzige Fenster, so man das so zu nennen wagte, es lag kurz oberhalb des Bodens, führte zum Marktplatz. So konnte Clementine nichts entgehen, was sich dort abspielte. Sah und hörte man den alten Eremiten sonst kaum, so war sie doch da, sobald es um Zigeuner ging. Es schien das Letzte was sie am Leben erhielt.
Gleiche Zeit, in den Gefängnisgewölben Lyons
Monsieur Vouse wollte noch mal kurz nach dem rechten sehen. Gut zwei Tage waren nach „Gäste“ da, welche bedacht sein wollten. Als er jedoch die Treppe zu den Gewölben herab stieg, sah er einen Lichtschein.
Sein Auge wurde misstrauisch.
Dennoch, trotz der ungünstigen Sichtverhältnisse erkannte er den Träger der Fackel.
Es war unübersehbar die verkrüppelte Gestalt von Sebastian.
Vouse sah gespannt was der tut.
Sebastian war sein bester Knecht. Wäre er nicht so abstoßend hässlich, er hätte dem begabten Jungen die Hand seiner Tochter und somit sein Amt vererbt. Doch Sebastian war ein Krüppel. Buckel, verschobenes Kreuz, O-Beine und ein solch abstoßendes Antlitz, das manch Delinquent gestand bei seinem Anblick, noch ehe man ihm die Instrumente zeigte.
Als Sebastian den Schlüssel zur Zelle der beiden verurteilten Zigeunerinnen hervor holte, griff Vouse ein.
„Was soll das?!“
Erschrocken fuhr der Junge herum. Im Schatten seiner Fackel offenbarten sich nun zwei Schüsseln. Welche Vouse zuvor nicht sah.
Der Knecht erkannte den Meister.
„Essen.“ Schnaubte er.
Vouse kam näher.
„Du willst ihn ihr Mal bringen? Ja, schon gut. Du tust Recht.“
Der Henker klopfte seinen Knecht auf die Schulter.
„Ist schon gut wenn Du es heute tust, ich bin etwas müde. Werde mich erst mal etwas lang legen.“
Vouse begab sich in seine Gemächer. Unterwegs schallt er sich einen Narren. Wie konnte nur solch Misstrauen in ihm auftauchen? Ja er glaubte irgendwie eine seltsame Regung bei Sebastian erkannt zu haben, als man die Zigeunerinnen folterte. Zumindest zu Einer. Aber es waren wahrhaft hübsche Dinger. Vielleicht hatte Sebastian doch etwas von einem Mann in sich. Vielleicht. Noch ehe Vouse seine Kammer erreichte, überkam ihn so etwas wie Mitleid mit dem Jungen. Nie würde ein Weib ihn zum Mann wählen. Wer also sollte ihm verwehren, wenn er die Reckebank mit dem Bett vergleicht?
Louise schreckte auf, als sie den Riegel ihrer Zelle vernahm.
Doch da drang schon der Schein der Fackel zu ihr. Kurz wendete sie den Kopf und sah hinüber zur anderen Seite der Kammer. Ihr schräg gegenüber hing, angekettet, wie sie selbst auch, Bea. Aber die Freundin schien zu schlafen. Zumindest war sie zu kraftlos um sich zu regen. Die Folter hatte dem achtzehnjährigen Mädchen zu hart zu gesetzt. Seit der letzten Tortur war sie mehr tot als lebendig.
Louise war zwar auch grausam gemartert worden, schien jedoch körperlich die kräftigere Natur zu sein. Was aber kein Trost war. Hatte Bea nach der letzten Folter mit sich und ihrem jungen Leben abgeschlossen, ja flehte gerade zu um Erlösung von ihren Qualen, so war dies bei Luise nicht der Fall.
Nein, die hübsche Blonde konnte, und wollte sich nicht damit abfinden in den nächsten Tagen sterben zu müssen. Mit ihren zwanzig Jahren war Louise die Mittlere der drei Zigeunerinnen.
Da trat Sebastian an sie heran und hielt ihr eine Schüssel unter das Gesicht.
„Hunger, müssen essen.“, grunzte er durch sein entstelltes Maul.
