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Thema:
eröffnet von Deep Wishes am 15.08.22 16:33
letzter Beitrag von Deep Wishes am 20.11.22 21:01

1. Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 15.08.22 16:33

Nach monatelangem stillen Mitlesen poste ich nun eine Geschichte mit vielen Kapiteln, die in Grundzügen schon länger fertig ist. Ein wenig zugrunde liegen der Story bestimmte Sehnsüchte und mein doch recht ausgeprägter Brillen-Fetisch. In der Geschichte geht es um Katrin, die aufgrund von Aggressivitätsschüben sich freiwillig in eine Klinik einweisen lässt, deren Programm vor allem aus Verhaltenstherapie und bewusst eingesetzter Reizreduzierung besteht.

Prolog
Sie haben mir wieder die Jacke angezogen, mich dann in den großen, grauen Pflegerollstuhl gesetzt und sicher verpackt. Ich werde aus dem Zimmer geschoben und irgendwo auf dem Flur abgestellt.
Fest und unnachgiebig umschließt der Stoff der Jacke meine gekreuzten Arme und meinen Oberkörper. Ich rieche das Leder, das eng meinen Mund bis hin zur Nase umschließt. Ich spüre die Riemen rund um meinen Kopf und meinen Hals, mit denen das Ledergeschirr befestigt ist.
Durch die starken, dicken Gläser meiner Brille sehend erahne ich höchstens, was und wer auf dem Flur vorbei kommt. Auf meinem Kopf sitzt dieser braune Lederhelm, der mich schützen soll, wenn ich falle, und der jetzt so nutzlos ist.
Es ist meine Strafe für die Sache von gestern, so wie hier alles Strafe oder – ja auch – Belohnung ist.
Und ich ahne, wie es nach dem Mittagessen weitergehen wird. Mittagsruhe voll fixiert im Pflegebett. Die Gurte warten schon darauf, sich liebevoll und unerbittlich um meinen Rumpf, die Hände und die Beine zuschließen. Wenn ich jetzt brav bin, vielleicht belohnen sie mich und lassen den Schultergurt und vielleicht auch den Schrittgurt weg.
Strafe und Belohnung – so läuft das hier. Das habe ich jetzt kapiert, hätte es eigentlich schon am ersten Tag kapieren können.
Aber – es gibt mir Sicherheit. Klare Regeln und das schöne Gefühl, sich einfach fallen zu lassen und sich auszuliefern. Ich genieße meine Ohnmacht. Und es kribbelt jedes Mal ganz tief in mir drin, wenn sie mich im Bett fixieren oder mich in die Zwangsjacke stecken.
Aber heute bin ich eine Warnung für andere.
2. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 15.08.22 16:40

Die Ankunft
Es ist Sonntag, später Nachmittag. 12 km bis Bodenhain steht auf dem Hinweisschild. Am Bahnhof war ich in das Taxi gestiegen, dessen Fahrer mich nun zur Klinik bringen wird. Zum Glück legt der Fahrer es nicht auf Smalltalk an, so dass ich in Ruhe meinen Gedanken nachhängen kann und mich zum x-ten Mal fragte, ob der Schritt, den ich nun gehen möchte, wohl der Richtige sei.
Schon als Kind galt ich als schwierig. Meine Aussetzer und Wutanfälle waren berüchtigt. Als Jugendliche begab ich mich dann zum ersten Mal in psychologische Behandlung, um mein aggressives Verhalten in den Griff zu bekommen. Eigentlich bin ich ruhig und besonnen, aber es kann passieren, dass ich plötzlich explodiere. So als wenn ein Kurzschluss im Gehirn wäre, ein kleiner Anlass genügt. Je unstrukturierter die Situation, desto eher passiert mir das. Dann kenne ich mich selbst nicht mehr wieder. Irgendwas läuft mir quer und ich werfe mit Sachen um mich, schlage mit dem Kopf gegen die Wand und die Biss- und Kratzwunden an Händen und Armen heilen schon gar nicht mehr richtig. Es war schon mal so schlimm, dass ich unbeteiligte Passanten weggeschubst habe oder bei der Arbeit auch mal auf andere einschlug. Natürlich trudelte die eine oder andere Anzeige ein; dank eines fähigen Anwaltes konnte ich das Äußerste noch stets abwenden.
Nun, ich nahm jahrelang Medikamente ein, um mich selbst besser steuern zu können. Das klappte am Anfang auch ganz gut, dann musste die Dosis erhöht werden. Die Nebenwirkungen waren leider nicht ohne. Ich fühlte mich permanent müde, entwickelte aber auch einen enormen Appetit. Ich nahm immer mehr an Gewicht zu und konnte mich selbst nicht mehr im Spiegel sehen. Der Selbsthass schlug dann wieder in Aggressionen um, und dann wieder mehr Medikamente, und der Teufelskreis ging weiter.
Ich wechselte den Psychiater. Auch der Neue verschrieb mir irgendwelche Medikamente. Damit ging es mir zeitweise besser. Ein schöne Nebenwirkung: ich hatte kaum noch Appetit und näherte mich wieder meinem Normalgewicht.
Aber die Tabletten machten mich so etwas von müde. Dann musste auch da wieder die Dosis erhöht werden. Morgens kam ich irgendwann gar nicht mehr aus dem Bett und ich fühlte mich kraftlos und erschöpft. Ich musste meine Arbeit als Altenpflegerin aufgeben, mein Freund hatte genug von mir und nun bin ich 25 Jahre alt, bin arbeitslos, allein und versuche von meinem Erspartem zu leben.
Finanziell bin ich relativ gut abgesichert. Meine Mutter hatte mir ein beachtliches Erbe hinterlassen. Von diesem Geld kaufte ich eine Eigentumswohnung, die dank der guten Konditionen, die mein ehemaliger Freund, er ist Banker, ausgehandelt hatte, zum größten Teil schon abgezahlt ist.
Trotzdem befinde ich mich in einem absoluten Tief. Ich bin einsam, habe niemanden, mit dem ich sprechen kann. Meine Außenkontakte sind gleich null und über meine Arbeit im Altenpflegeheim, die mir so viel bedeutete, kann ich mich auch nicht mehr definieren. Es muss etwas passieren.
Was mir Hoffnung gibt, ist das Versprechen des Flyers, den ich bei meinem letzten Besuch beim Psychiater fand. Da wirbt die Klinik in Bodenhain damit, psychisch kranken Menschen möglichst ohne Medikamente und in erster Linie durch Maßnahmen, die auf Verhaltensänderungen zielen, zu helfen. Mein Psychiater kennt diese Klinik zwar nicht, denkt aber, dass diese Maßnahmen meiner Persönlichkeitsstruktur entgegenkommen.
Ich habe zwar ein flaues Gefühl bei dem Gedanken, mich stationär einweisen zu lassen, aber vielleicht findet sich hier für mich ein Weg. Mein Psychiater hatte zunächst ein ausführliches Gutachten über mich nach Bodenhain geschickt - er müsse da ein bisschen nachhelfen, wie er betonte - und mir dann ein Telefongespräch mit dem Leiter der Klinik in Bodenhain in seiner Praxis vermittelt. Und weil sich das alles gar nicht so schlecht anhörte und ich von den Medikamenten ja unbedingt herunter möchte, unterschrieb ich vor zwei Wochen die Selbsteinweisung in der geschlossenen Abteilung mit der ausdrücklichen Billigung, in notwendigen Situationen aus medizinischen Gründen auch freiheitsentziehende Maßnahmen zuzulassen.
Da am Hang liegt die Klinik. Sieht gar nicht schlecht aus, hell und recht modern. Ich checke noch schnell mein Bild im Rückspiegel. An die neue Kurzhaarfrisur muss ich mich noch gewöhnen – doch, ich gefalle mir. Eigentlich wäre jetzt die Zeit, um wieder die Tabletten zu nehmen. Aber ich habe sie zu Hause gelassen, ich will es ohne schaffen.
3. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 15.08.22 21:28

Der Empfang
Im Foyer der Klinik melde ich mich an. Mir wird gesagt, ich werde gleich abgeholt, mein Gepäck könne ich da lassen, das wird mir auf mein Zimmer gebracht. Es dauert gar nicht lange, da kommt schon eine junge, freundliche Schwester auf mich zu. Hinter ihr gehen zwei Pfleger, die einen großen, leeren Rollstuhl schieben. „Hallo, ich bin Schwester Yvonne“, stellt sie sich vor. „Sie müssen Frau Ferner sein. Ihr Psychiater hat uns schon die Unterlagen mitsamt Diagnose gefaxt. Kommen Sie doch einfach mit auf Station. Bitte nehmen Sie Platz. Wir fahren Sie.“
Ich zögere etwas. „Ich soll mich in den Rollstuhl setzen?“ frage ich. „Ja, bitte“, sagt einer der Pfleger. „Aber ich kann doch gehen“, setze ich an, doch die Schwester unterbricht mich freundlich: „Frau Ferner, jetzt bitte nicht diskutieren. Lassen Sie sich fahren.“ Ich setze mich vorsichtig hinein. Ein seltsames Gefühl, mal selber in einem Rollstuhl zu sitzen; dabei habe ich schon so viele geschoben. „Und nun bitte einmal anschnallen“, sagt die Schwester und schon wird mir von hinten eine Weste vor den Oberkörper gehalten und, bevor ich realisiere, was los ist, blitzschnell hinten am Rollstuhl befestigt. Ich bin wie vor dem Kopf geschlagen. Diese Fixierwesten kenne ich aus meiner Arbeit, kaum zu glauben, dass ich sie auch mal ausprobieren muss. „Was machen Sie da?“ rufe ich. „Das ist Sicherheitsvorschrift“, sagt die Schwester, während ich spüre, wie die Weste stramm gezogen wird, „damit nichts passiert.“ So langsam werde ich unruhig. „Auf was habe ich mich hier eingelassen“, denke ich.
Ich werde durch mehrere Flure und Gänge gefahren, bis Schwester Yvonne eine Milchglastür aufschließt und wir in der Station W 2 angekommen sind. „Wir haben hier Zwei-Bett-Zimmer. Aber die erste Nacht werden Sie erst einmal allein im Beobachtungszimmer verbringen. Das ist üblich bei allen Neuzugängen. Ihr Abendessen werden Sie heute auf diesem Zimmer einnehmen.“ Eigentlich bin ich ganz froh darüber, zunächst alleine zu sein, andererseits hätte ich gerne ein paar der Mitpatientinnen gesehen.
Plötzlich schrillt der Pieper der Schwester. „Da ist was los in Zimmer 6“, ruft sie, „Frau Ferner, Sie warten bitte einen Moment, wir sind gleich wieder da.“ Einer der Pfleger zieht die Bremsen meines Rollstuhls an und die drei eilen davon.
Nun sitze ich hier festgeschnallt in einem Pflegerollstuhl und warte. Nach gefühlten zehn Minuten wird mir das doch zu bunt. Ich weiß, wie üblicherweise diese Westen festgemacht sind, drehe mich so gut es geht, erreiche den Verschluss und fummele daran herum.
„Was machen Sie denn da“, ruft eine Männerstimme, „kaum lassen wir Sie einen Moment allein…“ „Oh, Scheiße“, denke ich. Und schon stehen die beiden Pfleger neben mir. „Frau Ferner, Frau Ferner“, sagt einer der beiden, „wir sollen Sie nun auf Ihr Zimmer bringen. Schwester Yvonne wird kommen, wenn sich die Situation beruhigt hat. Aber ich denke, wir sollten Ihnen die Versuchung nehmen, sich medizinischen Notwendigkeiten zu entziehen.“ Dann nehmen beide je einen Unterarm von mir und fixieren ihn mit einem weichen Ledergurt auf den Armlehnen des Rollstuhls. Ich fange an zu protestieren, doch einer der Beiden herrscht mich an: „Sie wollen doch nicht schon an Ihrem Ankunftstag in ernsthafte Schwierigkeiten kommen? Seien Sie jetzt besser mal still. Yvonne wird sich ja gleich um Sie kümmern.“ Ich halte mich nun besser zurück und warte auf das, was kommen wird.
Es geht nun etwas den Gang entlang und dann stehe ich in einem nüchtern eingerichteten Zimmer mit einem Krankenhausbett, einem Tisch, einem Stuhl und einem angrenzendem kleinen Badezimmer. „Hier warten Sie nun auf die Schwester“, sagt einer der Männer, „und wehe, Sie werden laut!“
4. RE: Sechs Monate

geschrieben von tatiana.m am 16.08.22 07:32

Hallo Deep Wishes
werte Gemeinde,

Danke für den tollen Beginn.
Sehr schön beschrieben, weshalb Katrin in ihre missliche Lage geraten ist.

Irgendwie entdecke ich Parallelen. Auch in meinem Kopf tobt manchmal ein "Sonnensturm".
Und ja, Pillen sind doof.

Wünsche viel Vergnügen beim weiteren schreiben.

Allen einen wunderbaren Tag.

mit demütigen Grüssen
miststück

Der Kommentar wurde mit freundlicher Erlaubnis erstellt.
5. RE: Sechs Monate

geschrieben von cbobby am 16.08.22 11:49

Hallo Deep Wishes,

ein toller Anfang. Richtig klasse, genau meine Vorliebe. Ich hoffe es geht bald weiter. Bin schon richtig gespannt.

6. RE: Sechs Monate

geschrieben von Doran am 16.08.22 12:01

Wow, eine tolle Geschichte - davon träume ich auch ständig - völliger Kontrollverlust und Fixierung in Rollstuhl und Pflegebett. Welche Windeln bekommt Sie denn angelegt? Eigenständige Toilettennutzung geht ja nicht mehr ...
7. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 16.08.22 21:45

Vielen Dank für das positive Feedback!
Es geht weiter:

Der erste Abend
Diesmal dauert es nicht lange und ich höre wieder Schritte. „So, Frau Ferner“, sagt Schwester Yvonne, „Sie sind nun hier in der geschlossenen Abteilung für Menschen mit einem erhöhten Risiko der Selbst- und Fremdverletzung. Wir kennen Sie noch nicht, aber aufgrund der Dokumentationen Ihres Psychiaters müssen wir gewisse Vorsichtsmaßnahmen eingehen. Daher das Anschnallen im Rollstuhl. Da müssen Sie gar nicht erst versuchen, sich davon zu befreien. Sie sehen ja, wo das hinführt.“ „Und wann werde ich endlich losgemacht“, frage ich. „Gleich“, sagt die Schwester, „ich möchte Ihnen noch etwas erklären. Zu unseren Maßnahmen gehört auch, dass Sie wie alle Neuzugänge auf dieser Station während der ersten Zeit die Nächte fixiert im Bett verbringen werden, gerade wenn wie bei Ihnen ein erhebliches Aggressionspotential diagnostiziert ist. Und in ihrem Fall wohl weitgehend voll fixiert.“
Voll fixiert? Mir verschlägt es vor Erstaunen die Sprache und ich frage mich, was mein Psychiater so alles in meine Unterlagen geschrieben hat. Ich schaue genauer auf das Bett und sehe die Gurte eines kompletten S-Fix-Fixiersystems darauf liegen. Ich hatte diese schon einmal bei meiner Arbeit im Altenheim gesehen, aber nie bei den alten Menschen benutzen müssen. Mir wird plötzlich sehr warm; der Gedanke, bald selber fixiert zu werden, erregt mich merklich. Trotzdem frage ich: „Und wenn ich nicht möchte?“ „Glauben Sie mir, es ist besser, Sie machen mit“, ist die Antwort. „Außerdem liegt uns Ihre ausdrückliche Zustimmung vor. Wissen Sie, es geht hier um Verhaltensänderung und ein Grundsatz lautet: „Keine Aktion ohne Reaktion.“ Sie widersetzen sich einer Maßnahme, schon kommt die Sanktion. Deshalb musste Eddie Ihre Arme festschnallen. Es gibt negative Konsequenzen, aber bei entsprechendem Verhalten auch positive. Wie gesagt, morgen wird Ihnen alles genauer erklärt. Und denken Sie daran, Sie sind hier nicht im Gefängnis. Diese Klinik ist eine Modelleinrichtung und vielleicht Ihre letzte Chance. Sie entscheiden selbst, wohin der Weg geht. Ich hoffe, Sie kooperieren“, fährt Yvonne fort, „morgen wird Ihnen Frau Dr. Schardtwald alles Weitere erklären.
Nun schlage ich aber vor, Sie duschen zunächst. Dann werden Sie Ihre Klinikkleidung anziehen, etwas zu Abend essen und dann auch bald zu Bett gehen.“ Damit bin ich einverstanden, denn die bleierne Müdigkeit durch meine letzten Tabletten gestern spüre ich immer noch.
Ich ziehe mich aus, lege meine Sachen in eine Metallkiste und gehe dann ausgiebig unter die Dusche. Nachdem ich mich abgetrocknet habe, kommt Schwester Yvonne wieder herein. „Da Sie fixiert werden, muss ich Ihnen auch eine Windel anlegen“, sagt sie. “Im Liegen oder im Stehen? Wie ist es Ihnen lieber?“ Ich zucke zusammen, widerspreche aber lieber nicht. „Meinetwegen im Stehen.“ „Es ist eine Nachtwindel“, erklärt Yvonne, „die ist etwas dicker als eine normale.“ Flink zieht mir Yvonne von hinten die Windel an. Es wird mir warm und weich zwischen den Beinen. Die Folie knistert leicht, ich fasse sie an und mache ein paar Schritte. Es ist ein seltsam dickes Gefühl zwischen den Beinen.
„Nun, geht`s ?“ fragt Yvonne, „und jetzt noch den PVC-Slip darüber, damit nichts ausläuft.“ Sie zieht mir den Slip über die Windel und macht die Druckknöpfe zu. Plötzlich überkommt mich eine warme Welle der Erregung und ich muss mich schütteln. Yvonne sieht mich verwundert an und reicht mir dann einen durchgehenden Pflegeoverall. Ich ziehe ihn an und Yvonne schließt die Reißverschlüsse an den Beinen und auf der Rückseite.
Ich betrachte mich im Spiegel – ich in einem hellbeigen Einteiler mit dickem Windelpopo. Hübsch kleidsam ist das.
Nach dem Essen darf ich mich nun aufs Bett legen. Ich bin schon sehr müde. Die Windel ist ungewohnt und ich bin froh, wenn ich schlafen kann. Plötzlich steht ein junger kräftiger Mann in der Tür. „Das ist Sven“, sagt Yvonne, „er wird mir helfen“. Sven sieht nicht unsympathisch aus und nun machen sie sich zu zweit an mir zu schaffen. „Am besten, Sie entspannen sich jetzt,“ sagt die Schwester „und lassen uns machen.“
Zunächst wird der Bauchgurt gespannt und mit Magnetschlössern gesichert. Ich weiß nicht, ob ich das alles jetzt wirklich möchte, wage aber keine Einwände zu erheben. Ich schließe meine Augen und lasse alles mit mir machen. Jemand der beiden fasst meine Handgelenke und ich spüre, wie sie fest von weichen Manschetten umschlossen werden. Dann werden meine Handgelenke mit Fixiergurten festgeschnallt, aber so dass ich sie noch ein wenig anheben kann. Danach sind die die Fußgelenke dran, meine Beine werden dabei etwas gespreizt und damit sind die Füße auch fixiert. Auch hier nicht zu fest, so dass sie noch etwa Bewegungsspielraum haben „Wir legen Ihnen jetzt etwas um die Oberschenkel und ziehen dann den Schrittgurt fest“, sagt Yvonne. „Ist noch alles o.k. so? Nicht zu stramm?“ Ich merke, wie sich die Gurte um meine Beine legen und wie der Schrittgurt die Windel etwas zusammendrückt. „Ist nicht zu stramm“, sage ich „aber etwas ungewohnt.“ Ich lasse alles geschehen und genieße es sogar ein wenig, so ausgeliefert zu sein.
„So jetzt noch zum Schluss die Schulterhalterung und dann sind Sie fertig für die Nacht“, sagt Sven. Außer meinem Kopf kann ich mich nun nicht mehr bewegen. Es ist ein seltsames Gefühl, fast ganz bewegungsunfähig zu sein, aber irgendwie auch spannend. Yvonne meint: „Die ersten zwei, drei Nächte werden vielleicht etwas schwierig sein, aber danach haben Sie sich daran gewöhnt. Ich habe das selbst mal zwei Nächte ausprobiert, wie das so ist, fixiert im Bett zu liegen. Das wird uns von der Klinikleitung angeboten, damit wir wissen, was wir da tun. Wie gesagt, am Anfang ungewohnt, dann geht’s, finde ich.“ Ich bin merklich erregt und meine Stimme klingt ganz seltsam, als ich antworte: „Das geht schon. Ist schon o.k.“ „Sie werden übrigens wie jeder fixierte Patient per Video beobachtet, damit wir direkt eingreifen können, falls irgendetwas ist.“ „Und“, wage ich zu fragen, „werde ich jetzt jede Nacht fixiert?“ „Ihr vorläufiger Behandlungsplan wird erst morgen ausgegeben. Aber meiner Erfahrung nach werden die meisten unserer Patientinnen nur in den ersten Nächten voll fixiert. Bei entsprechendem Verhalten wird die Fixierung dann nach und nach reduziert, bis man später dann ganz darauf verzichtet.
Nun schlafen Sie gut,“ fährt Yvonne fort. „Morgen erwartet Sie ein harter Tag.“ „Wie meinen Sie das?“ frage ich. „Die vielen neuen Eindrücke, die Einführung ins Therapieprogramm – da wird vieles für Sie fremd sein. Aber Sie schaffen das.“ Die beiden wünschen mir eine gute Nacht – „und wenn etwas ist, rufen Sie!“ - und löschen das Licht. Irgendwie bin ich froh, alles mit mir geschehen lassen zu können, die Verantwortung abzugeben. Sollen sie doch machen. Ich probiere ein wenig das letzte bisschen Bewegungsfreiheit aus. Hände, Füße und den Kopf kann ich ein wenig anheben, das ist es aber auch schon. Ich schließe die Augen und lasse meine warmen Gefühle beim Fixiert werden noch einmal hochkommen. Von Sven würde ich mich gerne noch einmal mit dem S-Fix-System versorgen lassen…
Aber ein wenig bange ist mir vor morgen. Was wird das Gespräch mit der Ärztin bringen? Ich weiß nicht, was ich mir unter Bodenhain vorgestellt hatte. Dass ich nun gewindelt und fixiert im Pflegebett liege, das habe ich mir jedoch wirklich nicht denken können. Aber spannend ist das schon.
Sehr bald schlafe ich ein.

Der Morgen
Als ich aufwache, merke ich, dass irgendetwas anders ist. Das Atmen fällt mir schwerer, da ist etwas vor meinem Mund und an meinem Kopf. Ich bekomme leichte Panik, versuche etwas zu rufen, aber heraus kommt nur ein unartikulierter Laut. Ich zappele mit Füßen und Armen, soweit es die Fixierung zulässt, und rufe lauter.
Dann fällt mir ein, dass ich nachts wach geworden bin. Ja, im Dunkeln wusste ich nicht mehr, wo ich war, die Fixierungen hatten mir Angst gemacht. Und dann hatte ich geschrien und meinen Kopf hin und her geschlagen. Es kam jemand herein, sprach mit mir und was dann?
Plötzlich öffnet sich die Tür und Schwester Yvonne kommt herein. „Sie haben uns in der Nacht etwas auf Trab gehalten“, sagt sie lächelnd, „Sie waren laut und … ziemlich unruhig. Wir haben Ihnen ein leichtes Mittel zur Beruhigung gegeben. Aber wir mussten noch präventiv tätig werden. Können Sie gleich mal sehen.“
„Aber erst will ich Sie mal befreien“, fährt Yvonne fort, „ich hoffe, es war nicht zu unbequem für sie.“
Es geht so. Aber was bleibt mir übrig? Wie Yvonne sagte, ist die Fixierung für die ersten Nächte wohl die Regel. Yvonne lockert und öffnet nach und nach alle Fixierungen, so dass ich mich hinsetzen kann. Ich fasse mir mit meinen Händen an meinen Kopf und spüre überall Leder; Leder vor dem Mund, Lederriemen am Hals, Lederriemen rund um den Kopf. Was trage ich da? Ich stehe auf, um mich im Spiegel näher zu betrachten und erstarre. Ich fasse es nicht. Mein Kopf steckt in einem Ledergeschirr. Eine weiße Platte vor dem Mund und um mein Kinn, ein breiter, weicher Gurt um den Hals, Riemen an der Seite sowie zwei weitere Riemen, die jeweils links und rechts an der Nase vorbeilaufen und an Ledergurten, die über und um meinen Kopf laufen, befestigt sind. Alles mit Schnallen schön stramm fest gezogen. Hübsch sehe ich aus. Erinnert mich an eine Episode von Pretty Little Liars. Alison in einer Klinik und auch mit diesem Teil ausgestattet. Ich spüre das Leder an meinem Mund, das verhindert, dass ich mehr als undeutliche Laute ausstoßen kann. Trotzdem versuche ich etwas zu sagen, heraus kommen nur dumpfe Töne. Ich fasse nach den Lederriemen an meinem Kopf; das Geschirr ist dermaßen festgezurrt, dass es sicher und eng anliegt.
„Wissen Sie, als wir in der Nacht bei Ihnen waren und Sie beruhigen wollten, haben Sie versucht, nach meinen Fingern zu beißen“, erklärt mir Yvonne. „Da blieb uns nichts anderes übrig, als Ihnen das Kopfgeschirr anzulegen. Zusammen mit dem leichten Beruhigungsmittel hat es ja auch genützt. Sie haben übrigens um 10.00 Uhr einen Termin bei der Ärztin. Sie wird mit Ihnen den Therapieplan besprechen. Bis dahin können Sie duschen, etwas Frisches anziehen und auf dem Zimmer frühstücken. Es besteht die Anweisung, dass Sie zumindest bis Mittag auch heute eine Windel tragen. Wenn Sie mit dem Duschen fertig sind, mache ich das.“
Wieder eine Windel! Was machen die mit mir? Dabei ist meine Nachtwindel doch trocken geblieben! Aber ich sage lieber nichts und lasse erst einmal alles geschehen. Yvonne nimmt mir das Ledergeschirr ab. „Das ist jetzt ihrs“, spricht Yvonne weiter. „Es ist gut möglich, dass Sie es manchmal tragen müssen. Deshalb bleibt es zunächst hier.“ Ich bin erst einmal froh, die ganze Vorrichtung wieder los zu sein. Ich recke und strecke mich erst einmal.
Nach dem Duschen bekomme ich einen frischen Overall angeboten. Der Overall hat wieder Reißverschlüsse an den Beinen und im Rückenbereich, die so gut gesichert sind, dass ich ihn nicht alleine ausziehen kann, selbst wenn ich wollte. Dann gibt es Frühstück und gut gesättigt bin ich bereit für das Gespräch mit der Ärztin.
Sven und ein weiterer Pfleger kommen herein und bringen den großen grauen Pflegerollstuhl mit. „Wir möchten nicht, dass irgendetwas passiert“, sagt der fremde Pfleger, „deshalb bauen wir vor. Zuerst setzen Sie sich bitte mal hier in den Rollstuhl. Den kennen Sie ja schon.“ „Aber ich kann doch gehen, ich mach auch keinen Unsinn“, wende ich ein, aber schon fassen mich die beiden an den Oberarmen und führen mich zu dem Rollstuhl. „So, jetzt aber hinsetzen“, befiehlt der Pfleger und drückt mich in den Sitz. Jetzt werden mir dick gepolsterte Fausthandschuhe übergezogen, die sorgfältig an meinen Unterarmen fixiert werden. „Was soll das denn jetzt?“ frage ich. „Nun“, sagt Sven. „Anweisung von oben. Sie haben draußen ja einiges angestellt und wir möchten kein Risiko eingehen! Am besten ist es, Sie lassen alles über sich ergehen und schauen dann einfach mal weiter.“ Dann schnallen die beiden meine Unterarme und meine Füße fest. Ich frage: „Muss das denn sein?“ „Ja, das muss, und jetzt Ruhe“, antwortet der fremde Pfleger kurz angebunden. Ich bin den Tränen nahe und schlucke ein paar Widerworte runter. Aber die beiden sind noch nicht fertig, denn sie legen noch die breite Weste um meinen Oberkörper und befestigen sie hinten am Rollstuhl. Dann ziehen sie noch Gurte um meine Oberschenkel. Außer meinem Kopf ist nun alles fixiert. „So, nun sind Sie fertig, Frau Ferner“, sagt der fremde Pfleger, „ich hoffe, Sie sitzen bequem. Darf ich mich übrigens vorstellen, ich heiße Arthur.“ Ich fühle mich so ausgeliefert, sitze zwar gut, kann mich aber kaum rühren, und dann bricht es aus mir heraus: „Was soll diese ganze Scheiße“, brülle ich die beiden an. „Lasst mich aus diesem Rollstuhl raus. Ich kann gehen, ich mach auch nichts. Ich bin doch freiwillig hier. Ihr sollt mich rauslassen.“
„Jetzt beruhigen wir uns aber schnell wieder“, lächelt Sven. Das macht mich rasend und vor Wut spucke ich in seine Richtung. „Das reicht“, sagt Arthur und hält plötzlich das Kopfgeschirr in der Hand. „Los, aufsetzen“, sagt er und dann stülpt er es mir über und befestigt es blitzschnell an Hals und Hinterkopf. Ich versuche mich zu wehren, habe aber, festgeschnallt wie ich bin, keine Chance. Ich schreie in das Leder, aber heraus kommt nur ein Grunzen.
Die beiden Pfleger schieben mich über den Flur. Andere Patientinnen sehen mich an. Es ist mir peinlich, diese Blicke auf mir zu fühlen. Was denken die über mich? Kommt da jemand Gemeingefährliches? Ich schaue bewusst weg und stiere meine dicken weißen Fausthandschuhe an. Was für ein Kontrast, denke ich. Gestern um diese Zeit habe ich noch gemütlich in meiner Wohnung gefrühstückt und dabei schöne Musik gehört. Und jetzt bin ich fest in einem Rollstuhl fixiert und kann weder sprechen noch einen Finger rühren.
8. RE: Sechs Monate

geschrieben von Klett-max am 16.08.22 22:35

Zur besseren Lesbarkeit habe ich eine kleine Bitte:

Mache je Absatz ZWEI Zeilenvorschübe, um eine komplette Leerzeile zu öffnen.

Dasverhindertdaßdertextzueinemriesenblockverschwimmtundmansichbeimlesendari nverirrt.

Ich hoffe, Du verstehst nach den Einwortbandwurmsatz, was ich im Bezug auf Absätze in längeren Texten meine.

Der Text erscheint interessant, jedoch werde ich das Fenster zum Lesen erst zurechtbasteln müssen, um mich nicht dauernd in den Zeilen zu verlieren.
9. RE: Sechs Monate

geschrieben von tatiana.m am 17.08.22 07:47

Guten Tag Deep Wishes
werte Gemeinde

Hihi, wenn einem der Ruf vorauseilt...
Dazu noch Entscheidungen nach "Aktenlage".
Dann sind Meinungen gebildet und es wird schwer.

Aber Katrin ist in guten Händen. Was sie sich abgewöhnen muss, ist das Diskutieren.
Ist für alle einfacher.

Und soooo schlimm sind Pämpies und Overall nicht. Ich weiss das.

Vielen Dank für die neue Episode.

Allen einen entspannten Tag.

mit demütigen Grüssen

miststück

PS: War noch zu zeitig um jemanden um Erlaubnis zu fragen.
10. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 17.08.22 18:47

Die Begegnung

Unterwegs kommen wir an einer Frau vorbei, die ebenfalls in einem Rollstuhl sitzt. Was ich jetzt sehe, kann ich kaum glauben. Sie hat irgendetwas Weißes an und im Mund einen roten Ball.

Zwangsjacke und Knebel? Außerdem festgeschnallt an den Füßen, am Bauch und selbst am Kopf. Die Frau ist ungefähr in meinem Alter. Die Augen weit geöffnet, sie hat einen merkwürdig angespannten Gesichtsausdruck. Ich frage mich so langsam, wo ich hier eigentlich gelandet bin.

