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Soirée toxique
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Datum:11.10.03 23:23 IP: gespeichert
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Soirée toxique
„Hallo Jenny, hättest du nicht mal wieder Lust auf eine besondere soirée? Du weißt schon: Heute abend kommt ein ausgesprochen dämlicher Film im Fernsehen. - Liebe Grüße, Zora“
Obwohl sie im selben Haus wohnten und sich jeden Tag im Treppenhaus sahen, verkehrten sie bei offiziellen Anlässen oder geplanten Unternehmungen übers Internet. Zora gab es ein Gefühl der Wonne zu wissen, dass ihre Nachricht nicht im Treppenhaus und nicht per Zettel unter der Tür bei Jenny ankam, sondern erst nach einem Umweg über einen Server, der irgendwo in der Karibik oder in der Südsee stand, in Jennys Email-Briefkasten plumpste, wo Jenny erst mal zwanzig Spams killen musste, bevor sie Zoras lasterhafte Einladung öffnen konnte. Jenny antwortete in der Regel genauso umständlich und malte sich beim Verschicken aus, wie ihre Email über Brüssel nach Feuerland raste, um von dort wieder zurück nach Europa befördert zu werden. Wonnen durchschauerten sie, wenn sie derart Zora zum Beispiel veranlassen konnte, 10 Minuten später mit einer Tasse Zucker, um die sie gebeten hatte, vor ihrer Tür zu stehen. Kurzum: Beide hatten ein Faible fürs Komplizierte und verabscheuten die Simplizität. Außerdem beförderten sie damit jede Aktion in den Rang einer wichtigen Handlung, die die Beachtung bestimmter Formalia erforderte: Hochfahren, Einloggen, Adressieren, Text aufsetzen, Abschicken, Ausloggen, Runterfahren. Beim Adressaten: Hochfahren, Einloggen, Abholen, Spams löschen, Lesen, Ausloggen, Runterfahren. Dieses Procedere war wie das Vergnügen eines Quickys, den sie sich hin und wieder, wenn ihnen danach war, mit einer Zufallsbekanntschaft gönnten: Hochfahren, Streicheln, Zupacken, Einführen, zum Höhepunkt Kommen, Ausruhen, Runterfahren. Da sie alles miteinander besprachen, brauchte Zora auch nicht extra zu erläutern, wie sie sich den Ablauf der heutigen Soirée vorstellte. Jenny wusste schon, was sie erwartete, und kam mit eigenen Ideen herüber, die wiederum Zora gefielen. So wie es hieß „Geteiltes Leid ist halbes Leid“, dachten sie auch: „Gemeinsame Freud ist doppelte Freud“.
Nach einer Stunde kam Jenny dazu, ihren Rechner hochzufahren, einzuloggen, - was rede ich, den Rest, liebe Leser, kennen Sie ja! Zora konnte hochfahren, einloggen - egal, kennen Sie schon! Und las: „Sehr gern! Was soll ich beisteuern?“ Zoras Antwort nach zwei Minuten lautete: „Das schlechteste Buch, das du hast! Vielleicht: ‚Ungelogen‘ ? Ferner: die BILD-Zeitung von heute, die Börsenkurse, eine Flasche Weißwein aus Friaul, eine Flasche Bordeaux (von ALDI), eine Flasche Whisky (von Lidl), ein paar Joints. Vielleicht hast du auch noch Koks? Den Rest besorge ich.“ Spätestens an dieser Stelle ahnen Sie, liebe Leser, was es mit diesen soirées toxiques auf sich hatte. Zora und Jenny veranstalteten regelmäßig solche Abende, an denen sie konsumierten, was verboten und / oder schlecht war. Zoras Beitrag zum heutigen Abnormitätenkonsum bestand im Folgenden: eine Flasche Eierlikör, „Die betenden Nonnen“ (Porno), ein Video „Deutschland sucht den Superstar“, zwei Packungen Reval (ohne Filter) und eine CD mit Heino drauf. Nicht, dass die beiden Frauen hemmungslose Genussmenschen mit schlechtem Geschmack waren, die sich nicht beherrschen