Louise sah auf die Schüssel, dann in Sebastians Gesicht.
Er war zwar grottenhässlich, aber irgendeine leichte Wärme ging von ihm aus. Louise hatte schon bei der ersten Begegnung mit ihm so was verspürt. Das war bei ihrer ersten Folterung. Zuerst hatte auch sie geglaubt, dass es sich um geile Emotionen bei dem Mann handelte, als sie so splitternackt sich vor ihm auf der Streckband wandte. Aber dann spürte sie, dass es ihm nicht um solches ging. Warum dem so war, konnte sie nicht sagen. Auch wurde sie nicht geschont, gegenüber ihren Kameradinnen. Und dennoch, dieser Krüppel, dessen Alter man nicht mal schätzen konnte, schien ihr menschlicher, als alles Andere, in dieser Hölle.
Louise nickte nur.
Da den Gefangenen nicht mal bei solch Anlässen die Eisen gelockert wurden, stellte Sebastian die Schüssel vor ihr auf den Boden und begann mit einem Holzlöffel, ihr den Brei zu füttern.
Er ging sehr vorsichtig dabei zu Werke. Vermied jede unnötige Berührung. Denn noch immer brachen bei den Gefolterten die bereits vernarbten Wunden erneut auf.
Auch bei Louise. Dunkel färbte sich ihr grauschmutzig Peinhemd dort wo die Spuren der schweren Karbatsche sich in ihre Haut gegerbt hatten.
Nach der halben Schüssel war sie satt.
Sebastian wollte sie ermuntern.
„Brauche viel Kraft. Musst essen.“
Doch Louise schüttelte den Kopf.
Der Knecht ging darauf zu Bea. Doch die stöhnte nur als er sie rüttelte. Kraftlos sank immer wieder ihr Kopf zur Seite. Sebastian versuchte ihr den Löffel zwischen die zerschlagenen Lippen zu führen. Ohne Erfolg. Schmerzhaft jaulte sie auf, als sie die Berührung an ihren Wunden verspürte. Sebastian gab auf.
Er sah zu Louise.
„Kaputt! Wird nicht laufen können Montag. Muss tragen.“
Er erhob sich und wollte gehen. Doch bei Louise stoppte er noch mal und holte etwas aus seinem Wams.
„He, gehört Dir. Darfst haben.“
In seiner mächtigen Pranke hielt er ein kleines Leinensäckchen, das an einer dünnen Lederschnur befestigt war.
Louise erkannte es sofort. Es war ihr Talisman. Man hatte ihr ihn abgenommen vor der Folter. Der Richter glaubte darin Teufelswerk.
Nun streifte ihn der Henkersknecht ihr wieder über.
Etwas verwirrt, aber auch dankbar sah Louise zu ihm auf.
„Deine. Gehört Dir. Komme Morgen wieder.“
Mit diesen Worten schlurfte er schwerfällig nach draußen.
Als Louise allein war, rann ihr eine Träne herab. Sie hatte ihren Talisman wieder. Nie in ihrem Leben hatte sie sich von ihm getrennt. Zumindest nicht freiwillig. Er war genauso alt wie sie. Seit ihrem sechsten Lebensjahr wusste sie, dass sie ein Findelkind war. Ihre Ziehmutter hatte es ihr gesagt, als sie begann Fragen zu stellen. Und eine dieser Fragen war, warum sind meine Haare blond? Und nicht so, wie euere.
Der Talisman stammte noch aus der zeit bevor sie die Zigeuner fanden und liebevoll aufzogen. Er war mit ihr verbunden, wie nichts auf dieser Welt. Und was dieses kleine Leinensäckchen beinhaltete wusste nur sie und sonst Keiner.
Stunden verstrichen. Louise war in eine Art Dämmerung entschwebt. Da weckte sie das Gewimmer Beas.
Louise schreckte auf. Sie brauchte etwas zeit um sich zu Recht zu finden. Doch da vernahm sie Beas Worte.
„Nein! Nicht! Bitte nicht das Eisen. Ich kann nicht mehr. Nehmt es weg!! Ich verbrenne.“
Louise wusste was die Freundin bewegte. Sanft sprach sie auf die Fiebernde ein.