„Guten Morgen, Frau Hendricks!“ begrüßt sie Sven. Die Frau antwortet mit einem unartikulierten Grunzen. Ich schlucke und sehe Sven an. Er erklärt: „Manchmal müssen Zwangsmaßnahmen sein, sonst ist der Therapieerfolg gefährdet. Frau Hendricks war heute früh äußerst renitent. Das, was Sie da sehen, ist eine Sanktion bei negativem Verhalten.“ „Sie trägt jetzt eine Schutzjacke“, ergänzt Arthur, „und der Ballknebel ist eine äußerst effektive Maßnahme, wenn Patienten hier alles zusammenschreien.“

Ob ich die Jacke auch mal tragen muss, denke ich. Bei dem Gedanken, so eingezwängt zu sein, überkommt mich wieder ein Wärmeschauer. Diese ganzen Maßnahmen hier wirken echt crazy. Andererseits faszinieren sie mich auch. Die angegurtete Nacht im Bett, das Kopfgeschirr, nun im Rollstuhl festgeschnallt - diese absolute Hilflosigkeit macht auch was mit mir. Meine Wut von gerade spüre ich schon nicht mehr – ich lass mich jetzt ganz einfach in meine passive Rolle hineinfallen und bin gespannt auf das, was mich erwartet. Ich hoffe, nur der plötzliche Tablettenentzug geht nicht nach hinten los.

Vor einem Zimmer am Ende des Ganges halten wir, die Pfleger klopfen an, die Tür wird geöffnet. „Es tut mir leid, aber ich möchte Sie bitten, noch ungefähr zehn Minuten zu warten“, sagt eine Schwester und schließt die Tür wieder.
„O.K.“, sagt Arthur zu mir, „ich ziehe jetzt mal die Bremsen an und dann lassen wir Sie ein paar Minuten alleine.“

Dann gehen er und Sven weg und ich habe Zeit, das Kommen und Gehen auf dem Flur zu beobachten. Mir fallen zwei Frauen auf, die wie ich einen durchgehenden Overall anhaben. Beide tragen einen dicken Lederhelm und darunter klobige, dickrandige Brillen. Sie bewegen sich vorsichtig und etwas unbeholfen. „Oh“, denke ich, „Epilepsie, die Helme sind wohl wegen der Sturzgefahr.“ Mich ignorieren sie völlig. Wenig später kommen drei junge Frauen auf mich zu. Sie tragen normale Kleidung und grüßen mir freundlich zu.

Und dann kommen Sven und Arthur zurück. Sven schiebt den Rollstuhl mit der Frau in der Zwangsjacke und dem Ballknebel. Er bleibt kurz stehen und ich wechsele mit der Frau einige Blickkontakte und nicke ihr zu. „Ich bringe Frau Hendricks eben zu Frau Dr. Hahn und bin dann gleich wieder zurück“, sagt Sven. „Gut“, antwortet Arthur, „ich warte dann mal hier.“ Plötzlich öffnet sich dir Tür mit einem „Sie können jetzt hereinkommen.“

„Ich bin Frau Dr. Schardtwald und bin hier die Chefärztin“, begrüßt mich eine korpulente ältere Frau. „Sie sind Katrin Ferner?“ Ich nicke und grunze ein „ja“. „Zunächst möchte ich Sie bei uns im Namen aller herzlich begrüßen und hoffe, dass wir Ihnen mit unserem Konzept weiterhelfen können. Ich würde nun gerne mit Ihnen den Therapieplan besprechen und sonst noch einiges zu Ihrem Aufenthalt bei uns erklären. Wie ich hörte, gab es bereits bei Ihrer Ankunft und dann noch in dieser Nacht ein kleines Problem, und wie ich sehe, jetzt auch. Nun wir sollten jetzt erst einmal in Ruhe alles besprechen.“ Und an Arthur gewandt: „Machen Sie bitte mal das Kopfgeschirr ab.“


Die Chefärztin

„Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Vieles hier wird für Sie neu und ungewohnt sein. Ich möchte aber, dass Sie unsere Maßnahmen verstehen. Es war Ihr Wunsch, auf eine wie auch immer geartete medikamentöse Behandlung zu verzichten. Ihrem Wunsch kann hier, wenn Sie zu Kooperation und Absprachen bereit sind, entsprochen werden. Ich verspreche Ihnen, dass wir auf Beruhigungsmittel und Tranquilizer nur im absoluten Ausnahmefall zurückgreifen müssen“. Ich denke, dass klingt doch mal ganz gut.

„Ich habe den Bericht Ihres behandelnden Arztes gelesen und ich hoffe, Ihnen ist klar, wie ernst die Lage ist. Wenn ich die Ausführungen des Kollegen richtig interpretiere, stehen Sie, Frau Ferner, drastisch formuliert, kurz vor der Zwangseinweisung.“ Ich kriege so einen Schreck, dass ich keinen Ton herausbekomme.
„Aber ich denke, hier kann Ihnen geholfen werden“, fährt die Ärztin fort, „die Herren machen Sie jetzt los und Sie kommen mit mir in den Nebenraum.“

Frau Dr. Schardtwald öffnet eine Tür und dort sehe ich einen Schrank, ein Regal, einen großen Spiegel, ein Gerät, das ich noch nicht identifizieren kann, und eine an einen Zahnarztstuhl erinnernde Sitzmöglichkeit. Die Ärztin zeigt auf die dort angebrachten Fixiergurte. „Ich hoffe, wir können darauf jetzt verzichten.“ Ich sage „Ja, natürlich“, und werde von den beiden Pflegern losgebunden. Die dicken Fäustlinge muss ich anbehalten.

„Tragen Sie normalerweise eine Brille?“ fragt mich die Ärztin. Ich bin etwas überrascht wegen dieser Frage und verneine sie. „O.k., dann setzen Sie sich bitte mal vor dieses Gerät.“ Ich setze mich an den Tisch und stelle fest, dass das Gerät ein Sehtestgerät ist, wie es von Optikern und Augenärzten verwendet wird. „Sie schauen jetzt bitte gleich in das Gerät und dürften erst einmal gar nichts erkennen. Ich schiebe dann verschiedene Linsen davor und wenn Sie die oberste Reihe klar und deutlich sehen, lesen Sie die bitte vor.“ Ich schaue in das Gerät und sehe nur verschwommen. „Können Sie die oberste Reihe mit den großen Buchstaben lesen?“ „Nein, ich kann nichts erkennen, überhaupt nichts“, antworte ich. „Und jetzt“ fragt sie und schiebt wieder Linsen vor. „Nein, noch nichts.“ „Und nun?“ „F, O, A“, lese ich. „Darunter ist alles verschwommen.“„Gut, ich komme gleich wieder“, sagt sie, „Sven und Arthur bleiben so lange bei Ihnen.“

Ich verstehe nicht, was das Ganze soll. Ehe ich mir weitere Gedanken machen kann, kommt die Ärztin wieder herein, begleitet von einer Frau, die sich als Schwester Dorothea vorstellt. „Bitte setzen Sie sich jetzt in den Stuhl dort. Ich werde Ihnen gleich alles erklären.“ Ich setze mich in den Zahnarztstuhl und warte stumm ab. Dorothea zeigt mir drei Brillengestelle, ein schwarzes und ein braunes, jeweils aus Kunststoff und ein großes silbernes Metallgestell.

„Das sind jetzt nicht die allerstylischsten Brillen“, sagt sie lächelnd. „Ich setze sie Ihnen mal auf, Sie betrachten sich im Spiegel und wählen dann eine aus.“ Ich weiß zwar immer noch nicht, wohin das führt, spiele aber mit. „Ich glaube, die braune gefällt mir “, sage ich. „Irgendwie stehen sie mir alle, aber die braune vielleicht am besten.“ „Gut“, sagt Dorothea, „ich werde Ihnen das Gestell jetzt anpassen. Halten Sie bitte still.“ Sie misst etwas an meinen Augen, biegt das Gestell hinter meinen Ohren zurecht und schreibt sich irgendwas auf. Ich soll also eine Brille tragen, das habe ich verstanden. Weiß zwar nicht warum, aber das werde ich wohl bald erfahren. „Welche Stärke sollen die Gläser haben?“ fragt Schwester Dorothea. „8 Dioptrien“ sagt die Ärztin. „Damit sollten wir einsteigen.“ Und zu mir gewandt: „Ich bin Ihnen nun eine Erklärung schuldig.“

„Ihre Ausbrüche lassen sich gemäß dem Bericht Ihres Psychiaters darauf zurückzuführen, dass Sie es nie gelernt haben, vielleicht auch nicht lernen konnten, Außenreize zu filtern. Wenn dann zu viele Reize, die Sie zum Teil ja gar nichts angingen, Sie aber auch nicht einfach ausblenden konnten, auf Sie einströmten, hat Ihre Psyche überreagiert und es kam zu den Ihnen wohl bekannten Ausbrüchen. Ihre Medikamente sorgten dafür, dass es Ihnen leichter fiel, Reize, besonders visueller Art, auszublenden. Wir haben hier nun gute Erfahrungen mit einer künstlich hergestellten Reizarmut gemacht. Dazu gehört auch, in visueller Hinsicht eingeschränkt zu sein. Das heißt für Sie, dass Sie ab heute eine Brille tragen werden, durch deren Gläser Sie ca. ein Meter weit deutlich sehen können, alles andere ist völlig unscharf. Diese Brille, die Schwester Dorothea jetzt anfertigt, werden Sie von morgens bis abends kontinuierlich tragen. Sie werden Sie nicht nach Belieben auf und absetzen. Sie werden sie aufbehalten. Natürlich wird die eingeschränkte Sicht am Anfang ungewohnt sein, aber Sie werden sich daran gewöhnen. Falls Sie Kopfschmerzen bekommen, können Sie gerne jederzeit Kopfschmerztabletten bekommen, aber nach einigen Tagen sollten die Beschwerden vorbei sein. Sollten ihre Ausbrüche hier nicht mehr auftreten, werden Sie schwächere Gläser bekommen, die hier mit der Stärke 8 sind ziemlich stark. Haben Sie das so weit verstanden?“ Ich schlucke, mir wird warm und kalt gleichzeitig. „Ja“, sage ich mit belegter Stimme.

Da kommt Schwester Dorothea herein und setzt mir die Brille auf. Ich sehe … nichts. „Warten Sie einen Moment“, sagt sie. „Ich helfe Ihnen aus dem Stuhl und führe Sie zum Spiegel.“ Allmählich kann ich wieder etwas sehen, zumindest das, was nah vor mir ist. Ich gehe vorsichtig zum Spiegel und erschrecke. Das bin ich? Die dicken Gläser machen aus meinen schönen Augen große runde Glubschaugen, ich glotze wie eine Kuh, finde ich. „Das möchte ich nicht“ stöhne ich und fasse mir mit den Handschuhen ans Gestell. “Doch, Sie sollen, es ist zu Ihrem Besten, glauben Sie mir“, sagt die Ärztin. „Sie sitzt noch zu eng“, sagt Dorothea, „ich nehme die Brille wieder mit und richte sie. Sie brauchen sie in der nächsten Stunde ja doch nicht.“ Sie nimmt mir die Brille ab und geht aus dem Zimmer.
11. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 17.08.22 21:16

Nun geht`s weiter in der Sprechstunde bei der Chefärztin.

Die Schutzjacke

„Setzen Sie sich bitte. Und nun weiteres zur Therapie“ beginnt Frau Dr. Schardtwald wieder. „Sie umfasst verpflichtende Gesprächs- und Bewegungsangebote. Dazu noch künstlerisch-musische Angebote, eine Beschäftigungstherapie sowie regelmäßige Aufenthalte auf dem Außengelände. Morgenvormittag geht es damit los. Schwester Yvonne wird Ihnen heute Abend den Wochenplan geben.“ Ich nicke. „Ein Therapieziel wird die weitestgehende Wiederherstellung der Selbststeuerungskompetenzen sein. Das bedeutet, Sie sollen nach und nach lernen, wieder Verantwortung für Ihr Handeln zu übernehmen. Das schaffen Sie nicht in vier Wochen, rechnen Sie mal lieber mit einem halben Jahr bei uns. So lange ist übrigens auch die Maßnahme bewilligt.“ Ich zucke zusammen. „Was, so lange?“ Die Ärztin nickt. „Tabletten helfen schneller. Sind aber nicht dauerhaft und Sie kennen ja die Nebenwirkungen. Nun“, fährt sie fort „zu unserem Ansatz gehört ein auf den ersten Blick rigides, aber logisches und für den Patienten nachvollziehbares Belohnungs- und Bestrafungssystem. Der Patient soll ein angemessenes Verhalten lernen, indem gutes Verhalten belohnt, schlechtes bestraft wird. Können Sie mir folgen?“ Ich nicke. „Gut. Verhalten Sie sich angemessen, Frau Ferner, können wir die Bettfixierungen allmählich zurücknehmen. Auch der Rollstuhl muss dann in Kürze nicht mehr sein.

Damit Sie aber wissen, was auf ein unangemessenes Verhalten folgen kann, sollen Sie nun eine Selbsterfahrung machen. Eben mit dem Hintergrund, dass Sie gewarnt sind und ein renitentes Verhalten aus dieser Erfahrung heraus unterdrücken. Wir nehmen Ihnen jetzt die Handschuhe ab. Sie bleiben bitte ganz ruhig. Es wird Ihnen nicht wehgetan. Dann stellen Sie sich hin und strecken Ihre Arme nach vorne.“ „Was passiert jetzt?“ frage ich. „Sie werden nun die Erfahrung machen, wie es ist, eine Schutzjacke zu tragen“, sagt die Ärztin.

Ich fange an zu zittern und da kommt Sven, löst die Schnallen der Handschuhe und zieht sie ab. Der schmierige Pfleger Arthur nähert sich mir mit einem blöden Grinsen und einem weißen Paket im Arm. Er wickelt es aus und hält tatsächlich eine Zwangsjacke in der Hand. Ich springe auf, gehe ein paar Schritte rückwärts und stammele: „Nein, nein, bitte nicht.“ Sofort sind die Pfleger bei mir und fassen mich an den Oberarmen. Ich winde mich in ihrem Griff und fange an zu schreien. Da greift die Ärztin nach meinem Kinn und sieht mir fest in die Augen: „Sie haben die Wahl. Entweder im Guten oder auf die harte Tour. Die Schutzjacke werden Sie auf jeden Fall tragen. Denken Sie nach.“ Ich schaue sie an und murmele ein „ist schon gut“.

Dann muss ich meine Arme nach vorne strecken und Arthur streift die Ärmel der Jacke über sie. Meine Hände fühlen den schweren Stoff; da die Ärmel keine Öffnung haben, bleiben die Hände drinnen stecken. Die Ärmel werden nach vorne immer enger, so dass ich meine Finger kaum spreizen kann. Ich sehe im Spiegel, wie Arthur nun mehrere Gurte auf meinem Rücken schließt und diese fest anzieht. Nun liegt die Jacke fest um meinen Körper. Ich fühle, wie der feste Stoff meinen Oberkörper umschließt und mich einpackt. Dann muss ich meine Arme vor meinem Bauch verschränken und Arthur führt die Enden der Ärmel zuerst durch eine Schlaufe und fixiert sie dann auf meinem Rücken. Zum Schluss nimmt Frau Dr. Schardtwald einen weiteren Gurt, der von vorne zwischen meinen Beinen baumelt, führt ihn zwischen den Beinen nach hinten durch und befestigt ihn ebenfalls am Rücken. Dabei lobt sie meine Kooperationsbereitschaft.

Ich betrachte mich im Spiegel. Bin ich so gefährlich, dass ich in eine Zwangsjacke gesteckt werden muss? Gut, das alles ist nur eine Warnung, aber immerhin. Ich muss jedoch zugeben, dass das Tragegefühl nicht unangenehm ist. Im Gegenteil, ich werde nun zwar in diese Jacke gesteckt, aber dieses Ausgeliefertsein fühlt sich gar nicht mal so schlimm an. Ist auch irgendwie kuschelig.

Währenddessen macht sich Arthur an meinen Knöcheln zu schaffen und legt mir Ledermanschetten um, die er mit einem ca. 30 cm langen Riemen verbindet. Jetzt kann ich nur noch kleine Schritte machen. „Gehen Sie mal vorsichtig durch den Raum“, fordert er mich auf. Ich setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen, Sven hält mich dabei an der Jacke fest und gibt mir dadurch Sicherheit. Dann drückt er mich auf einen Stuhl und ich setze mich.
„Das alles dient nur der Warnung und der Prävention“, sagt die Ärztin. „Sie wissen jetzt, was passieren wird, wenn wir Ihr Verhalten sanktionieren müssen. Sie kommen gleich für eine halbe Stunde in den Auszeitraum, auch Weichzelle genannt oder bekannt als Gummizelle, dann lernen Sie diese Örtlichkeit auch mal kennen. Vorher jedoch: machen Sie bitte den Mund etwas auf.“ Ich gehorche und schnell legt sich ein kleiner Ball in meinen Mund, ein mit dem Ball verbundener Riemen wird blitzschnell hinter meinen Kopf gezogen und dort fixiert. Ich will protestieren, bringe aber nur ein undeutliches Stöhnen heraus. Im Spiegel sehe ich, was der Knebel mit meinem Gesicht macht, die Haut ist merkwürdig gespannt, die Augen scheinen größer geworden zu sein.

„Der Ballknebel ist gut gegen Schreie, ein ganz probates Mittel“, sagt Frau Dr. Schardtwald. „Sven und Arthur begleiten Sie jetzt in die Weichzelle. In einer halben Stunde holen wir Sie dort wieder heraus. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich dort ruhig verhalten. Eine Kamera überwacht den Raum. Der Ballknebel hat Luftlöcher, so dass sie relativ gut atmen können. Sie brauchen also keine Angst zu haben, dass irgendwas passiert. Auf Wiedersehen, Frau Ferner.“ Die beiden Pfleger bringen mich raus. Ich grunze in meinen Knebel hinein, merke, wie etwas Speichel aus meinem Mund tropft und mit kleinen Schritten gehe ich über den Flur auf eine Tür zu, in die oben ein kleines Fenster eingelassen ist.
12. RE: Sechs Monate

geschrieben von cbobby am 18.08.22 10:12

Tolle Fortsetzung Deep Wishes, insgeheim hatte ich auf eine Zwangsjacke/Schutzjacke gehofft. Hoffentlich wird Sie eine schöne Zeit darin verbringen
13. RE: Sechs Monate

geschrieben von modex am 18.08.22 21:29

Beeindruckende Schlagzahl und sehr anregender Inhalt. Danke und weiter so !
14. RE: Sechs Monate

geschrieben von Giba2000 am 19.08.22 14:34

Ein guter Beginn, vielleicht wird die Brille nachts durch einen Augenverband ersetzt, ein mit elastischen Binden fixierter Mullknebel verhindert das Austreten von Spucke, alles ein wenig angenehmer...
15. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 20.08.22 19:42

In der Gummizelle

Die beiden öffnen die Tür und ich befinde mich in einem kleinen gepolsterten Raum. Die Wände sind hell, der Fußboden grau, alles weich und nachgiebig, so dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Die Pfleger setzen mich behutsam auf den Boden und verschließen dann die Tür. Na toll, denke ich, nun lernst du schon am ersten Tag das ganze Waffenarsenal kennen. Zwangsjacke, Windel, Fußfessel, Knebel, Gummizelle. Fehlen nur noch Elektroschocks, weiß aber gar nicht, ob sie die hier überhaupt anwenden. Die halbe Stunde wird wohl bald vorbeigehen. Ich lege mich auf den Boden und starre an die Decke. Dann versuche ich aufzustehen, was in Zwangsjacke und mit dem Fußriemen gar nicht so einfach ist. Ich schaffe es, indem ich mich langsam an der Polsterwand hoch drücke. Dann gehe ich einige Schritte durch die Zelle, verliere aber bald das Gleichgewicht und lasse mich auf den weichen Boden fallen.

Ich versuche meine Gedanken zu sortieren und stelle fest, dass mich die Sache mit der Brille sehr neugierig macht. Brillen fand ich schon immer faszinierend und als Kind hatte ich gerne heimlich die Lesebrille meiner Mutter getragen. Mein letzter Freund war ziemlich kurzsichtig und ab und zu machte ich mir einen Spaß daraus, seine Brille aufzusetzen. Er war dann halbblind und auch ich konnte mit seiner Brille nur schemenhaft sehen. Aber es war für mich ein besonderes Gefühl, eine Brille aufzuhaben. Bei diesem Wechselspiel hatten wir viel Spaß miteinander und besonders ich war merklich erregt. Als er mal zum Optiker ging, um sich stärkere Gläser anpassen zu lassen, habe ich ihn begleitet und im Geschäft einige Gestelle aufgesetzt. Ich finde Brillen stehen mir. Der Sehtest, zu dem ich damals aufgefordert wurde, ergab, dass ich einigermaßen gute Augen habe. Zwar nicht ganz optimal, aber eine Brille sei noch nicht unbedingt nötig. Ich solle in einem halben Jahr noch mal meine Augen checken lassen, meinte die Optikerin. Diesen Befund habe ich fast bedauert, ich hätte gern eine Brille getragen.

Der Knebel im Mund nervt allmählich. Meine Lippen werden trocken. Mir wird immer wärmer und unangenehmer. Ich liege auf dem Rücken und versuche etwas zu rufen, aber heraus kommt nur ein Grunzen. Dann juckt mich irgendetwas am Kopf. Auch das stört ziemlich, ich robbe rückwärts zur Wand und setze mich. Ich scheuere meinen Kopf an der nachgebenden Wand. Das Jucken lässt etwas nach, aber dann bricht es plötzlich aus mir heraus. Was habe ich mir nur angetan, dass ich hier bin. Ein halbes Jahr soll das dauern – ich könnte schreien und kann doch nur stöhnen. Dann schlage ich mit dem Hinterkopf gegen die Wand, immer und immer wieder. Es tut gut, das zu fühlen, der Schmerz könnte zwar heftiger sein, aber immerhin. Immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand. Das hat doch was, besonders wenn es keine Verletzungen gibt. Irgendwann werde ich müde und gebe auf. Schaue zur Tür hin und warte, dass jemand aufmacht.

Zur Warnung für andere

Und das dauert gar nicht mehr so lange und die beiden Pfleger kommen herein. „Wir sollen Sie jetzt wieder zur Chefin bringen“, sagen sie. Beide helfen mir auf und setzen mich dann in den tiefen Rollstuhl, der vor der Tür steht. Sofort fixieren sie mich mit der Weste und legen einen weiteren Gurt um meine Füße. Ich denke an Frau Hendricks. So ungefähr müsste ich auch jetzt aussehen. Außer dem Kopf kann ich nichts mehr bewegen und nur noch vor mich hingrunzen. Sven ist wenigstens so nett, mir den Speichel abzuwischen.

„Nun“, sagt Frau Dr. Schardtwald, als wir in Ihrem Zimmer angekommen sind. „Das hat ja nicht allzu gut geklappt.“ Ich schaue sie fragend an. „Das Schlagen mit dem Kopf“, lautet ihre Antwort. „Unerwünschtes Verhalten. Ich hatte Sie gebeten, ruhig zu bleiben. Als Konsequenz folgt: Sie bleiben bis zum Mittagessen fixiert. Ungefähr eine Stunde. Zur Erinnerung und als Warnung für andere werden wir Sie im Rollstuhl in den Flur vor den Speisesaal stellen. Ihr Mittagessen bekommen Sie, wenn alle anderen ihr Essen beendet haben.

Ihre Brille ist übrigens fertig. Wenn Sie die dann gleich aufhaben, werden Sie zunächst kaum etwas von den anderen Patientinnen mitbekommen. Außerdem werden Sie in den nächsten Wochen einen Lederhelm tragen, damit Sie sich nicht wie gerade autoaggressiv Ihren Kopf irgendwo einschlagen oder sich bei einem Sturz verletzen. Denn aufgrund der eingeschränkten Sicht könnte es ja mal sein, dass Sie fallen. Dient nur zum eigenen Schutz. Wir haben die passende Größe schon herausgesucht. Ist nicht das schickste Modell, aber zweckmäßig.“

Zunächst setzt Schwester Dorothea setzt mir die Brille auf. Ich sehe zuerst wieder nichts, dann wird es zumindest im Nahen etwas schärfer. „Schütteln Sie mal ordentlich mit dem Kopf“, werde ich aufgefordert, was ich dann auch mache. „Alles in Ordnung“, sagt die Schwester, „die Brille sitzt hundertprozentig.“

Arthur bringt nun einen hellbraunen Helm, setzt ihn mir auf und zieht den Kinngurt fest. Der Helm hat eine besonders dicke Polsterung im Stirnbereich, „damit die Brille bei einem Sturz nicht kaputt geht“, wie mir Arthur versichert. Nun also der Deppenhelm – es ist also noch immer eine Steigerung möglich. Der rote Knebel, der mir den Mund sperrt, der unmögliche Helm, ich könnte schreien, wenn ich nur könnte. Dann bekomme ich mit, wie Arthur den Helm irgendwie mit Schnallen an der Kopfstütze des Rollstuhls befestigt und zwar so, dass ich meinen Kopf nun nicht mehr bewegen kann. „Damit Sie nicht wieder mit dem Kopf schlagen“, wie er kommentiert. Ich sitze zwar einigermaßen bequem, bin nun aber komplett bewegungsunfähig. Ich werde im Rollstuhl näher an den Spiegel herangeschoben und darf mich betrachten. Zwangsjacke, Knebel, der Deppenhelm, die Glubschaugen – bin ich das im Spiegel? „Schauen Sie sich jetzt mal genauer an“, sagt Frau Dr. Schardtwald. „So wollen Sie doch nicht wirklich die Tage verbringen, oder?“ Jemand schiebt den Rollstuhl wieder zurück, dann klickt irgendetwas leise. „Ich habe Sie jetzt fotografiert“, sagt die Ärztin. „Dieses schöne Foto werden wir gleich vergrößern und heute Abend werden Sie es in Ihrem Zimmer aufgehängt finden. Als bleibende Warnung sozusagen. Apropos Zimmer – Sie sind mit Frau Hendricks zusammen, ähnliche Symptome wie Sie, brauchte aber die Brille nicht mehr, hat sich schon alles sehr gebessert. Leider dieser Rückfall heute Morgen. Nun Sie werden hoffentlich gut miteinander auskommen. Nur heute Abend wird die Kommunikation bei Ihnen beiden etwas eingeschränkt sein. So, nun ab zum Speisesaal. Sie werden dort gebraucht.“

Jemand, ich kann gar nicht sehen, wer, schiebt mich nun durch irgendwelche Gänge, die ich kaum erkennen kann. Menschen, die vorbeigehen, nehme ich nur als Schemen wahr. Dann stoppt der Jemand, zieht die Bremsen fest und lässt mich stehen.

Irgendwann höre ich Schritte und lauter werdende Stimmen. Dann sehe ich ein paar Gestalten näher kommen, die aber schnell in den Speiseraum weitergehen. Scheint jetzt wohl Mittagessenszeit zu sein, na denn.
16. RE: Sechs Monate

geschrieben von DieFledermaus am 22.08.22 10:07

Eine wundervolle Geschichte, ich hoffe es geht bald weiter.

Wenn du möchtest kannst du auch gerne mal einen Beitrag in meinem Bereich schreiben "weitere Fetische" vielleicht finden sich ja gleichgesinnte die deinen Brillenfetisch teilen.

Ich persönlich finde den Ansatz deiner Geschichte sehr interessant. Denn ich halte auch nichts von Chemie, welche das Gehirn auf dauer zu Matsch machen. Dauerhaft löst man Probleme in seinem Kopf nur, wenn man sich damit auseinander setzt. Nicht wenn man sie durch irgendwelche Medikamente torpediert und vernebelt. Wo also kann man besser seine eigenen abgründe erforschen als in einer gesicherten Umgebung?

In diesem Sinne wünsche ich dir viel freude und Inspiration beim weiterschreiben.
17. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 22.08.22 16:18

@DieFledermaus: Danke für deine lieben Zeilen - das beflügelt...


Die Mittagszeit

Wenig später wieder Schritte, dann schemenhafte Umrisse. Die Frauen gehen wieder an mir vorbei, sie ignorieren mich. Oder gucken sie mich doch an? Ich weiß es nicht, soweit kann ich nicht sehen. Dann spricht mich jemand an. „Ich bin´s, Yvonne, erkennen Sie mich?“ Ich grunze etwas in meinen Knebel. „Ich mache Sie jetzt mal los und dann gibt es Mittagessen.“ Zuerst löst Yvonne den Helmgurt von der Kopfstütze, dann nimmt sie mir den Knebel aus dem Mund. „Und war´s schlimm?“ fragt sie. „Machen Sie sich nichts daraus. Das erleben fast alle Neuzugänge. Nützt aber auch. Man lernt daraus.“ Dann löst Yvonne den Fußgurt vom Rollstuhl und dann die Fußfesseln. Dann ist der Brustgurt dran und sie hilft mir beim Aufstehen. „Ich lass sie jetzt aus der Schutzjacke. Dauert ein bisschen. Ich hoffe, Sie können es noch aushalten.“ „So schlimm ist die Jacke gar nicht“, sage ich „habe mich schön verpackt gefühlt.“ „Nun“, antwortet Yvonne, während sie sich an den Gurten und Verschlüssen zu schaffen macht, „das waren ja auch höchstens 90 Minuten. Frau Hendricks musste heute, nachdem sie völlig ausgerastet ist, vier Stunden in der Jacke verbringen. Das ist dann schon eine ganz andere Nummer. Aber Hauptsache, Sie fühlen sich noch gut.“ „Ich habe nun mächtig Hunger“, antworte ich, „und muss ganz schnell diesen Knebelgeschmack wegbekommen.“ „Die Küche hier ist nicht schlecht“, lacht Yvonne. „Ich glaube, heute gibt es unter anderem einen vegetarischen Auflauf. Und trinken Sie bitte genug. Nach dem Essen werde ich Sie von der Windel befreien.“ Dann wird sie plötzlich wieder ernst. „Nach der Sache in der letzten Nacht muss ich Ihnen heute Mittag und heute Abend wieder das Kopfgeschirr anlegen.“ Ich nicke, so schlimm fand ich das nicht. „Neben dem Kopfgeschirr haben Sie ja jetzt auch den Ballknebel kennengelernt.“ „Ja“, antworte ich „der war schon etwas unbequemer. Besonders der Sabber nervte und ich hatte schon Angst, ich bekomme Maulsperre.“ „Ich möchte Sie warnen“, sagt Yvonne und drückt dabei meine Hand. „Frau Dr. Schardtwald weiß, dass Sie sich schon selbst gebissen haben. Sie ist bei Knebeln sowieso nicht zimperlich. Ich weiß, dass bei beißenden Patienten auch schon mal zum Mundspreizer gegriffen wird. Den habe ich selbst schon mal freiwillig ausprobiert, nein danke, nicht noch mal. Ein paar Stunden mit einem Mundspreizer herumzulaufen, ist nicht gerade lustig... Aber jetzt gibt es erst einmal etwas zu essen. Da vorne ist für Sie gedeckt.“ Ich recke meine Arme, strecke mich, massiere mir etwas den Mund und dann führt mich Yvonne zu einem Tisch, wo ich mir ein leckeres Essen schmecken lasse.

Nach dem Essen spüre ich, dass ich jetzt aber ganz plötzlich zur Toilette muss. Die Windel ist bis jetzt trocken geblieben und so soll es auch bleiben. Ich sage das Yvonne und sie geht mit. Ich habe ganz vergessen, dass ich den Reißverschluss meines Overalls gar nicht alleine öffnen kann. Yvonne hilft mir und erleichtert erledige ich mein Geschäft. „Nun sind 90 Minuten Mittagsruhe“, sagt Yvonne, „danach dürfen Sie ein bisschen über die Station gehen und auch nach draußen. Wenn eine Türe geöffnet ist, dann dürfen Sie dort auch hereingehen. Aber passen Sie gut auf sich auf“, und dabei tippt sie gegen den Stirnschutz meines Helmes, „es sollte Sie eine der Praktikantinnen begleiten. Ich glaube, das ist am Anfang besser so. Ich bringe Sie jetzt auf Ihr neues Zimmer. Frau Hendricks ist nicht da, Sie werden sie heute Abend kennenlernen. Sie müssen sich auf Ihr Bett legen und ich muss Sie dann auch wieder fixieren.“ „Ich weiß, ist ein bisschen oft heute“, fügt sie lächelnd hinterher.