konnten! Nein, Zora und Jenny zelebrierten mit Selbstbeherrschung und im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten derartige Rituale, so wie man Pornographie genießen sollte: nicht zu oft und ziemlich distanziert. Vor allzu vielen soirées schützte sie eine besondere Bedingung, die erfüllt sein musste: Der Abend, immer nur samstags, hatte stets mit einer besonders schlechten Fernsehsendung um 20.15 Uhr zu beginnen. Manchmal gab es wochenlang nichts einmalig Schlechtes um 20.15 Uhr zu sehen, so dass Nora und Jenny durchaus gesund, einigermaßen gesittet und niveauvoll den Samstagabend verbrachten. Um so mehr genossen sie mit voller Überlegung die soirée toxique. Der Genuss beschränkte sich nicht allein auf den Verzehr, sondern erstreckte sich auch auf ein dazu passendes Ambiente schriller Kleidung. Die Krönung der Geschmacklosigkeit war erreicht, wenn sie ein oder zwei besonders dämliche Vertreter jener Spezies, die man dichterisch als Krone der Schöpfung bezeichnet, dazu veranlassen konnten, an der stillosen Orgie teilzunehmen. Das fiel meistens nicht allzu schwer, denn die Aussicht auf einen flotten Dreier oder sogar Vierer ließ bei dieser Spezies in aller Regel jedwedes Schamgefühl widerstandslos wegbrechen und den Verstand einknicken. Letzterer fand sich meistens in der Hose wieder. Dafür nahmen Männer die aufgetischten Scheußlichkeiten klaglos in Kauf. Manchmal hatten sie auch richtige Anarchisten zu Gast, denen es ausgesprochen Spaß machte, dieses Spiel mitzuspielen. Die waren aber selten. Sie vergaßen dann auch meistens ihr ursprüngliches Interesse daran, den beiden Weibsleuten an die Wäsche zu gehen.
14 Uhr. Zeit, die Zutaten für das heutige Abendessen zu besorgen. Als Einladende musste Zora sich darum kümmern. Außerdem musste sie noch einen Macker für den Abend aufreißen. Jenny wollte sich zwar ebenfalls um einen kümmern, aber sicher war sicher. Für heute war Lammkeule angesagt, Lammkeule in Senfsauce. Dazu Knödel. Als Nachtisch Plumpudding. Zora zog ihre Gammelklamotten an, die sie für diesen Zweck immer bereitliegen hatte, und machte ihre Runde durch das große Kaufhaus am Westring. Kurz nach 17 Uhr hatte sie alles beisammen und konnte sich auf den Heimweg machen. Vorher kehrte sie „Bei Gabi“ ein, um sich mit einem Gin-Fizz auf den Abend einzustimmen. Sie hatte Glück. Am Tresen saß ein Prachtexemplar von Mann, das außer Biertrinken nichts anderes tat, als dem lieben Gott und der Wirtin die Zeit mit dämlichem Gelaber zu stehlen. Spielte sich als Fußballexperte auf und gab ungefragt Tipps, wie Arminia Bielefeld wieder aus der Scheiße käme. „Recht haste, Mann!“ - Der Mann, mehr kugelrunder Fußball denn schlanker Recke, guckte blöd herüber. Dann hellte sich seine feiste Birne schlagartig auf, als Zora ihr bezauberndstes Lächeln anknipste und ihre Brust reckte. Sofort bestellte er ungefragt zwei neue Bier. Zora verabscheute Bier, trank aber tapfer mit. „Sag ma‘, willste nicht mitkommen? Meine Freundin und ich geben heute abend eine kleine Party. Essen, trinken, quatschen, vielleicht ein bißchen fernsehen? Um viertel nach acht kommt ‚Mord an Bord‘ von Hera Lind, mit Barbara Wussow in der Hauptrolle. Echt geiler Flachsinn, zum Schießen. Na, haste jetzt nicht Lust bekommen?“ - „Jau, hab ich Lust“, lachte der Fettwanst. „Habt ihr auch Bier im Kühlschrank?“ - „Türlich, haben wir und noch ein bißchen mehr.“ Zora ließ den Rest im Bierglas stehen und zog mit ihrer Neuerwerbung ab.