Und es half. Langsam wurden Beas Atemzüge ruhiger. Nach einiger Zeit schien sie erneut ein Ohnmacht ähnlicher Schlaf zu entführen.
Dafür floh er nun Louise.
Gedanken quollen nach oben. Es waren keine Guten. Louise wollte an etwas Besseres denken. Aber es ging nicht.
Das Leben war wunderschön gewesen. Nie war Louise reich. Nein im Gegenteil. Aber frei war sie gewesen. Egal was auch immer passierte, es gab immer ein Morgen.
Bis zu jenem verhängnisvollen Tag vor gut einer Woche.
Bea war von einem Freier gekommen und hatte ihnen stolz gezeigt was ihr der Mann als Liebesdienst überlassen hatte. Ein kleines Kreutz aus purem Gold und mit Edelsteinsplittern durchsetzt.
Entzückt hatten Alle das Kleinod bewundert. Nur Sibylle, die Ältere und Erfahrenere von ihnen, hatte gewarnt.
„Das bringt nur Unglück! Versteck es und werde es bald los.“
Doch dann geschah es schon.
Die Garde kam und entdeckte das Kreuz. Das Unheil nahm seinen Lauf.
Man führte sie vor Gericht und dann zur Folter.
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Charisma |
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Freak
salzburg, aber denmächst wieder irgendwo im Süden..
Leben und Leben lassen...
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RE: Die andere Hälfte der Brosche
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Datum:06.08.07 20:04 IP: gespeichert
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WOW... selten schön geschrieben, schaurig, und so richtig "hinterfotzig"..
Bringet dem Manne seinen Wams, auf das er weiter schreiben möge... Im Gedenken an meine liebste Perle, und die schönen Stunden, die wir hier verbracht haben..
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Fachmann
NRW
Beiträge: 47
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RE: Die andere Hälfte der Brosche
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Datum:06.08.07 21:58 IP: gespeichert
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Ja es lässt sich gut lesen, ich würde mich auch über mehr freuen.
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Fachmann
Leipzig
Beiträge: 63
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RE: Die andere Hälfte der Brosche
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Datum:07.08.07 11:24 IP: gespeichert
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Teil 2
Keiner glaubte Beas Geschichte.
Dafür erfuhren die drei Mädchen die Künste von Monsieur Vouse.
Man schraubte, man schnürte sie. Man entblößte ihnen die Leiber, warf sie auf die Streckbank, den Bock und die Leiter. Man peitschte sie und sengte sie. Das Schlimmste was Louise wiederfuhr waren die Zangen.
Als die teuflischen Backen sich erst in ihre Lenden, später in ihre Brüste senkten. Sie hatte geschrieen, gebettelt, geheult, und beteuert. Nichts half. Man hatte keine Gnade. Höchstens Hohn.
Als ihr Monsieur Vouse den bloßen Busen mit der rotglühenden Kralle zwickte und sie sich selbst, in ihrer Not, bepisste, hallte das Gewölbe nur so vom Gelächter der Männer.
Und Bea hatte man Bauch und Vagina mit glühenden Eisen behandelt. Daher auch ihr Fieber.
Drei Tage hatte man sie gemartert. Doch weder Sibylle, noch Bea, gleich gar nicht sie selbst, hatten gestanden.
Laut Pax hätte man sie ledig sprechen müssen. Aber das galt wohl nur für Christen. Sie waren eben nur Zigeuner.
Am vierten Tag ließ man sie in Ruhe. Am Fünften fiel das Urteil. Tod, für Alle, durch den Strang.
Sibylle hatte es schon überstanden.
Louise warf den Kopf nach hinten. Hart prellte er gegen den feuchten Stein.
Nein das konnte es nicht gewesen sein! Das durfte nicht!
Am Montag darauf
Selbst Bea hatte sich etwas erholt. Sie hatte sogar etwas gegessen. Doch die Schwäche ihres Leibes hatte auch den des Geistes erreicht. Sie bekam kein vernünftig Wort über die Lippen. Lag im fauligen Stroh und sang hin und wieder alte Kinderreime.
Louise presste es das Herz zusammen, die gute Freundin so zu sehen. Gleichwohl beneidete sie Bea um deren Nebel.