Das Zimmer ist ein typisches nichtssagendes Klinikzimmer, nur dass auf den beiden Betten das komplette S-Fix-System liegt. Ich kenne die Prozedur ja nun schon und lasse alles geduldig mit mir geschehen. Ich finde Yvonne nett, auch als sie mir zum Abschluss das Kopfgeschirr wieder anlegt und an den Seiten sorgfältig stramm zieht. Den Helm hatte sie mir vorhin abgenommen, die Brille soll ich auch während der Mittagsruhe tragen. Die Nasengurte des Kopfgeschirrs laufen dabei über den Mittelsteg der Brille. So liege ich schön verpackt da.

Es ist ein seltsames Gefühl, zum ersten Mal eine Brille auf der Nase zu haben. Eigentlich habe ich mich schon lange nach einer Brille gesehnt und fand es geil, die Brille von Martin, meinem letzten Freund zu tragen. Ich erinnere mich an ein Spiel, das wir mal gespielt hatten. Ich hatte im Handschuhfach seines Wagens seine Ersatzbrille entdeckt und aufgesetzt. Damit konnte ich nicht weiter als bis zur Motorhaube blicken. Martin parkte dann den Wagen am Waldrand und wir gingen spazieren. Er musste mich die ganze Zeit führen, weil ich kaum etwas sehen konnte. Dieses Gefühl des Nicht-richtig-sehen-könnens und des Ausgeliefertseins an Martin machte mich richtig heiß. Am Abend hatten wir für mein Gefühl den besten Sex unserer Beziehung. Ich hatte dabei die ganze Zeit seine Brille auf.

Bei dem Gedanken daran spüre ich, wie sich meine Brustwarzen verhärten. Mir wird immer heißer. Gerne würde ich mich nun unten herum berühren, aber der Overall und die ganzen Gurte lassen keine Bewegung dahingehend zu.


Der Nachmittag

Meinen Tagträumen nachhängend merke ich gar nicht, wie Yvonne hereinkommt. „Ich habe noch jemand mitgebracht. Das ist Jasmin, sie ist hier Praktikantin. Sie wird Sie heute Nachmittag begleiten, damit Sie nicht fallen.“ Yvonne macht die Gurte los und ich kann aufstehen. Ich taste nach dem breiten, weichen Gurt um meinen Hals – zum Glück ist er nicht stramm. Meine Finger wandern über die übrigen Riemen an meinem Gesicht und an den Rändern der Brille entlang. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
Jasmin sieht mich an. Hat sie schon mal eine Frau mit einem weißen Knebelgeschirr gesehen? Auf Anhieb ist sie mir unsympathisch. Was soll die Glotzerei? Du bist hier in der Psychiatrie, mein Kind.

Als Yvonne mir nun das Kopfgeschirr abnehmen will, schüttele ich den Kopf. Ich will nun die ganze Hässlichkeit, Knebel, Glotzbrille und Helm. Diese Jasmin soll mich ja begleiten; ich finde, sie soll ruhig Angst vor mir haben.

„Nein, nein, ich nehme das Kopfgeschirr jetzt ab“, sagt Yvonne. „Keine Sonderregeln. Aber den Helm müssen Sie jetzt tragen.“ „Reine Vorsichtsmaßnahme“, fügt sie hinzu. Dann nimmt sie mir das Geschirr ab, legt es in einen Schrank, stülpt mir den Helm auf und befestigt den Gurt unter meinem Kinn. Nun bin ich fertig für den Nachmittag.

Ich gehe nun langsam durchs Haus; mehr oder weniger der Nase lang, sehen kann ich nicht viel. Die dumme Kuh von Jasmin immer einen halben Schritt hinter mir. Wenn mir jemand begegnet, erkenne ich immer erst im letzten Moment, ob es eine Patientin oder jemand vom Personal ist. Einmal stoße ich fast mit jemand zusammen, ich kann gerade noch verhindern, dass ich nicht falle. Eine weibliche Stimme murmelt eine Entschuldigung, sie habe mich nicht sehen können, die Brille, ich muss verstehen. Jetzt hätte ich doch gerne mit ihr geplaudert über ihre Erfahrungen. Geht nun leider nicht.

Ich muss sagen, an die Brille habe ich mich schon ein wenig gewohnt. Es ist gar nicht so unangenehm, nur die Hälfte mitzukriegen. Außerdem trägt sie sich ganz angenehm - Schwester Dorothea hat gut gearbeitet. Bei einem Spiegel im Entree halte ich an, ich bin von mir selber fasziniert. Eine schlanke mittelgroße Frau in einem weißen Overall, der Deppenhelm auf dem Kopf und Riesenaugen hinter dicken Brillengläsern. Passt so. Vielleicht bin ich ja hier schon angekommen.

Irgendwann sind wir draußen. Ich rieche die kühle Herbstluft, höre das Zwitschern der Vögel. Toll, dass, wenn ein Organ weitgehend lahmgelegt ist, die anderen Sinne umso besser funktionieren.

Jasmin sagt mir, sie müsse mal auf die Toilette, ob ich kurz hier warten könne. Ich merke, dass ich auch mal muss und sage es ihr. „O.k., erst sind Sie dran“, sagt sie. Auf der Toilette befreit sie mich etwas vom Overall, so dass ich mich setzen kann. Ich solle, wenn ich mit allem fertig bin, klingeln, sie würde mir dann den Reißverschluss hochziehen. Ich lasse mir ausgiebig Zeit mit dem Toilettengang, soll sie doch in die Hose machen. Als ich fertig bin, wasche ich mir die Hände.
Es kribbelt gerade ein wenig unter der Brille. Ich weiß, ich soll sie auflassen, aber ich muss sie nun mal abnehmen und die Augen reiben. Also den Helm gelockert und abgesetzt, und dann nehme ich die Brille ab. Ich erschrecke. Ohne Brille sehe ich zunächst nur noch undeutlich, erst langsam wird alles wieder schärfer. Haben sich meine Augen schon so schnell an die Brille gewöhnt? Ich schaue durch die dicken Gläser, dann wieder ohne. Doch – ohne Brille ist fast alles wieder normal. Ich will das aber noch klären, ob da kein bleibender Schaden bleibt. Ich hoffe, Yvonne weiß da Bescheid. Oder ich frage mal Frau Hendricks, die hatte ihre Brillenzeit ja schon hinter sich, wie ich gehört habe.

Plötzlich geht die Außentür auf und eine mir unbekannte ältere Schwester steht im Toilettenraum. „Wo bleiben Sie denn so lange?“ herrscht sie mich an. „Und was soll das hier mit der Brille? Die Anweisung lautete „auflassen“ und zwar immer außer nachts. Und wo ist überhaupt ihr Helm?“ Ich bin so verdattert und bringe kein Wort heraus. „Na, Sie scheinen mir ja ein besonders schwerer Fall zu sein“, meint die Schwester. „Am ersten Tag schon so renitent. Das ist doch nicht ihr erstes Vergehen heute. Tja, die Akte füllt sich. Kommen Sie mal her.“ Dann setzt sie mir die Brille wieder auf, stülpt mir meinen Lederhelm auf den Kopf und zieht den Kinngurt fest. Nun bin ich wieder ganz in meiner Ein-Meter-Welt. Die Schwester führt mich nun am Oberarm in irgendein Zimmer. Die Tür geht auf und ich höre an der Stimme, dass Jasmin hereingekommen sein muss. „Also, die Brille bleibt auf. Ununterbrochen bis zum Schlafengehen, verstanden“, sagt die Schwester. „Und damit Sie damit keine Probleme bekommen, habe ich hier etwas Nettes für sie. Die Handschuhe kennen Sie ja schon.“ Ich bleibe jetzt ganz ruhig, um nicht noch mehr Ärger zu bekommen und lasse mir bereitwillig die Fäustlinge anziehen. Dann legt mir die Schwester einen Gurt um die Hüfte. Jasmin legt mir um beide Unterarme je eine lederne Handmanschette an, die wiederum am Gurt fixiert werden. Na toll, meine Hände und Arme kann ich ja für den Rest des Tages vergessen. „Ich hätte durchaus Lust, Sie nochmal in den Rollstuhl zu setzen. Denke aber, das wird jetzt erst einmal genügen. Ich bin übrigens Schwester Gerda. Wir beide werden noch häufiger miteinander zu tun haben und ich glaube, das wird noch ganz lustig. Ich werde das da gerade übrigens nach oben melden. Freuen Sie sich schon mal auf die nächsten Tage mit Fausthandschuhen. Die Maltherapie wird dann schwierig.“

Ich finde diese Frau auf Anhieb unangenehm. Mein Widerspruchsgeist regt sich nun doch und ich werde lauter, als ich eigentlich möchte: „Ich bin immer noch freiwillig hier. Was Sie da machen, ist Freiheitsberaubung!“ „Liebe Frau Ferner“, zischt die Schwester als Antwort, „ich weiß ganz genau, was ich darf und was nicht. Und ich brauche nicht mit Ihnen über medizinisch notwendige Maßnahmen diskutieren.“ „Los, hinsetzen“, herrscht sie mich an, „und jetzt den Mund auf.“ Sie drückt mich auf den nächstbesten Stuhl und hält mir einen roten Ballknebel vor die Nase. „Den kennen Sie ja schon. Also Mund auf … oder es wird für Sie nur noch schlimmer.“ In dem Moment nähert sich mir ein Pfleger, ich glaube, es ist dieser Arthur, und da öffne ich doch lieber meinen Mund. Der harte Ball wird zwischen meinen Zähnen platziert, der Gurt schön stramm gezogen und damit bin ich still gelegt.


Das Abendessen

Jetzt fühle ich mich doch ziemlich mies. Ich gehe durch irgendeine offene Tür - Jasmin sagt, dies sei der Aufenthaltsraum – und ich lasse mich in einen Sessel fallen. Gar nicht so einfach bei schlechter Sicht und mit fixierten Händen.
Ich verwünsche den Ballknebel, will wieder sprechen und das Ding los sein. Versuche, dies Jasmin deutlich zu machen. Aber meine Gestik ist nun eingeschränkt, sie versteht einfach nicht, was ich will. Meine Lippen werden trocken, die Kiefer schmerzen und ich habe den Eindruck, alle, die vorbeikommen, gucken mich an.

Kurz vor 18.00 Uhr sagt Jasmin, es sei nun Abendessenzeit. Sie würde mir nun die Knebel lösen und mich zum Speisesaal bringen. „Und wie soll ich essen mit fixierten Händen?“ frage ich, als ich wieder sprechen kann. „Ich soll sie füttern“, sagt Jasmin. „Das heißt nicht füttern, sondern das Essen anreichen“, fahre ich sie an. Das fehlt mir gerade noch, mich von der blöden Kuh füttern zu lassen. Immerhin fragt sie mich, was ich essen und trinken möchte. Ich beschließe, mich in mein Schicksal zu ergeben.

Jasmin führt mich zu einem freien Tisch, holt ein Tablett mit Essen und setzt sich mir schräg gegenüber. Mittlerweile habe ich ziemliche Kopfschmerzen, wahrscheinlich sind wegen der Brille meine Augen überanstrengt. Jasmin verspricht, mir nach dem Essen eine Kopfschmerztablette zu besorgen. Und dann füttert sie mich tatsächlich. Sie macht das eigentlich gar nicht so schlecht. Hat das Brot in Stücke geschnitten und führt es mir mit einer Gabel in den Mund. Zum Trinken benutzt sie doch tatsächlich einen Schnabelbecher, auch dies muss ich mir gefallen lassen. Ich bin doch kein Tattergreis, aber ehrlich gesagt habe ich es im Altenheim selber oft so gemacht.


Melanie

Dann führt mich Jasmin ins Badezimmer, nimmt mir endlich die Fesselgurte von den Armen und zieht mir die Handschuhe aus, löst den Helm und hilft mir beim Ausziehen des Overalls. Nachdem ich mich gründlich gewaschen habe und Jasmin mir die Nachtwindel und den Overall für die Nacht angezogen hat, die Fäustlinge dürfen auch nicht fehlen, bringt sie mich auf mein Zimmer. Dort ist Yvonne. „Ich habe es schon von Schwester Gerda gehört“, sagt sie. „So was kann passieren, aber versuchen Sie einfach, sich besser zusammenzureißen. Sie können hier kaum etwas machen, ohne dass es beobachtet wird.“ Dann gibt sie mir den Therapieplan für die Restwoche. Mit der Brille kann ich erstaunlich gut lesen; jetzt weiß ich, dass es morgen mit der Kunsttherapie losgeht und am Nachmittag eine Gruppengesprächstherapie dran ist. Nun, ich bin gespannt.

Dann geht die Tür auf und zwei Pfleger, die ich noch nicht kenne, bringen eine Frau herein. Sie steckt in einer Zwangsjacke und hat einen roten Knebel im Mund. Das kann sogar ich erkennen. „Die hat uns heute einen heißen Tanz bereitet“, sagt einer der Männer. „Du sollst ihr bitte noch eine frische Windel anlegen und dann ab ins Bett.“ „Mit dem Ballknebel?“ fragt Yvonne. „Nee, Knebelgeschirr reicht“, antwortet der Mann. „Schade, Frau Hendricks war schon so weit und nun das“, sagt Yvonne. Sie geht mit einem der Männer und Frau Hendricks kurz ins Bad, während der andere auf mich aufpasst. Dann wird Frau Hendricks aus der Zwangsjacke befreit, ins Bett gelegt und sofort mit allen möglichen Gurten fixiert.

„Frau Hendricks, ich hole jetzt den Knebel aus ihren Mund“, sagt Yvonne und fummelt irgendetwas an dem roten Knebel, was ich nicht erkennen kann. Dann höre ich, wie die Frau erleichtert aufstöhnt. „Frau Hendricks, Sie sind von nun an zu zweit. Darf ich Ihnen Frau Ferner vorstellen. Sie ist gestern neu hier angekommen.“ Da ich das Bett mit Frau Hendricks nur ganz undeutlich sehe, stehe ich auf und gehe zu ihr hin. Ich erkenne eine hübsche Frau ungefähr in meinem Alter. „Hallo, ich bin Katrin“, sage ich. „Ich bin Melanie, willkommen hier“, antwortet mir die Frau. „Nach diesem Tag bin ich jetzt einfach nur noch müde und möchte schlafen. Aber ich bin froh, dass du da bist.“

Yvonne legt ihr das Knebelgeschirr an, fixiert dann ihren Kopf und deckt sie zu. Dann kommt sie zu mir, führt mich zu einer Wand nahe meinem Bett und zeigt mir ein großes Foto, was da hängt. „Können Sie das erkennen?“ fragt sie mich. Ja, das kann ich. Ich sehe mich von heute Mittag – das volle Programm – Rollstuhl, Zwangsjacke, Knebel, Helm und Brille. Ich liebe es.

Dann die übliche Prozedur, allmählich wird es Routine. Bauchgurt, Unterarme, Oberschenkel, Füße, Schritt und Schultern. Yvonne nimmt mir die Brille ab und schnallt mir das Kopfgeschirr um. Sie wünscht uns eine gute Nacht und löscht das Licht.
Ist das jetzt Realität oder ein böser Traum, denke ich. Da liegen zwei junge Frauen abends um halb acht zum Schlafen fertig gemacht im Bett. Beide gewindelt, sorgfältig fixiert und unfähig mehr als ein bloßes Grunzen auszustoßen. Ich will meine Medikamente zurück.
18. RE: Sechs Monate

geschrieben von pauli2004 am 24.08.22 10:30

Spannend, bin gespannt, wie es weitergeht.
Wunderbar geschrieben, vielen Dank.
19. RE: Sechs Monate

geschrieben von windel28 am 25.08.22 07:18

Intressante Geschichte die einzelnen Details sind super beschrieben.
20. RE: Sechs Monate

geschrieben von Erika2 am 25.08.22 08:22

Ein wunderbare Geschichte, bitte weiter schreiben.
21. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 25.08.22 19:05

...und gerne geht es weiter...

Melanies Erlebnis

Ich werde irgendwann in der Nacht wach und merke, dass ich auf die Toilette muss. Der Druck auf meine Blase ist noch auszuhalten, aber es fällt mir schwer, wieder einzuschlafen. Innerlich unruhig liege ich da, döse kurz ein, finde aber keinen richtigen Schlaf mehr. Als wir am Morgen geweckt werden, fühle ich mich wie gerädert. Es ist Schwester Gerda, die nun Dienst hat, also genau die Schwester, die mich gestern auf der Toilette überrascht hatte, als ich die Brille abgenommen hatte. Sie wünscht uns einen guten Morgen und schnallt zuerst mich los. „Ihre Brille setzen Sie nach dem Duschen auf“, sagt sie. „Machen Sie sich in Ruhe fertig. Frau Hendricks kommt auch gleich in den Waschraum. Übrigens, Frau Hendricks, Sie haben nach dem Frühstück ein Gespräch mit Frau Dr. Schardtwald wegen der Vorfälle gestern.“

Schwester Gerda nimmt mir das Knebelgeschirr ab, öffnet den Verschluss meines Overalls und dann gehe ich zum Duschen. Kurze Zeit später kommt sie zusammen mit Melanie in den Waschraum. „Ich möchte Sie bitten, Ihrer Bettnachbarin beim Duschen behilflich zu sein“, sagt die Schwester. „Klingeln Sie, wenn Sie beide fertig sind. Sie werden heute keine Windeln tragen. Ich muss Ihnen dann nur noch den Reißverschluss zumachen und Frau Hendricks anziehen.“ Melanie steht nackt vor mir wie ein Häufchen Elend. Ihre Hände sind mit einem Fixiergurt vor dem Bauch aneinandergebunden. „Hilfst du mir bitte“, fragt sie. Ich sage: „Klar doch.“ „Gestern habe ich echt Mist gebaut und habe schon richtig Schiss vor dem, was jetzt noch kommen wird. Dachte eigentlich, ich wäre so weit, nächste Woche entlassen zu werden. Aber seit gestern…“ erzählt sie mir beim Duschen. „Was war denn gestern?“ frage ich. „Hast du mich morgens auf dem Flur gesehen, so richtig schön verpackt?“ Ich nicke. „Hatte einen üblen Zusammenstoß mit Schwester Gerda. Auf dem Weg in den Waschraum hat sie mich regelrecht provoziert. War nicht schön, was sie gesagt hat. Und ich war mies drauf und habe sie einfach zur Seite gestoßen und irgendeine blöde Antwort gegeben. Sie ließ nicht locker und da habe ich ihr eine geknallt. Wie aus dem Nichts standen plötzlich zwei Pfleger mit der Zwangsjacke da. Als wenn sie nur darauf gewartet hätten, dass was passiert. Ich saß dann bis zum Mittagessen fixiert im Rollstuhl. Danach sollte ich zu Frau Dr. Hahn. Sie ist da, wenn die Schardtwald weg ist. Die Hahn tat sehr betrübt wegen meiner Attacke, säuselte etwas von Rückfall und so und gestand schließlich ein, dass die Provokation geplant war, um mich zu testen. Ich bin dann regelrecht ausgetickt. Die packten mich sofort wieder in die Zwangsjacke und weil ich dann anfing zu spucken, gab es noch den Ballknebel dazu. Dann ab in die Gummizelle, aus der sie mich erst kurz vor dem Abendessen wieder herauslassen wollten. Die Hahn persönlich kam dann, um nachzuschauen, ob ich mich beruhigt hatte. Wurde dann zuerst in einen Rollstuhl verfrachtet und fixiert und dann wollte sie von mir noch irgendwas Blödes wissen, wie ich mir denn meine Zukunft vorstelle und so. Auf so was hatte ich nun gar keinen Bock und weil sie nicht aufhörte mit ihren doofen Fragen, habe ich sie angeschrien. Dann haben sie auch meinen Kopf fest gemacht und weil ich nicht leiser wurde, gab es dann wieder den Knebel.“

Draußen klopft es energisch. „Jetzt müssen Sie aber bald fertig werden“, höre ich Schwester Gerdas Stimme. „Ja, sind wir auch gleich“, rufe ich zurück. „Ich sage gleich Bescheid.“ Schnell trockne ich mich ab und helfe Melanie auch rasch dabei. Als wir nun beide in unseren hübschen hellen Overalls da stehen, legt die Schwester jedem von uns dicke Fausthandschuhe an. „Das hatte ich Ihnen ja versprochen“, sagt die Schwester hämisch. Und zu Melanie gewandt: „Wie brav Sie doch sein können. Scheint ja heute ohne Knebel zu gehen.“ Wir können uns noch schnell die Haare föhnen, dann bekomme ich die Brille und den Helm wieder aufgesetzt und ab geht´s zum Frühstück.

Fürs Frühstück befreit mich Schwester Gerda von den Fäustlingen – „aber nur, wenn Sie Ihre Brille auflassen, ich beobachte Sie“, schärft sie mir ein. Schön, dass ich wieder selbständig essen darf.

Melanie und ich sitzen beim Frühstück zusammen; ich frage sie, was sie möchte, und reiche ihr das Essen an. Ich glaube, wir werden uns gut verstehen. Schade, dass sie nachher zum Gespräch muss, was bestimmt nicht angenehm für sie werden wird. Ich hätte sie so gerne bei der Maltherapie dabei.


Die Kunsttherapie

„Denk an mich“, flüstert Melanie mir zu, als zwei Pfleger plötzlich neben uns stehen und uns auffordern mitzukommen. Die beiden haben für jeden von uns einen Pflegerollstuhl mitgebracht, in den wir uns setzen und dann nach allen Regeln der Kunst festgemacht werden. Fixierweste, Schultergurte, Gurte über die Oberschenkel und selbst die Unterschenkel werden fixiert - es fehlt an nichts. Anschließend wird ein dicker Keil so am Sitz befestigt, dass meine Beine leicht gespreizt sind und ich noch nicht mal hin und her rutschen kann. Zum Schluss installiert der Pfleger noch eine große passgenaue Platte auf meinem Rollstuhl, auf die ich meine Unterarme lege. Der Typ scheint sehr zufrieden mit seinem Werk zu sein und lässt mich erst einmal so stehen.

Bald darauf teilt mir Schwester Gerda mit, sie würde mich nun zu den Ausmalbildchen bringen. Ich vermute, sie meint die Kunsttherapie. Ich stehe auf und die Schwester legt mir als erstes die Handschuhe an. „So, ich bring Sie dann mal hin und hole Sie auch später wieder ab.“ Es geht durch irgendwelche Gänge, von denen ich kaum etwas mitbekomme, und treten dann in einen Raum ein, der mir relativ groß zu scheint. Ich höre einiges an Stimmen, erkennen kann ich kaum etwas.

Da tritt eine kleine ältere Frau in mein Blickfeld. Sie stellt sich vor: „Guten Tag, Frau Ferner, ich heiße Margret Mellendorf und bin hier die Kunsttherapeutin. Wir machen Ihnen nun die Hände frei und ich würde mich freuen, wenn Sie sich auf das, was jetzt kommt, einlassen würden.“ Ich murmele eine Begrüßung, Schwester Gerda öffnet widerwillig die Verschlüsse meiner Fäustlinge und schiebt mich an den angewiesenen Platz. Wenig später sitzt Frau Mellendorf mir gegenüber und verwickelt mich in ein Gespräch über künstlerische Gestaltung und deren Bedeutung für den Therapieverlauf. Ich kann da nicht ganz mithalten, da mich Kunst eigentlich wenig interessiert und ich mich seit der Mittleren Reife künstlerisch gar nicht mehr betätigt habe. Nun, ich bekomme die Aufgabe, wahlweise mit Bunt- oder Wachsmalstiften, in abstrakter oder konkreter Form meine Befürchtungen und Erwartungen aufs Blatt zu bringen. „Lassen Sie sich ruhig Zeit“, ermuntert mich Frau Mellendorf. „Das muss heute nicht fertig werden. Denken Sie vorher in Ruhe nach und lassen Sie sich von Ihren Gedanken und Gefühlen leiten. Wenn Sie Fragen oder Probleme haben, rufen Sie nach mir.“ Ich danke ihr, frage aber noch, wie viele Patientinnen gerade hier sind, weil ich sie nur hören aber nicht erkennen kann. „Sie sind zu zehnt“, sagt die Therapeutin. „Nun wünsche ich Ihnen viel Muße und versuchen Sie, sich auf Sie selbst zu konzentrieren.“

Ich sitze ein wenig still, denke nach, dann nehme ich mir die Wachsmalstifte und entscheide mich für ein abstraktes Bild. Ich arbeite still für mich hin, die Brille hilft mir tatsächlich, alles andere auszublenden. Ich fühle mich wie in einem Kokon, es existiert keine Außenwelt und ich merke, wie gut ich in dieser Aufgabe aufgehe. Ich bin nun wirklich kein guter Maler, gebe aber meinem Gekritzel Bedeutung und vertiefe mich mit Akribie in mein Bild.

Als ich für meine Begriffe fertig bin, bitte ich Frau Mellendorf zu mir. Sie lässt sich interessiert mein Bild erklären, ich erläutere ihr die unterschiedliche Farbgebung und was diese mit mir zu tun hat. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, hier in Bodenhain richtig zu sein.
Frau Mellendorf sagt dann, dass wir in fünf Minuten aufhören müssen und bittet uns darum, unsere Plätze aufzuräumen. Zu schnell ist die Zeit hier im Kunstraum vorbeigegangen, ich freue mich schon auf das nächste Mal.

Plötzlich steht die Praktikantin Jasmin vor mir. Nach der konzentrierten Arbeit im Nahbereich gerade weiß ich erst, dass sie es ist, als sie mich anspricht. Erkennen kann ich sie kaum, erst als sie direkt vor mir steht. Verflixte Brille - aber andererseits, hätte ich mich ohne sie so gut in meine Arbeit vertiefen können?


Melanies Bestrafung

Jasmin zieht mir zunächst die Handschuhe wieder an und schiebt mich dann in den Speisesaal, fragt mich, welches der zwei Essen ich wünsche, und füttert mich dann. Ich bin heute milder gesinnt und gehe auf ihr dummes Geplapper ein.

Nach dem Essen kommt Schwester Gerda, um mich zur Mittagsruhe abzuholen. Sie bringt mich auf mein Zimmer, vorher darf ich noch zur Toilette gehen. Ich muss mich wieder auf mein Bett legen und werde von ihr sorgfältig festgegurtet. „Sie waren heute bisher ja sehr brav, deshalb können wir auf das Knebelgeschirr verzichten“, meint sie. Ich traue mich, sie anzusprechen: „Darf ich Sie fragen, was mit Frau Hendricks ist? Ich kann ja von hier aus nicht sehen, ob sie schon in ihrem Bett ist.“ „Fragen dürfen Sie schon, wissen müssen Sie aber nicht alles“ ist die dürre Antwort.

Eine Stunde später kommt Sven auf das Zimmer und macht mich los. Er ist in Plauderstimmung und ich frage ihn nach Melanie. „Na ja“, sagt er. „Gestern hat sie schon heftig reagiert. Deshalb heute das Gespräch bei der Chefin. Natürlich kommen jetzt Sanktionsmaßnahmen. Ist aber alles halb so wild. Sie weiß nun auch, dass sie noch ein bisschen bei uns bleiben wird. Ich bringe Sie mal zu ihr.“ Er vergisst nicht, mir die Handschuhe anzuziehen und den Helm aufzusetzen und geleitet mich dann in den Aufenthaltsraum. Endlich darf ich wieder selber gehen.

„Hier sitzt Frau Hendricks“, sagt Sven. „Die Unterhaltung dürfte aber schwierig werden.“ Wie immer in fremden Räumen erkenne ich erst einmal nichts. Dann stehe ich zwei Personen gegenüber. Die eine ist Jasmin, die erkenne ich. Ist die andere Melanie? Von ihrem Gesicht ist nur noch wenig zu erkennen. Sie trägt ihr Knebelgeschirr, hat wie ich einen kleidsamen Helm auf, trägt Ohrenschützer und eine riesige Brille mit schwarzem Rand. Die dicken Gläser vergrößern ihre Augen gewaltig. Melanie sieht in meine Richtung, scheint aber nichts zu erkennen. Ich spreche sie an und möchte sie gerne umarmen. Aber sie kann mich nicht hören. Ich gehe ganz nah auf sie zu. Da erkennt mich Melanie und lächelt. Ich möchte ihre Hand streicheln, kann aber nur die Fäustlinge anfassen, in denen die Hände stecken.

„Wir möchten versuchen, über Reizreduzierung Frau Hendricks möglichst schnell wieder in die Spur zu bringen“, erklärt Sven. „Deshalb die Ohrenschützer, die Handschuhe und die Brille. Hören, Tasten und Sehen sind jetzt sehr eingeschränkt. Nach und nach werden diese Maßnahmen nun wieder zurückgefahren, bis Frau Hendricks vielleicht wieder ohne auskommt.“ „Und das Knebelgeschirr?“ frage ich. „Ist eine Strafe für das Spucken und Schreien. Morgen darf sie wieder sprechen.“

Ich lächele Melanie an und bin so froh, sie wieder zu sehen. Leidensgenossin denke, solidarisch in der Hässlichkeit.

„Nun, Frau Hendricks kann natürlich heute nicht an der Gesprächstherapie teilnehmen“, teilt Sven mir mit. Das kann ich mir schon denken. Ich setze mich jetzt einfach neben Melanie. Wir kuscheln uns aneinander auf ein kleines Sofa, bis mich Jasmin zur Gesprächstherapie bringt.

Die gestaltet sich alles andere als spannend. Ich werde gerade mal so von dem Gesprächsleiter, einem Psychologen Herrn Meyer, registriert und dann dreht sich alles um irgendwelche Probleme der Teilnehmer vom letzten Mal. Ich kann kaum jemand erkennen und versuche so zu tun, als höre ich interessiert zu, tauche aber innerlich ab. Erst ein “wenn Sie das hier nicht interessiert, Frau Ferner, dann muss ich noch mal mit der Ärztin sprechen“ ruckt mich wieder wach und ich lasse den Rest des Nachmittages über mir ergehen. Viel lieber wäre ich wie gestern ein bisschen draußen. Das hat mir besser getan als das Gerede hier.

Jasmin bringt mich dann später zum Abendessen, bei dem ich das Füttern und das Trinken aus dem Schnabelbecher über mir ergehen lasse. Wieder auf der Station freue ich mich, Schwester Yvonnes Stimme zu hören. Sie ist so freundlich, fragt mich nach meinem Tag und lobt mein gutes Benehmen. Aufgrund der guten letzten Nacht darf ich heute ohne Knebelgeschirr schlafen. Yvonne verspricht mir, dass bei weiteren Fortschritten, sprich gutem Benehmen meinerseits, die weitere nächtliche Fixierung nach und nach gelockert werden kann. Dann löst sie meine Handschuhe und ich mache mich bettfertig.

Ich frage Yvonne nach Melanie, da ich nicht erkennen kann, ob sie schon im Zimmer ist. Yvonne führt mich an ihr Bett. Da liegt meine Freundin, ja ich mag sie schon so nennen, obwohl wir uns erst seit einem Tag kennen. Schön fest fixiert, von den Füßen bis zum Kopf, das Knebelgeschirr über den Mund gezogen zwinkert sie mir durch ihre dicken Gläser zu, als wenn sie mir sagen würde: „Alles wird gut.“
22. RE: Sechs Monate

geschrieben von sturmgras1 am 26.08.22 21:02

guten Abend.
möchte ebenfalls dickes Lob und vielen Dank sagen.
die Geschichte drückt soooo viele Knöpfe bei mir, einfach wunderbar.
Besonders die Storyline, sich selbstbestimmt einer derattigen Procedur zu unterwerfen- im wahren Wortsinne, mit Ende der Beliebigkeit vmtl. unangenehm erscheinender Therapiemassnahen, die resolute Liebenswertigkeit der Betreuer:Innen, der Zwiespalt im Kopf,
....es läuft schon wieder das Kopfkino..wobei mir Brillengläser wie Flaschenböden lieber wären, z.B...

freue mich auf die weiteren Folgen.

danke vorab und uns ein schönes Wochenende.

sturmgras
23. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 28.08.22 13:48

@sturmgras: Danke für die aufmunternden Worte. Katrin hat nun erst mal ruhigere Tage, bis...

