Autor |
Eintrag |
Butterfly |
|
Story-Writer
Dieser Satz ist nicht wahr.
Beiträge: 756
Geschlecht: User ist offline
|
Aut Nemo
|
Datum:14.01.04 08:34 IP: gespeichert
|
|
Der übliche Disclaimer sei angewandt. Allen Leuten, die mal wieder so eine Kuschelgeschichte von Butterfly lesen wollen, wünsche ich viel Spaß.
Aut Nemo... Vorsätzliches Besäufnis, so ließ sich das Verhalten des Gastes recht treffend umreißen. "Noch einen!", nuschelte er und hielt sein Glas hoch, während er sich mit der anderen Hand zur Wahrung des Gleichgewichtes an der Theke festhielt. Der Barmann sah ihn skeptisch an, wägte den zu erzielenden Gewinn gegen die Wahrscheinlichkeit ab, daß sein Gast eine größere Schweinerei anrichten würde, und entschied sich dafür, nachzuschenken. Aus der Spezialflasche, auf der außen Wild Turkey draufstand und innen Aldi-Spezial drin war. Den Unterschied merkte der Gast sowieso nicht mehr. Es war schwierig genug, etwas Gewinn zu machen in diesen Tagen.
Nemo wachte am frühen Nachmittag auf, wankte in das Bad und kämpfte den Brechreiz herunter. Seinen Kopfschmerzen nach zu schließen, mußte er bei seinem Vorhaben, sich bewußtlos zu saufen, erfolgreich gewesen sein. Er fühlte sich hundeelend und das Letzte, woran er sich dunkel erinnerte, war, Streit mit dem Barmann angefangen zu haben, daß der Fusel garantiert kein Wild Turkey gewesen wäre. Dann nichts mehr. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht. Es half ihm nicht, sich zu erinnern. Aber das hatte er auch nicht erwartet. Für Filmrisse, fachlich ausgedrückt für Amnesien, war er inzwischen ein Spezialist. Nemo ließ sich wieder auf das Bett fallen. Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, aber alles, was in den späteren Stunden des gestrigen Abends passiert war, lag genauso im Dunkeln wie seine Vergangenheit. Im Fernsehen war es sehr witzig oder dramatisch, wenn der Held eines Filmes einen Gedächtnisverlust erlitten hatte. Nemo fand es weder witzig noch dramatisch. Da war einfach nichts. Er war einfach in einem Klinikbett aufgewacht und hatte nichts gewußt. Nicht mal seinen Namen. Und selbst der fühlte sich auch heute noch nicht so an, als würde er zu ihm gehören, auch wenn er in einem Personalausweis neben sein Foto gedruckt war. Marcel Südmann.
Im Film kam der gedächtnisverlorene Mensch zurück in eine bekannte Umgebung und nach und nach kamen die Erinnerungen zurück. Da war nichts gewesen. Gar nichts. Er hatte sich Fotoalben angesehen. Marcel als Kind. Marcel im Ferienlager. Marcels Hochzeit. Er hatte Marcels Tagebuch gelesen. Und er mochte Marcel nicht. Er mochte Marcels Frau nicht. Und die Verwandtschaft wollte er nicht näher kennenlernen, schon der Versuch hatte ihn angeekelt. Er mochte nicht die Musik, die Marcel hörte, fühlte sich in Marcels Anzügen unwohl. Er war ausgezogen. Natürlich hatte der Psychologe gesagt, daß das keine gute Idee war. Aber die Distanz, die er zu Marcels Frau gefühlt hatte, war unerträglich gewesen. Seine Zurückhaltung, ihr Mitleid, ihre Tränen, seine Fragen. Dieser Marcel Südmann fühlte sich für Nemo einfach völlig fremd an. Deswegen hatte er sich Nemo getauft. Trotzdem, es gab Gemeinsamkeiten. Er war Architekt. Er wußte alles über Architektur. Und fand beinah alles was Marcel gebaut hatte, wofür Marcel Preise eingeheimst hatte, zutiefst widerlich. Das Architekturbüro, für das er arbeitete - vielmehr, für das Marcel gearbeitet hatte - hatte ihn nach seinem Unfall verständnisvoll in einen unbezahlten Urlaub geschickt. Mit dem freundlichen Wunsch zur baldigen Genesung. Nemo stand auf, duschte und zog sich an.