Bevor die zehnte Stunde erreicht, erschien Monsieur Vouse. Man nahm ihnen die Ketten ab. Die Zeit war gekommen.
Louise verstand die Welt nicht mehr. Ihr abgestandenes Blut floss seit Tagen nun neu durch ihre Glieder. Das Leben verlangte nach seinem Recht. In ihr revoltierte Alles gegen den nahenden Tod.
Doch da erschienen schon die Knechte. Man band ihnen nun die Hände mit Stricken auf den Rücken.
War es der Umstand das Bea nicht wirklich richtig auf den zerfolterten Füssen stehen konnte? Oder weil sie wirr im Kopf? Man kümmerte sich mehr um sie. Oder war es Absicht von Sebastian? Jedenfalls waren Louises Stricke sehr locker.
Wie dem auch sei, man führte die Mädchen hinaus zum Schinderkarren.
Kaum blendete Louise die Oktobersonne, drängte der Lebenswille nur umso deutlicher.
Die Knechte hatten etwas Mühe Bea als Erste auf den Wagen zu bringen.
Louise durchzuckte ein letzter Gedanke. Jetzt, oder nie.
Und sie bevorzugte das Jetzt. Ohne groß nach zudenken begann sie zu laufen. Sie rannte. Noch im rennen lösten sich die Stricke. Henker und Knechte waren so überrascht und verblüfft, sie waren keiner Regung fähig.
Vouse sah regelrecht dümmlich der Fliehenden hinterdrein, ehe seinem Mund ein Kommando sich entrang.
Doch dann, sprang er vom Fuhrwerk.
„Haltet das Weib!“
Die Knechte hielten Bea bedeckt und sahen nur hinterher.
Mit den Armen fuchtelnd begann der Henker die Verfolgung. Dabei schrie er.
„Haltet sie auf!“
Aber selbst die Hellebardenträger wussten nicht so richtig was er wollte. Und als sie es begriffen, hatte Louise einen nicht unbedeutenden Vorsprung.
Sie tauchte ein, in die kleinen Gassen von Lyon.
Und sie hatte Glück.
Kaum Einer der sich ihr in den Weg stellen konnte. Woher auch? Wartete nicht ein jeder der Lyoner auf dem Marktplatz auf ihren Tod?
Und Louise rannte, sie rannte ums Letzte was sie besaß. Ihr Leben.
Zwar folgte nun, aufgerüttelt, die Garde dem Henker, doch die engen und kurzen Gassen waren wie ein Irrgarten. Instinktiv wählte Louise eine Ecke, lief drumrum. Sie ahnte nur die Richtung. Hoffte dass es richtig war.
Erschöpft hielt sich Vouse an einer Mauer fest. Die Garde hatte ihn bereits überholt. Lief aber planlos durch die Gassen.
Das hatte der Henker noch nie erlebt.
Fassungslos und nach Luft hechelnd gab er einigen Nachzüglern noch Vorschläge. Doch die Todeskandidatin war nicht zu finden.
Die Hatz zog sich fast eine Stunde hin. Dann gab man auf. Vorläufig. Die Lyoner warteten.
Notgedrungen führte Vouse erst mal Bea allein zum Galgen.
Und wieder tanzte Clementine zu den zappelnden Füßen der Erhangenen. Fröhlich schmetterte sie der Sterbenden ihren Reim ins erlöschende Ohr.
Doch Bea verendete um eine Nuance leichter als Sibylle. Sie verstand nicht mehr, was ihr geschah.
Die Nacht, welche sie nun umhüllte, war nicht viel dunkler als Jene, die sie schon längst im Arm hatte.
Kaum war die Exekution vollzogen, begann von neuem die Jagd nach der Flüchtigen.
Nur Clementine blieb, wie immer, zurück. Sie hielt Zwiesprache mit der Toten.
Kein Mensch gewahrte wie sie der jungen Leiche ihre halbe Brosche vor die toten Augen hielt und das Gespenst ihrer verlorenen Tochter beschwor.
Die Alte war eben irre, was soll’s.