Freundinnen

Die Nacht wird gut. Erstaunlich, wie schnell man sich an die nächtliche Fixierung gewöhnen kann. Am Morgen werden wir von Yvonne geweckt und dann duschen Melanie und ich. „Wie war es denn bei der Chefin?“ frage ich sie. „Och“, antwortet Melanie. „Eigentlich ganz sachlich und ruhig. Sie sprach dann von den reizreduzierenden Maßnahmen, die bei entsprechendem Verhalten aber relativ zügig wieder aufgehoben werden sollen. Ist ein komisches Gefühl so gut wie nichts zu hören, nichts anfassen zu können, nur hell und dunkel unterscheiden zu können. Macht ein bisschen einsam, erst recht wenn man nicht sprechen kann.“ „Aber heute darf ich ja wieder“, lächelt sie. „Wie lange hast du denn beim ersten Mal die Brille getragen?“ frage ich sie. „Und konntest du später wieder normal sehen oder hast du einen bleibenden Schaden erlitten?“ „Nein, nein, das nicht, alles gut jetzt“, sagt Melanie. „Ich musste die Brille mit den starken Gläsern etwa vier Wochen tragen, dann wurden merklich schwächere Gläser eingesetzt. Mit denen konnte ich so zwei bis drei Meter scharf sehen.

Wahrscheinlich waren sie mit meinem Verhalten sehr zufrieden, denn nach weiteren vier Wochen war ich brillenfrei. Aber die Gläser, die sie mir jetzt eingesetzt haben, sind schon sehr heftig. Ich sehe so gut wie nichts.“ „Und wie lang bist du schon hier?“ „Circa vier Monate“ sagt sie. Da öffnet Yvonne die Tür und bittet uns, uns fertig zu machen: „Es ist Frühstückszeit.“

Yvonne verzichtet darauf, uns Handschuhe anzuziehen. Dann führt sie uns zum Speisesaal, wo wir uns das Frühstück schmecken lassen. Die Verständigung mit Melanie ist schwierig, da sie noch den Ohrenschutz tragen muss. Aber ich bin glücklich, in ihrer Nähe zu sein.

Melanie darf noch nicht wieder an den Therapiemaßnahmen teilnehmen, ich aber gehe zur Musiktherapie. Dort schlagen wir in einer Kleingruppe nach Anleitung verschiedene Rhythmen, üben das Folgen und Vormachen. Es macht mir richtig Spaß. Allerdings wurden mir vorher – aus Sicherheitsgründen, wie es hieß, wieder die dicken Fausthandschuhe angezogen. So klingen meine Trommelschläge etwas dumpf.

Am Nachmittag ist frei. Wir gehen begleitet von Jasmin bei schönem Herbstwetter in den Park. Jasmin ist so rücksichtsvoll, uns ein bisschen an der langen Leine zu lassen. Trotzdem bin ich vorsichtig, was ich sage, denn ich glaube, ihr nicht trauen zu können.

Ich bin so froh, jemand gefunden zu haben, die auf ihre Art mit mir seelenverwandt zu sein scheint. Einmal stehen wir uns so dicht gegenüber, dass sich die Stirnpolster unserer Helme berühren. Wir sehen einander an, schauen in unsere großen Augen hinter dicken Gläsern und umarmen uns innig. „Ich kann dich ja nur erkennen, wenn du ganz nah vor mir stehst“, sagt Melanie. „Aber noch schöner ist es, dich zu fühlen.“

So vergehen die nächsten Tage. Melanie darf nun auch wieder an den Angeboten teilnehmen, sie muss keinen Ohrenschutz mehr, aber wie ich weiterhin die Fäustlinge tragen.

Am besten gefällt mir immer noch die Kunsttherapie, aber auch die Musik- und die Bewegungsangebote sind nicht schlecht. In der Gesprächstherapie komme ich mittlerweile immer besser zurecht. Ich werde mehr mit einbezogen und lerne allmählich, mich dem Kreis zu öffnen und von meinen Problemen draußen zu erzählen.

Am liebsten sind Melanie und ich morgens und abends im Waschraum zusammen. Dann fühlen wir uns am ungestörtesten und albern herum. Bei allen restriktiven Maßnahmen, die sie hier auf Lager haben, mir scheint, wenn alles gut läuft, gönnen sie einem die Lebensfreude.

Einmal setze ich abends im Waschraum Melanies Brille auf. Ich erschrecke sehr, alles total unscharf. Ich kann damit nichts, aber auch gar nichts mehr sehen, und damit läuft meine Freundin schon eine Woche herum. Sie meint aber, Schwester Yvonne hätte ihr versichert, dass nach einer „guten“ Woche die Stärke der Gläser reduziert würde.

So erleben wir gute Tage miteinander und auch die Nächte gestalten sich angenehmer. Mir wird nur noch die Bauch- und Armfixierung samt Schrittgurt angelegt – mit der Option auch darauf bald verzichten zu können. Und auch Melanies Fixierung wird nach und nach zurückgenommen.


Mit Helm und Brille

Ich wollte Psychiatrie und nun habe ich Psychiatrie. Ich lebe hier in einem starren Regelkorsett mit klaren Strukturen, eindeutig formulierten Erwartungen und genau festgelegten Belohnungen und Strafen. Diese festen Regeln sollen mir ja gut tun, aber manchmal rebelliert da etwas in mir. Ausnahmen werden grundsätzlich nicht gestattet. Der verbliebene Freiraum, den wir haben, ist auf die kurze Zeit vor oder nach den Mahlzeiten reduziert.

Morgens nach dem Wecken werde ich aus der Fixierung befreit. Das abendliche Festgeschnallt-werden nehme ich mittlerweile einfach hin; ich habe mir gut angewöhnt, auf dem Rücken zu schlafen. Dann geht es ins Bad, wo ich meistens genug Zeit habe, mich ausgiebig zu duschen. Meine Nachtwindel ist bisher immer trocken geblieben und da bin ich stolz drauf! Tagsüber darf ich wieder meine normale Kleidung tragen und gehe auch wieder ganz normal zur Toilette.

Im Bad liegen jeden Morgen meine Brille und der Lederhelm parat. Ich darf ohne Brille nicht aus dem Bad kommen, das ist die Regel. Ich setze die Brille morgens auf und trage sie brav den ganzen Tag über. Viel sehe ich damit nicht, ich lebe in meiner Ein-Meter-Welt. Jedenfalls mag ich es gerade, darin zu versinken und vieles, was mich nicht angeht, ausblenden zu können. Auch wenn die Brille mit ihren dicken, großen Gläsern nicht gerade meine Schönheit verbessert, schaue ich ab und zu in den Spiegel und beobachte mich. Fasziniert von mir selbst und wie anders ich aussehe. Übrigens lässt sie sich recht bequem tragen. Sie drückt nicht und rutscht nicht. Da hat Schwester Dorothea gut gearbeitet.

Danach ist der Helm an der Reihe. Ich setze ihm mir selber auf und ziehe den Kinngurt stramm und fühle, wie sich das Innenleder an die Kopfhaut schmiegt. Der Helm ist trotz seiner Größe und dem Leder gar nicht so schwer. Wenn ich ihn einige Zeit trage, spüre ich ihn schon gar nicht mehr. Ob ich ihn wirklich brauche, weiß ich allerdings gar nicht. Den Kopf gestoßen oder gar gestürzt bin ich noch nicht. Manchmal nervt der Helm jedoch auch, besonders wenn es warm ist. Aber ihn abzunehmen geht nicht; wie gesagt, Ausnahmen werden nicht gestattet.

So laufe ich also den ganzen Tag mit Lederhelm und dicker Brille über die Station. Ich bin aber nicht die einzige Frau, der es so geht. Einige der Mitpatientinnen sind genauso vorteilhaft ausgestattet. Scheinbar ergeht es den meisten Neuen so, wie ich es erlebe. Die dicken Fausthandschuhe wurde ich zum Glück nach vier Tagen los, selbstverständlich nicht ohne ausdrückliche Warnung, dass ich sei bei einem neuen Fehlverhalten wesentlich länger tragen müsse.

Nach zwei Wochen werde ich zum Gespräch bei Frau Dr. Schardtwald geladen. Sie lobt meine Fortschritte und erwähnt, dass ich mich gut eingelebt hätte. Sie vergisst aber nicht zu erwähnen, dass das Leben hier in der Einrichtung eine Art Schonraum sei und ich noch lange nicht so weit sei, mich den wahren Herausforderungen der Umwelt draußen zu stellen. Ich denke, dass ich darauf gerade auch noch gar keine Lust habe. Trotz aller Einschränkungen hier in der Klinik – ich fühle mich recht wohl.

Dass ich es so gut geschafft habe, von den Medikamenten loszukommen, ohne auszuflippen, wundert mich etwas und hätte ich mir schwieriger vorgestellt. Vielleicht sind es die übersichtlichen und klaren Strukturen hier, die mich haben ausgeglichener werden lassen.


Santionen

Es ist Abend, Schwester Gerda hat Dienst. Sie wirkt hektisch und ist schlecht gelaunt. Barsch befiehlt sie uns, sich im Bad zu beeilen, sie hätte noch mehr zu tun. Sie und ich, wir mögen uns nicht, das weiß ich, und es reizt mich, sie zu provozieren. Also mache ich ganz langsam und als sie von draußen ungeduldig klopft, rufe ich zurück, ich sei noch auf der Toilette. Melanie ist schon fertig. Sie warnt mich, es nicht zu übertreiben, und geht dann ins Zimmer.

Ich mache nun extra langsam, putze mir ausgiebig die Zähne, lege mir in aller Ruhe die Windel an und trödle auch sonst noch etwas herum.

Als ich dann ins Zimmer komme, ist Gerda nicht mehr allein. Zwei Pfleger, die ich nicht kenne, stehen neben meinem Bett und haben das komplette S-Fix-System installiert. Mir wird schlecht, als ich das sehe, und stammele eine Entschuldigung. Doch Gerda befiehlt mir lediglich, mich aufs Bett zu legen und still zu sein.

„Wenn Sie mich provozieren wollen, bitte“, sagt sie, „ wir können auch anders. Dann beginnt also wieder die Vollfixierung und sie werden einige gute Tage und Nächte brauchen, bis die Fixierungen reduziert werden. Sie wissen doch, wie das bei uns läuft.“

Ich liege nun auf dem Bett, schließe die Augen und spüre, wie sich ein Gurt nach dem anderen um mich legt. Erst um den Bauch, dann um die Handgelenke und die Fußgelenke und schließlich der Schrittgurt. Als sich die Schwester an den Schulterhalterungen zu schaffen macht, bettele ich: „Bitte, Schwester Gerda, die nicht auch noch, es tut mir wirklich leid“, doch statt einer Antwort holt die Schwester mein Knebelgeschirr, um mir es anzulegen. Ich schreie los und werfe den Kopf hin und her – mit dem einzigen Erfolg, dass sie es zu dritt doch irgendwie schaffen, mir den Knebel zu verpassen und meinen Kopf auch noch still legen. Dann werden die Schulterfixierungen noch mal extra nachgezogen und dann sind meine Finger das einzige, was ich noch bewegen kann. Ich kann nur noch grunzen – und hoffe, trotz der ganzen Fixierungen schnell einschlafen zu können.
Ich weiß noch, dass ich die Fixierungen im Bett in den ersten Tagen spannend gefunden habe, heute hasse ich sie.

Einige Tage später – ich war übrigens brav und ich werde im Bett nur noch am Bauch samt Schrittgurt, den Handgelenken und an den Füßen fixiert – bin ich nach der nachmittäglichen Therapie mit Anne und Amelie zusammen. Amelie ist schon länger hier und darf ohne Helm und Brille unterwegs sein. Anne ist kurz vor mir gekommen und ist genauso wie ich ausgestattet. Wir sind im Aufenthaltsraum, haben ein wenig Spaß miteinander. Irgendwann fangen wir an zu lästern und witzeln über den schmierigen Pfleger Arthur, über die ewig schlecht gelaunte Schwester Gerda und über die eigentlich ganz nette, jedoch so arg betuliche Schwester Yvonne. Als Amelie eine süffisante Bemerkung über die Ärzte macht, prusten Anne und ich los und kriegen uns kaum noch ein.

Amelie, die ja als einzige von uns gut sehen kann, ist plötzlich still und ich höre Schwester Gerda: „Ihre Unterhaltung ist ja wirklich witzig. Kommen Sie drei doch bitte mal mit.“ Plötzlich stehen drei Pfleger da, jeder von ihnen fasst eine von uns am Arm und führt uns zum Ärztezimmer. Ich soll mich im Wartezimmer auf einen Stuhl setzen, während mein persönlicher Bodyguard über mich wacht. Die Tür zum Sprechzimmer öffnet sich und eine weibliche Stimme stellt sich vor: „Ich bin Frau Dr. Hahn und habe heute Dienst. Frau Schulz und Frau Passlack, kommen Sie doch bitte herein.“

Anne und Amelie, zwei Pfleger und Schwester Gerda gehen ins Sprechzimmer. Ich höre, wie drinnen gesprochen wird, dann etwas Gemurmel und ein Stöhnen. Erneut öffnet sich die Tür und die Pfleger führen Anne und Amelie heraus. Ich kann gerade so erkennen, dass beide einen roten Ballknebel im Mund haben und ihre Hände vorne an einem Hüftgurt fixiert sind. Das reicht mir – ich springe auf und laufe zur Tür. Doch mein Bodyguard ist schneller und vor allem stärker. Er hält mich fest, bevor ich die Tür erreiche, und zusammen mit einem der anderen beiden Pfleger bugsieren sie mich ins Sprechzimmer und dann in diese Art Zahnarztstuhl. Blitzschnell schließt sich ein Gurt um meinen Rumpf, meine Handgelenke werden fixiert, dann meine Füße. Ich verliere völlig die Kontrolle über mich und kämpfe wie von Sinnen gegen die Gurte an. Ich zappele und schreie. Doch es hat ja keinen Sinn; als die Fixierweste geschlossen und stramm gezogen wird, ergebe ich mich in mein Schicksal. Ehe ich mich versehe, wird mir ein Ballknebel in den Mund gelegt und dann am Hinterkopf fixiert.

„Sie machen ja ein Theater, Frau Ferner“, sagt die Ärztin. „Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal, wir kommen in einer Viertelstunde wieder.“ Und schon bin ich alleine.

Ich wimmere in meinen Knebel, mir tun die Knochen weh, die Gurte sind arg stramm – ich kann nicht mehr und lasse die Tränen laufen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt das Personal zurück und Frau Dr. Hahn hält mir eine Strafpredigt. „So, wie Sie drei sich vorhin aufgeführt haben, geht das gar nicht. Um zu Therapieerfolgen zu kommen, müssen Sie schon eine positivere Haltung an den Tag legen. Und unsere verdienten Mitarbeiter, die wirklich alles tun, damit Sie wieder gesund werden, so lächerlich zu machen, ist ein absolutes Unding. Aber Sie kennen ja die Regeln: auf Fehlverhalten folgt eine Sanktion. Haben Sie das so weit verstanden?“ Ich nicke. „Wenn wir Sie jetzt aus dem Stuhl herauslassen, werden Sie ruhig bleiben?“ Ich nicke wieder. „Also gut“, fährt die Ärztin fort. „Wie bei den beiden anderen: Ballknebel bis zum Abendessen, danach das Kopfgeschirr bis morgen früh. Und weil Sie vorhin ein besonders herausforderndes Verhalten gezeigt haben, ziehen Sie die Schutzjacke an.“ Ich verstehe zunächst nicht, was sie meint, und begreife erst, als einer der Pfleger eine Zwangsjacke in der Hand hält.

Ich stöhne in meinen Knebel, lasse mich dann aus dem Stuhl befreien und stelle mich hin. Einer der Pfleger hält mich fest, während sich die anderen beiden an mir zu schaffen machen. Ich stecke meine Arme in die Ärmel, dann wird die Jacke an meinem Rücken stramm geschlossen. Meine Arme werden verschränkt und die losen Enden der Ärmel am Rücken verschlossen. Schwester Gerda lässt es sich nicht nehmen, den vorne baumelnden Schrittgurt zwischen meinen Beinen durchzuziehen und ihn dann schön stramm hinten festzuzurren. „So, Sie sind fertig“, sagt sie. „Vielleicht lernen Sie jetzt endlich mal dazu.“ Ich spüre, wie mich der feste Stoff eng umschlingt. Mir wird arg warm und es drückt an den Schultern.

Ein Pfleger führt mich in den Aufenthaltsraum. Ich stelle mich zu Anne und Amelie. Wie die Zombies stehen wir da – den Mund verschlossen, der Speichel läuft, stumm schauen wir uns aus unseren dicken Brillengläsern an. Denn auch Amelie trägt jetzt eine Brille und dazu natürlich einen Lederhelm. Den anderen Frauen ist wohl eingeschärft worden, uns zu ignorieren. Denn keiner kommt zu uns und spricht mit uns.

Als es Abendessenzeit ist, werden wir drei in einen Extraraum geführt und auf eine Bank gesetzt. Einer der Pfleger nimmt uns unsere Knebel ab und eine Schwester, die ich noch nicht kenne, füttert uns mit klein geschnittenem Brot. Immer schön abwechselnd öffnen wir unsere Münder und nehmen unser Essen auf. Gesprochen wird nicht. Wir trauen uns aber auch nicht wirklich. Am Ende gibt es aus dem Schnabelbecher schauderhaften Tee. Wir dürfen dann unseren Mund ausspülen. Uns dreien werden kurz die Helme abgenommen und dann wird jedem von uns ein Knebelgeschirr angelegt. Eins hübscher als das andere. Dann den Helm auf und fertig sind wir fürs Abendprogramm, was im Wesentlichen daraus besteht, stumm und weitgehend bewegungsunfähig im Aufenthaltsraum darauf zu warten, dass Bettgehzeit ist.
24. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 01.09.22 19:31

Eine Zwangsjacke nur für mich

Wie nicht anders zu erwarten, ist für die Nacht das komplette S-Fix-Programm für mich vorgesehen. Ich bin zunächst froh, aus der Zwangsjacke herausgelassen zu werden, dusche mich kurz und bin dann bereit für die nächste Prozedur. Die Gurte freuen sich schon auf mich. Schwester Gerda und Pfleger Arthur sorgen dafür, dass ich ja keinen Unsinn anstelle und fixieren sorgfältig einen Gurt nach dem anderen. Am Ende wird mir wieder das Knebelgeschirr übergestülpt, so dass ich keine Chance habe, mit Melanie zu sprechen.

Als ich fertig angegurtet im Bett liege, kommt Frau Dr. Hahn herein. Sie hält die Zwangsjacke im Arm. „So, Sie sind schon bettfertig“, sagt sie mit einem zufriedenen Blick auf die Gurte, „ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Sehen Sie, das war vorhin ein äußerst aggressives Verhalten von Ihnen und unsere Erfahrung zeigt uns, dass es in Fällen wie bei Ihnen stets zu Rückfällen kommen kann. Deswegen haben einige von unseren Patientinnen eine eigene Schutzjacke in der passenden Größe, dann geht die Schutzmaßnahme im Notfall schneller. Das ist Ihre, hier ist Ihr Name.“ Und sie zeigt mir meinen Namen in einer kleinen Plastikhülle auf der Rückseite der Jacke. „Den Service haben nicht alle. Vermutlich war das heute nicht das letzte Mal, dass wir Sie vor sich selbst schützen müssen“, lächelt sie mich an und hängt dann die Jacke an einen Kleiderbügel.

„Und da Sie sich so gut mit Frau Schulz und Frau Passlack verstehen, dürfen Sie auch die Nacht miteinander verbringen“, fährt die Ärztin lächelnd fort. Arthur löst die Bremsen meines Bettes, zieht rechts und links die Gitter hoch und schiebt mich über den Flur in das letzte Zimmer am Ende des Ganges. Da liegen schon Anne und Amelie festgegurtet in ihren Betten, auch beide mit einem hübschen Knebelgeschirr versehen.
Das Licht wird gelöscht und wir drei werden uns selbst überlassen. Irgendwann kommt der Schlaf, aber es dauert.

Am nächsten Morgen weckt mich Schwester Gerda und ein mir unbekannter Pfleger. Ich bin noch ganz schlaftrunken, da lösen sie schon die Handgelenksgurte, ziehen dann aber sofort die Ärmel meiner Zwangsjacke über meine Arme. Dann werden die Schultergurte und der Bauchgurt geöffnet. Ich muss mich setzen und schon wird die Jacke an meinem Rücken fest verschlossen und meine Arme verschränkt an der Jacke fixiert. Das Knebelgeschirr lassen sie mir auf, als die beiden dann wieder die Gitter des Bettes hochziehen. So sitze ich nun in meiner Zwangsjacke im Gitterbett, Beine und Fußgelenke noch fixiert, und warte auf die Dinge, die da kommen werden.

Gerda und der Pfleger befreien Anne und Amelie von Gurten und Knebelgeschirren und scheuchen sie nacheinander ins Bad. Und dann, nachdem man mir mein Knebelgeschirr endlich abgenommen und die letzten Fixierungen gelöst hat, führt mich Gerda ins Bad, nimmt mir die Windel ab und ich kann kurz auf die Toilette. Dann wieder eine Windel an, die Hose darüber und Gerda befestigt den vorne baumelnden Schrittgurt hinten an meiner Jacke. Aber ich bin noch lange nicht fertig. Ein tiefer Rollstuhl steht von hinten bereit, in den ich sanft niedergedrückt werde. Ich zische: „Fassen Sie mich nicht an.“ Doch mit einem „schön ruhig“ befestigt sie eine breite Fixierweste vor meinem Oberkörper und fixiert dann meine Fußgelenke. So sitze ich nun schön sicher verpackt im Rollstuhl, herausfallen kann ich nicht… Für wie gefährlich halten die mich eigentlich? Nur weil ich mich gestern etwas gewehrt habe…

Dann gibt es das Frühstück. Raubtierfütterung denke ich. Wie gestern Abend werde ich mit klein geschnittenem Brot gefüttert. Lecker, lecker…
Warum das Ganze, erfahre ich, als Frau Dr. Hahn aufkreuzt. „So, meine Damen, wir haben gestern Abend noch über Ihr Verhalten gesprochen. Wir denken, dass sollte noch weitere Konsequenzen haben. Sie drei werden heute Vormittag nicht an den Therapien teilnehmen, sondern einen – zugegebenermaßen – ziemlich eintönigen Morgen haben. Wir befürchten, andere könnten sich an Ihrem schlechten Vorbild ein Beispiel nehmen, deshalb müssen wir dagegen steuern. Gerda und Eddie, bitte fangen Sie mit Frau Ferner an!“

„Wir schieben Sie jetzt auf den Flur. Ihre beiden Kolleginnen kommen nach. Da können Sie drei heute Morgen mal als abschreckendes Beispiel dienen. Ja, jeder ist zu was nütze“, kichert Gerda. Aber erst noch die Brille auf und darüber das Knebelgeschirr, dann auch noch den Helm. Und dann werde ich auf den Flur gerollt und irgendwo geparkt. Ich bekomme mit, dass die anderen Frauen gerade auf dem Weg zum Frühstück sind. Dann kommen Eddie und Schwester Gerda mit zwei weiteren Rollstühlen, in denen Anne und Amelie sitzen. „So, da sind wir“, kommentiert Eddie, „die drei Grazien nebeneinander. Ihnen hat es ja ziemlich die Sprache verschlagen.“ Und über seinen eigenen blöden Witz lachend, verschwindet er endlich.

Ich wende den Kopf zum Rollstuhl neben mir und artikuliere einen Gruß. Neben mir ist Amelie mit ihrer neuen klobigen Brille und ebenfalls mit Knebelgeschirr ausgestattet. Ich erkenne sie kaum wieder. Sie nickt mir zu und grunzt zurück.
Mir fällt aus, dass Anne und Amelie die Arme und Beine frei bewegen können. Nur mich hat man in die Zwangsjacke gesteckt – vielleicht wegen meinem Extra-Auftritt gestern?

Aber auch dieser Vormittag nimmt ein Ende und zum ersehnten Mittagessen werden wir drei aus unseren Rollstühlen und von unseren Knebelgeschirren befreit. Nebeneinander sitzend werden wir wie gestern Abend gefüttert und dann auf unser Zimmer geführt. Endlich aus der Jacke heraus, aber auf uns wartet wieder das komplette S-Fix-Programm …

Am Nachmittag steht die öde Gesprächstherapie auf dem Programm. Auch für den Rest des Tages wird mir wieder die Zwangsjacke angezogen, aber Yvonne, die jetzt Dienst hat, ist so rücksichtsvoll, sie nicht ganz so fest zu schließen. Zur Therapie darf ich zu Fuß, dann wieder mit Helm, „natürlich nur zu Ihrem Schutz“. Um die Fußgelenke trage ich einen Gurt, mit dem ich nur kleine Schritte machen kann. Yvonne hält mich an der Jacke und führt mich zum Therapieraum.
Während der Gespräche bin ich einsilbig. Natürlich steht auch mein gestriges Verhalten im Raum. Ich gebe alles zu, verspreche Besserung und bin dann froh, dass man mich in Ruhe lässt.

Und noch vor dem Abendessen ruft mich Frau Dr. Hahn in ihr Büro, hält mir einen Vortrag über aggressives und kooperatives Verhalten und öffnet mir dann die Jacke. Ich muss sie dann selbst auf mein Zimmer bringen, „vermutlich brauchen Sie sie bald wieder“, wie die Ärztin sagt. Noch ein Tag in Zwangsjacke? Nein danke, da kann ich gut drauf verzichten.


Froschgesicht

Vier Tage später an einem Freitag habe ich meine nächste unliebsame Begegnung mit Frau Dr. Hahn. Morgens im Bad habe ich etwas länger gebraucht, ich muss mich beeilen und laufe, nachdem ich mich angezogen habe, schnell zum Frühstückraum. Ich setze mich an einen Tisch zu Melanie, die mich sogleich fragt: „Wo hast du denn deine Brille?“ „Oh, Mist, die habe ich im Bad gelassen“, stelle ich fest. „Besser holst du die eben“, sagt meine Freundin. „Das geht jetzt schlecht, da ist doch nun alles zu“, antworte ich. „Wenn ich jemand vom Personal sehe, dann bitte ich, mir die Badezimmertür aufzumachen.“

Wir fangen an zu essen, da entdecke ich Arthur suchend in der Tür stehen, der anschließend auf mich zugesteuert kommt. „Arthur, können Sie mir bitte…“, will ich fragen. Doch er unterbricht mich: „Sie sollen bitte nach dem Frühstück sofort zu Frau Dr. Hahn kommen.“ „Warum?“ frage ich. Er zuckt mit den Achseln. „Und genießen Sie Ihr Frühstück. Könnte das letzte Mal für die nächsten Tage gewesen sein, dass Sie selbständig essen können.“ Und dann ist er weg.

Ich gucke ihm erstaunt hinterher und frage dann Melanie beunruhigt, was er wohl gemeint haben könnte. Sie weiß es auch nicht, ist aber ebenso beunruhigt wie ich.

Ich habe nun keinen Appetit mehr, trinke nur meinen Kaffee schnell aus und bleibe noch einen Moment bei Melanie sitzen. „Du, ich habe ein total schlechtes Gefühl, ich weiß gar nicht, was ich gemacht habe soll.“ „Vielleicht klärt es sich ja“, sagt sie. „Wenn du wieder aus dem Büro draußen bist, werde ich da sein, so lange es geht.“ „Wenn sie mich raus lassen…“, denke ich.

Arthur kommt wieder an unseren Tisch und fordert mich auf, mitzukommen. Ich gehe mit ihm in Stationszimmer, wo Arthur mir die dicken Schutzhandschuhe überzieht und sie natürlich sorgfältig an meinen Unterarmen befestigt. Mein Gefühl wird immer mulmiger. Dann bringt er mich zu Frau Dr. Hahn.

„Es gefällt mir gar nicht, Sie schon wieder hier empfangen zu müssen, Frau Ferner“, begrüßt sie mich. „Wo ist denn Ihre Brille und was ist mit dem Helm?“ „Das ist es“, denke ich und bin fast erleichtert. „Ich habe beides heute früh im Bad vergessen, weil es schnell gehen musste. Ich wollte eigentlich jemanden vom Personal fragen, ob er mir nach dem Frühstück das Bad aufmachen würde.“

„Tja“, sagt die Ärztin, “Sie kennen die Regeln, auch das Tragen der Brille betreffend. Wir arbeiten hier an Ihrer Selbststeuerung und Selbstkontrolle. Wenn etwas nicht klappt wie heute Morgen, dann müssen wir uns weitere Hilfen überlegen. Wir werden Ihnen helfen, dass das nicht wieder vorkommt. Schauen Sie mal.“

Frau Dr. Hahn nimmt eine Art Schwimmbrille in die Hand. „Dieses Teil hat geschliffene Gläser, genauso stark wie Ihre jetzige Brille. Und wir werden Ihnen diese Brille jetzt umschnallen und Sie werden sie für die nächsten drei Tage tragen. Und zwar permanent. Das heißt auch nachts. Sie werden diese Brille nicht absetzen. Und Sie werden auch ihren Helm immer tragen.“ Ich schaue sie an: „Aber es war doch nur ein Versehen. Das erste Mal.“ „Betrachten Sie unsere Maßnahme wirklich als Hilfe. Ich gehe davon aus, dass Sie nach dieser Maßnahme immer daran denken werden, dass hier alle Regeln sinnvoll sind und befolgt werden müssen.“ „Aber…“, beginne ich wieder. „Frau Ferner“, sagt die Ärztin, „ich diskutiere nicht. Und ich möchte auch nicht, dass Sie diskutieren. Arthur kann gerne ihr Kopfgeschirr holen, verstanden?“ Ich nicke. „Also gut“, fährt sie fort. „Die Regeln sind so. Drei Tage und Nächte jetzt diese Brille und den Helm, permanent. Danach wieder alles wie gehabt. Sollten Sie dann wieder Ihre eigentliche Brille nicht aufsetzen, aus was für Gründen auch immer, sieben Tage dieses Teil. Bei einem weiteren Fehlverhalten auf unbestimmte Zeit. Verstanden?“ Ich nicke. „Die Handschuhe behalten Sie bis heute Abend an. Im Bett werden die Hände fixiert. Das, damit Sie nicht in Versuchung kommen, sich die Brille abzuziehen. Sollten Sie es morgen dennoch versuchen, ziehen Sie für den Rest der Zeit wieder die Patientenhandschuhe über, verstanden?“ Ich nicke wieder.

„Gut. Ich sehe, wir sind uns einig. Na, dann setzen wir Ihnen mal die neue Brille auf.“ Die Ärztin streift sie mir über den Kopf und augenblicklich versinkt die Welt wieder in Unschärfe, erst allmählich nehme ich Konturen wahr. Arthur macht sich an meinem Hinterkopf zu schaffen und zieht das Band stramm.
Dann führt mich die Ärztin zu einem Spiegel. Ich erschrecke mich vor mir selber. Diese hässliche und seltsam schimmernde Brille und dann meine übergroßen Augen hinter den runden Gläsern – „Froschgesicht“, flüstere ich. Wie bitte?“ fragt die Ärztin. „Froschgesicht“, wiederhole ich. „Ich sehe aus wie ein Frosch.“ „Na, so schlimm wird`s wohl nicht sein“, lächelt Frau Dr. Hahn. „Und nun den Helm auf. Arthur wird sie dann nach draußen begleiten.“ „Ich gehe heute nicht zur Therapie. So kann ich nicht dahin.“ Ich schäme mich so für mein Aussehen. „Was haben Sie denn für Therapien heute?“ fragt die Ärztin. „Erst Gespräche und später Musik. Aber so gehe ich nicht dahin“, sage ich. „Arthur, holen Sie bitte einen Rollstuhl. Frau Ferner möchte den heutigen Vormittag angeschnallt und fixiert im Flur verbringen“, ist die prompte Antwort. „Nein, bitte nicht“, bringe ich heraus. „Was denn nun?“ fragt die Ärztin. „Ich gehe ja zur Therapie“, sage ich. Und schon stülpt mir Arthur den Lederhelm über, den ich nun auch drei Tage ununterbrochen tragen soll.