Während er das Hotelzimmer verließ, dankte er im Stillen allen Göttern - sofern es welche gab - dafür, daß Marcel Geld wie Heu gehabt hatte. Und daß sein Anwalt - Nemos Anwalt, nicht Marcels Anwalt, denn der vertrat Marcels Frau - erfolgreich alle Versuche abgeblockt hatte, ihn für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Er war nicht unzurechnungsfähig, er war nur eben nicht Marcel. Es trieb ihn hinaus auf die Straße. Nemo wanderte ziellos herum, ließ sich treiben. Bis er feststellte, daß er vor der Stadtbibliothek stand. Wenn er schon einmal da war, konnte er ja auch hineingehen. Er ging an den Regalen entlang, ließ seinen Blick über die Namen und die Titel auf den Buchrücken gleiten. Viele Bücher kamen ihm bekannt vor, aber natürlich wußte er nicht, wann oder wo er sie gelesen hatte. Schließlich blieb er interessiert vor einem Regal stehen, in dem er kaum Bekanntes sah. Fantasy. Offenbar ein Genre, daß Marcel nicht gemocht hatte. Nemo grinste und griff aus purer Opposition wahllos drei Bücher aus dem Regal und ging dann Richtung Ausgang.
Hinter der Ausleitheke stand eine junge Frau. Etwas hilflos legte Nemo die Bücher hin. "Haben sie ihren Büchereiausweis dabei?" Er schüttelte den Kopf. Er wußte nicht einmal, ob er einen hatte. "Wie ist denn ihr Name?" "Nemo... äh... Marcel Südmann", schließlich stand das in seinem Personalausweis. Die junge Frau zog eine Augenbraue hoch und lachte leise. "Tja, Herr Kapitän, dann will ich mal nachsehen, ob sie einer unserer Kunden sind", und tippte seinen Namen in den Computer. Sie murmelte vor sich hin: "Nemo... nemo... nemo... da! Marcel Südmann. Wie ist ihr Geburtsdatum?" Verdammt, das war der falsche Fuß. Nemo konnte es sich einfach nicht merken. Er zog das Portemonaie heraus und sah auf den Personalausweis. "Äh... 15. September 1969." Jetzt leistete ihre zweite Augenbraue der ersten Gesellschaft: "Sie müssen ihr eigenes Geburtsdatum nachsehen? Dann würde ich gerne auch mal einen Blick auf ihren Personalausweis werfen." Er zuckte die Schultern und übergab ihr das Dokument. Dann seufzte er. "Ich hatte einen Unfall und habe mein Gedächtnis verloren. Ich habe diesen Marcel Südmann nie getroffen, soweit ich mich erinnere." Sie blickte ihn an, unsicher, ob er sie auf den Arm nahm. Nach einem flüchtigen Blick auf den Personalausweis und einen längeren in seine Augen entschied sie sich offenbar, ihm zu glauben. Sie trug die drei Bücher auf ihn ein, schob sie dann zu ihm hinüber. "Drei Wochen ist die normale Leihfrist." "Danke. Schönen Tag noch." Nemo klemmte die Bücher unter den Arm, tippte sich an den imaginären Hut und ging zum Ausgang.
Als er vor der Bibliothek stand und überlegte, wo er nun hingehen sollte, kam sie hinter ihm hergelaufen. "Verzeihen sie bitte, es tut mir leid. Darf ich sie auf einen Kaffee einladen? Ich habe jetzt sowieso Feierabend." Nemo kniff die Augen zusammen: "Ich brauche ihr Mitleid nicht." Seine Worte taten ihm beinah im gleichen Moment leid, vor allem, als er die Verletzung in ihren Augen sah. Er biß sich auf die Zunge, bemühte sich dann, zu lächeln. "Ich meine: ja, ich würde gerne mit Ihnen einen Kaffee trinken."