Indes war Louise voll bewusst. Ihre Flucht war nur ein Aufschub. Noch waren die Gassen menschenleer. Aber was folgt? In ihrem Gewandt, ihrem Äußeren konnte wahrlich nicht täuschen. Sie brauchte einen Unterschlupf.
Und Gott hat ein Einsehen in der höchsten Not seiner Lämmer.
Gegen Dutzende von Türen hatte sich Louise schon gestemmt. Keine gab nach. Nun aber hatte sie Erfolg.
Sie konnte nicht weit vom Markt sein. Man hörte die Masse. Da gab eine Tür nach. Louise stolperte zwar ein- zwei Stufen niederwärts, doch das war ihr egal. Hauptsache ein Hauch von Sicherheit. Auch wenn nur verübergehend.
Befriedigt wie eine Rachegöttin, trat Clementine nun doch ihren Heimweg an.
Dass man um sie herum hektisch nach der zweiten Delinquentin suchte, berührte sie nicht.
Viele der Lyoner Bürger beteiligten sich an der Hatz.
Clementine schritt unbeeindruckt Richtung ihrer Heimstatt.
Selbst als ein junger Bursche neben ihr zum Turmwärter hinauf schrie.
„Wie sieht sie den aus?!“
Alles ging rechts und links an der Alten vorbei.
Genauso wie die Antwort des Wächters.
„Blonde Haare hat sie!“
Nur wer jetzt ganz nahe an Clementines Lippen gewesen wäre, hätte ihre Worte vernommen.
„Blond? Zigeunerbrut? Satan schreckt vor nichts zurück!“
Sie erreichte ihr Heim. Die Tür war nur angelehnt. Warum sollte sie sie auch verschließen? Selbst der letzte Vagabund von Lyon wusste, hier bei Clementine, gibt es nichts zu holen,
Einige hundert Schritt weiter, am Beginn der Grevegasse, da wo das Gericht und der Kerker stand, ging es nicht so ruhig zu.
Drei Ratsherren setzten Monsieur Vouse mächtig zu.
Der alte Henker steckte in der Klemme. Wie es passieren konnte, wusste er ja selbst nicht richtig zu beantworten.
Selbst wenn Schlamperei Seitens seiner Knechte vorlag, so war er doch der Meister.
„Ihr Herren, Ihr habt ja Recht1 Doch wir müssen sie jetzt suchen. Es nützt doch nichts. Sie kann nicht weit sein. Der Stadthauptmann hat sofort sämtliche Tore schließen lassen. Wir müssen alle Häuser vom Dach bis zum Keller in Augenschein nehmen.“
Etwasabseits stand Sebastian. Er konnte den Disput zwischen seinem Meister und den Herren nicht verstehen. Aber er ahnte um was es geht. Innerlich lächelte der junge entstellte Mann. Doch Keiner konnte das in seiner Grimasse erkennen.
Ja es gibt halt Knoten, die lösen sich fast wie von selbst. Man musste nur wissen, wie man sie schlingt.
Clementine stand in ihrem Flur. Selbst mittags fand kaum Licht in den Keller.
Versonnen holte sie noch einmal die Brosche hervor und drehte sie in der Hand. Dieses geteilte Kleinod war das Einzigste was sie noch mit einem Leben verband, welches weit davor lag. Aber in diesem kleinen Reiher lag ihre Seele, ihr Herz.
Einst, in diesem Leben davor, hatte sie die Brosche selbst zerbrochen. Ein Teil blieb bei ihr, das Andere gab sie ihrem Kind. So wie ihr Kind verschwand, so verschwand auch der andere Reiher.
Die Alte schluckte bei der Erinnerung. Aber sofort kam in ihr wieder der unbändige Hass hervor. Ihre Finger umkrampften die Brosche und zwischen ihren Lippen presste sich ein Fluch Bahn.
„Und auch die Zweite wird ihrem Schicksal nicht entgehen!“
Dann öffnete sie die Tür zu ihrem Kellerzimmer.
Der Raum war nicht groß. Und es war auch düster. Clementine besaß nur ein einziges Fenster. Wenn man das kleine Loch so nennen will. Es lag der Tür genau gegenüber und in etwa in Kopfhöhe. Von draußen gesehen, vom Markt, lag es nur wenige Finger breit über dem Boden.
