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  Kurzgeschichte: Hilfe - Ich bin anders (Rezension)
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surfi
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  Kurzgeschichte: Hilfe - Ich bin anders (Rezension) Datum:04.11.04 17:01 IP: gespeichert Moderator melden


Hilfe – Ich bin anders
von Roger_Rabbit


Eine Rezension

Der Autor, einer der fleißigsten - nein, der fleißigste - unter den Autoren des Forums, hat, wie er selbst am 2.11.04 schrieb, „ein sehr schwieriges Experiment“ unternommen. Er mutet sowohl sich als auch seiner treuen Leserschaft einiges zu. Da wäre: der Macho und Zweigstellenleiter Andreas Ernstgarten, der seine Sklavin Agnes, die zu Hause angekettet schmachtet, mit der „Büroschlampe“ Angelika betrügt. Da wäre weiter die von allen als etwas einfältig eingestufte Angestellte Veronika Baumann, die als Sklavin des dominanten und fiesen Jürgen Baumann während ihrer harten Büroarbeit einen Keuschheitsgürtel tragen muss, während dieser zu Hause auf der faulen Haut liegt. Eine Konstellation, die zu vielfältigen Verwicklungen geradezu einlädt. Und Roger_Rabbit würde seinem Ruf nicht gerecht werden, wenn er da nicht noch einige zusätzliche Komplikationen hineinbringen würde. Und was für welche!

Alles beginnt damit, dass, während Baumann am Stecker des Kopierers fummelt, um ihn für Veronika einzustöpseln, die sich auch ausnahmsweise in aller Frühe im Büro eingefunden hat. Just in dem Moment schlägt ein Blitz ein, und – Zack – die beiden Personen werden getroffen und erfahren / erleiden eine Art Seelenwanderung: Andreas findet sich im Körper von Veronika am Kopierer wieder. Veronika ist in Baumanns Körper transformiert und gleichzeitig an die gegenüberliegende Wand geschleudert worden. Damit beginnen die gedanklichen und realen Überraschungen der beiden. Nicht nur, dass sie (bisher) eine unterschiedliche gesellschaftliche Stellung innehatten, nein - sie sind so gegensätzlich, wie es gegensätzlicher nicht geht: Die devote Seele der Veronika im männlichen Macho-Körper von Andreas und das dominante Alpha-Tier im weiblichen Körper der devoten Veronika.

Das Vexierspiel nimmt zuerst im Chefzimmer von Andreas Ernstgarten seinen Anfang, wo die berechnende „Chefnutte“ Angelika nicht merkt, dass im Körper des Chefs in Wahrheit Veronika steckt. Sie lässt sich von ihm (ihr) auf dem Sofa und auf dem Schreibtisch vögeln, nachdem sie ihn wie gewohnt aufgegeilt hat. Sie will natürlich seine Ehefrau beerben.

Währenddessen erleben wir, aus der Perspektive des Chefs Ernstgarten, wie die attraktive, aber auf der sozialen Leiter tief unten stehende Veronika im Büro herumgescheucht wird. Der (Sie) wird derweil zusätzlich vom kneifenden und juckenden Keuschheitsgürtel gemartert. Fast bekommt man Mitleid mit dieser Sorte Mensch, aber eben nur fast, weil man in Erinnerung hat, wie er es mit seiner Büronutte Angelika hinter verschlossenen Türen treibt, d.h., nicht er, sondern Veronika in seiner Rolle.

Abends geht es zu Hause bei Ernstgarten weiter, aber die Ehefrau-Sklavin Agnes spürt instinktiv richtig, dass ihr Mann nicht eigentlich ihr Mann ist, weil er (sie) mit einem Male so lieb und fürsorglich geworden ist. Hier gelingt es dem Autor sehr gut, das „Zusammentreffen“ zweier Devoter zu schildern und eine neue, für beiden Seiten schöne Perspektive aufzuzeigen. Andreas Ernstgarten (Veronika) hat sehr schönen Sex mit Agnes, die regelrecht aufblüht.

Nicht so bei den Baumanns, die natürlich in einem sozialen Brennpunkt in einer miesen Hochhaussiedlung wohnen. Der dominante, asozial auftretende Jürgen Baumann merkt gar nicht, dass im Körper seiner Frau eigentlich der Chef Andreas Ernstgarten steckt. Er macht weiter wie gehabt in seinen ermüdenden Spielchen mit neuen, noch restriktiveren Keuschheitsgürteln und immer unbequemeren High-Heels für seine „devote“ Ehefrau. Sie (er) lässt sich alles „gefallen“, und genau hier vergibt der Autor eine große Chance, einen neuen Konflikt eskalieren zu lassen, nämlich zwei Dominante, Veronika Baumann (alias Andreas Ernstgarten) und den Proll-Ehemann Jürgen, aufeinander zu hetzen!  Das empfinde ich persönlich als eine konzeptionelle Schwäche in dieser Kurzgeschichte, die aber – weil ich nicht alles nacherzählen möchte – mit einer sehr guten Pointe endet.