„Und noch was, Frau Ferner“, fügt Frau Dr. Hahn zum Abschied dazu. „Sollten wir uns in absehbarer Zeit aufgrund Ihres Verhaltens wieder hier treffen müssen, dann könnte ich mir vorstellen, dass Sie mal ein paar Tage auf Station D verbringen sollten. Gut möglich, dass Sie danach dankbar sind, wieder bei uns zu sein.“ Und damit bin ich entlassen.

Draußen wartet Melanie auf mich. Sie nimmt mich in den Arm und fragt, wie es mir ergangen ist. Ich erzähle ihr alles. Von Station D weiß sie nichts, aber Amelie, die dazu gekommen ist, kennt jemand, die mal drei Tage dort war. Auf der Station D sollen die austherapierten und unheilbaren Langzeitfälle untergebracht sein. Mich gruselt bei dem Gedanken…

Es lässt sich mit der Froschbrille aushalten, auch das Schlafen mit Helm klappt ganz gut. Nur heute wieder nicht meine Hände benutzen zu können, das ist schon hart. Die Mahlzeiten werden mir von Praktikantinnen angereicht; eine tolle Erfahrung, regelmäßig gefüttert zu werden.

Am Montag früh ist dann alles ausgestanden. Ich darf die Froschbrille abnehmen und bestaune die dicken runden Abdrücke rund um meine Augen. Jetzt bloß schnell meine Brille und den Helm aufsetzen und dann hoffentlich nicht mehr negativ auffallen.
25. RE: Sechs Monate

geschrieben von tatiana.m am 02.09.22 08:46

Hallo Deep Wishes,
werte Gemeinde.

Ganz vielen Dank für die weiteren Erlebnisse. Richtig gut finde ich, wie die Gründe Für "Ausraster" und die Rückschläge geschildert werden.
Katrin ist noch irgendwie nicht richtig angekommen. Kommt Zeit kommt Ruhe. Die personalisierte Schutzjacke ist da sehr hilfreich.

Ein grosser Gurthersteller (vorn mit S und hinten mit x) bietet, oder bot, diesen Service auch an.

Da schlüpft man gleich viel lieber hinein. Ist halt was eigenes.

demütige Grüsse
und vergesst das Lächeln nicht
miststück
26. RE: Sechs Monate

geschrieben von cbobby am 03.09.22 22:50

Tolle Geschichte. Wird von Teil zu Teil Besser. Ich danke dir sehr für das posten. Besonders Zwangsjacke und strenge Fixierung trifft genau meinen Nerv
27. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 04.09.22 12:32

Vielen Dank euch für das tolle Feedback. Und weiter gehts.

Das Beißen in der Nacht

Drei Wochen später. Schwester Yvonne hat sich in den Urlaub verabschiedet, sie hat ihn sich wohlverdient. Als Abschiedsgeschenk hat sie mir die Nachricht hinterlassen, dass ich ab sofort nicht mehr im Bett fixiert bin. Schwester Gerda hat nun häufiger Dienst bei uns, was ich natürlich nicht so schön finde. Sie ist häufig gereizt und kurz angebunden, ganz das Gegenteil von Yvonne. Nun, damit muss ich leben.

In einer der darauf folgenden Nächte schlafe ich sehr unruhig. Ich träume wild, wache mit einem Aufschrei auf und bin zunächst ein wenig desorientiert. „Pst“, flüstert Melanie, „ wenn die dich hören…“ Ich versuche mich zusammenzureißen, finde aber nicht mehr in den Schlaf. Tausend Gedanken gehen mir durch den Kopf und sie werden immer düsterer. Ich versuche mich abzulenken, aber das funktioniert nicht. Und dann greife ich zu einem mir alt bekannten Mittel, um mit meiner inneren Spannung umzugehen. Ich beiße mir in die Handoberfläche, ganz feste und immer wieder an die gleiche Stelle. Ich kann nicht damit aufhören, es tut gut, den Schmerz zu fühlen. Ich höre erst auf, als ich das Blut schmecke. Als es morgens dämmert, sehe ich mir meine linke Hand an. Die Haut gequetscht, die Schneidezahnabdrücke, das geronnene Blut.

Das bleibt natürlich auch Schwester Gerda nicht verborgen, als sie mich weckt. Sie lässt mich in Ruhe duschen, untersucht danach schweigend die Wunde und verbindet sie. „Sie gehen nach dem Frühstück zu Frau Dr. Hahn“, sagt sie nur. „Es ist klar, dass das Folgen haben wird.“ Dann legt sie mir achselzuckend eine ziemlich dicke Windel samt Gummihose an. Mir ist jetzt doch ziemlich beklommen zu Mute. Melanie hält sich in Schwester Gerdas Anwesenheit zurück, ich bin aber froh, dass sie in meiner Nähe ist.

Dann reicht mir die Schwester einen fliederfarbenen Overall. Als ich ihn anziehe, stelle ich fest, dass meine Hände nun in eingenähten Handschuhen stecken. Diese sind an der Handinnenfläche versteift, so dass ich meine Finger kaum bewegen kann. Ich fange fast an zu weinen, das bedeutet ja, dass ich die Kunsttherapie heute vergessen kann. „Bitte, Schwester Gerda“, fange ich an „Kann ich nicht doch…?“ „Nein“, unterbricht sie mich. „Sie haben sich selbst verletzt und nun müssen Sie die Konsequenzen tragen. Und seien Sie sicher, da kommt noch was.“ Dann setzt sie mir die dicke Brille auf, stülpt mir den Helm auf den Kopf und begleitet uns zum Frühstück. „So, Frau Hendricks, Sie dürfen sich jetzt revanchieren und ihre Freundin füttern.“

Mir ist es lieber, von Melanie das Essen angereicht zu bekommen als von irgendjemand sonst. Melanie hat es gut, sie trägt keinen Overall mehr, sondern ihre normale Kleidung. Auch hat sie schwächere Gläser bekommen, mit denen sie immerhin fünf Meter weit scharf sehen kann. Den Helm braucht sie auch nicht mehr tragen. Wir unterhalten uns leise und ich frage Melanie, was mich wohl erwarten würde. Sie vermutet, dass ich einige Tage dank des neuen Overalls meine Hände nicht gebrauchen kann. Dazu wohl wieder angegurtete Hände in der Nacht.

Beklommen werde ich von Schwester Gerda zu Frau Dr. Hahn gebracht. Dort empfangen mich zwei Pfleger, die mich zuerst auf diese Art Zahnarztstuhl setzen, mir den Helm abnehmen und dann sofort meine Beine, meine Unterarme und dann auch noch mit einem breiten Gurt meinem Hals fixieren. Nun bekomme ich es doch mit der Angst zu tun, ich habe doch niemandem außer mir selbst etwas getan. Dann kommt Frau Dr. Hahn und teilt mir mit, dass es auch in Fällen von Selbstverletzung einen ganz klaren Maßnahmenkatalog bei Verfehlungen geben würde. Drei Tage lang der neue Overall, der meine Hände unbrauchbar werden lässt, „und dann noch etwas ganz Besonderes“, wie sie hämisch hinzufügt. „Wir haben hier im Haus einen sehr schönen Helm für Sie. Den trug aber leider bis gestern eine andere Patientin. Wir werden den Helm jetzt desinfizieren und wenn er hier auf der Station eintrifft, dürfen Sie ihn tragen. Seien Sie mal gespannt. Und für die Zeit bis dahin, dieses hübsche Teil.“ Sie zeigt mir eine kleine metallene Vorrichtung mit einem Lederband. „Kennen Sie vielleicht vom Zahnarzt, damit der Mund schön offen bleibt. Den setzen wir Ihnen gleich ein, so dass Sie gar nicht erst in Versuchung kommen, zuzubeißen.“ Nein, das will ich nicht. Trotz des Lederriemens am Hals versuche ich den Kopf hin und herzuwerfen. Als einer der beiden Pfleger mir das Ding in den Mund setzen will, mache ich ihn ganz einfach fest zu. „Kommen Sie schon“, sagt die Ärztin. „es ist keine Katastrophe, den Mundspreizer zu tragen. Sieht zwar nicht hübsch aus, aber wir sind dann sicher, dass Sie sich nicht mehr beißen werden.“

Dann hält sie mir die Nase zu, ich schnappe nach Luft und diesen Moment nutzt der Pfleger, um mir das Ding einzusetzen. Dann wird durch irgendeine Vorrichtung das Teil gespreizt, mein Mund muss sich etwas öffnen, und dann verschließt der andere Pfleger blitzschnell den Riemen hinter meinem Kopf. Einer löst dann sämtliche Fixierungen, der andere setzt mir wieder den geliebten Helm auf. „So, Sie sind jetzt fertig“, sagt die Ärztin. „ Die erste Therapie fällt heute aus. Sie können ja doch nicht sprechen.“ Natürlich nicht, ich versuche es, stoße aber nur noch Laute aus. Dann bindet mir der Pfleger noch ein großes Lätzchen aus blauer Folie mit einer Art Auffangtasche um und hilft mir aus dem Stuhl. „Ist wegen dem Speichel“, erklärt er. Ich sehe mich vor dem Spiegel und breche fast zusammen. Ich sehe so was von debil aus. Der offene Mund, der silberne Spreizer, das Lätzchen, die übergroßen Augen hinter dicken Gläsern, der braune Lederhelm, der fliederfarbene Overall mit den dicken Handschuhen – ich möchte nur noch raus hier. „Setzen Sie die Patientin mal draußen auf die Terrasse“, sagt Frau Dr. Hahn. „Das Wetter ist noch so schön mild.“
Ich könnte heulen; diese Demütigung für solch eine Kleinigkeit. Die sind hier unerbittlich.

Auf der Terrasse lässt es sich einigermaßen aushalten. Aber, weil ich wegen dem Spreizer nicht schlucken kann, läuft mir der Speichel aus dem Mund, übers Kinn und dann übers Lätzchen. Wie muss ich für die anderen hier aussehen? Da fühle ich, wie mich jemand umarmt. Es ist Melanie. „Oh, was haben sie mit dir gemacht?“ stöhnt sie. „Anne sagte, sie hätte dich nach draußen gehen sehen. Sie war so nett mich zu begleiten, sonst hätte ich dich nicht gefunden.“ Ich möchte etwas sagen, stoße aber nur dumpfe Laute aus. Dann lasse ich meinen Tränen freien Lauf und fange an, mir mit den Händen an den Kopf zu schlagen. „Hör auf damit“, fährt mich Melanie an. „Sonst stecken sie dich in die Zwangsjacke. Die Hahn hat Dienst, die macht das.“ Und hält mir dann die Hände fest. Als ich mich etwas beruhigt habe, wischt sie mir, so gut es geht, die Tränen ab. „Komm, meine Liebe“, tröstet sie mich. „Du schaffst das, die lassen dir den Spreizer nicht den ganzen Tag drin.“ Nein, nur vorübergehend, möchte ich sagen, stoße aber wieder nur Laute und Speichel aus. Dann muss ich wieder weinen, so fertig bin ich. „Ich muss jetzt zur Therapie“, sagt Melanie. „Spätestens bis heute Mittag auf dem Zimmer, Katrin. Bleib stark.“ Und dann geht sie vorsichtig wieder ins Haus.

Irgendwann kommt Schwester Gerda vorbei, um nach mir zu sehen. So langsam müsste ich mal auf die Toilette und versuche ihr das irgendwie begreiflich zu machen. Sie teilt mir jedoch nur lakonisch mit, ich würde ihr schon genug Zeit kosten, eigentlich hätte sie jetzt Feierabend und nun muss sie noch einen Bericht über mich schreiben. Schwesterschülerin Viola würde gleich nach mir sehen.

Fünf Minuten später stellt sich eine etwa 17-jährige als Viola vor, die auf mich etwas aufpassen würde. Der Druck auf der Blase lässt mich immer unruhiger werden. Ich stoße Laute auf und zeige mit den Händen auf meinen Unterleib. Doch Viola will oder kann mich nicht verstehen. Ich werde richtig sauer auf sie. Bloß nicht noch einnässen, denke ich, bitte nicht das noch. Ich halte es noch etwas aus, aber dann geht es nicht mehr. Ich lass es einfach laufen. Ich kann nicht mehr. Es erschafft mir ungeheure Erleichterung, aber gleichzeitig ist die Feuchte zwischen meinen Beinen sehr unangenehm. Wenn ich ein paar Schritte gehen will, fühle ich meinen schweren nassen Windelpo. Ich könnte heulen. Ich möchte nur noch unter die Dusche, raus aus den Klamotten, weg mit Helm, Brille und Spreizer. Jetzt verliere ich völlig die Selbstkontrolle und schreie los, so gut ich das mit offenem Mund kann.

Plötzlich werde ich von zwei starken Armen von hinten gefasst, jemand anders packt meine Beine und ich werde in einen Rollstuhl bugsiert. Ich will um mich schlagen, so erschrocken bin ich, ich bäume mich auf, aber einer der Pfleger fixiert meine Arme, der andere die Beine und dann den Bauch. Ich schreie und stöhne vor mich hin, als die beiden mich durch die Station schieben. Dann geht eine Tür auf, die beiden lösen die Gurte und stellen mich auf den weichen Boden. Ich bin in der Gummizelle, die ich ja schon am zweiten Tag mal kurz kennengelernt hatte.
„Wenn Sie sich wieder beruhigt haben“, sagt einer der beiden, „dann können Sie wieder raus. Wenn nicht, dann eben nicht.“ Er schließt die Tür ab und ich bin allein in der Zelle.


Der neue Helm

Ich muss mich jetzt irgendwie abreagieren, laufe hin und her, pralle von einer Wand gegen die andere. Sollen sie´s doch sehen, denke ich. Ich schreie und tobe, möchte meine Wut herauslassen. Irgendwann bin ich so fertig, dass ich nur noch wimmernd in der Ecke sitze.

Nach einer gefühlten Ewigkeit geht die Tür auf, die zwei Pfleger stehen da. „Versprechen Sie uns, jetzt lieb zu sein?“ fragt einer der beiden. Ich nicke lebhaft. „Dann kann Viola Sie ja saubermachen.“ Die beiden bringen mich in einen Waschraum und Viola übernimmt mich. Sie öffnet den Spreizer und legt ihn weg, zieht mich aus und lässt mich kurz duschen. Dann legt sie mir eine neue Windel an, zieht mir einen sauberen Overall an und setzt mir die Brille auf. Meine Hände stecken wieder in den Versteifungen. Die beiden Pfleger halten sich im Hintergrund.

„Hallo, Frau Ferner, ich muss heute leider länger hier bleiben, da kümmere ich mich doch gerne um Sie“, höre ich eine bekannte Stimme, „Ihr neuer Helm ist inzwischen eingetroffen. Ein hübsches Teil, er wird Ihnen gefallen.“ Schwester Gerda steht vor mir und hält etwas Dunkelblaues in der Hand. „Dann mal anziehen“, sagt sie, stellt sich hinter mich und stülpt mir den Helm über. Ich schaue plötzlich durch ein Gitter. Tatsächlich, vorne an dem Helm ist ein Gitter angebracht. „Für Menschen, die gerne mal kraftvoll zubeißen“, flötet die Schwester, als sie die Gurte des Helmes am Hinterkopf verschließt. „Steht Ihnen nicht schlecht. Schauen Sie mal in den Spiegel.“ Die Pfleger helfen mir auf und ich sehe mich in meiner ganzen Schönheit. Mein Kopf dick eingepackt in einen dunkelblauen Helm, das Gitter als Beißschutz und dahinter die dicken Brillengläser. „Schwester Gerda“, stammele ich, „bitte nicht, nicht diesen Helm.“ Ich fasse mir ans Gitter, ich kann es nicht fassen. „Doch, doch“, lächelt die Schwester, „ das ist für die nächste Zeit Ihrer. Unverwechselbar, Frau Ferner, unverwechselbar.“ Der Helm fühlt sich weicher an; statt Leder ist es geschmeidiger, dicker Kunststoff, der sich eng um meinen Kopf schmiegt. Mal gar nicht so unangenehm. Allerdings umschließt das Kunststoff viel mehr meine Wangen als bei meinem alten Helm. Ich kann also nur nach vorne gucken, aber sehen kann ich sowieso nicht viel. „Nun sind Sie sicher eingepackt“, lässt sich Schwester Gerda noch mal vernehmen, „ beißen geht nun nicht mehr. Und sollten Sie wieder mit anfangen, mit dem Kopf zu schlagen – Sie sind jetzt so gut abgepolstert, der perfekte Schutz.“

Die beiden Pfleger fassen mich an den Oberarmen und bringen mich in den Aufenthaltsraum. Es ist gerade Therapiepause, viele Frauen sind da. Natürlich falle ich auf, so wie ich jetzt ausstaffiert bin. Fragen prasseln auf mich ein, doch ich mag keine richtig beantworten. Bin erst einmal völlig bedient. Melanie fragt mich, wie lange ich diesen Helm tragen muss. Ich weiß es nicht, auf unbestimmte Zeit irgendwie; am liebsten wäre ich jetzt allein. „Immerhin kannst du wieder sprechen“, sagt Melanie, „wir haben sowieso gleich zusammen Therapie.“

Und dann sitze ich dann mit anderen zusammen in der Musikstunde. Immerhin kann ich mit meinen eingepackten Händen dumpf trommeln und so mitmachen. Aber ich weiß, wie unmöglich ich aussehe, der Helm, das Gitter, die versteiften Hände. Ich schäme mich, wage kaum aufzublicken und bin froh, als die Stunde vorbei ist.

Viola steht dann in der Tür. „Ich soll Sie heute füttern, Frau Ferner.“ Und ich stehe auf und trotte hinter ihr her, jedoch nicht in den Speiseraum, sondern in einen kleinen Raum daneben.
Dort stehen ein Tisch und ein Stuhl. Auf den muss ich mich setzen und sofort werden meine Füße und mein Oberkörper fixiert. Dann kommt Viola mit einem Teller mit Kartoffelpüree und Spinat. Sie legt mir ein Plastiklätzchen an und nimmt mir vorsichtig den Helm ab. „Ich soll Sie darauf aufmerksam machen, dass es ernste Konsequenzen hat, wenn Sie mir etwas antun“, sagt die Schülerin und beginnt mit dem Füttern. Ich habe überhaupt keinen Appetit nach diesem Vormittag, aber sie lässt sich davon nicht abhalten. Viola schaufelt die Pampe in mich rein. Ich denke, was macht die da mit mir? Ich will jetzt nicht essen, schüttele mehrmals den Kopf und sage ihr, dass sie aufhören soll. Aber Viola macht einfach weiter. Dann reißt mir der Geduldsfaden. Ich schlage ihr den Teller aus der Hand, so dass das Essen in ihren Schoß fliegt. Gleichzeitig bekomme ich einen solchen Hustenreiz, dass ich der armen Viola die Spinatpampe ins Gesicht spucke. Viola schreit, ich schreie.

„Das reicht jetzt“, sagt eine scharfe Stimme. Frau Dr. Hahn steht plötzlich da. „Ich wollte sowieso mal nach Ihnen sehen“, meint sie. „Sie scheinen es ja heute auf eine Eskalation angelegt zu haben. Die können Sie gerne bekommen. Und wer so Sauereien mit dem Essen veranstaltet, kann mal drei Tage auf einer Station verbringen, wo so etwas häufiger vorkommt. Mal sehen, wie Sie das finden. Vielleicht sind Sie dann ja ganz dankbar, wieder zu uns zurück zu dürfen. Station D“, sagt sie zu den Pflegern. „Habe vorhin schon prophylaktisch mit Frau Dr. Hartmann gesprochen. Die haben noch ein hübsches Bett frei.“
Von der Station D habe ich vorher nur über Amelie etwas erfahren, und zwar nichts Gutes. „Wir bringen Sie dann mal rüber“, sagt einer der Pfleger, “ist besser, Sie wehren sich jetzt nicht.“ Das denke ich auch und lasse lieber alles mit mir geschehen. Zuerst machen die beiden mich einigermaßen sauber, dann setzen sie mir den blauen Helm auf und schnallen mich los. Ich muss mich dann in den bereit stehenden Rollstuhl setzen, wo meine Arme, Füße und Oberkörper gleich wieder fixiert werden. „So, es geht jetzt los“, sagt einer der beiden Männer.
28. RE: Sechs Monate

geschrieben von pauli2004 am 05.09.22 19:41

Oh, oh, oh, das wird bestimmt ganz schlimm für sie, hoffentlich bleibt es bei den 3 Tagen.
Bin total gespannt

Gruß
29. RE: Sechs Monate

geschrieben von DieFledermaus am 07.09.22 07:09

Ohje die arme.

Aber langsam sollte sie wissen wie der Hase läuft. Ich denke mal das mit den 6 Monaten kann sie sich erstmal abschminken.
30. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 07.09.22 20:41

Station D

Dann fahren sie mich durch Flure, in einen Fahrstuhl, dann herunter in eine andere Etage, wieder durch einen Flur. Das geht so schnell, ich nehme alles nur schemenhaft wahr. Eine Doppeltür wird geöffnet und mich empfängt eine Geruchsmischung von warmer Luft, Essen, Schweiß und menschlichen Ausscheidungen. Der Geruch kommt mir sehr bekannt vor; während meiner Arbeit im Altenheim war ich mal auf der Station der bettlägerigen Fälle, da roch es genauso.

„Guten Tag, ich bin Schwester Margot“, sagt eine raue Stimme, „Herzlich willkommen auf Station D. Habe gehört, Sie wollen uns für drei Tage besuchen. Das passt gut, in Zimmer 2 ist noch ein Bett frei.“ Sie öffnet die zweite Tür rechts und die beiden Pfleger rollen mich in ein Zimmer. „Wir nehmen Ihnen mal eben Ihre Brille ab, damit Sie alles gut sehen können.“ Die Schwester löst die Gurte des Helmes, hebt ihn ein wenig an, zieht die Brille ab und schließt den Helm wieder.

Es verschlägt mir den Atem. Nicht nur wegen des alles überlagernden Geruchs, sondern auch wegen dem, was ich durch die Gitter meines Helmes erkennen kann. Das ist hier jetzt wirklich Psychiatrie old school. Ich sehe in einem hellen Zimmer vier Netzbetten stehen. Zwei sind belegt, zwei sind frei. „Also“, sagt die Schwester. „Das ist hier die Station für die wirklich schweren und austherapierten Fälle. Ich denke, Sie werden sich hier problemlos eingliedern, sonst wird Ihr Aufenthalt bei uns leider verlängert. Machen Sie das Beste draus und benehmen Sie sich.“

Ich kann jetzt wieder schärfer sehen, meine Augen gewöhnen sich an die Sicht ohne Brille. In einem Netzbett sitzt eine Frau in einer Zwangsjacke im Schneidersitz. Sie schaukelt ihren Oberkörper rhythmisch von vorne nach hinten und lallt dabei unverständliches Zeug. Im anderen Bett kniet eine Frau in einem Nachtoverall. Sie hat dick gepolsterte Fäustlinge an den Händen und schlägt sich damit regelmäßig gegen den Helm, den sie auf dem Kopf trägt. Ich habe einen dicken Kloß im Hals und bringe kaum ein Wort raus. „Was ist…?“ will ich fragen. „Nun“, sagt die Schwester, “beide sind schon seit über zehn Jahren hier. Bei Frau Meyer ist es Alkoholismus im Endstadium.“ Dabei zeigt sie auf die Frau in der Zwangsjacke. „Bei Frau Allenstein ist es eine schwerste Form der Demenz. So nun aber ab ins Bett mit Ihnen.“

Ich bin absolut geschockt und lasse alles mit mir geschehen. Zuerst werde ich losgeschnallt, klettere dann auf ein Bett, wo sofort meine Beine und Füße fixiert werden. Wenigstens kann ich so noch sitzen. Dann wird das Außennetz wieder sorgfältig geschlossen, zunächst an der Seite und dann oben. Ich im Käfig.

Ich weiß nicht mehr, wie mir geschieht. Bin ich so gemeingefährlich, dass ich die Tage fixiert in einem Netzbett verbringen muss? Auch wenn es, wie es heißt, nur vorübergehend ist?

Plötzlich kommt eine andere Pflegerin herein, sie führt eine kleine, ältere Frau an mein Bett. „Guck mal, Elfriede“, sagt sie, „unser Neuzugang. Begrüß sie mal.“ Elfriede hat ein Frotteehandtuch im Arm, in das sie sich ein wenig einkuschelt. Dann steht sie vor den Netzen meines Bettes, starrt mich an und gibt krächzende Laute von sich. „Ich glaube, Elfriede freut sich über den Besuch. Nicht wahr, Elfriede“, sagt Schwester Margot. „Übrigens, mittlerweile ist das hier für Sie eingetroffen“, fügt sie hinzu und zeigt mir mein Knebelgeschirr und die Zwangsjacke. „Ist wohl nicht so ganz einfach mit Ihnen“, sagt sie, „aber sonst wären Sie jetzt ja auch nicht hier, Frau Ferner.“

Das Außennetz wird noch mal geöffnet und ich lasse mir bereitwillig das Knebelgeschirr anlegen. Natürlich auch wieder die Brille auf. Den Helm brauche ich ja jetzt nicht, kann mit dem Knebelgeschirr sowieso niemandem was antun. „So und nun jetzt brav die Arme nach vorne“, kommt das Kommando. Ich gehorche, mir wird die Jacke angezogen und dann die Gurte auf dem Rücken eng verschlossen. Nachdem das Netz wieder sorgfältig zugemacht worden ist, verabschieden sich die Schwestern bis zum Abendessen.

Von draußen scheint etwas die Sonne herein, das kann ich erkennen, und ich sitze hier in einem viel zu warmen und stinkenden Zimmer. Elfriede findet mich wohl sehr interessant. Sie steht vor meinem Bett und gibt ihre krächzenden Laute von sich. Als ich mich erschöpft hinlegen möchte, steht sie plötzlich am Kopfende des Bettes und lässt mir keine Ruhe.

Irgendwann wird sie dann doch herausgerufen, sie möge doch noch etwas die Sonne genießen, und ich liege still in meinem Netzbett. Ich höre das Klatschen der Fäustlinge der einen Frau gegen ihren Helm und das monotone Singsang der anderen Frau in der Zwangsjacke. Tiefer kann man nicht sinken, denke ich, aber irgendwie werden die drei Tage auch vergehen. Hätte jetzt gerne Melanie in meiner Nähe. Ob sie wohl erfährt, was mit mir passiert ist?

Irgendwann ist es Zeit zum Abendessen. Ich werde darüber aufgeklärt, dass hier alle das gleiche Essen bekommen und dass aufgrund von Personalknappheit das Anreichen des Essens sich ein wenig zweckmäßig gestalten müsse. Wie das dann aussieht, erfahre ich, als ich wenig später im Essraum der Station neben der Frau in der Zwangsjacke auf einem Stuhl sitze – wir beide natürlich schön sorgfältig fixiert und ich weiterhin in der Zwangsjacke – und auf einem schmalen Tisch zwei Teller mit irgendeiner Pampe und Plastiklöffeln stehen. Eine Schwester sitzt uns gegenüber und schiebt uns abwechselnd einen Löffel Brei in den Mund. Ich bin mittlerweile dermaßen zermürbt, dass ich alles so hinnehme, die Pampe herunterschlucke, dann warmen Früchtetee aus dem Schnabelbecher bekomme und mir am Ende der Mund abgewischt wird. Füttern im Akkord.

Dann werde ich einen Wickelraum gebracht, jemand zieht mich aus und dann fixieren mich vier starke Arme an Händen, Oberkörper und Kopf auf dem Wickeltisch. Ohne viele Worte bekomme ich meine noch trockene Windel ausgezogen und eine neue dickere für die Nacht wird angelegt. Dann werde ich schnell wieder angezogen, ich bekomme einen Hüftgurt um, an den meine Handgelenke fixiert werden, und ich werde zurück auf mein Zimmer gebracht. Man hilft mir auf mein Bett und nimmt mir die Brille ab. Ich bekomme zuerst mein Knebelgeschirr aufgesetzt und werde dann sorgfältig an allen möglichen Stellen festgeschnallt. Wenigstens der Kopf wird ausgelassen, den darf ich immerhin bewegen. Zum Schluss wird das Netzgitter sorgfältig geschlossen und ich bekomme mit, wie die anderen Frauen ins Bett gebracht werden. Frau Meyer bekommt die Zwangsjacke ausgezogen und alle drei Frauen werden genauso wie ich fixiert. Ich bin jedoch die einzige, die einen Knebel tragen muss.


Die Schülerinnen

Irgendwie geht auch diese Nacht in diesem warmen Zimmer voller Mief um. Am Morgen riecht es bestialisch nach Kot; ich weiß nicht, wer der anderen drei das vollbracht hat. Nacheinander geht es unter die Dusche. Ich darf sogar ganz alleine duschen; allerdings mit einer kleinen Sicherheitsvorkehrung: meine Hände sind durch einen Kunststoffgurt verbunden, der wiederum an der Duschstange festgemacht ist. Toll, die denken hier an alles.

Nach der Dusche gibt es von Schwester Margot eine frische Windel. Dann zieht sie mir den Overall an und die Brille wird mir aufgesetzt. Damit ich auf keine bösen Gedanken komme, stehen zwei Pfleger wartend in der Tür jederzeit bereit, einzugreifen. Dass sie mich begaffen, ist mir mittlerweile so was von egal.

Nach der gleichen Essensprozedur und einem ähnlichen Fraß wie gestern Abend, spricht mich Schwester Margot an. „Das Wetter ist schlecht“, sagt sie, „und weil der Aufenthaltsraum gerade neu gestrichen wird, müssen sie den heutigen Vormittag auf dem Zimmer verbringen. Ich sage es Ihnen jetzt schon, um nichts zu provozieren: heute sieht sich eine Gruppe Pflegeschülerinnen die Station an. Bitte stellen Sie sich darauf ein!“

Dann bringt sie mich in das Zimmer zurück, die beiden Pfleger verfrachten mich ins Bett, wo ich wieder an Beinen und Füßen fixiert werde und man mir den blauen Helm mit dem Gitter aufsetzt. Mein neuer Overall hat keine eingenähten steifen Handschuhe mehr – das ist auch eine Wohltat – und ich schaue mir meine doch ziemlich verbissene und lädierte linke Hand an. Schwester Margot cremt eine kühlende wohltuende Salbe auf die Wunde. Dann zieht sie mir die Fäustlinge über die Hände und befestigt sie sorgfältig an meinen Unterarmen. Das Netzbett wird geschlossen, ich sitze in meinem Käfig und die Welt ist nun wieder sicher vor mir.

Nach gefühlten zwei Stunden des Herumdösens und der Tagträume höre ich wie eine Gruppe von Menschen in das Zimmer kommt. Jemand, die, wie ich vermute, die Ärztin der Station, Frau Dr. Hartmann, sein muss, verkündet den staunenden Anwesenden mit etwas schriller Stimme, dass, wie sie ja nun gehört haben, die Station D von besonders schweren Fällen bewohnt wird. Um diesen gerecht zu werden, müssten besondere Maßnahmen getroffen werden; die jungen Damen sollten nun nicht erschrecken, sondern das, was sie sehen, erst einmal in sich aufnehmen, sie würde dann gleich weiter erklären. Gefühlte fünfzehn Besucher befinden sich nun im Zimmer, ich sehe Schemen auf und ab gehen, jemand nähert sich auch meinem Bett, um gleich wieder weiter zu gehen. „Sie müssen keine Angst haben“, sagt die Ärztin. „Auch wenn sich in diesem Zimmer hier die Fälle von Selbst- und Fremdgefährdung ballen, ist doch alles gut gesichert. Wir haben hier und in den anderen Zimmern diese psychiatrische Intensivbetten. Die Patientinnen sind teilweise darin fixiert und die Netze der Betten sind ausbruchsicher.“ Dann wird die Gruppe von Bett zu Bett geführt, es werden Fragen gestellt, es wird erklärt und irgendwann nähert sich die Gruppe meinem Bett. Ein Pfleger löst die Bremse und rollt mich samt meinem Bett etwas mehr in die Mitte des Raumes. Dann stellt sich die Gruppe um mich herum und ich fühle mich damit endgültig wie ein seltsames Tier im Zoo.