Doch mehr brauchte Clementine nicht. Alles was sie sehen und wissen musste, gab ihr dieser kleine Ausguck. Der Blick aufs Schafott.
Im Raum selbst war so gut wie nix. Unter dem Fenster lag der Strohsack auf welchen sie schlief. Links, neben der Tür in der Zimmerecke, hatte sie ein altes Leinen gespannt. Es trennte wie eine Nische den Raum zu der kleinen Waschgelegenheit. Und auf der gegenüber liegenden Seite stand ein kleiner alter Tisch. Mehr hatte sie nicht, mehr brauchte sie nicht.
Wie lange sie schon so vegetierte konnte Clementine nicht sagen. Es war ihr auch egal,
Welten lagen zwischen dem Tag, als sie das kleine Bündel Wechselbalg auf die Stufen des Kirchenportals legte und Heute.
Für die Alte hatte der Begriff Zeit jede Bedeutung verloren.
Clementine ging zum Strohsack und ließ sich drauf nieder. Schlafen wollte sie nicht. Aber von hier aus konnte sie hören und sehen wenn man die zweite Zigeunerin gefangen hatte und zum Galgen führt. Dann wäre Clementine wieder bereit.
Derweil saß sie stumm auf ihrem Sack, den Rücken unterhalb des Fensters, an die Wand gelehnt.
Wie man die Zeit totschlägt, hatte sie längst erlernt. Man sieht auf eine Spinne an der Wand. Beobachtet ihre Jagd. Wenn ein klein, vorwitziges Flieglein sich im Netz verfängt.
Und in letzter Zeit hatte das warten sich auch gelohnt. In wenigen Tagen zwei der verhassten Zigeuner beim krepieren zu zuschauen, das war schon was. Und, da war sich Clementine sicher, in Bälde folgt die Dritte.
Wie die Alte so nach den Spinnen späht vermeinte sie eine Bewegung am Leinen ihrer Waschnische zu vernehmen.
Erst schallt sie sich selbst schon verwirrt. Aber die Neugier war doch noch nicht ganz tot in ihr. Also erhob sie sich und ging zur Nische.
Sie schob den Stoff zur Seite und prallte zurück.
Louise und Clementine sahen sich mit erschrocken Blick an. Die Eine genauso geschockt, wie die Andere.
Das Zigeunermädchen hatte in ihrer Not hier Zuflucht gefunden. Dass sie das Schafott nur mit der Höhle des Löwen vertauschte, konnte sie nicht ahnen.
Ionen schienen zu vergehen, während zwei Todfeinde sich ins Antlitz starrten.
Dann fand, als Erste, Clementine sich wieder.
Ohne zu zögern rannte sie zum kleinen Fenster.
„Hier ich habe sie! Hier ist euere Zig...“, weiter kam sie nicht.
Louise war hinzu gesprungen. Da sie sich keinen anderen Rat wusste, verschloss sie der Alten ganz einfach den Mund, indem sie von hinten ihre Hand drauf presste.
Doch kaum war Clementines schrille Stimme erstickt, wirbelte die herum. Mit einer Kraft, welche man der Alten nicht mal Ansatz weise zutraute, stieß sie das Zigeunermädchen von sich. So das Louise zurück gegen die Nische prallte und dabei den Stoff mit sich riss.
Und als wenn das nicht genug, hatte Clementine obendrein Louise das Leinensäckchen samt Lederschnur von Hals gerissen.
Kaum hatte die Alte Luft, wand sie sich wieder zum Fenster.
„Kommt ihr Leute! Hilfe!!“
Wie eine Katze sprang Louise vor. Diesmal war die Alte gewarnt. Noch ehe das Mädchen sie erreichte benutzte sie den dünnen Lederriemen des Talismans wie eine Peitsche, um sich des Angriffs zu erwehren.
Aber Louise war nicht aus Zucker. Es kam zur Rangelei. Dabei riss das Säckchen und sein Inhalt fiel zu Boden. Erst achtete weder die Eine, noch die Andere darauf. Für Beide ging’s ums Leben. Louise hatte schon beide Hände um den alten, dünnen Hals von Clementine gelegt und begann zu pressen. Da trat ihr die Alte mit voller Wucht in den Schritt. Kurz musste Louise den Hals fahren lassen. Sie selbst kämpfte nun um Luft.