Bis zum Beginn der soirée toxique machte der fette Klaus drei ungeschickte Annäherungsversuche, die Zora gekonnt elegant abwehrte, ohne ihn zu demütigen. Stattdessen beschäftigte sie ihn mit Hilfsdiensten: Tisch decken und Gläser spülen und ab und zu ein kleines Bierchen trinken. Zora hatte in der Küche mit der Lammkeule zu kämpfen. So verging die Zeit. Pünktlich um acht Uhr klingelte es. „Klaus, machst du bitte auf? Das wird Jenny, meine Freundin, sein.“ Klaus tat, wie ihm geheißen. „Tach, ich bin der Klaus.“ Jenny stotterte vor Überraschung irgend etwas wie „die Sachen ... kannst abnehmen ... jaja, die auch.“ Dann: „Jenny, ich bin Zoras Freundin.“ Jenny konnte an Klaus, der die ganze Türöffnung ausfüllte, nicht vorbei ins Zimmer schielen. Nachher, als sie bei Zora in der Küche war, fragte sie: „Sag mal, wo hast du den denn abgeschleppt?“ - „Bei Gabi. Tja, ich sage dir, ... Zufallstreffer! Und selbst?“ - „Nö, is‘ nicht. Hatte nicht so richtig Lust auf einen Fischzug.“ - „Macht nichts. Klaus reicht für uns beide.“
Um viertel nach acht ließen sie sich vorführen, wie Frau Wussow von einer Friseuse zur Sängerin auf einem Luxusliner mutierte. Vor dem Fernseher wurde dazu erst mal Eierlikör gekippt. „Besser ein Eierlikör als überhaupt kein Eisprung mehr“, sagten die beiden Genießerinnen im Duett auf. War der eingespielte Eröffnungsspruch. Der Dicke schüttelte sich vor soviel weiblicher Selbstironie und spülte sofort mit herb-friesischem Jever-Pils nach. Zora und Jenny waren viel härter im Nehmen und gönnten sich noch einen zweiten Gelben. „Was ist, Klaus? Zigarette?“ Zora hielt ihm eine Schachtel Reval ohne hin. „Nein, danke, bin Nichtraucher. Seht ihr die Gräber dort im Tal, das sind die Raucher von Reval.“ Nur Klaus lachte über den Uraltspruch. „Grottenolm“, unkte Jenny und schaute stumm, aber beredt zu Zora. Zora genehmigte sich eine Reval und blies genüsslich den Qualm durch beide Nasenlöcher. Der Dicke fing schon an zu hüsteln. „Jenny, mach mal den Weißwein auf, ja, den aus Friaul. Wie teuer war er?“ - „Was, nur 1 Euro 98? Echtes Schnäppchen, das ist selbst für ALDI fast zu billig. Egal, je schlechter, desto besser!“ Klaus staunte nicht schlecht, als er diesen Blödsinn zu hören kriegte. Er fragte sich insgeheim, unter was für beknackte Schwestern er hier geraten war. Seiner Libido tat das noch keinen Abbruch, noch nicht! Aber es war auch noch nicht aller Tage Abend. Klaus musste alle Steigerungen in die Abgründe schlechter Ess- und Trinkgewohnheiten mitmachen. Während Zoras und Jennys Laune von Mal zu Mal besser wurde, wollte Klaus sich nur ins Bier flüchten. Aber die beiden Hausherrinnen waren unerbittlich: mitgefangen, mitgehangen. Klaus musste essen, schlucken und sehen, was auf den Tisch bzw. aus dem Fernseher kam. Als Frau Wussow endlich singen gelernt hatte, die Lammkeule hinuntergewürgt, der ALDI-Bordeaux hinuntergeschüttelt war und das Ende von „Mord an Bord“ mit dem ersten Lidl-Whisky zusammenfiel, fing die Orgie erst so richtig an.
„Zora, jetzt drehst du für jeden einen Joint, und ich lese besonders schöne Stellen vor. Wo ist denn das Buch? Ah ja, schön. ‚Ungelogen‘. Echt toll, was die Naddel da abgesondert hat.“ Jenny und Zora beschleunigten ihren Durchmarsch durch den Schlechtkonsum. Geschmack und Sinne wurden zutiefst befriedigt, nur Klaus litt, je länger, je mehr, an dem, was er sah, hörte und schmeckte. Einzig die Möglichkeit, mit einem Bierchen dann und wann die Scheußlichkeiten runterspülen zu können, ließ ihn durchhalten. Und die beiden muteten dem armen Kerl vieles zu: die BILD-Zeitung war noch harmlos, denn bei der hatte sich schon ein gewisser Abhärtungseffekt seitens des Konsumenten eingestellt. Mit Heino konnte Klaus nun wirklich nichts mehr anfangen. Wenn er ein Straßenköter gewesen wäre, hätte er nur noch gejault. Zur Strafe musste er anschließend zur Erheiterung der beiden Damen die winzig klein geschriebenen Börsenkurse buchstabieren. Eine Seite aus den „Betenden Nonnen“ reichte aus, um ihm den Spaß an der Lust endgültig zu verderben. Gegen 23 Uhr schob Zora das Video ein, wie Deutschland den Superstar sucht, machte es sich auf dem Sofa besonders bequem und ließ sich von Jenny Whisky und einen neuen Joint reichen. Klaus durfte als Nichtraucher auf den Hasch verzichten, aber die Monstrositätenschau, die aus der Flimmerkiste floss, brachten ihn fast zum Weinen, obwohl er an genug Peinlichkeiten in seinem eigenen Leben schon gewöhnt war. So war er heilfroh, als kurz vor Mitternacht der DSDS-Dödel endlich ausgesucht war. „Kann ich jetzt nach Hause?“ fragte Klaus kleinlaut. „Tschüs Klaus!“ säuselten die beiden Grazien. „Und trink nicht so viel Bier! Soll ungesund sein." - „Müsst ihr gerade sagen“, verteidigte sich Klaus, „ihr mit eurem Eierlikör und und ...“ Vor so viel Geschmacklosigkeit fielen ihm keine Worte mehr ein.