Nachdem der Blitz noch einmal wieder eingeschlagen hat, werden die Rollen wieder zurückgetauscht. Das hat der Leser sowieso die ganze Zeit erwartet. Gut so, wenn der Autor das Leserinteresse nicht enttäuscht! Die raffinierte, gar nicht dumme Veronika hat vor der Rückverwandlung dafür gesorgt, dass die devote Agnes, aber auch das Flittchen Angelika in einen KG eingeschlossen sind. Für die Herausgabe der beiden Schlüssel stellt sie Bedingungen an den Chef, die ihr allesamt gewährt werden … Und die Pointe? Ach ja: nach drei Monaten gesteht Agnes ihrem Mann, dass sie schwanger ist … von Veronika und bittet ihn, ihr den Keuschheitsgürtel abzunehmen.

Auch in der Firma sind inzwischen dank Veronikas Weichenstellungen aus ihrer Zeit als Bürochef positive Veränderungen vor sich gegangen.

Natürlich hat eine solch komplizierte Geschichte auch Schwächen. Eine inhaltliche erwähnte ich schon, nämlich das statische Verhältnis zwischen Veronika alias Andreas  und dem Proll Jürgen Baumann.

Formal macht es der Autor sowohl sich als auch den Lesern nicht leicht. Das Fehlen von Anführungssätzen vor der wörtlichen Rede und vor den inneren Monologen, aus denen die ganze erzählte Handlung besteht, machen es schwer, die vielen Wechsel der Erzählperspektive sofort zu verstehen. Die ersten (kritischen) Leserreaktionen zielten in genau diese Richtung. In den folgenden Kapiteln trug der Autor diesen Einwänden Rechnung, indem er jeweils ein Kapitel für eine Erzählperspektive reservierte (abgesehen von wörtlicher Rede der anderen beteiligten Figuren).

Etwas merkwürdig kommt mir persönlich vor, dass er die erzählte Handlung manchmal im Präsens und manchmal im Präteritum wiedergibt. Was denn nun? Eine einzige Zeit ist angemessen, entweder das Präsens oder das Präteritum. Oder hat das noch eine diffizile Bedeutung, die ich nicht erkannt habe?

Gewöhnungsbedürftig  ist auch die Unterscheidung der Gedanken (innerer Monolog der jeweiligen Hauptfigur) durch ‚einfache Anführungszeichen’ von dem, was diese sieht (ohne Anführungszeichen). Das habe ich so noch nie in Geschichten gesehen, kann mich jedenfalls nicht bewusst daran erinnern.

Dann gibt es natürlich auch die unvermeidlichen Fehler – aber Irren ist menschlich. Manchmal sind die ungewollten Fehler wieder ganz lustig. Ich habe mal ein paar notiert:
„Krabbeltisch bei Woolworth“ (statt „Grabbeltisch“),
„Doch dann gingen die Pferde mit mir durch. Ich wurde zum Stier.“
„Mich möchte ich dann einmal jammern und jaulen hören“ (Ja, ist er ein Hund?)
Ein Laserdrucker „nagelt die Lettern aufs Papier“ (Ich dachte immer, Laserdrucker sind leise).
Und schließlich: Jürgen Baumann redet elaboriertes Deutsch, obwohl er ein Proll ist. (Stilbruch).


Fazit: ein Sprachexperiment und eine Gratwanderung (Seelenwanderung). Ein Lob dem Autor und seinen Fähigkeiten, dass er nicht abgestürzt ist.


(Diese Nachricht wurde am 04.11.04 um 17:01 von surfi geändert.)
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Roger_Rabbit
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Beiträge: 3439

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  Re: Kurzgeschichte: Hilfe - Ich bin anders (Rezension) Datum:04.11.04 17:49 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo Surfi!

> Gewöhnungsbedürftig ist auch die Unterscheidung der Gedanken (innerer Monolog der jeweiligen Hauptfigur) durch ‚einfache Anführungszeichen’ von dem, was diese sieht (ohne Anführungszeichen).

Du hast es doch schon richtig erkannt. Wir haben jeweils einen Ich-Erzähler, eine Handlung an unterschiedlichen Orten, die die- oder derjenige gerade erlebt; wir haben aber auch ‘Gedanken’ der Personen, die speziell gekennzeichnet werden müssen und nicht zuletzt „Unterhaltungen“, die dann in zwei Gänsefüßchen stehen.

Erschwerend –nicht nur für mich, sondern auch für den Leser– kommen dann noch die Emotionen der jeweiligen Partner hinzu, wie Agnes zum Beispiel ihren ‚gewandelten’ Mann empfindet. Alles könnte man nun mit den Möglichkeiten des BB-Codes (kursiv, fett, klein, unterstrichen, usw.) darstellen, doch im reinen ASCII-Text ist das nur durch wenige Zeichen möglich.

In vielen Romanen und Büchern habe ich >> (wörtliche Rede öffnend) und << (nun schließend) anstelle von „ und “ gelesen. Dann könnte man mit „…“, ‚…’ und mit ‘…’ noch einmal ein paar Nuancen mehr haben, doch das ist ja nun schon fast die Vorlage für den Drucker im Verlag.