Wenig später saßen beide in einer Eisdiele. Nemo setzte sich an einen Tisch, die junge Frau setzte sich neben ihn. Sie lächelte ihn schüchtern an: "Julia. Julia Puschke. Und sie heißen Nemo. Aut Nemo aut nemo." Er nickte bestätigend: "Entweder Nemo oder niemand", dann schwieg er einen Moment. "Ich mußte mir einen eigenen Namen geben. Marcel Südmann ist mir einfach zu fremd." Als der Kaffee kam, nippte Julia daran, meinte dann: "Ich habe mich schon ein paarmal gefragt, wie es wohl sein mag..." Er unterbrach sie aggressiv. "Vergessen sie es. Es ist nichts romantisches dabei, von einem Zwölftonner überrollt zu werden. Auch wenn man dabei kaum verletzt wird. Ich kann mich einfach nicht erinnern. Da ist einfach nichts. Gar nichts." Für einen Moment war er versucht, einfach aufzustehen und zu gehen. Dann merkte er, daß sie zurückgezuckt war und ziemlich unglücklich aussah. Sie begannen gleichzeitig, sich zu entschuldigen, brachen gleichzeitig ab, setzten erneut an und mußten dann unwillkürlich lachen. Verlegen nippte Nemo an seinem Kaffee. Beide schwiegen, bis sie erneut ansetzte: "Und du nennst dich selbst Nemo. Weil du nicht weißt, wer du bist." Er nickte. "Ja. Zum Beispiel bin ich verheiratet. Nur daß ich mich an meine Frau nicht erinnere, wie ich sie geheiratet habe. Und jetzt, nachdem ich sie kennengelernt habe, kann ich sie nicht leiden." Er stockte, als er ihren Gesichtsausdruck sah und schimpfte sich innerlich einen Idioten. Warum mußte er mit dem Thema aufkommen? "Wirklich. Da ist überhaupt nichts. Wir leben getrennt. Und wir werden uns demnächst scheiden lassen. Es gibt nichts, was uns verbindet." Sie nickte. Nemo konnte ihr ansehen, daß sie auf der Hut war, abwartete. Er zuckte die Schultern. "Ich glaube manchmal, daß ich mich an gar nichts erinnere, weil ich mir zutiefst unsympathisch bin. Dieser Marcel Südmann ist ein richtiges Arschloch. Ein neuer Anfang." Julias Gesicht taute etwas auf. Danach glitt das Gespräch in ungefährlichere Fahrwasser.
Nemo ging auf die Toilette, und als er zurückkam, fing er geschickt den Kellner ab und bezahlte. Zurück am Tisch zog Julia eine Schnute. "Ich wollte dich doch einladen." "Entschuldigung. Jetzt habe ich schon bezahlt. Ich würde sagen, du bist das nächste Mal dran." Er grinste jungenhaft und Julia kicherte. Sie verließen Hand in Hand das Eiscafe. Davor blieben sie stehen. Julia sah ihm einige Sekunden in die Augen, dann fragte sie: "Habe ich gesagt, daß ich einen hervorragenden Rotwein zuhause liegen habe? Und einen Zettel von einem wirklich guten Pizzaservice?" Sie stockte einen Moment, dann prustete sie los: "Was für eine blöde Anmache. Los. Komm mit. Der Abend fängt gerade erst an."
Gesättigt ließ Nemo das letzte Drittel seiner Pizza liegen. "Puh. Die ist wirklich lecker. Aber viel zu viel." Julia feixte: "Ich habe doch gesagt, du solltest nicht die Große bestellen. Du solltest auf mich hören... ich weiß, was ich tue." Bei den Worten war sie aufgestanden und hinter ihn getreten, jetzt streichelte sie ihn zwischen den Schultern, fing an, von hinten sein Hemd aufzuknöpfen. Als Nemo nach ihrer Hand griff, biß sie ihn spielerisch in den Nacken. "Das ist mein Spiel. Habe ich dir erlaubt, meine Hände festzuhalten?" Er schüttelte den Kopf, ließ seine Hände sinken. Auf dem Weg ins Schlafzimmer blieb nach und nach seine Kleidung zurück. Er konnte seine Erregung nicht verbergen, versuchte, sich zu revanchieren, bis sie ihn schließlich anfauchte: "Laß deine Hände bei dir, bis ich es dir erlaube." Sie schubste ihn auf das Bett, kniete sich über ihn und hielt seine Hände fest. Dann biß sie ihn probeweise in die Schulter, sah ihn dann an. "Magst du das?" Sein Gesichtsausdruck war Antwort genug. Sie biß ihn erneut, fester. Ihre rechte Hand wühlte kurz in der Nachttischschublade, dann ließ sie ein Paar breiter Handschellen vor seinen Augen baumeln. "Jetzt darfst du." Nemo nickte ernsthaft. Dann rang er sie mit einer schwungvollen Bewegung auf den Rücken, zog die Handschellen hinter einer Strebe des Kopfendes hindurch und fesselte ihre Handgelenke. Dann begann er, indem er sie küßte.
