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prallbeutel |
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Das Gespräch im Regen
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Datum:23.11.10 23:00 IP: gespeichert
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Copyright by prallbeutel
Der Regen klopft gegen die Scheibe meines Fensters. Mich fröstelt, wenn ich den Vogel sehe, der sich, dick aufgeplustert gegen die Kälte, auf dem Ast des Baumes im Hof niedergelassen hat.
Es ist November. Es ist ein dunkler, nasser Tag.
Normalerweise wäre ich unter meiner dicken Decke geblieben und hätte mir noch einen heißen Tee gemacht, der mich von innen wärmen würde. Aber ich hatte dir versprochen, dich zu besuchen. Und nichts würde mich davon abhalten.
Also ziehe ich mir Stiefel und Mantel an und mache mich auf den Weg.
Unterwegs halte ich bei einem Blumenladen. Ich bringe dir jedes Mal, wenn wir uns treffen, einen Strauß Gerberas mit. Die magst du ja so sehr. Sie duften wunderbar. Ich gehe zurück zum Auto und lege sie auf den Beifahrersitz.
Früher war ich nicht so aufmerksam. Und ich schäme mich bis heute dafür. Vielleicht sind die Blumen ein Zeichen meines schlechten Gewissens?
Du hast so viel für mich getan. In all den Jahren. Hast für ein schönes Zuhause gesorgt, hast dich gekümmert, hast mir zugehört, wenn ich Probleme bei der Arbeit hatte, hast mich getröstet, wenn mich Sorgen oder Ängste quälten, hast mich beruhigt und mir Hilfe angeboten, dich für mich eingesetzt, mir Kraft geschenkt.
Du hast meine Liebe zur Bondagekunst nicht geteilt, doch hast du dich mir trotzdem ergeben, hast dich von mir in hunderten Varianten fesseln, verschnüren und verpacken lassen. Du hast mir dieses Opfer aus Liebe gebracht und hast gelächelt, wenn du mich glücklich machen konntest.
Ich dagegen habe nur an mich gedacht. Nur meine Interessen waren wichtig; die Welt drehte sich nur um mich. Deine Wünsche, Sehnsüchte, Probleme habe ich nicht erkannt. Nicht gesehen. Nicht sehen wollen?
Aber zum Glück ist das jetzt anders. Wir sprechen wieder miteinander. Wir verstehen uns. Und ich habe erkannt, wie blind ich war. Wie sehr ich dich noch liebe. Wie sehr ich dich immer geliebt habe.
Es ist schon seltsam. Seit wir nicht mehr unter einem Dach wohnen, haben wir uns wieder mehr zu sagen. Ich fühle mich stärker als je zuvor zu dir hingezogen und begreife endlich, was ich an dir habe.
Ich kann es kaum erwarten, dich endlich zu treffen. Ich stelle den Wagen auf dem Parkplatz ab, nehme die Blumen und gehe in Gedanken noch einmal durch, was ich dir alles erzählen möchte.
Das Tor steht weit auf, und ich laufe über den Kiesweg. Nach etwa fünfzig Metern bin ich da. Ich stelle die Blumen in die grüne Vase, die sich dank einer Spitze leicht in die Erde drücken lässt.
„Hallo, mein Engel“, begrüße ich dich. Ich erzähle dir von meinem Tag und meinen Erlebnissen. Und ich frage, wie es dir geht. Was du so denkst. Ob dir die Blumen gefallen. Ob dich das regnerische Wetter stört.
Nach und nach verlasse ich den „seichten“ Smalltalk und wechsle zu tiefgründigeren Themen.
Wir reden lange. Und auch ein ganz bestimmtes Thema schneide ich an: Du hattest mich an diesem Tag überraschen wollen, hattest dich selbst gefesselt, bevor ich nach Hause kam…
Es ist schon dunkel, als ich dein Grab verlasse. So oft, so viele Stunden haben wir darüber diskutiert.
Heute ist es schließlich soweit. Du hast mich endgültig überzeugt. Der Unfall war nicht meine Schuld. Eine Träne trocknet auf meiner Wange. Die Regenwolken brechen in diesem Moment auf und lassen die Sonne durch.
Dankbar gehe ich zurück zum Auto.
Kommentare willkommen!
Viele Grüße von prallbeutel
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Meine Geschichten:
+++ Die gemeine Miriam +++ Das Unzuchts-Komplott +++ Im Reich der Megara +++ Die Nachtschicht seines Lebens +++ Optional Genetics +++ Venus +++ Regina +++ Inkasso +++
Meine Kurzgeschichten:
+++ Ralfs neues Leben +++ Das Gespräch im Regen +++ Der auferstandene Engel +++ Seine Nummer Eins +++ Amour Libre +++ Die Erben +++ Aller guten Dinge sind drei +++ Das Abschiedspräsent +++ Natascha +++ Friday Talk +++ Tims Schicksal +++ Das Familientreffen +++ Der extravagante Gewinn +++ Lars +++ Der Impftermin +++ Fiesta Mexicana +++ Der Samtbeutel +++ Der Stallsklave +++
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Why-Not |
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Story Writer
Beiträge: 1725
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RE: Das Gespräch im Regen
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Datum:24.11.10 23:34 IP: gespeichert
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Stimmungsvolle, melancholische Geschichte. Auch, wenn ich nach "(...) Früher war ich nicht so aufmerksam. Und ich schäme mich bis heute dafür. Vielleicht sind die Blumen ein Zeichen meines schlechten Gewissens? (...)" schon eine Ahnung hatte, worauf es hinausläuft.
Why-Not <== Amateur-Hellseher Buch-Anfang: Dämonen der Leidenschaft (Teaser)
Session: Wir müssen reden, Aus dem Giftschrank, Gefangene Gefühle, Urlaub mal anders
Offtopic-Kurzgeschichten: Gesichter des Todes, Das Interview (mit Dr. Wolfram Schraubner), Die Bahnfahrt
Mehrere Bücher Inhaltsangaben und Leseproben hier auf meiner Homepage
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skaw_amitskaw |
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Honi soit qui mal y pense - wie der Engländer sagt.
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RE: Das Gespräch im Regen
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Datum:25.11.10 01:10 IP: gespeichert
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Hallo pb,
WOW! Danke!
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Sklavenhalterin
im wilden Südwesten
♥ slave to love ♥
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RE: Das Gespräch im Regen
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Datum:17.02.18 20:39 IP: gespeichert
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*tief seufz und Tränchen wegwisch FRAU und männchen verlassen gemeinsam das Haus. Sie: "Hast Du alles?" er - nimmt IHRE Hand - und sagt leise: "Jetzt - JA!"
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Stamm-Gast
Wenn wir nicht wären gäb`s was anderes
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RE: Das Gespräch im Regen
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Datum:17.02.18 20:48 IP: gespeichert
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Respekt prallbeutel!
Schöne Fingerübung!
Volker
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