Auf dem Heimweg beschloss Klaus, noch mal „Bei Gabi“ vorbeizuschauen, um sich bei Bier und Frikadelle über den verpfuschten Abend auszuweinen. Zora und Jenny warfen die Überreste des Abends ausnahmslos in den Müll und freuten sich darauf, in den nächsten Tagen und Wochen die wirklich schönen Dinge des Lebens wieder intensiv genießen zu können. Wenn sie meinten, der Genuss lasse infolge Gewöhnung nach, konnten sie ja eine neue soirée toxique veranstalten.
Ende
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Tränen sind die Sprache der Seele. Wer keine Tränen mehr hat, hat im Herzen keinen Regenbogen
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Re: Soirée toxique
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Datum:11.10.03 23:37 IP: gespeichert
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Hallo Fabian Du hast noch“ Dallas “ vergessen *Grins* Ganz schön Offtopic aber klasse. Gruß Michael
Unser mister ist im Januar 2005 verstorben. Mit ihm ist eine gute Seele in diesem Forum verloren gegangen. In seinem Andenken werden dieser User und alle seine Beiträge uns erhalten bleiben.
Wir werden ihn nicht vergessen.
Gib der Liebe eine Chance
Autor der Geschichten:Verschollen, Die Träume des John Darell, Die Wikingersaga, Entführt
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Verkuppelt, Glatteis , Hochzeit
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Butterfly |
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Dieser Satz ist nicht wahr.
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Re: Soirée toxique
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Datum:14.10.03 13:07 IP: gespeichert
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Mea culpa, erst heute dazu gekommen zu sein, die Geschichte zu lesen. Aber trotzdem, um ein Lob komme ich nicht herum (lieber ein spätes Lob, als gar keines!).
Ich habe zwar keine Ahnung, was eine Soiree ist (kann kein russisch)...
das einzige, was ich nicht teilen kann, ist deine Einschätzung des samstagabendlichen Fernsehprogrammes, eine derartige Veranstaltung würde bei mir unter den Umständen wohl zur wöchentlichen Pflichtübung werden.
Grüßle Butterfly.
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Story-Writer
nimm das Leben nicht zu ernst, denn Du überlebst es doch nicht
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Re: Soirée toxique
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Datum:17.10.03 10:42 IP: gespeichert
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Hallo Fabian mit immer breiterwerdendem Grinsen habe ich diese Deine Geschichte verfolgt. Ein echter Hochgenuß, und ich habe mich sehr gefreut, auf diese Story gestoßen zu sein
Begeisterte Grüße stephan
Wir haben zwar alle die gleichen Augen, aber das, was wir sehen, ruft sehr verschiedene Gedanken hervor. (Ernst R. Hauschka)
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Story-Writer
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Re: Soirée toxique
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Datum:28.10.03 00:51 IP: gespeichert
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Unser Linguist hat wieder zugeschlagen ...
Also Fabian, ich kann noch nicht einmal die Überschrift richtig lesen, geschweige denn halbwegs verständlich aussprechen (wie "meine" Japaner in "Die Organisation" kein verständliches Englisch können), und schon gar nicht übersetzen. Deine Geschichtenn lesen sich aber gut!!!!! Auf Wiederlesen
Detlev
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Re: Soirée toxique
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Datum:28.10.03 13:35 IP: gespeichert
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Giftige Abendgesellschaft oder Abendgesellschaft mit Giftstoffen oder Ungenießbares am Abend
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