Es werden Fragen nach meinem Zustand gestellt, warum ich fixiert bin, was es mit diesem Helm mit dem Gitter auf sich hat. Der Ärztin scheint es eine besondere Freude zu sein, mich als einen besonderen Fall darzustellen, der beißt, aus heiterem Himmel um sich schlägt, mit Essen wirft und anderen ins Gesicht spuckt. „So, meine Herrschaften“, doziert die Ärztin, „wir zeigen Ihnen jetzt noch weitere effektive Maßnahmen zur Vermeidung von Fremd- und Selbstgefährdung. Die Frau Ferner möchte ja bald wieder auf ihre Station zurück, deshalb denke, sie wird jetzt schön kooperieren.“ „Nicht wahr“, wendet sie sich an mich. Ich bin etwas verdattert, kapiere nicht ganz, was die Ärztin möchte. „Wir wollen den Damen doch mal zeigen, was wir tun, damit die Patienten sich nicht selbst verletzen, verstehen Sie?“ Ich nicke und stoße ein Ja aus. Ein Pfleger öffnet mein Netzbett, der andere löst die Gurte und sagt, ich könne jetzt aufstehen. „Zuerst wird Frau Ferner nun eine Schutzjacke anziehen“, kündigt die Ärztin an. Ein Pfleger nimmt mir die Fäustlinge ab und schon hält mir der andere Pfleger die offene Jacke hin, so dass ich nur noch hereinschlüpfen muss. Ich darf jetzt also als Model herhalten. Ich höre ein Tuscheln und Kichern von Seiten der Mädchen, während die Ärztin unverdrossen die Vorteile der Zwangsjacke aufzählt. Die Jacke wird schön stramm gemacht, und auch der Schrittgurt wird nicht vergessen. „Dann setzen Sie sich jetzt mal bequem hin“, weist Frau Dr. Hartmann mich an und ich muss mich in den bereit gestellten tiefen Rollstuhl setzen. Dort werde ich nach allen Regeln der Kunst fixiert, natürlich auch wieder mit der Fixierweste.

„Und nun, meine Damen“, kündigt Frau Dr. Hartmann eine neue Attraktion an, „zur Vermeidung von Schreiattacken dieses Kopfgeschirr.“ Und dabei zeigt sie den Mädchen mein Knebelgeschirr. Die Ärztin nimmt mir den Helm ab und setzt mir das Knebelgeschirr auf. Die Nasenriemen zieht sie dabei so fest über den Mittelsteg der Brille, dass sie total stramm sitzt. Aber außer grunzend zu protestieren habe ich keine Möglichkeit mich zu wehren. Die Ärztin erschrickt etwas, fängt sich dann aber wieder. Ich bekomme meinen Monsterhelm wieder aufgesetzt und bin als lebendes Anschauungsstück bestens ausstaffiert. „So“, schnarrt Frau Dr. Hartmann, „doppelt gesichert hält besser.“ Obwohl ich angezogen bin, fühle ich mich wie nackt. Nun sitze ich da festgeschnallt im Rollstuhl, sehe mit Glotzbrille, Maulkorb und Helm so richtig abstoßend aus, erkenne selbst kaum etwas und um mich herum stehen Frauen, kaum jünger als ich, und gruseln sich einen. Ich unterdrücke mühsam den Impuls, jetzt die Verrückte zu spielen, meinen Kopf hin und her zu schlagen, an meinen Fixierungen zu zerren und unartikulierte Laute in meinen Knebel zu grunzen. Ich versuche mich zu entspannen und schließe zornbebend die Augen. Leise entfernen sich die Stimmen und ich bleibe abgestellt hier sitzen.

Ich frage mich, ob diese Demütigungen System haben und denke an die Worte von Frau Dr. Schardtwald vom zweiten Tag, an das ausgeklügelte Belohnungs- und Bestrafungssystem. Da ja, wie ich bisher zum Glück auch erfahren habe, Wohlverhalten belohnt wird, beschließe ich, mich weiterhin zu ducken, alle Aggressionen so gut es geht unter Kontrolle zu halten und zu hoffen, dass ich übermorgen auf mein altes Zimmer zu Melanie zurückdarf.

Ich werde dann in meinem Nachdenken von Schwester Margot unterbrochen. „Wir brauchen dringend den blauen Helm“, sagt sie und fummelt mir ihn vom Kopf, „Notfall nebenan. Eigentlich bräuchten wir drei, vier von der Sorte.“ Auch gut, brauche ich nicht mehr durch Gitter zu sehen.
31. RE: Sechs Monate

geschrieben von Amgine am 08.09.22 14:03

Klasse Geschichte - bin gespannt, wie es mit Frau Ferner weitergeht..!
32. RE: Sechs Monate

geschrieben von Doran am 08.09.22 21:47

Patienten sollten doch nur mit einem Vornamen angesprochen werden wäre mein Vorschlag. Vielleicht sogar ein demütigender Spitzname.
33. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 09.09.22 17:19

Der Spaziergang

Den Nachmittag verbringen wir bei nun trockenem Wetter in einer Art Innenhof. Hohe weißgeputzte Mauern verhindern, dass von draußen jemand hereinsehen kann; Fallschutzmatten auf dem Boden sorgen dafür, dass wir uns sicher fühlen dürfen. Die Nachmittagsstunden ziehen sich endlos. Wenn man sich für einigermaßen gesund hält, ist es tödlich, einfach nichts tun zu können. Ich, wieder frei gelassen, gehe langsam ziellos über das Viereck, die Hände in den Fäustlingen, und bemühe mich mit niemandem zusammenzustoßen. Man hat mir meinen braunen Lederhelm aus der Station W2 gebracht. Es fehlt mir an nichts. Nun bin ich endlich wieder anstaltsmäßig ausstaffiert. Um mich herum wird kaum gesprochen, ich höre nur unartikulierte Laute, wie ich sie selber ja auch nur hervorbringe.

Dann gibt es doch noch etwas Abwechslung. Schwester Margot kommt mit einigen Schülerinnen in unseren Hof und teilt uns mit, dass diese gerne mit uns spazieren gehen möchten. Scheint wohl ein Teil ihrer praktischen Ausbildung zu sein.
Auch mir werden zwei Mädchen zugeteilt. Schwester Margot vergisst jedoch nicht, mich zu warnen. „Vorhin haben Sie ja schon Ihre Schutzjacke angehabt. Sie zählen ja zu den Auserwählten, die ihre eigene haben“, sagt sie grinsend. „Nun, ich hoffe auf Ihre Kooperation, Frau Ferner. Sollte irgendetwas vorfallen, dann haben Sie die wieder schneller an, als Sie denken können. Und die werden Sie dann etwas länger tragen.“ Nein, danke, auf die Zwangsjacke kann ich gerne verzichten, also spiele ich mit. „Dennoch werden wir Ihnen aus Sicherheitsgründen eine Transportjacke anziehen, um wirklich jedes Risiko auszuschließen.“
Schwester Margot hat mittlerweile aus einem Schrank eine Art Umhang geholt. Dieser besteht aus einem festen Stoff und wird mir um meinen Oberkörper gelegt. Ein Reißverschluss und mehrere Gurte auf meinem Rücken sorgen dafür, dass mich der Stoff eng und fest umhüllt. Dann werden der Kragen und ein Taillengurt fest geschlossen und zusätzlich ein Schrittgurt von vorne nach hinten durchgezogen und befestigt, damit ich die Jacke auch ja anbehalte. An den Oberarmen befinden sich zwei Schlaufen.

„So, meine Damen“, sagt die Schwester, „ich gebe Frau Ferner jetzt in Ihre Verantwortung. Passen Sie gut auf sie auf! Beim Gehen halten Sie Frau Ferner bitte an den Schlaufen fest, dann haben Sie alles gut im Griff. Und damit Sie sich etwas mit der Patientin unterhalten können, nehme ich Frau Ferner ihr Kopfgeschirr ab.“ Schnell löst die Schwester meinen Helm, fummelt das Knebelgeschirr ab und setzt mir den Helm wieder auf. Ich bin so froh, das Teil nicht mehr tragen zu müssen.
Dann nehmen mich die Schülerinnen in ihre Mitte und führen mich durch ein paar Gänge nach draußen. Ich scheine für die beiden Mädchen eher ein Mittel zum Zweck zu sein, um Erfahrungen zu sammeln. Ich als Person bin für sie vollkommen uninteressant. Sie sind bald in ein fachlich anspruchsvolles Gespräch über Wimperntusche, Tik-Tok-Filmchen und die Vorteile irgendwelcher Smartphones verwickelt. Ich schleiche mit ihnen mit, sage keinen Ton und irgendwo setzen wir uns auf eine Bank.

„Ist dir aufgefallen, was die für eine dicke Brille auf hat?“ fragt die eine. Ihre Freundin antwortet: „Hatten auf der anderen Station auch einige, habe ich gesehen. Boah, so eine könnte ich ja nie tragen.“
Ich bin einigermaßen fassungslos, meint ihr, ich trage sie freiwillig? Ich werde langsam sauer, aber mir ist es zu blöd, den beiden die hiesigen Maßnahmen zu erklären.
„Kann ich die mal aufsetzen?“ fragt die eine und schon zieht sie mir die Brille herunter. „Pass auf, dass sie dich nicht beißt“, kichert die andere. Dann giggert die, die meine Brille aufgesetzt hat: „Uh, ich bin blind. Ich sehe ja echt total gar nichts“ und fängt an, doof in der Gegend herumzutasten. „Lass mich auch mal“, bettelt die andere und nimmt ihr die Brille ab. „Oh Mann, was muss die für schlechte Augen haben“, stöhnt sie. „Na, wie sehe ich aus damit?“ fragt sie ihre Freundin. „Wunderschön debil“, ist die Antwort, „fehlt nur noch der Helm.“ Das ist so witzig, beide lachen sich halbtot. Merken die eigentlich nicht, wie doof sie sind? Doch als die, die gerade meine Brille aufgesetzt hat, an mir vorbeigehen will, strecke ich blitzschnell einen Fuß aus, so dass sie stolpert und hinfällt. Ein bisschen Freude muss man auch mir gönnen. Ich hoffe nur, es hat niemand gesehen.
„Scheiße, scheiße“, ruft die Schülerin. „Setz ihr mal schnell die Brille wieder auf, ich muss mich sauber machen.“ Die andere Schülerin setzt mir die Brille auf und schiebt ihn unter den Helm, da gönne ich mir den Spaß, genau in diesem Moment mit meinem Mund nach ihren Fingern zu schnappen. Ich höre einen schrillen Schrei und dann versinke ich wieder in meiner Ein-Meter-Welt. Dann lasse mich von den beiden Spitzenschülerinnen in die Station zurückführen.


Die Demütigung

Die zwei wollen mich bei einem Pfleger abliefern. „Ich habe gerade echt wenig Zeit. Setzt die Frau Ferner am besten dort in den Rollstuhl. Ihr trefft euch dann mit den anderen bei uns im Stationszimmer“, sagt der. Und ohne mir die Jacke auszuziehen, setzen mich die beiden in einen tiefen Rollstuhl und entfernen sich. Ich bekomme gerade noch mit, wie der Pfleger den Gurt um meine Taille schließt. Nun sitze ich hier festgeschnallt auf dem Flur und harre der Dinge, die da kommen sollen.

Die lassen nicht lange auf sich warten. Der fremde Pfleger tut entrüstet: „Frau Ferner, Sie machen aber auch einen Mist. Die beiden Mädchen haben mir erzählt, Sie haben versucht, sie zu beißen. Wie haben Sie das denn geschafft?“ Oh Scheiße, denke ich und antworte: „Ach, es war nur Spaß, weil sie mir vorm Gesicht herumgefummelt und dann die Brille abgenommen haben.“ „An Ihrer Stelle sollten Sie damit keinen Spaß machen. Das findet auch Frau Dr. Hartmann.“ Und der Mann hält einen roten Ballknebel vor mein Gesicht. „Nein, bitte nicht, bitte nicht“, bettele ich, „es war doch wirklich nur Spaß. Die haben mich so genervt.“ „Das ist Ihr Pech. Freiwillig den Mund auf oder soll ich noch einen Kollegen holen?“, ist die Antwort. Ich gebe auf, öffne meinen Mund und schon umschließen meine Zähne den harten Ball.

Nun sitze ich hier in diesem Rollstuhl, allmählich schmerzen meine Arme, da die Jacke jetzt im Sitzen ganz schön drückt, mein Gesicht ist ganz verspannt und ich muss nötig auf die Toilette. Bitte nicht noch mal einnässen, denke ich. Ich versuche auf andere Gedanken zu kommen, was gar nicht so einfach ist. Ich fühle mich abgestellt wie ein Möbelstück. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, wie es weitergeht, wann ich nun wirklich wieder von hier weg kann. Mir dämmert, dass ich nun wirklich ruhig gestellt bin; ich trage, seitdem ich hier auf Station D bin, fast dauernd einen Knebel, ich kann mich nicht verständigen, mit niemanden richtig kommunizieren. Ich kann wegen den dicken Brillengläsern alles, was weiter weg ist, nur schemenhaft erkennen, kann mich nur auf mein Gehör verlassen, merke aber, dass es nun langsam dunkel wird.

Da meine ich Schritte zu hören, ich brülle, so laut ich kann, in meinen Knebel – heraus kommt nur ein Blöken. Dann kommt es über mich, ich wippe mit dem Oberkörper hin und her, bäume mich vor und zurück, schlage mit den Füßen, rufe – möge irgendetwas passieren, ich möchte aus diesem Rollstuhl heraus, möchte auf die Toilette. Meine Bewegungen bewirken, dass der ganze Rollstuhl wackelt, ich höre Schritte angelaufen kommen. Und dann werde ich angeraunzt, was mir denn einfiele, so einen Radau zu machen. Schwester Margot fixiert meine Waden am Fußgestell, während der fremde Pfleger mit starken Händen meinen Oberkörper festhält. Dann befestigt sie irgendwie meinen Helm an der Kopfstütze und zu zweit legen sie mir einen breiten Brustgurt um. Ich bin nun absolut bewegungsunfähig und kann nur noch lallen. „Hören Sie auf damit, sofort“, sagt die Schwester, „still jetzt, verstanden? Das müssen wir natürlich dokumentieren und die Ärztin entscheidet dann, ob Sie bald wirklich wieder auf die W2 dürfen. Besser für Sie, Sie sind jetzt ruhig.“

Und dann entfernen sich die beiden. Ich kann nicht mehr, bin total fertig und lasse es laufen. Ich spüre die warme Nässe zwischen den Beinen und fange an leise zu weinen.
Irgendwann werde ich endlich aus dem Rollstuhl und der Transportjacke befreit. Ich strecke und recke mich ausgiebig und bin froh über das bisschen Freiheit. Später dann irgendein Essen, anschließend endlich der Windelwechsel und ab ins Bett. Die Nacht ist erträglich, den Gestank am nächsten Morgen kenne ich schon.

Der Tag, der nun folgt, ist nur furchtbar: es passiert so gut wie nichts. Ich verbringe die ganze Zeit in meinem Netzbett, nur unterbrochen durch die Mahlzeiten. Das Bett wird durch die Station geschoben, damit ich mal was anderes sehe – oder besser erahne durch meine dicken Gläser, und am Nachmittag darf ich sogar in meinem Käfig nach draußen. Endlich frische Luft. Niemand macht sich die Mühe, mehr als das Allernötigste mit mir zu sprechen. Außer Elfriede, die immer wieder neugierig um mein Bett schleicht. Und damit alle vor mir geschützt sind, trage ich ununterbrochen die dicken Fausthandschuhe, und um stillgelegt zu sein, mein Knebelgeschirr. Bin schon heilfroh, tagsüber nicht fixiert zu werden. An Toilettengänge ist überhaupt nicht zu denken, ich gelte schon als inkontinent. Abends bin ich natürlich nicht müde und finde nur schwer in den Schlaf. Ich weiß, wenn ich diese Monotonie und Fremdbestimmtheit hier noch viel länger erleben muss, dann bin ich wirklich reif für die Klapse.

Am kommenden Morgen mache ich mich dann wieder hübsch für den Tag, geduscht und frisch gewindelt, und ich genieße, wie ich inständig hoffe, zum letzten Mal das erlesene Frühstück. „Sie wollen uns also wirklich schon verlassen?“ grinst mich Schwester Margot an. Ich nicke nur und beiße mir fast auf die Zunge, um nichts Freches herauszulassen. Nach dem Frühstück bekomme ich mein heiß ersehntes Knebelgeschirr wieder angelegt, muss aber bis zur Visite in meinem Netzbett bleiben.

Irgendwann kommt Frau Dr. Hartmann mit einem Pfleger im Schlepptau. „Ich muss schon sagen, ich bin etwas enttäuscht von Ihnen, Frau Ferner!“ begrüßt sie mich. „Was war denn das letztens mit dem Schnappen nach der Hand der Schülerin und später Ihrem Auftritt im Rollstuhl?“ Sagen kann ich dazu nichts, zucke bloß mit den Schultern. „Eigentlich spricht gar nichts dagegen, wenn Sie noch einige Tage länger zur Beobachtung bei uns bleiben,“ fährt sie fort, „dennoch sind Frau Dr. Schardtwald und ich uns einig, dass Sie, weil Sie sich gestern ja ganz vernünftig benommen haben, heute wieder auf Ihre Station gebracht werden sollten. Damit Sie nachhaltig aber daran erinnert werden, dass Beißen, auch wenn es vielleicht witzig gemeint ist, gar nicht geht, setzen wir Ihnen jetzt noch mal den Mundspreizer ein. Bernd, öffnen Sie bitte das Bett.“ Ich zucke zusammen, halte aber besser den Mund. Ich will jetzt nichts tun, was meinen Aufenthalt hier noch irgendwie verlängern könnte. Der Pfleger öffnet nun das Dach und die Seite des Netzbettes und zieht mir zuerst die Fäustlinge an. Dann löst er das Knebelgeschirr und ich lasse mir bereitwillig das Metall des Mundspreizers einsetzen. Bernd öffnet den Mundspreizer ein wenig; ich bin brav und arbeite nicht dagegen an. Dann wird mir ein Folienlätzchen mit Speicheltasche umgelegt, die Füße und Beine im Bett fixiert, der Helm aufgesetzt und dann das Bett schön verschlossen. Und dann haben sie sich noch etwas Besonderes für mich ausgedacht.

Ich werde in meinem Käfig auf Rädern auf meine Station W2 gefahren und darf erst einmal ein abschreckendes Beispiel auf dem Flur abgeben. Patientinnen nähern sich mir und gehen weiter. Ich höre Getuschel und Gelächter. Ist das peinlich! Willkommen im Zoo. Und dann endlich die ersehnte Stimme: „Hallo Katrin, ich bin´s, Melanie. Wie schön, dass du wieder da bist. Wir dürfen nachher zusammen Mittag essen.“ Ich bin froh.
34. RE: Sechs Monate

geschrieben von cbobby am 14.09.22 10:31

Tolle Fortsetzung. Ich hoffe es geht mit strenger Fixierung und gewisser Demütigung weiter

Danke für´s Schreiben.
35. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 16.09.22 20:31

In Frau Dr. Schardtwalds Sprechstunde

Dann setzt sich mein Bett plötzlich in Bewegung. Jemand, der es nicht nötig hat, mit mir zu sprechen, fährt es über den Flur und dann in irgendeinen Raum. „Kommt gleich jemand“, höre ich noch beim Herausgehen und dann warte ich wieder.

Kurz darauf kommt Schwester Dorothea, die rechte Hand von Frau Dr. Schardtwald, herein. „Ich darf Sie jetzt erst einmal hier herauslassen“, sagt sie und öffnet das Netz. Dann löst sie die Fixierungen und ich kann vom Bett absteigen. „Sie sollen in einer Viertelstunde bei Frau Dr. Schardtwald sein“, sagt Schwester Dorothea. „Sie haben genug Zeit, um sich frisch zu machen und umzuziehen. Hier sind neue Sachen für Sie, auch eine Höschenwindel. Sie haben bereits ein paar Mal tagsüber eingenässt, deshalb sollen Sie die während der nächsten Woche noch tragen. Die Handschuhe, den Spreizer, den Helm und die Brille nehme ich mit. Wir sehen uns später.“

Dann löst sie die Fäustlinge, den Helmgurt und den Mundspreizer und öffnet den Overall. Dorothea nimmt Brille, Helm und Knebelgeschirr und geht. Erst massiere ich mir etwas den Mund und dann mache ich mich in Ruhe frisch und ziehe mich dann an. Zum Glück keinen Overall mehr, sondern T-Shirt, Sweat-Shirt und Jogginghose. Allerdings leider weiter mit Windel. Und zum ersten Mal seit langem ohne Brille und Helm. Ich weiß gar nicht, wie ich mich fühle. Auf jeden Fall gut.

Schwester Dorothea bringt mich dann zur Chefärztin, von der ich freundlich empfangen werde. Sie spricht mit mir über meine Fortschritte und lobt meine Beteiligung in den Therapien. „Sie sind auf einem guten Weg, Frau Ferner, Sie haben aber auch zuletzt gemerkt, dass dieser Weg noch weit ist. Einer Schülerin das Essen ins Gesicht zu schlagen, das geht nun wirklich nicht. Nun, Sie hatten einen Kurz-Urlaub auf Station D und es liegt in Ihrer Verantwortung, ob Sie dort noch mal ein paar Tage verbringen oder nicht. Haben Sie mich verstanden?“ Ich nicke. „Trotz dieses Zwischenfalls habe ich mich entschlossen, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Sie sehen an Ihrer Kleidung, dass wir Vertrauen in Sie haben. Hier ist Ihre Brille. Die neuen Gläser sind nun um einiges schwächer. Ich hoffe, es gelingt Ihnen weiterhin so gut, Reize, die Sie nichts angehen, auszublenden.“ Ich setze die Brille auf und tatsächlich – ca. drei Meter kann ich jetzt scharf sehen, danach wird es unklar. Ist doch schon mal eine Verbesserung. Ich bedanke mich und sage, dass ich mich weiter anstrengen möchte. „Eigentlich brauchen Sie einen Schutzhelm nun nicht mehr“, sagt Frau Dr. Schardtwald. „Es sei denn, Sie wünschen ihn, weil Sie sich dann sicherer fühlen.“ „Danke“, antworte ich, „das geht ruhig ohne.“
„O.k.“, sagt sie. „Eine Sache jedoch noch. Wegen der Attacke auf die Schülerin und weil ich möchte, dass Ihre Hand heilt, werden Sie die nächsten sieben Tage einen Beißschutz tragen.“ Ich schlucke, traue mich aber nicht zu fragen. „Und dann“, sagt die Ärztin, „möchte ich, dass dieses Spucken mit Essen nie, aber auch wirklich nie mehr vorkommt.“ Ich möchte etwas zu meiner Verteidigung sagen, sie aber schneidet mir das Wort ab. „Ja, ich war nicht dabei und kenne nur die Aktenlage. Die wird wohl stimmen. Und jetzt zeige ich Ihnen etwas.“

Frau Dr. Schardtwald holt aus einer Schublade ein kleines, flaches, silber-metallenes Körbchen mit mehreren dünnen Lederriemen. „Das ist der Beißschutz für Sie“, erklärt sie. „Man kann das sehr lange tragen, weil das Atmen dabei überhaupt kein Problem ist. Sieht natürlich nicht besonders schön aus, ist aber sehr effektiv. Sprechen kann man auch damit und zum Essen wird das Körbchen ausgehakt. Wie gesagt sieben Tage und erst recht nachts. Sie werden das mal in der nächsten halben Stunde ausprobieren. Damit setzen Sie sich so lange nebenan ins Besucherzimmer, das frei sein wird, und lesen ein bisschen. Schwester Dorothea legt Ihnen den Beißschutz gleich um und sieht nach dem Rechten.“ Und, als sie meinen erschrockenen Blick bemerkt: „Betrachten Sie es einfach als Warnung. Ist pure Prävention. Machen Sie Schwierigkeiten, werden Sie den blauen Helm wieder tragen, und zwar dauerhaft. Überlegen Sie, was Ihnen lieber ist.“ „Und Sie lassen das jetzt schön über sich ergehen“, fügt sie warnend hinzu.

Schwester Dorothea nimmt mir zuerst die Brille ab und führt mich dann zu einem Spiegel. Sie positioniert dann das Drahtkörbchen vor meinen Mund, indem sie zwei Riemen, die seitlich am Körbchen angebracht sind, an Hinterkopf und Hals festzurrt und dann zwei oben am Körbchen befestigte dünne Lederriemen an meiner Nase entlang zur Stirn und dann über meinen Kopf zieht und ebenfalls am Hinterkopf fixiert. „Das müsste so gehen. Innen am Körbchen ist Silikon angebracht, so dass das Tragen auf der Haut möglichst angenehm ist. Ich denke, Sie werden sich daran gewöhnen“, sagt sie. „Aber nun, versuchen Sie mal zu sprechen.“ Am liebsten möchte ich weinen, doch ich versuche ein paar Wörter. „Wie lange muss ich das tragen? Eine Woche?“ Es klingt etwas gepresst, doch ich kann mich einigermaßen artikulieren. Dorothea nickt und bringt mich ins Besucherzimmer. Zwischendurch gelingt es mir noch einmal einen Blick in den Spiegel zu werfen. Toll sehe ich aus, Katrin mit Maulkorb.

„Und wie soll ich damit essen?“ frage ich. „Kein Problem“, antwortet die Schwester, „die Kolleginnen werden den Korb einfach aushaken und nach dem Essen wieder einsetzen können. Wenn Sie mitarbeiten, geht das ganz leicht. Zum Schlafen werden Sie sicherheitshalber Fäustlinge tragen. Und sollten Sie versuchen, sich den Beißschutz selbst abzunehmen, dann wird das natürlich entsprechende Konsequenzen haben.“

Ich bekomme die Brille wieder aufgesetzt und sitze dann meine Zeit im Besucherzimmer ab und blättere durch die Zeitschriften. Zum Glück bin ich hier allein, die Anwesenheit anderer wäre jetzt doch sehr peinlich. Das Atmen mit diesem Maulkorb ist kein Problem, und auch wenn das Sprechen etwas angestrengt klingt, ich kann mich immerhin mitteilen.
„Sie haben jetzt frei bis zum Mittagessen. Vergessen Sie heute Nachmittag nicht die Gesprächstherapie.“ Und dann bin ich entlassen.


Der Maulkorb

Beim Mittagessen muss ich mich den anderen mit dem Maulkorb zeigen. Mir ist das total peinlich, aber ich versuche in die Offensive zu gehen. Ich erzähle Melanie von der Sprechstunde und dass ich ab jetzt den Maulkorb eine Woche lang immer tragen muss. „Den kannte ich bisher ja noch nicht“, sagt sie. „Ist der sehr unangenehm?“ Ich schüttele den Kopf und dann erzähle ich ihr leise von Station D, der Aufbewahrung dort und von den Menschen, die dort ihre Tage verbringen. Von der Zeit im Netzbett, dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Melanie hat die Station nie gesehen, aber schon von ihr gehört. „Du“, sage ich, „das war wirklich Horror für mich, und das wissen sie auch. Frau Dr. Schardtwald drohte mir indirekt, dass sie mich, wenn mir noch mal was passiert, wieder dorthin schicken würden. Ich weiß nicht, ob ich das noch mal aushalte.“ Melanie meint, ich sei doch stark und würde es bestimmt schaffen. Und zu zweit seien wir noch stärker. Sie verspricht mir, die anderen über mein neues Outfit zu informieren. Dann werde ich sicher kaum mehr auf den Beißschutz angesprochen.

Vor dem Mittagessen kommt Schwester Gerda und nimmt mir den Maulkorb ab, nach dem Essen legt sie ihn mir sorgfältig wieder an. „Und sollten Sie mich dabei beißen, dann gnade Ihnen Gott“, droht sie mir.

Dann ist Mittagsruhe. Ich werde von Schwester Gerda wieder liebevoll an Rumpf und Füßen im Bett fixiert und mit dicken Fäustlingen ausgestattet und liege dann hellwach auf meinem Bett. Mit dem Gitter vor meinem Mund muss ich auf andere doch wie ein Kampfhund wirken, denke ich. Ich bin Melanie dankbar dafür, dass sie die anderen Frauen informiert hat. Trotzdem weiß ich, dass ich Hemmungen haben werde, mich ihnen unbefangen zu nähern. Ich muss ja wie zum Fürchten aussehen.
Sieben Tage und Nächte soll ich das Ding tragen. Ich weiß nicht, ob ich das aushalten werde.

Später geht es zur Gesprächstherapie, diesmal in einer Kleingruppe von vier Patientinnen plus Therapeutin. Thema ist auch mein Verhalten vor einigen Tagen, das mich auf Station D brachte. In Rollenspielen üben wir Aggressionen zu unterdrücken und alternatives Handeln zu entwickeln. Ich mache bereitwillig mit, hoffe, es nützt etwas. Zum Glück fragt mich niemand, warum ich dieses Ding vor meinem Mund tragen muss.

Die Zeit mit dem Maulkorb lasse ich geduldig verstreichen. Ich bin brav und angepasst, die Fixierung im Bett wird sogar ganz zurückgenommen. Nur die Fäustlinge muss ich tragen, wenn ich zu Bett gehe. Übrigens fällt mir, als ich einmal draußen bin, noch eine andere Patientin auf, die auch so ein Ding tragen muss. Ich traue mich nicht sie anzusprechen; als sie mich sieht, schaut auch sie verschämt weg.
Und dann ist die Woche um – ich bin meinen Maulkorb los. Noch mal gut gegangen.
36. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 18.09.22 11:13

Eine ruhige Zeit

Die kommenden Tage und Wochen vergehen ruhig und ohne besondere Vorkommnisse. An allen Therapien und Sitzungen nehme ich motiviert teil, wobei ich zur Maltherapie besonders gerne gehe. Ich entdecke neue Talente an mir und freue mich über die Unterstützung von Frau Mellendorf. Gestalterisch tätig zu sein, das wäre etwas, was ich mir für mich irgendwann mal draußen auch vorstellen kann. Frau Mellendorf kennt einige kunsthandwerklich versierte Leute in meiner Stadt und verspricht mir Kontakte zu ihnen.

Alles in allem genieße ich die neu gewonnenen Freiheiten und lerne auch andere Patientinnen wie Anne nun besser kennen. Bin natürlich weiterhin sehr gerne mit Melanie zusammen. Auch wenn das Wetter merklich ungemütlicher geworden ist, es ist halt Dezember, sind wir so oft es geht draußen im Park und unterhalten uns.

Wir erzählen aus unserem früheren Leben. Melanie berichtet von ihrer Kindheit in der Kleinstadt, ihrer Schulzeit auf dem Gymnasium und von ihrem begonnenen Studium. Ich erfahre einiges über die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter, von ihrem Vater, der sich aus allem heraushielt, von ihren exzessiven Selbstverletzungen. „Ich bin jetzt schon fast ein halbes Jahr hier“, sagt sie. „Und der Drang mir selbst weh zu tun, ist viel seltener geworden. Aber ich fürchte, er ist noch da. Diese Regeln, diese Übersichtlichkeit hier – draußen ist das Leben doch merklich komplizierter. Ich möchte es langsam wieder ausprobieren und überlege, ob ich nicht im Januar eine Woche zu meinen Eltern in Urlaub gehe.“ Ich zucke innerlich zusammen. Eine Woche ohne Melanie, das kann ich mir gerade schlecht vorstellen. Sie ist mein Anker hier, meine Bezugsperson. Ich weiß ja, dass ich mich da nicht so weit hereingeben darf. Bei aller Zuneigung ihr gegenüber muss ich mir selbst wieder mehr ein Stück Eigenständigkeit zugestehen. Aber bin ich schon soweit?