Clementine wollte die Gelegenheit sofort nutzen und ihre Hilfeschreie erneut nach draußen senden. Da, noch mitten im ersten Laut, welcher sich durch ihre Kehle quälte, brach sie abrupt ab.
Wie entgeistert starrte sie auf den Gegenstand, welcher auf dem Boden ihrer Behausung lag.
Louise hatte sich wieder gefangen. Sie wusste nicht warum die Alte ihren kurzen Vorteil nicht nutzte, doch das war ihr egal. Sie stürmte erneut nach vorn.
Kraftvoll stieß sie Clementine gegen die Wand. Und die, wehrte sich nicht mal. Louise wollte ihr schon in der Hektik ihre Hände um den Hals legen, damit das alte Weib endlich schweigt. Doch Clementine schrie nicht, wehrte sich nicht, ja sah ihre Kontrahentin nicht mal an. Nein wie gebannt sah sie zu Boden.
Erst jetzt, Louise spürte schon den Kehlkopf der Alten unter ihrem Daumen, machte sie die Abwesenheit der Gegnerin stutzig. Sie drückte nicht zu. Und im gleichen Augenblick hob sich Clementines knöcherner rechter Arm. Louise folgte ihm mit den Augen.
Er wies auf den Boden.
Louise sah näher hin. Dort lag ihr Talisman, der sich im Kampf gelöst hatte.
Silbrig matt, glänzte eine halbe Brosche. Sie zierte ein aufrechter Reiher.
Louise kannte ihn, seit sie denken konnte. Aber was hatte die Alte?
Unschlüssig entließ Louise den Hals Clementines.
Wortlos, mit zitternden Händen, angelte Clementine in ihrem Lumpen. Dann zeigte sie Louise ihre Brosche.
Das Zigeunermädchen verstand erst gar nichts. Nur Eins.
Die halbe Brosche der Alten ähnelte ihrer Hälfte aufs Haar. Nur das Louises Reiher sich nach links wandte und der von Clementine nach rechts.
Die Alte ging in die Knie. Sacht suchten ihre schmalen Finger die Brosche der Zigeunerin. Vorsichtig führte sie beide Teile aneinander. Sie passten wie aus einem Guss.
Louise sah von oben zu. Sie konnte noch immer nicht verstehen. Da sah Clementine zu ihr mit Tränen auf. Ihre alten Lippen zitterten. Und dann, geschah etwas völlig unerwartetes. Die Alte umfaste Louises Beine und presste sich an sie.
„Margo! Mein Täubchen! Du bist es! Oh Allmächtiger!“
Louise sah ratlos an sich herab. Das die beiden Teile der Brosche zu einander gehörten, war nicht zu leugnen. Das irgendetwas sie mit der alten Clementine verband, auch nicht. Aber wer ist Margo?
Fassungslos ließ Louise die Frau gewähren.
Und Clementine drückte die verlorene Tochter noch inniger an sich. Vergrub ihr leidgeprüftes Antlitz in den Schmutz des Peinhemdes. Heiße Tränen stürzten ihr. Sie war zu keiner Silbe mehr fähig.
Louise verstand zwar immer noch nicht endgültig, doch zärtlich glitten ihre zarten Hände tiefer. Sacht umfaste sie die Wangen der Frau.
Schluchzend vor unendlichem Glück entflohen Clementine nur Brocken.
„Du lebst, Margo, meine Tochter. Gott hat es so gewollt.“
Zitternd, aber ermutigt durch die warmen, weichen Hände ihres Kindes, stand Clementine auf. Bis sie Antlitz zu Antlitz zu Louise stand.
Nun dämmerte es auch dem Zigeunermädchen. Sie wusste ja, dass sie ein Findelkind war.
Die Brosche war also ihr Geheimnis.
Es brach auch bei ihr der letzte Damm. Und heiß strömten, ja überströmten die Gefühle. Sie nahm die Mutter in den Arm.