Dann gibt es noch ein Stilmittel von mir, wenn ein Orts-, Zeit- oder Personenwechsel vorgenommen wird. Eine Leerzeile. Daran ist schon zu erkennen, daß in diesem Fall von Veronika zu Andreas oder umgekehrt gewechselt wurde. Die vier, nur eine Person behandelnden Kapitel waren von vornherein so geplant. Der Rest ist ja auch ein Mischmasch zwischen beiden.

> Das habe ich so noch nie in Geschichten gesehen, kann mich jedenfalls nicht bewusst daran erinnern.

Welche Stilelemente erlaubt denn die Tastatur? Wie bekommt man ein Geschehen, Gedanken, Übertreibungen und wörtliche Rede unter einen Hut?
Ein Geschehen wird einfach nur beschrieben. ‘Gedanken’ kommen in zwei Hochkommata.
‚Übertreibungen’ (‚gutester’, ‚am einzigsten’, usw.) oder gewisse ‚Abwertungen’, ‚Firmennamen’ oder ähnliches mit öffnendem Anführungsstrich unten und schließendem oben sollen doch nur Emotionen darstellen. Einzig läßt sich nicht steigern und gut wird zu besser.
Die wörtliche Rede wird ganz klar mit den Gänsefüßchen eingeleitet und geschlossen. Ausweichend, aber hier im Forum wahrscheinlich verwirrend, wären auch noch die doppelten größer- und kleiner-als-Zeichen möglich.

> Manchmal sind die ungewollten Fehler wieder ganz lustig. Ich habe mal ein paar notiert:

Den ‚Krabbeltisch’ lasse ich durchgehen und kann mich noch nicht einmal mit benachbarten Buchstaben auf der Tastatur heraus reden. (Irgendwie Slang und Sprachgebrauch, da geht das ‚g’ unter und wird zum ‚k’) Aber beim Rest interveniere ich:

> „Doch dann gingen die Pferde mit mir durch. Ich wurde zum Stier.“

Es sind Phrasen aus dem Sprachgebrauch, die natürlich nicht miteinander harmonisieren, aber eine Stimmung aufzeigen sollen.

> Ein Laserdrucker „nagelt die Lettern aufs Papier“ (Ich dachte immer, Laserdrucker sind leise).

Noch ein Veto meinerseits. Veronika im Körper von Andreas macht doch gerade ihren ehemaligen Vorgesetzten zur Sau. Andreas im Körper von Veronika muß auf einer alten Schreibmaschine die Korrespondenz aufs Papier bringen, obwohl für sie doch eigentlich ein Laserdrucker angeschafft wurde. Das ist der Wortwitz in der Sprache, der sich auch aus dem Sinnzusammenhang ergibt.

Ähnlich wäre es wie:

Dunkel war s, der Mond schien helle,
schneebedeckt die grüne Flur,
als ein Auto, blitzeschnelle,
langsam um die Ecke fuhr.

Drinnen saßen stehend Leute,
schweigend ins Gespräch vertieft,
als ein totgeschoss ner Hase
auf der Sandbank Schlittschuh lief.

Und auf ner grünen Bank,
die rot angestrichen war,
saß ein blondgelockter Jüngling
mit kohlrabenschwarzem Haar.

Neben ihm ne olle Schrulle,
die zählte g rad mal siebzehn Jahr,
in der Hand ne Butterstulle,
die mit Schmalz bestrichen war.

Droben auf dem Apfelbaume,
der sehr süße Birnen trug,
hing des Frühlings letzte Pflaume,
und an Nüssen noch genug.

Rings herum herrscht tiefes Schweigen
Und mit fürchterlichem Krach
Spielen in des Grases Zweigen
Zwei Kamele lautlos Schach

Und zwei Fische liefen munter
Durch das blaue Kornfeld hin
Endlich ging die Sonne unter
Und ein grauer Tag erschien.

Von der regennassen Straße
wirbelte der Staub empor.
Und der Junge bei der Hitze
mächtig an den Ohren fror.

Beide Hände in den Taschen.
hielt er sich die Augen zu.
Denn er konnte nicht ertragen,
wie nach Veilchen roch die Kuh.

Holder Engel, süßer Bengel,
furchtbar liebes Trampeltier.
Du hast Augen wie Sardellen,
alle Ochsen gleichen Dir.

Diese traurige Geschichte
war so lustig wie noch nie,
deshalb heißt s auf Wiedersehen,
bleibe bei mir, oh Marie!

Dies Gedicht schrieb Wolfgang Goethe
abends in der Morgenröte
während er auf m Nachttopf saß
und seine Morgenzeitung las.


> Ein Lob dem Autor und seinen Fähigkeiten, dass er nicht abgestürzt ist.

Ein Experiment, dieses vielfach kompliziert und schwierig war, dem aber viele Leser folgen konnten. Hoffe ich doch wenigstens...
Auf Wiederlesen

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