Julia sah sehr glücklich aus, als sie sich auf die Seite drehte und ihn ansah. "Laß uns ins Kino gehen." Nemo war noch immer außer Atem. "Ok. Aber nicht in den Film mit den Fischen." Sie lachten gemeinsam, dann zog er Julia an sich und küßte sie lange. Julia sah ihm verträumt in die Augen. "Ich möchte dich behalten." Nemo grinste breit, beugte sich zu ihr, gab ihr einen schnellen Kuß auf die Nase und meinte mit einem Blick auf ihre Handschellen: "Sieht für mich eher so aus, als würde ich dich behalten." Er küßte sie erneut, fragte dann in beiläufigem Tonfall: "Sag mal, hast du eigentlich noch mehr so Spielzeug?" Julia wurde rot und nickte. Dann flüsterte sie: "Im Nachttisch. Und in der Schublade unter dem Bett." Nemo warf einen kurzen Blick hinein, musterte sie dann nachdenklich: "Das mit dem Kino sollten wir vielleicht auf morgen verschieben..."
Ende
|
|
oxymoron |
|
Stamm-Gast
Lieber natürliche Intelligenz als künstliche
Beiträge: 1190
Geschlecht: User ist offline
|
Re: Aut Nemo
|
Datum:14.01.04 17:08 IP: gespeichert
|
|
Moin moin
Bei dem Namen müsste er sich eigentlich sehr gut mit Seilen und Seemannsknoten auskennen
oxymoron Dreiviertel meiner ganzen literarischen Tätigkeit ist überhaupt Korrigieren und Feilen gewesen (Theodor Fontane)
|
|
Gast
|
Re: Aut Nemo
|
Datum:14.01.04 22:27 IP: gespeichert
|
|
tolle short-story, schmetterling!
sehr liebevoll, nachdenklich, menschlich..
ich freue mich auf noch viele geschichten von dir!
deine träumerin
|
|
Why-Not |
|
Story Writer
Beiträge: 1725
Geschlecht: User ist offline
|
Re: Aut Nemo
|
Datum:14.01.04 23:37 IP: gespeichert
|
|
... so ganz im Vertrauen ... von Rosamunde zu Rosamunde ...
Schöne Story.
Why-Not Buch-Anfang: Dämonen der Leidenschaft (Teaser)
Session: Wir müssen reden, Aus dem Giftschrank, Gefangene Gefühle, Urlaub mal anders
Offtopic-Kurzgeschichten: Gesichter des Todes, Das Interview (mit Dr. Wolfram Schraubner), Die Bahnfahrt
Mehrere Bücher Inhaltsangaben und Leseproben hier auf meiner Homepage
|
|
Story-Writer
Is this the real life - is this just fantasy...?
Beiträge: 495
Geschlecht: User ist offline
|
Re: Aut Nemo
|
Datum:15.01.04 19:17 IP: gespeichert
|
|
Kuschelig wie rosa Plüschhandschellen und schön geschrieben!
|
|
Billyboy |
|
Staff-Member
Wo ist denn das blöde Lichtschwert wieder? Ich verlege das immer und muss dann mit dem Feuerzeug kämpfen!!!
Beiträge: 1892
Geschlecht: User ist offline
|
Re: Aut Nemo
|
Datum:16.01.04 01:44 IP: gespeichert
|
|
Na ob Rosamunde oder Plüsch, ist einfach ne nette Story, man kann sich gut reinversetzen, hofft, wenn einem selber mal das Gedächtnis flöten geht, daß einem auch sowas passiert, einfach nett!! *gg* cu Tom Remember yesterday, think about tomorrow but live today!!!
|
|
User ist offline
|
Re: Aut Nemo
|
Datum:16.01.04 11:29 IP: gespeichert
|
|
He flies like a butterfly ... but he stings like a bee ... eine schöne Story! ChariSMa
|
|
|
|
|
|