Melanie merkt, dass etwas nicht stimmt: „Du, ich komme ja wieder. Ich möchte einfach sehen, wie ich draußen zurechtkomme. Wenn es nicht klappt, breche ich den Urlaub ab. Aber versuchen will ich es, die Schardtwald ist auch einverstanden. Wir wollen doch nicht ewig hier in der Klinik bleiben, oder?“ Ich sage darauf erst einmal nichts. Will ich wirklich bald wieder hier heraus? Dieses stille Leben, dieses in einem engen strukturierten Rahmen Nur-für-sich-selbst-Verantwortung-übernehmen gefällt mir eigentlich ganz gut. Ich gestehe, gerade habe ich Angst vor der Welt draußen. Angst davor, wieder selbständig zu sein, Geld verdienen zu müssen, den Tag selbst in die Hand zu nehmen, Sinn zu finden.
Ich versuche, Melanie das zu erklären, aber so ganz kann sie das nicht nachvollziehen. „Du warst ja auch schon berufstätig“, sagt sie, „und musstest im Altenheim schon recht früh Verantwortung übernehmen. Aber bei mir war das halt anders, ich fühlte mich von zu Hause oft gegängelt. Und allmählich reicht es mir nun hier in der Klinik. Ich hatte in der ganzen Zeit nur einen Aussetzer – und der war noch provoziert. Ich glaube, ich bin bald so weit.“
Wir gehen schweigend weiter. Ich weiß ja, dass Abschiede zum Leben gehören, aber dieser würde mich ganz besonders traurig machen.

Dann kommt Weihnachten, was auch hier in der Klinik gefeiert wird. Ich schenke Melanie ein Aquarell, das Strand und Meer zeigt. Ich habe an diesem Bild ziemlich lang gesessen, dieses ist der mittlerweile sechste und, wie ich finde, beste Versuch. Melanie ist begeistert und fällt mir um den Hals. Für mich hat sie auch etwas eingepackt. Neugierig packe ich es aus; es sind sehr kompliziert gefaltete Sterne aus wunderschönem Papier. „Vielleicht fürs Fenster“, sagt meine Freundin, „dann hast du etwas von mir, wenn ich bei meinen Eltern bin.“ Ich bin sehr gerührt und unterdrücke ein Schluchzen.

Wir haben ruhige Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. Fast ist es etwas langweilig, weil so gut wie keine Therapien stattfinden. Am 2. Januar ist es dann so weit. Jetzt heißt es, erst einmal Abschied nehmen. „Halt die Ohren steif, meine Liebe, und pass auf dich auf“, sagt Melanie und drückt mich ganz fest. „Ich möchte dich in genau einer Woche hier gesund und froh wiedersehen.“ Ich habe einen dicken Kloß im Hals und murmele nur: „Bis bald.“


Das Basketballspiel

In den ersten Tagen ohne Melanie geht es mir so lala. Ich suche mehr den Kontakt zu anderen Frauen wie Anne oder Amelie. Dass ich abends gerade niemand zum Reden habe, fällt mir schwer und immer öfter schlafe ich mit dunklen Gedanken ein. Seit dem 2. Januar ist auch jemand neues hier in der Gruppe. Sie heißt Ilka und war wohl früher in der Drogenszene, womit sie ziemlich angibt. Ich werde nicht richtig warm mit ihr, ihre ruppige und laute Art ist nicht so meins.

Am vierten Tag nach Melanies Abreise haben wir am Nachmittag eine Sporteinheit in der kleinen Turnhalle. Nachdem wir einiges an Gymnastik und Zirkeltraining gemacht haben, lässt uns die Sporttherapeutin Frau Meibach am Ende noch Basketball spielen. Die, die wie ich noch eine Brille tragen, legen sie so lange in die Umkleide. Ilka ist in der gegnerischen Mannschaft und so, wie sie spielt, verwechselt sie Basketball wohl mit Rugby. Ein paar Mal hat sie mich und einige andere Spielerinnen unserer Mannschaft schon gefoult, ohne dass Frau Meibach abpfeift. Als mir Ilka dann einen Bodycheck verpasst, ohne dass das Spiel unterbrochen wird, fahre ich Frau Meibach an, ob sie das nicht gesehen hätte. So langsam kocht es in mir hoch. Als ich bei einem weiteren Angriffsversuch hoch springen möchte, tritt Ilka mir auf den Fuß. Ich schreie vor Schmerz auf, da pfeift die Trainerin das Foul. „Mach das ja nicht noch mal“, zische ich Ilka zu. Wenig später, als ich auf den Korb zulaufe, fühle ich einen heftigen Stoß in den Rücken. Dabei verliere ich den Ball. Wieder Ilka! Ich drehe mich um und schleudere ihr meinen Ellbogen ins Genick. „So fühlt sich das an“, fauche ich. Sofort wird abgepfiffen. Ilka hockt sich und hält sich schmerzverzerrt die Schulter. „Nun simulier doch nicht so! Wer so austeilt wie du, muss sich nicht wundern!“ schreie ich sie an und stoße sie gegen den Oberkörper. Ilka fällt auf die Seite und da überkommt es mich völlig und ich trete auf sie ein. Mehrere Arme reißen mich weg, ich mache mich los und laufe Richtung Umkleide und dann auf den Flur.

Da kommen mir zwei Pfleger entgegengelaufen. Ich habe keine Chance und renne geradewegs in ihre Arme. Sie halten mich fest, haben mit mir aber gut zu tun. Ich winde und drehe mich in ihren Armen, so gut ich kann, da kommt ein dritter. Sie zerren mich in einen Raum und gemeinsam legen sie mir eine Zwangsjacke an. Ich schreie und keuche und als ich das Ding dann anhabe und ich merke, wie meine Arme strammgezogen werden, fange ich an zu treten. Zwei halten mich von hinten fest und dann wird etwas in meinen Mund gelegt und festgezurrt. Der Ballknebel sorgt dafür, dass ich nur noch grunzen kann. Die drei ziehen und zerren mich an der Jacke über den Flur und dann in die Gummizelle. Sie legen mich auf die Seite, zwei halten mich fest, dann fesselt der dritte meine Füße mit einem Gurt und zieht dann den Schrittgurt durch meine Beine und befestigt ihn hinten an der Jacke. Zum Schluss werden meine Füße nach hinten gezogen und mit einem weiteren Gurt mit dem einen Ende der Jacke verbunden. Nun liege ich in der Zwangsjacke auf dem Boden der Zelle, kann dank der Fesselung nicht aufstehen und grunze nur noch in meinen Knebel hinein. „Puh, die hat uns ganz schön zu schaffen gemacht“, sagt einer der Männer. „Du bist aber auch gerade nicht im Training“, lacht ein anderer. „Aber der Hogtie ist uns gut gelungen“, meint der dritte. „Die Hahn wird ihre Freude daran haben. Bis später, Schätzchen!“ Und sie schließen die Tür.
37. RE: Sechs Monate

geschrieben von Amgine am 21.09.22 11:44

Wieder eine gelungene Fortsetzung. Wie lange ist sie denn bereits in Behandlung. Der Titel der Geschichte legt ja nahe, dass es nach sechs Monaten ein Ende hat?
38. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 21.09.22 16:35

Katrin hat sich so gegen September in der Klinik vorgestellt. Jetzt haben wir Anfang Januar.
39. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 21.09.22 16:45

Wieder auf Station D

Ich liege auf dem weichen Boden der Zelle und denke nur, scheiße, scheiße, scheiße. Genau das durfte nicht passieren. Was werden sie jetzt mit mir machen? Fixiert in der Zwangsjacke und zur Schau gestellt im Rollstuhl wie Melanie? Den Schlag ins Genick wird man mir vielleicht noch nachsehen, war sozusagen ein Revanchefoul. Aber die Tritte gegen Ilka nie und nimmer. Ich bin einfach nur fertig, fühle mich so allein und könnte mich selbst ohrfeigen.

Irgendwann geht die Tür auf und Frau Dr. Hahn kommt zusammen mit den drei Pflegern herein. „Kann ich mit Ihnen sprechen?“ fragt sie mich. Ich nicke. „Und Sie sind jetzt vernünftig und versprechen, ruhig zu bleiben?“ Ich nicke noch mal. „Bernd, nimm ihr bitte die Fußfesseln und den Knebel ab.“ Bernd befreit mich von den Fußfesseln, ich strecke meine Beine. Dann nimmt er den Knebel aus dem Mund und ich lecke erst einmal meine Lippen, die ziemlich trocken geworden sind.

„Tja, Frau Ferner“, beginnt Frau Dr. Hahn, „über das Vorgefallene brauchen wir nicht groß zu reden. Sie wissen, dass das Konsequenzen haben wird. Wie die aussehen, erkläre ich Ihnen gleich. Ich setze Ihnen jetzt erst einmal Ihre Brille auf.“ Sie kommt zu mir und setzt mir die Brille auf die Nase. Ich stoße einen Schrei aus. „Was ist?“ fragt sie. „Ich kann ja überhaupt nichts sehen“, stammele ich. Ich sehe wirklich nichts mehr, alles ist milchig und unscharf. Die Pfleger und die Ärztin erkenne ich nur als Schemen. „Da, wo Sie jetzt hinkommen, brauchen Sie auch nicht viel zu sehen“, sagt Frau Dr. Hahn. „Sie können sich jetzt ganz auf sich selbst konzentrieren und zur Ruhe kommen. Sie werden diese Gläser nicht ewig tragen, aber die nächsten Tage schon. So, dann kommen Sie mal mit.“

Zwei Pfleger halten mich an der Seite fest und bringen mich zur Tür. „Wo komme ich hin?“ frage ich voll Angst. „Station D“, ist die knappe Antwort. „Das Zimmer kennen Sie schon. Eine Woche. So lange, bis Frau Kesslers blaue Flecken geheilt sind. Sie können froh sein, ihr nicht die Rippen gebrochen zu haben.“ „Nein, bitte nicht“, weine ich, „das kommt nicht mehr vor, lassen Sie mich hierbleiben, bitte!“ Ich höre nur noch „Ganzkörper-Fixierung bis zum Abend und mindestens für zwei Nächte und von mir aus noch das Ballknebelgeschirr.“ Und dann geht sie weg.

Die drei Männer hieven mich auf ein Bett und ziehen mir die Zwangsjacke aus. Sofort werden mein Oberkörper und meine Beine und Füße fixiert. „Mund auf“, höre ich eine Stimme und dann ist ein Knebel in meinem Mund und die Männer legen mir mehrere Ledergurte um den Kopf, über das Gesicht und den um den Hals. „So, die ist jetzt erst mal still gelegt“, sagt einer der Männer. „War ja auch ziemlich heftig vorhin.“ Dann spüre ich wie auf meiner Stirn ein Ledergurt stramm gezogen wird. Ich kann mich nun kein bisschen mehr rühren. Scheinbar bin nun transportfertig.

Ich höre, wie die Netzgitter hochgezogen werden und das Dachgitter einratscht. Das Bett wird jetzt durch den Flur gefahren, dann ab in einen Aufzug und wieder durch einen Gang. Irgendwann kommen wir auf Station D an, die Pfleger sagen Bescheid und lassen mich im Netzbett auf einem Flur stehen. Ich merke, dass sich Personen meinem Bett genähert haben und um mich herumstehen. „Seid nicht so neugierig“, ruft eine Frauenstimme, „wir haben mal wieder Besuch. Kennt ihr doch schon.“ „Ich bin Schwester Ingeborg“, fährt die Stimme fort, „Frau Dr. Hahn hat mir alles erklärt. Ich bringe Sie jetzt auf Ihr Zimmer. Heute Abend dürfen Sie aufstehen.“

Die Schwester fährt mich nun über den Flur in das Zimmer hinein. Ich rieche die vertraute Mischung aus Wärme, Essen und menschlichen Ausscheidungen und will nur noch schlafen.

Aber dazu gehen mir zu viele Gedanken durch den Kopf. Was ich weiß, ist, dass ich mir den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich machen will. Das heißt, ich werde brav sein und kooperieren. Keinen Mist mit dem Essen machen und so. Das Schlimmste hier wird die Langeweile sein. Sieben Tage nichts tun, aber auch rein gar nichts, was wird mich das anöden.

Am Abend kommt ein Mädchen herein, stellt sich als Schülerin Meike vor und möchte mir das Abendessen anreichen. Sie hat einen Pfleger mitgebracht, der das Gitter öffnet, und dann die Kopf- und Rumpffixierungen löst. Dann hilft er mir auf, legt mir ein Plastiklätzchen um und entknebelt mich. Was für eine Wohltat! Meike füttert mich mit weichem Brot und gibt mir etwas zu trinken. Dann schnallt der Pfleger mich ganz los, vorher führt er mir den Ball wieder in den Mund und bringt mich in den Waschraum. Die Duschprozedur kenne ich ja schon, festgemacht an der Duschstange, damit auch ja nichts passieren kann. Aber dafür mit Brille und wieder mit Ballknebel, auch was Neues. Danach zieht mir Meike eine Windel und einen durchgehenden Schlafoverall an und fertig bin ich für die Nacht.

Wieder im Zimmer klettere ich in mein Netzbett. Die Vollfixierung wartet schon auf mich. Und dann machen sie sich wieder an mir zu schaffen. Ich liege brav da, lasse es über mir ergehen; den breiten Rumpfgurt, die Hand- und Fußgurte, der Schrittgurt und dann der Schultergurt. „Dann wollen wir mal sehen, wie die Nacht wird“, meint Schwester Ingeborg und verschließt sorgfältig die Netzgitter. „Meine Brille?“, frage ich. „Bleibt auf, bis hier dunkel gemacht wird, “, sagt sie, „Meike und ich kümmern uns jetzt um die anderen.“ Ich höre Schritte und Stimmen, das Krächzen von Elfriede und denke, dass es immer noch die drei Frauen sein müssen, die hier schon bei meinem letzten Aufenthalt auf dem Zimmer waren. Als alle für die Nacht fertig gemacht sind, kommt Schwester Ingeborg. „Ihre Schutzjacke und Ihr Kopfgeschirr wurden gebracht“, sagt sie. Dann nimmt sie mir die Brille ab, legt mir mein heiß geliebtes Knebelgeschirr an und macht das Licht aus.
Ich kann nicht schlafen, zu viel geht in meinem Kopf herum, die Erlebnisse des Tages lassen mir keine Ruhe. Irgendwann schlafe ich ein, wache aber hundertmal in der Nacht auf und fühle mich am nächsten Morgen ziemlich erschöpft.


Im Käfig

Am Morgen bringen mich zwei Schwestern, die sich mir nicht vorstellen, in den Waschraum. Unter ihrer Aufsicht erledige ich meine Morgentoilette, dann bekomme ich eine Windel für den Tag angelegt. „Ich kann doch Bescheid sagen, wenn ich muss“, wage ich einzuwenden. Doch die beiden schütteln nur den Kopf und murmeln etwas von „ist hier so üblich“. Dann ziehen sie mir einen durchgehenden Overall mit integrierten Fäustlingen, einem eingebauten Fußteil und einem Reißverschluss an den Beinen an „damit wir Sie problemlos sauber machen können“. Ich denke, die Blöße gibt`s du dir nicht. Ich werde meine Windel trocken halten. Dank der Fäustlinge kann ich meine Hände kaum benutzen, das wird ja ein schöner Tag werden.

Eine der beiden setzt mir die Brille auf und schon versinkt alles in helle und dunkle Töne, erkennen kann ich nur noch das, was unmittelbar vor mir ist. Ich höre, wie die Tür zum Waschraum aufgeht und eine männliche Stimme stellt sich vor: „Guten Morgen Frau Ferner, ich bin Oberpfleger Heinz und heute für Sie zuständig. Da es gestern bei Ihnen zu einem Angriff auf eine Mitpatientin gekommen ist, müssen wir heute gewisse Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Ich hoffe, Sie kooperieren. Strecken Sie mal Ihre Hände nach vorne.“ Das tue ich auch brav und schon wird mir meine Zwangsjacke über die Arme gestülpt und blitzschnell in meinem Rücken befestigt. Zum Glück macht Heinz sie nicht so stramm zu wie die Männer gestern. Dann werden meine Arme fixiert und der Schrittgurt gespannt. „Geht es so?“ fragt Heinz. „Ganz okay“, antworte ich. Ist ja tatsächlich so, diese Jacke hat auch etwas Kuscheliges an sich. „Gut“, meint er, „auf ärztliche Anordnung sollen Sie sie heute den ganzen Vormittag tragen. Hey, die ist ja mit Ihrem Namen versehen. Sie haben es aber schon weit bei uns gebracht… So, nun muss Ihnen auch noch etwas an die Füße legen.“ Dann kniet sich Heinz hin und legt mir je eine Manschette um jedes Fußgelenk und verbindet sie mit einem Gurt. „Nun können wir gehen“, meint er und führt mich Richtung Flur. Mit dem Fußgurt kann ich nur kurze Schritte machen, sehen kann ich ja auch nicht viel; ich fühle mich höchst unsicher.

„Ich passe schon für Sie mit auf“, meint Heinz. „Wir gehen jetzt in unseren neuen Aufenthaltsraum. Also, eigentlich sind es ja zwei, für Sie ist der hintere vorgesehen.“ „Was meinen Sie damit?“ frage ich. „Werden Sie gleich merken. Sie laufen noch unter Sicherheitsverwahrung.“

Mir schwant Böses und mit einem Kloß im Hals lasse ich mich von Heinz über den Flur führen. Dann öffnet er eine Tür und wir sind da. Sehen kann ich nicht viel, nur bunte Schatten. Es ist nicht gerade leise hier und ich muss mir Mühe geben, zuzuhören, als mir Heinz erklärt: „Hier verbringen die meisten Patienten ihre freie Zeit, wenn das Wetter nicht so gut ist. Im Raum daneben geht es etwas ruhiger zu.“ Wir gehen durch eine weitere Tür. Heinz nimmt mir kurz die Brille ab, damit ich sehen kann, wo ich mich befinde. Ich sehe drei große Käfige aus einer Art Maschendraht, die fast den ganzen gepolsterten Raum einnehmen. Jeder dieser Käfige reicht bis zur Decke, vor ihnen ist ein schmaler Gang. In jeden Käfig ist eine Tür gelassen, durch die ganz links führt Heinz mich nun. Ich bemerke ein niedriges Bett und eine Matratze auf dem Boden. „Hier werden Sie den heutigen Tag verbringen“, sagt er. Er zuckt mit den Schultern: „Anweisung von oben. Strenge Sicherheitsverwahrung. Wenn was ist, rufen Sie. Ich bin nebenan. Möglicherweise kommen ab und zu Patientinnen herein, die etwas neugierig sind. Muss Sie aber nicht stören. Hier Ihre Brille.“ Und Heinz setzt mir die Brille wieder auf. Sogleich verschwindet wieder alles im Nebel. Auch gut, brauche ich wenigstens den Besuch nicht sehen. „Und wie gesagt, wenn was ist, rufen Sie. Bis dann“, sagt Heinz, geht und schließt die Käfigtür ab.

Ich frage mich ernsthaft, bin ich so gemeingefährlich, dass ich mit Fußfesseln und in Zwangsjacke in einem Käfig leben muss. Ich setze mich auf das Bett und denke nach. Der Käfig soll doch wohl nur für heute sein, so etwas Ähnliches hat Heinz gesagt, und die Zwangsjacke nur bis Mittag. Wenn ich mich benehme, werden die Sanktionen also aufgehoben und ich kann zu den anderen. Obwohl, will ich das überhaupt, unter lauten Verrückten meinen Tag verbringen?

Irgendwann wird es draußen plötzlich sehr laut. Ich bekomme mit, wie jemand polternd und schimpfend in den Raum geführt und im rechten Käfig untergebracht wird. Weil ich nichts erkennen kann, vermute ich, dass da jemand ausgetickt sein muss, der hier zur Ruhe kommen soll. Ich höre, dass der Jemand in seinem Käfig herumläuft, sich gegen die Wände wirft und dann sich dann wimmernd hinsetzt. Dann wieder gegen die Wände, dazu ein unartikuliertes Grunzen. Geknebelt ist sie also auch, da habe ich ja noch mal Glück gehabt.
Wenig später kommt Heinz herein und schaut nach dem Rechten. „Nun, haben sie sich etwas beruhigt, Frau Meyer?“ fragt er. „Und wie geht´s Ihnen, Frau Ferner?“ „Ganz toll“, antworte ich. „Tja, bei Frau Meyer gab´s ein Problem“, erklärt Heinz. „Nun sind Sie nicht mehr allein hier. Ich denke aber, dass sie sich jetzt beruhigt hat. Sprechen können Sie nicht mit ihr. Wir mussten sie ruhig stellen. Aber das kennen Sie ja schon.“ Na prima, denke ich, dann ich bin ja in bester Gesellschaft.

„Übrigens ist Ihr Helm so eben angekommen“, fügt der Pfleger hinzu. Ich sehe, dass er etwas Dunkelblaues in der Hand hält. Das wird doch nicht etwa wieder der Monsterhelm sein? „Meine Güte“, sagt Heinz, „das ist aber auch ein Teil. Haben Sie so viel angestellt, dass Sie das Gitter brauchen? Naja, ist ja auch zu Ihrer Sicherheit. Sie können ja kaum sehen, wohin Sie gehen, und falls Sie mal stolpern... Die Anordnung von oben lautet `dauerhaftes Tragen`. Wird wohl seine Gründe haben. Ich setz Ihnen den mal auf.“ Ich beiße mir lieber auf die Zunge anstatt groß darauf zu antworten. „Gucken Sie in meine Akte. Wird schon alles stimmen, was darin steht“, ist meine lapidare Antwort. Ich bekomme also meinen sehnsüchtig vermissten Helm aufgesetzt, dessen Gurte Heinz sorgfältig verschließt. Nun bin ich sozusagen doppelt vergittert.

Aber auch dieser Vormittag geht um. Von meiner Mitbewohnerin höre ich nur noch ein leises Schnaufen. Ich lege mich auf das Bett und döse ein. Das geht mit dem Helm erstaunlich gut. Weich gepolstert ist er ja. Der fürsorgliche Heinz guckt ab und zu nach dem Rechten und kann dann immer beruhigt gehen.

Zum Mittagessen wird die Käfigtür aufgeschlossen und Schwester Ingeborg kommt mit einem Tablett herein. Sie öffnet mein Helmgitter, löffelt mir die Pampe des Tages ein und gibt mir etwas zu trinken. Meine Bitte, eine Toilette aufzusuchen, verneint sie lächelnd. Das sei im heutigen Therapieplan nicht vorgesehen. Dann kommt Heinz dazu und zusammen nehmen sie mir die Zwangsjacke und die Fußfesseln ab. Dann legen sie mir einen Hüftgurt und Handmanschetten um, so dass ich auch weiterhin niemand etwas zuleide tun kann.

Der Nachmittag zieht sich endlos. Schlafen kann und will ich nicht mehr. Ich versuche mich daran, die Geräusche aus dem Nebenraum zu deuten. Es scheinen so um die zehn Patientinnen drüben zu sein. Kaum einer spricht richtig, zwischendurch höre ich die gut gelaunte Stimme von Heinz und die ruhige von Schwester Ingeborg. Was ich so höre, scheint es allen dort ganz gut zu gehen. Nun, wie es aussieht, bin ich morgen auch dabei.
Mein Bedürfnis, zur Toilette zu gehen, wird immer dringender. Aber ich will nicht einnässen, diesmal nicht. Ich glaube, ich schaffe das auch.

Am Abend werde ich wieder in meinem Käfig gefüttert. Ich bitte Schwester Ingeborg, ob ich nicht vorher zur Toilette kann, und tatsächlich, sie lässt sich erweichen. Glück gehabt.
Nach Toilettengang, Abendfraß und Waschraum geht es ins Bett. Ich bin noch gar nicht müde, fühle mich unruhig und kann noch nicht schlafen. Natürlich muss ich wieder in die Vollfixierung. Den Helm muss ich aber auch nachts tragen, na gut, so unbequem ist das nicht, und die Brille nimmt mir auch niemand ab. Als ich danach frage, bekomme ich von der Nachtschwester nur die Antwort, es sei dauerhaftes Tragen angeordnet. Zeitig wird das Licht ausgemacht und ich liege wach in meinem Netzbett. Ich höre die Schlafgeräusche der anderen und Schritte auf dem Stationsflur und irgendwann schlafe ich dann doch ein.
40. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 25.09.22 17:31

Elfriede

Überraschung am nächsten Morgen – Schwester Ingeborg weckt mich mit einer frohen Botschaft. Weil ich mich gestern gut benommen habe, kann ich wieder einen normalen Overall ohne Fäustlinge tragen, brauche keine Windel mehr und kann nun auch wieder meine Hände benutzen. Schwester Dorothea kommt und tauscht die superstarken Gläser meiner Brille in schwächere, so dass ich mich einigermaßen orientieren kann. Den Monsterhelm muss ich jedoch weiterhin aufsetzen. „Sie haben doch Altenpflegerin gelernt“, bemerkt Ingeborg. „Was halten Sie davon, wenn Sie, so lange Sie hier bei uns sind, sich etwas mit den Patienten beschäftigen?“ Ich muss wohl etwas überrascht ausgesehen haben, denn sie fügt hinzu: „Positives Verhalten Ihrerseits melden wir natürlich weiter. Und außerdem vergeht so die Zeit für Sie schneller.“

Wo sie recht hat, hat sie recht. Warum auch nicht? Im Aufenthaltsraum gibt es tatsächlich einiges an Spiel- und Beschäftigungsmaterial und dazu noch eine vernünftig eingerichtete Küchenzeile in einem Nebenraum. „Heinz und ich haben heute wieder Dienst“, sagt Ingeborg. „Gucken Sie mal, was wir so mit den Patienten machen, und lassen Sie sich von Ihrer Berufserfahrung leiten.“

Elfriede aus meinem Zimmer findet mich, aus was für Gründen auch immer, weiterhin interessant. Mit ihrem Kuschelhandtuch im Arm sucht sie meine Nähe und kommuniziert mit mir durch ihr Krächzen. Ich bin gut gelaunt, spreche mit mir und mache kleine Scherze. Sie scheint keine Angst vor mir zu haben, trotz meiner Gitter vorm Gesicht. Als ich sie frage, ob sie Lust auf ein Spiel habe, holt sie eine Schachtel mit Memory-Karten. Heinz weist mich netterweise darauf hin, dass ein Spiel mit allen 64 Karten für sie zu anspruchsvoll sei. Also spielen Elfriede und ich mehrere Runden mit sechs Paaren, dann erhöhen wir auf zehn. Ich lasse Elfriede natürlich ein paar Mal gewinnen, damit sie nicht die Lust verliert.

Beim Mittagessen werde ich doch glatt vom Pflegepersonal um Mithilfe gebeten. Erst bin ich sprachlos, dann willige ich jedoch ein. Ich reiche einer Mitpatientin das Essen an, bevor ich selber esse. Schwester Ingeborg lobt meine Kooperation und scherzt, ich könne am besten gleich hier anfangen. Dass ich etwas sinnvolles hier tun kann, hebt merklich meine Stimmung. Ich fühle mich beschwingt und lebendig wie schon länger nicht mehr.

Auch der Nachmittag verläuft in ähnlichen Bahnen. Ich fühle mich fast wie eine Praktikantin und nicht wie eine Patientin, die zur Strafe hier ist. Dass Ingeborg und Heinz mir Vertrauen schenken, tut mir richtig gut. Als ich ihre Frage, ob ich backen kann, bejahe, erklären Sie mir kurz, wo sich was in der Küchenzeile befindet. Dann habe ich morgen ja schon was vor.

Die Nacht verbringe ich in meinem Netzbett in dem Vierer-Zimmer. Es ist oft unruhig, jemand schnarcht ziemlich und an jedem Morgen riecht es unangenehm. Ich bin froh, wenn das hier zu Ende ist und ich wieder in Melanies und meinem Zweier-Zimmer bin.
Am nächsten Tag backen Elfriede und ich einen einfachen Kuchen. Heinz hat mir vorher alles, was wir brauchen, aus der Küche besorgt. Elfriede ist sehr stolz auf unser gemeinsames Werk, aber die meisten anderen Patientinnen stopfen ihr Stück Kuchen leider nur in sich herein, ohne sich irgendwie zu bedanken.

Ehrlich gesagt kann ich mit den anderen Frauen der Station wenig anfangen. Fast alle leben in ihrer Welt und sind Angeboten gegenüber in keiner Weise aufgeschlossen. Ich bewundere Schwester Ingeborg und Pfleger Heinz, wie nett sie mit jedem einzelnen umgehen. Sie erzählen mir auch das wenige, was sie über Elfriede wissen. Sie müsse schon über dreißig Jahre hier sein, damals noch im schon lange abgerissenen Altbau. Sie war auf einer Sonderschule, hat aber nie sprechen gelernt. In eine beschützende Werkstatt konnte Elfriede nicht gehen, da sie als junge Frau wohl recht aggressiv war. Nun ist sie mit ihren ca. 50 Jahren wesentlich ruhiger geworden, mich scheint sie irgendwie adoptiert zu haben. Beharrlich sucht Elfriede meine Nähe und kommuniziert mit mir im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Nun, mir gefällt es, meinem Aufenthalt hier auf dieser Station etwas Sinn zu geben. Die Zusammenarbeit mit Ingeborg und Heinz klappt gut und eigentlich kann ich mir gerade gut vorstellen, bald wieder arbeiten zu gehen. Nach drei Tagen ist mir übrigens - wohl wegen guter Führung - erlaubt worden, den Helm abzusetzen. Ich bin sehr erleichtert, das Ding los zu sein. Die Welt sieht ohne Gitter doch schöner aus und - keine Angst – ich werde nicht mehr beißen.

Am vorletzten Tag meiner Strafe sagen die zwei mir abends, dass sie nun beide ein paar Tage frei hätten. „Schwester Margot und Bernd werden uns vertreten“ – Bernd ist einer der Pfleger, die mich nach der Sportstunde in die Zwangsjacke steckten – „Wir werden aber auf Ihrer Station melden, wie kooperativ Sie waren und wie nützlich Sie sich machten. Alles Gute für Sie! Übrigens, Sie werden es vielleicht nicht bemerkt haben, vorhin ist jemand neues in die Sicherheitsverwahrung gekommen.“ Nein, das habe ich tatsächlich nicht bemerkt, ich war so sehr in das gemeinsame Puzzle mit Elfriede vertieft. „Es ist Frau Kessler, sie wissen schon.“ Ilka also. Dann muss sie sich ja irgendwas geleistet haben, dass sie nun auch auf Station D ist.


Die Verlängerung

Am nächsten Morgen werde ich von Schwester Margot geweckt. „Wie´s aussieht, Ihr letzter Tag bei uns. Habe gehört, Sie haben sich schön nützlich gemacht. Das freut mich. Helfen Sie wieder beim Frühstück?“ Ich sage zu und frage, wann ich wieder auf meine alte Station darf. „Darüber entscheiden die Ärzte, Frau Dr. Hartmann und Frau Dr. Hahn. Ich nehme aber an, im Laufe des Nachmittags.“
Und so scheint es auch zu sein. Ich bin etwas nervös und kann mich nicht so recht auf ein Spielen mit Elfriede konzentrieren. Ilka sehe ich nirgends, allerdings kann ich auch mit den neuen Gläsern nicht den ganzen Raum überblicken. Aber eigentlich müsste man sie hören, so laut ist sie immer.

Nach dem Mittagessen werde ich immer unruhiger. Ich gehe rastlos durch den Aufenthaltsraum. Die Nähe von Elfriede macht mich jetzt ein wenig aggressiv, ich versuche aber, mir nichts anmerken zu lassen.

Plötzlich bekomme ich wie aus dem Nichts einen Tritt von hinten in die Kniekehlen. Ich stürze nach vorne, knalle mit dem Kopf gegen einen Stuhl – jetzt wäre der Helm mal nützlich gewesen – und dann werde ich mit Fußtritten traktiert. „So, jetzt sind wir quitt!“ schreit eine nur zu bekannte Stimme. Ich rappele mich wieder hoch und bearbeite Ilka mit meinen Fäusten. Die wehrt sich natürlich und ich muss aufpassen, nicht allzu viel einzustecken. Plötzlich werde ich von hinten festgehalten und jemand packt meine Arme und verdreht sie auf dem Rücken. Vor Schmerz schreie ich auf und trete nach hinten. Es kommt zu einer heftigen Rangelei, ich höre einen Schrei, dann spüre ich plötzlich einen Stich im Oberarm. Mir wird schwindelig, meine Zunge wird pelzig, die Bewegungen erschlaffen und ich verliere das Bewusstsein.