Nach fast zwei Jahrzehnten hatte Tochter und Mutter wieder gefunden. Obwohl weder die Eine, noch die Andere daran glaubte.
Doch da kamen auch schon die, welche noch vor kurzem Clementine zu Hilfe rief.
Als erster steckte Jean seinen Kopf zum Kellerfenster herein. Er war der Sohn des Schmiedes. Oft hatte er sich etwas um die Alte gekümmert.
„Mutter Clementine! Seid Ihr noch am Leben? Harrt nur kurz aus! Wir kommen gleich!“
Clementine reagierte sofort. Sie versuchte, bar gegen jede Logik, die Tochter unter dem Leinentuch, was beim Kampf von der Wand fiel, zu verstecken.
Dann rief sie Jean zu.
„Nein, nein! Schon alles gut. Ich hatte mich geirrt!“
Der junge Mann, der den Raum nicht überblicken konnte, fragte nach.
„Seid Ihr Euch sicher? Bei Euch war keine Zigeunerin?“
„Nein!“, entgegnete die Alte. Das sie im Gegensatz zu ihrem früheren Auftreten regelrecht aufgekratzt wirkte, entging ihr.
Aber da meldete sich eine weitere Stimme im Hintergrund.
„Blödsinn! Ich habe die Zigeunerhure doch gesehen.“
Jean wandte sich nach hinten.
„Also Jedem aus Lyon traue ich es eher zu. Clementine versteckt keinen Zigeuner!“
„Ach! Die Alte ist doch irre! Wer weiß was die heute wieder sticht?! Last uns nachsehen!“
Und schon hörte man das Gepollter, als man ins Haus drang.
Fieberhaft suchte Clementine nach einem Ausweg.
Es gab nichts. Völlig verzweifelt wuchtete sie den kleinen Tisch vor die Tür.
Doch zwei Stöße und der Mob stand im Zimmer.
Mit dem Mut der Verzweiflung sprang Clementine den Ersten an. Es bedurfte dreier Männer um sie im Zaum zu halten.
Schnell hatte man Louise unter dem Lacken enttarnt. Man schleifte sie mit sich.
„Nein! Das ist mein Kind! Das ist mein Kind!“
Clementine mobilisierte ihre letzten Kräfte. Doch sechs Männerpranken drückten sie gegen die Wand.
„Tut der Alten nicht gar zu weh!“, mahnte der mitleidige Jean.
„Sie hat gar zu viel schon mitmachen müssen! Sie ist eine alte kranke Frau.“
Derweil schleifte man Louise schon unter den Galgen.
Keuchend hing Clementine in den Männerhänden.
Als der Henker Louise den Strick um den Hals legte, meinte Jean.
„Nun könnt ihr sie loslassen!“
Kaum frei, stürmte Clementine ans Fenster.
Ihr blieben nur wenige Augenblicke.
Der Trommelwirbel hatte längst eingesetzt.
Da trafen sich noch einmal ihre Blicke. Und die vollen, schönen Lippen Louises formten die Worte.
„Mutter.“
Dann stieß der Henker den Schemel weg.
Ein letztes Mal fuhr der dünne Arm Clementines aus ihrem Fenster. Dazu ein Schrei.
„Margo!“
[Edit]: Dieser Eintrag wurde zuletzt von balzer am 07.08.07 um 11:37 geändert
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User ist offline
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RE: Die andere Hälfte der Brosche
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Datum:07.08.07 15:19 IP: gespeichert
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Was für eine Geschichte ist das, die Du da aufgetan hast?
Das Genre: Räuberpistolen, wie sie in früheren Jahrhunderten Erzähler auf den Märkten vortrugen, indem sie nacheinander auf Bilder zeigten?
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Fachmann
Leipzig
Beiträge: 63
Geschlecht: User ist offline
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RE: Die andere Hälfte der Brosche
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Datum:07.08.07 18:39 IP: gespeichert
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Nein Harun,
zumindest nicht ganz so!
Wenn man sich die Mühe gibt und „Hugos“, „Notre Dame von Paris“ komplett liest, also nicht nur den kommerziellen, vermarkteten Teil, dann erkennt man das.
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