Ich weiß nicht, wie lange ich ohnmächtig war. Als ich langsam wieder wach werde, finde ich mich in einem Rollstuhl wieder. Ich bin mit einem kombinierten Brust- und Schrittgurt darin fixiert, die Beine natürlich auch, und selbst den Kopf kann ich nicht bewegen. Ich trage wieder einen Lederhelm, der irgendwie an der Kopfstütze festgemacht sein muss. Der Rollstuhl ist mit einer Tischplatte ausgestattet und auf der ruhen meine Unterarme, schön mit Gurten auf der Platte fixiert. Meine Hände stecken in ganz steifen Handschuhen, ich kann buchstäblich keinen Finger rühren. Und irgendwas Metallenes ist vor meinen Mund geschnallt, so dass ich nicht sprechen, ja noch nicht mal die Lippen bewegen kann.
Mir ist total schlecht, ich habe heftige Kopfschmerzen und irren Durst. Ich versuche herauszufinden, wo ich bin, ja, es muss der leere Aufenthaltsraum sein. Ich versuche zu rufen, aber heraus kommt nur ein undeutliches Blöken.

„Na, wach geworden?“, fragt mich Schwester Margot. „Da haben Sie zwei sich ja einen tollen Kampf geliefert.“ Ich grunze eine Erklärung vor mich hin. „Sie brauchen nichts zu sagen“, meint Schwester Margot, „wir wissen, dass Frau Kessler angefangen hat. Der geht es jetzt auch nicht besser als Ihnen. Aber Sie haben sich dann auch ganz schön gehen lassen und die Tritte wird Bernd Ihnen nicht so schnell vergessen. Tja, nun wird sich Ihr Aufenthalt bei uns noch etwas verlängern und das wird für Sie nicht so lustig werden. Sie brauchen keine Angst zu haben, Bernd wird sich nicht rächen, aber so nett wie unsere Vorgänger sind wir nicht. So ein buntes Treiben wie in der vergangenen Woche können Sie vergessen.“

Ich versuche ihr deutlich zu machen, dass ich dringend etwas trinken muss und blöke etwas in diese Art Gitter vor meinem Mund. Schwester Margot löst meinen Helm von der Kopfstütze und fragt nach, ob ich vielleicht trinken möchte. Ich nicke mit dem Kopf.

Dann stellt sie mir eine Plastikflasche mit Wasser auf die Tischplatte und führt einen Strohhalm in meinen Mund. „Das ist das Praktische an Ihrem Mundgitter“, sagt sie, „trinken kann man auch damit. Ich zeig Ihnen nachher mal, wie hübsch Sie damit aussehen.“

„Essen sollten Sie jetzt besser nichts“, fährt sie fort, „wir gehen nun zur Toilette und in den Waschraum, dann mache ich Sie bettfertig und danach ab ins Bett.“ „Und sollten sie irgendein Problem machen“, droht mir Margot, „dann wird aus den anvisierten fünf Tagen ganz schnell ein unbegrenzter Aufenthalt hier, verstanden?“ Ich grunze in das Metall als Zeichen, dass ich sie verstanden habe.

Im Waschraum werde ich aus dem Rollstuhl befreit, aber dann gleich wieder auf einer Liege fixiert. Margot legt mir eine Windel an und verlässt dann den Raum. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt sie mit einem Schlafoverall zurück. Zuerst hält sie mir einen Spiegel vors Gesicht. Ich sehe meinen Mund hinter einem silbernen Metallgitter, das mit dünnen Lederriemen rund um meinen Kopf befestigt ist. „Ja, Frau Ferner, Sie laufen jetzt unter akuter Fremdgefährdung. Da müssen wir alle erdenklichen Schutzmaßnahmen beachten. Auch was ein mögliches Beißen angeht“, erklärt mir die Schwester. Ich erschrecke vor mir selbst, erst der Maulkorb vor einigen Wochen, jetzt das Mundgitter. Da muss man doch Angst vor mir haben…

Dann macht die Schwester mich los, zieht mich an und führt mich aufs Zimmer. Ich fühle mich immer noch schwindlig und lasse alles mit mir geschehen. Auf dem Bett liegend werde ich wieder bis auf den Kopf sorgfältig festgeschnallt, sie nimmt mir Brille und Helm ab, das Metallgitter bleibt umgeschnallt und anschließend schließt sie das Netzbett. Das Licht lässt Schwester Margot an – „Meike und ich kümmern uns jetzt um Ihre Zimmergenossen“ – und dann bin ich allein.

„Noch fünf Tage“, denke ich. Wenn ich richtig rechne, müsste Melanie jetzt schon seit drei Tagen wieder in der Klinik sein. Ob ihr jemand gesagt hat, was mit mir ist? Ich habe Sehnsucht nach ihrer Nähe, Sehnsucht danach, mit jemand sprechen zu können, nach etwas Verständnis. Nun muss ich noch fünf Tage Geduld haben und hoffe inständig, dass ich mich zusammenreißen kann.

Die Nacht verläuft unruhig. Die Fixiergurte stören und irgendwann bin ich wach und muss fürchterlich auf die Toilette. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, kann mich auch nicht verständlich machen. Ich versuche wieder einzuschlafen, aber es geht nicht – der Druck auf die Blase ist zu groß. Und dann lass ich es einfach laufen…


Tage im Rollstuhl

Am nächsten Morgen werde ich geweckt und losgeschnallt. Dann wird mir das Metallgitter vom Mund genommen und die Handschuhe abgestreift und ich darf mich im Waschraum sauber machen, meine Hände werden aber wieder mit dem Kunststoffgurt an der Duschstange verbunden. Immerhin habe ich genug Bewegungsfreiheit, um mich gründlich zu duschen und mir die Haare zu waschen. Keine Sorge, ich werde nicht versuchen, abzuhauen.

Schwester Margot und die Schülerin Meike kommen nun herein. „Meike wird Ihnen beim Anziehen und beim Frühstücken behilflich sein. Danach geht es wieder in den Rollstuhl für den Rest des Tages, verstanden?“ Ich nicke. „Und sollte es zu irgendeinem Vorfall kommen, dann wird es Konsequenzen haben, die Sie sich nicht wirklich wünschen, o.k.?“ Ich sage, dass ich mich benehmen werde, sie müssten sich keine Sorgen machen – und denke, für wie gemeingefährlich halten die mich mittlerweile? Ich werde noch mal ausdrücklich gewarnt: „Beim kleinsten Vorfall liegen Sie wieder im Bett und zwar voll fixiert.“

Meike legt mir eine neue Windel um und ich ziehe mich an. Danach befestigt Meike erst die steifen Handschuhe an meinen Händen und dann muss ich mich wieder in den großen Rollstuhl setzen, in dem mich Meike sorgfältig fixiert. Bauchgurt, Brustgurt, Hand- und Fußriemen – alles dabei. Ein dicker Keil wird zwischen meinen Oberschenkeln justiert. Die Tischplatte wird wieder vor meinem Oberkörper befestigt, darauf meine Unterarme und dann schiebt sie mich in den Frühstücksraum. Außer meinem Kopf kann ich mich nun buchstäblich überhaupt nicht rühren.

Hat Meike die Brille und den Helm vergessen oder war das Absicht? Brot und Früchtetee stellt Meike auf meinen Tisch und dann werde ich mal wieder gefüttert. Als wir fertig sind, legt sie mir wieder das Metallgitter an den Mund, zieht es schön stramm und fährt mich dann in den Aufenthaltsraum.

Nun sitze ich da weitgehend bewegungsunfähig und ohne mich äußern zu können. Wie jemand, vor dem man Angst haben muss, der nicht anders gebändigt werden kann. Ich frage mich zum wiederholten Male, ob ich wirklich so schlimm bin.

Auf jeden Fall habe ich nun ausgiebig Zeit, die Mitpatientinnen zu beobachten. Ich sehe Frau Meyer, die auch heute in der Zwangsjacke steckt. Sie sitzt auf einem Stuhl vor dem Fenster und schaukelt ununterbrochen immer im gleichen Rhythmus ihren Oberkörper vor und zurück. Frau Allenstein tigert durch den Raum. Ab und an bleibt sie stehen und hämmert ihre Fäustlinge gegen ihren Helm. Dann ist da jemand, die in jeder Hand eine Puppe hält und mit ausdrucklosem Gesicht vor einer Wand steht und leise vor sich hin redet. Jemand anders fuchtelt dauernd mit den Armen in der Luft und stößt Schreie aus. Zwei andere sitzen an einem Tisch, haben ihre Köpfe auf die auf der Tischplatte verschränkten Arme gelegt und dösen vor sich hin. Noch jemand in diesem Panoptikum steht in einer Ecke und wiegt ähnlich wie Frau Allenstein ihren Oberkörper hin und her. Elfriede scheint mir noch die Aufgeweckteste von allen zu sein. Mit ihr kann man wenigstens kommunizieren und etwas machen. Ich weiß, dass diese bizarren Verhaltensweisen mit Hospitalismus zu tun haben. Rational ist mir das klar, aber in dieser Ballung macht es mir Angst. Ich will hier nicht mehr länger bleiben.

Elfriede hat mich entdeckt und stellt sich vor mich. Sie kräht mich an und ich grunze zurück. Elfriede streichelt meine Oberarme und ich versuche mir so etwas wie ein Lächeln abzugewinnen.

Da kommt eine etwas verschreckte Meike herein. Sie hat meine Brille und den Helm dabei und scheint, weil sie es wohl vergessen hatte, gerade etwas heruntergeputzt worden zu sein. Schnell setzt sie mir die Brille auf – „Die brauchen Sie doch.“ – und dann den Lederhelm, dessen Kinngurt sie auch wieder schön sorgfältig stramm zieht.

Gerade noch rechtzeitig, denn ich bekomme mit, wie Frau Dr. Hartmann mit Besuch hereinkommt. Es müssen wohl irgendwelche Fachleute sein, denn sie ist groß im Erklären. Irgendwann steht die Gruppe auch vor mir und ich werde beschrieben wie ein Gegenstand. Frau Dr. Hartmann weiß, dass ich alles verstehe, aber sie redet über mich, als wenn … „Und hier haben wir es mit einem Fall von Selbst- und Fremdgefährdung zu tun. Frau Ferner ist vorübergehend auf dieser Station, bis sich ihr Zustand soweit gebessert hat, dass sie wieder auf die W2 kann. Wir mussten bei ihr einige Maßnahmen der sensorischen Deprivation anwenden, um die eruptiv auftretenden Aggressionsschübe eindämmen zu können. Zurzeit ist an eine wie auch immer geartete Therapie leider nicht zu denken, es hat gerade gestern wieder Gewalttätigkeiten von ihr gegeben. Eine Mitpatientin war betroffen, dann sogar ein Pfleger. Um die anderen vor Frau Ferner zu schützen, aber auch damit sie selbst wieder zur Ruhe findet, halten wir die weitgehend durchgängige Fixierung für eine geeignete Maßnahme.“ Auf mein hübsches Metallgitter vor dem Mund zeigend fährt sie fort: „Wir wollen kein Risiko eingehen. Es kam schon zu Bissverletzungen.“ Und an die Ärzte gewandt: „Ich würde mich freuen, wenn wir im Anschluss über diesen spannenden Fall noch ausführlicher sprechen könnten.“ Die lauschenden Koryphäen murmeln sich etwas zu, dann wenden sie sich ab und gehen zur Nächsten. Ich glotze vor mich hin – bin ich ein Monstrum? Nun immerhin ein spannender Fall. Ich darf stolz auf mich sein.

Zu Mittag werde ich natürlich gefüttert und dann geht es zur Mittagsruhe vollfixiert ins Netzbett. Kurz danach habe ich das sichere Gefühl für den Stuhlgang. Nein, ich möchte nicht in die Windel machen, auf gar keinen Fall. Ich grunze und werfe den Kopf hin und her, bis Schwester Margot auf mich aufmerksam wird. Sie hat den richtigen Riecher und sagt nur: „Machen Sie jetzt bitte keine Sauerei. Einen Moment noch warten.“ Und dann kommen Meike und der Pfleger Bernd und bringen mich zur Toilette. Ich darf alleine mein Geschäft erledigen, bekomme dafür die Handschuhe ausgezogen – was für eine Gnade! Dann legt mir Meike eine Windel an, ich ziehe mir die Hose hoch und dann gibt es wieder die steifen Handschuhe an. Bernd fixiert mich dann gründlich im Rollstuhl.

Es ist einfach nur schlimm, dazusitzen, sich nicht rühren zu können, nicht sprechen zu können, wenig zu sehen und warten, dass die Zeit vergeht. Sie zieht sich endlos. Endlos. Endlos.

Und so ungefähr vergehen auch die nächsten Tage. Ich habe mein Metallgitter vor den Mund geschnallt, so dass ich außer ein paar Lauten nichts von mir geben kann. Morgens herein in den Rollstuhl, zur Mittagsruhe heraus und dann am Nachmittag das Gleiche. Und immer sorgfältig fixiert, so dass ich nur meinen Kopf bewegen kann. Vormittags und nachmittags darf ich für je eine Stunde heraus aus dem Rollstuhl und in dem umzäunten Außengrundstück etwas umherlaufen. Damit ich ja nichts Böses anstelle, trage ich dann die Zwangsjacke. Ich bin schön brav, wenn sie mir angezogen wird, strecke meine Arme zuvorkommend nach vorne und wehre mich nicht. Wenn mich sonst schon niemand hier auf der Station mag, vielleicht mit Ausnahme von Elfriede, so kann ich mich wenigstens selbst umarmen.

Am Donnerstagnachmittag winkt dann endlich etwas Abwechslung. Bernd erklärt mir, dass heute wieder Praktikantinnentag sei und eine Schülerin mich nachher spazieren fahren würde. Das Wetter sei ja für Januar heute recht angenehm, Zeit, dass ich mal nach draußen käme. Und dann bietet sich bald folgendes schönes Bild: Frau Meyer, Frau Allenstein und ich alle in unseren Rollstühlen sitzend und festgeschnallt, Elfriede steht dazwischen und es kommen vier junge Frauen, die mit uns nun eine Stunde nach draußen gehen sollen. Meine Freude kennt keine Grenzen. Bernd schärft ihnen noch ein, uns ja nicht loszuschnallen, da wir dann schnell aggressiv werden könnten. „Und damit die Frau Ferner nicht rumschreit, müssen wir sie sicherheitshalber stilllegen“, kündigt er an. Er hätte jetzt ja schon das zweite Kämpfchen mit mir gehabt und mein Tritt in seine Kronjuwelen merke er noch immer. „Ich glaube, ich habe das Recht auf eine kleine süße Rache.“ Dann nimmt er mir den Helm und das Mundgitter ab, befiehlt mir, den Mund zu öffnen und setzt dann blitzschnell etwas Weiches und Gummihaftes mit einem Schlauch in meinen Mund. Ich weiß nicht, was das ist, will schreien, aber zu spät – das Ding in meinem Mund füllt sich mit Luft, wird größer und größer, legt meine Zunge lahm und spannt meine Wangen, bis ich nur noch fiepen kann. Dann setzt Bernd mir wieder den Helm auf, schnallt ihn an der Kopfstütze fest und macht den Schlauch ab. „Ich schreibe in den Bericht, dass Sie trotz Mundgitters zu laut waren und ich deshalb mit dem Butterfly eine andere Maßnahme ergreifen musste“, grinst er und überlässt mich dann den Schülerinnen. Bitte, lass diesen Tag vorübergehen, denke ich.

Die Karawane setzt sich in Bewegung und ab nach draußen; drei, die die Rollstühle schieben, und die vierte mit Elfriede im Griff, die eine Transportjacke anhat. Wir müssen umwerfend aussehen – hoffentlich sieht mich niemand, den ich kenne. Meine Wangen schmerzen leicht; durch die Nase bekomme ich zwar ausreichend Luft, aber dieser Knebel ist schon sehr, sehr unangenehm. Aber es tut wirklich gut, mal wieder richtig nach draußen zu kommen. Irgendwann parken die vier uns, da höre ich bekannte Stimmen. Das ist Melanie, ich bin mir sicher, und Anne. Nein, so sollen die mich nicht sehen, bitte nicht. Doch die Stimmen nähern sich: „Da ist ja Katrin“ ruft Anne. Und schon stehen sie vor mir. „Oh, Katrin,“ stößt Melanie hervor, „was haben sie mit dir gemacht?“ „Vorsicht!“ ruft eine der Schülerinnen, „Gehen Sie nicht zu nah heran, die Patientin ist hochaggressiv.“ „Keine Angst,“ lacht Melanie, „wir kennen uns gut.“ Als Anne und Melanie so vor mir stehen, kann ich nicht anders und fange an zu weinen. Beide halten nun meine Hände, die wie immer in Handschuhen stecken, und streicheln über meine gespannte Wange. „Katrin,“ sagt Melanie, „ich habe vorhin mit Frau Dr. Schadtwald gesprochen. Sie sagte, es liefe bei dir zwar nicht alles glatt, du würdest aber bald auf unsere Station zurückkommen. Du hättest eine weitere Chance verdient.“ Plötzlich ertönt die scharfe Stimme von Bernd: „Wenn sie bitte meine Patientinnen in Ruhe lassen würden, die müssen sich hier ein bisschen entspannen.“ Anne und Melanie geben mir beide ein Küsschen auf die Wange. „Bis bald, meine Liebe,“ verabschieden sie sich.

Bernd guckt nun nach dem Rechten und sagt den Schülerinnen, sie sollen spätestens in einer halben Stunde zurück sein. Wieder auf Station angekommen lässt er endlich die Luft aus dem Knebel und holt ihn aus meiner Mundhöhle. Was bin ich froh, als es Abend wird. Dann fährt Meike mich in den Essraum und füttert mich wieder wie ein Kleinkind.

Und tagsdrauf werde ich, ohne dass mir etwas angekündigt oder erklärt wird, am Nachmittag aus der Station D gerollt, komme in den Fahrstuhl und dann ab zur Station W2. Man stellt mich voll fixiert im Rollstuhl und wie ein Möbelstück einfach auf dem Flur ab und ich warte auf die Dinge, die da kommen sollen.
41. RE: Sechs Monate

geschrieben von Amgine am 13.10.22 13:50

Lieber Deep Wishes,

weiterhin vielen Dank für die tolle Geschichte.
Ich hoffe ja sehr, dass es bald weitergeht.

Liebe Grüße, Aleks
42. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 26.10.22 18:07

Nun hat Katrin aber wirklich lange genug im Rolli auf dem Flur gestanden... Die Geschichte geht weiter.

Auf Bewährung

Nach einiger Zeit höre ich die Stimme von Schwester Gerda: „Na, Frau Ferner, wieder im Lande? Jasmin wird Sie erst einmal in eines der Zimmer für Neuzugänge schieben und dann erkläre ich Ihnen, wie es weitergehen soll.“ Mein Rollstuhl setzt sich in Bewegung und ich werde über den Flur in ein leeres Zimmer geschoben.
Dort stellen sich Gerda und Jasmin vor mich hin. „Also“, fängt die Schwester an, „Frau Dr. Hartmann schlägt vor, die sensorische Deprivation in den nächsten 48 Stunden nach und nach zurückzunehmen. Jasmin wird sich weitgehend um Sie kümmern. Wenn alles gut läuft, sind Sie also in zwei Tagen wieder in Ihrer Gruppe. Wenn es von Ihrer Seite Schwierigkeiten gibt, werden die restriktiven Maßnahmen wieder verstärkt und Sie gehen eventuell auf die D zurück. Dann aber für länger. Verstanden?“ Ich nicke. „Gut, betrachten Sie es als eine Art Bewährungszeit. Sie werden hier in diesem Zimmer für zwei Tage wohnen, essen und schlafen. Das Wetter ist gut, Jasmin wird gleich mit Ihnen einen Spaziergang im Park machen. Sie werden keine Schwierigkeiten machen und falls doch, wird es sofort Konsequenzen geben.“ Ich nicke wieder. „O.K.,“ sagt sie, „wir haben uns verstanden, dann ab nach draußen.“ Das Wetter ist wirklich schön, ich genieße die Sonne, höre die Vögel und fühle die frische Luft.

Nach einiger Zeit kommt Schwester Gerda dazu: „So, Frau Ferner, alle ihre Mitpatientinnen der W2 sind nun im Aufenthaltsraum versammelt und warten auf Sie. Ich möchte, dass alle erfahren, welche Konsequenzen permanentes Fehlverhalten hat. Und dazu bieten Sie das beste Beispiel. Ich freue mich schon darauf, anhand Ihrer Person allen eine Warnnug zu geben. Jasmin, schieben Sie die Patientin bitte zur W2 zurück.“

Ich ahne, was kommen wird, ich will das nicht, ich will nicht zur Schau gestellt werden, nicht vor allen. Ich versuche zu widersprechen, aber es ist so sinnlos, das Mundgitter lässt nur Grunzlaute zu.

Und dann werde ich in den Aufenthaltsraum gerollt. Wegen meiner dicken Brillengläser kann ich niemand der anderen erkennen, ist vielleicht auch besser so. Ich muss aber Schwester Gerdas Vortrag über mich ergehen lassen, die nicht müde wird, sich über mein Verhalten auszulassen und welche tollen Maßnahmen ergriffen werden mussten. Alle müssen nun näherkommen und sich um mich herumstellen, während die Schwester erklärt und erklärt. Und ich mittendrin, vollständig im Rollstuhl fixiert, meine Hände in den steifen Handschuhen, das Gitter vor den Mund geschnallt und mein Kopf samt Helm bewegungsunfähig an der Kopfstütze beschäftigt. Das einzige, was ich tun kann, ist, die Augen zu schließen, und loszuschreien. Und das mache ich auch. Ich schreie und blöke immer lauter, rüttele, so gut es geht, in meinen Fixierungen, bis Schwester Gerda ihrer Vorführung ein abruptes Ende machen muss: „Jasmin, bringen Sie die Verrückte auf ihr Zimmer.“

Dort lässt mich Jasmin endlich aus dem Rollstuhl; ich darf mich wieder bewegen, nur die Handschuhe muss ich noch anbehalten. Am Abend gibt mir Jasmin zu essen, und zum Schlafen ist natürlich Vollfixierung angesagt. Das Mundgitter wird mir auch wieder angelegt.

Der nächste Tag verläuft ganz ruhig und harmonisch. Ich benötige keine Windel mehr, nur beim Spaziergang stecken meine Hände in einem Fesselgurt, zwischendurch darf ich etwas lesen, und statt des Mundgitters legt Jasmin mir den Maulkorb an. Immerhin kann ich nun wieder sprechen. Alles in allem macht Jasmin das gar nicht so schlecht, sie ist doch feinfühliger als ich dachte. Wir unterhalten uns sogar ganz nett, über sie, über mich, Geplauder über Musik und Filme, mal gar nicht so übel.

Die letzte Nacht darf ich sogar unfixiert verbringen, nachdem ich versprochen habe, meinen Maulkorb aufzulassen. Und dann sind die 48 Stunden schon so gut wie vorbei, ich habe die Bewährungszeit hinter mir.


Das Wiedersehen

Am Nachmittag bringt mich Jasmin zu Schwester Dorothea. Die geht mit mir ins Sprechzimmer, wo mich eine mir unbekannte junge Ärztin begrüßt. „Ich bin Marion Herenthal“, stellt sie sich vor, „und bin hier Assistenzärztin. Ich war vorher auf einer anderen Station und bin seit ein paar Tagen hier.“ „Frau Dr. Hartmann hat uns einen Kurzbericht über Ihren Aufenthalt auf Station D geschickt und bis auf den Konflikt mit Frau Kessler ist er recht positiv“, fährt Frau Herenthal fort und lächelt mich an. Ich finde sie sofort sympathisch und erkläre ihr, wieso ich die ersten Tage gar nicht so schlimm fand und dass es mir gut tat, mich nützlich zu machen. „Nun“, meint Frau Herenthal, „wo Sie dran arbeiten müssen, ist Ihr Konfliktverhalten. Da müssen wir Ihre Therapie mehr drauf abstimmen. Bei Frau Kessler natürlich auch. Außerdem halten wir es für das Beste, wenn Sie beide sich möglichst aus dem Weg gehen. Deshalb ist Frau Kessler jetzt auf der Nachbarstation, der W 1. Wir denken, das ist für Sie beide hilfreich.“ Ich atme innerlich auf, das hört sich ja alles gar nicht so schlecht an. „Morgen beginnen wieder Ihre Therapien – hier ist der Plan“, und ich bekomme einen bunten DIN A4-Zettel überreicht. Und mit den Worten „ich wünsche Ihnen ein gutes Wiedereinleben“ bin ich entlassen.
Schwester Dorothea nimmt mir den Helm und den Maulkorb ab und bringt mich nun in den leeren Aufenthaltsraum, wo ich darauf warte, dass das Nachmittagsprogramm der anderen zu Ende geht, und wo ich natürlich sehnsüchtig auf Melanie hin fiebere.

Irgendwann geht die Türe auf, ich höre einen Freudenschrei und dann spüre ich mich nur noch in den Arm genommen und ganz fest gedrückt. Melanie scheint mich gar nicht mehr los lassen zu wollen. Ich bin einfach nur froh, kann aber auch nicht mehr und fange an zu weinen. Ich lasse die Tränen laufen, Melanie drückt mich an sich und lässt mich ihre Nähe spüren.

Und dann ist am Rest des Tages viel erzählen. Melanie hatte von Sven erfahren, dass ich auf Station D sei und das Schlimmste befürchtet. Ich erzähle vom Käfig, von Elfriede und meiner Arbeit, von den Tagen im Rollstuhl. Melanie ist eine gute Zuhörerin, ich fühle mich bei ihr so gut aufgehoben. „Weißt du“, sagt sie, „als wir dich im Park getroffen haben - mich hat es geschaudert. Was musst du durchgemacht haben!“ „Oh, ich habe mich so geschämt“, antworte ich, „auch als mich Gerda euch später noch zur Schau stellte. Die wissen schon, wie sie einen klein machen können.“

Ihr Urlaub hat Melanie richtig gutgetan. „Es war ziemlich harmonisch“, erzählt sie, „und besonders mein Vater hat sich total viel um mich gekümmert. Wir haben ein bisschen die Zukunft geplant. Du kommst doch aus Hannover?“ Ich nicke. „Nun, mir und auch meinen Eltern ist sehr daran gelegen, dass ich mein Studium wieder aufnehme. Meine Mutter hat sich vorgenommen, nicht mehr so zu klammern, und es ist jetzt gut möglich, dass ich mein Studium in Hannover fortsetze. Dann können wir uns ganz oft sehen!“ Dieser Gedanke gefällt mir wirklich sehr gut. Ich denke, ich habe doch eine große Wohnung für zwei, vielleicht können wir ja sogar zusammenwohnen, wage es aber nicht, diesen Gedanken schon auszusprechen. Ich bin jetzt einfach nur froh, dass Melanie wieder da ist und ich eine Perspektive sehen kann. „Melanie, das wäre großartig“, sage ich, „allein der Gedanke daran macht mich schon froh.“


Der Abschied

Ich bin froh, dass das Leben hier für mich nun wieder seinen gewohnten Gang nimmt. Keine Fixierung mehr, kein Knebelgeschirr, keinen Helm und mit den neuen Gläsern in der Brille kann ich mich ausreichend orientieren, weiter entferntes aber auch gut ausblenden. Regelmäßige Therapien, dazwischen ausreichend freie Zeit, das Wetter zeigt sich schon fast frühlingshaft und Melanie und ich haben viele Gelegenheiten, miteinander zu reden und Zukunftspläne zu schmieden.

Eigentlich alles in Ordnung, doch ich weiß, dass Melanie bald gehen möchte. Einmal ist sie zum Gespräch bei Frau Dr. Schardtwald und kommt freudig erregt zurück. „In drei Tagen ist es so weit. Ich fahre nach Hause. Sie sagen, ich hätte mich ausreichend stabilisiert. Um mich zu testen, hätten mich Pfleger und Schwestern immer wieder mal versucht zu provozieren, aber das hätte ich noch niemals gemerkt“, strahlt sie. „Ich glaube, ich habe es geschafft.“ Ich freue mich für meine Freundin, gleichzeitig ist mir zum Heulen. Ich weiß, ich bin noch nicht so weit wie sie, ich brauche noch Zeit. Und ich habe Angst vor der Zeit ohne Melanie.

Dann ist es so weit. Melanies letzte Nacht in der Klinik. Am Abend vorher hat sie ihre Sachen gepackt und wir haben noch einen ruhigen, vertrauten Abend gehabt. Melanie wird nun wirklich nach Hannover ziehen und ihr Studium fortsetzen. Sie hat eine neue Perspektive gewonnen, die würde ich mir auch für mich wünschen…

Am Morgen kommt das Taxi und wir verabschieden uns herzlich aber nur kurz. Ich mag keine Szenen. Und dann ist sie weg. Es ist noch Zeit bis zur Musiktherapie und ich sitze im Aufenthaltsraum und lasse meinen Tränen freien Lauf. Wenigstens ein kleiner Lichtblick, denke ich, ab morgen ist Schwester Yvonne wieder im Dienst. Aber so richtig trösten kann mich das gerade auch nicht. Ich habe die Brille abgesetzt, weil die Gläser sonst von den Tränen verschmiert würden und schluchze vor mich hin. Da höre ich die schnarrende Stimme von Schwester Gerda: „Nun reißen Sie sich mal zusammen. Sie machen mit ihrem Gegreine noch alle Patienten verrückt.“ „Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe“, schluchze ich. „Und setzen Sie sofort Ihre Brille auf. Was soll das denn?“, fährt sie mich an. Da werde ich laut: „Sind Sie taub? Sie sollen mich in Ruhe lassen!“ „Oh, da wird jemand mal wieder frech“, keift Schwester Gerda. „Sie haben wohl Sehnsucht nach Station D?“ Ich springe auf, werfe die Brille in die Ecke und laufe aus dem Raum, bevor ich explodiere – und gleich zwei Pflegern in die Arme. Beide halten mich fest und fragen: „Sollen wir helfen, Gerda?“ „Die Ferner mal wieder“, ist die Antwort. „Die wird wieder frech. Ich denke, sie braucht mal ein bisschen Druck.“ Ich winde mich im harten Griff der Pfleger, schreie, strampele mit den Beinen, aber die beiden heben mich einfach hoch. Die drei bringen mich in ein Zimmer und während mich die Männer halten, holt Schwester Gerda die Zwangsjacke. „Nein“, schreie ich. „Bitte nicht. Bitte nicht wieder die Zwangsjacke. Ich habe doch nichts getan.“ „Oh doch“, sagt die Schwester, „und nun Arme nach vorne. Und wenn Sie sich noch weiter wehren, dann sorge ich dafür, dass Sie unverzüglich auf die D kommen. Da wären Sie meiner Meinung nach sowieso besser untergebracht.“ Ich merke, dass alles keinen Zweck mehr hat und lasse mir widerstandslos die Zwangsjacke anziehen. Bitte nur nicht wieder nach Station D. Und während ich weiter festgehalten werde, setzt Schwester Gerda mir den Ballknebel ein – „Der ist gut gegen Schreien.“ – so dass ich nur noch grunzen kann. Dann holt sie meine Brille, setzt sie mir auf und stülpt mir meinen braunen Lederhelm über – was habe ich den vermisst! Ich werde in einen tiefen Rollstuhl gesetzt, mein Oberkörper wird mit einem Brustgurt festgeschnallt, die Beine werden ebenfalls fixiert und dann wünscht mir Schwester Gerda einen entspannten Vormittag. Arthur und der andere Pfleger schieben mich auf den Flur, ziehen die Bremse fest und lassen mich dort stehen.

Ich habe die Zwangsjacke hier in der Klinik ja schon einige Male verpasst bekommen. Ich kenne das Gefühl des Verpacktseins, der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. Und im Prinzip bin ich damit bisher immer ganz gut klar gekommen. Das soll heute auch nicht anders sein, nehme ich mir vor. Bloß nicht wieder auf Station D. Ich habe Angst, dass ich dann für immer dort bleiben muss.
Ich sitze im Rollstuhl, schaue auf das Muster des Linoleumbodens und hänge so meinen Gedanken nach. Ich will nur noch hier weg, doch wohin genau weiß ich nicht. Tränen verschmieren die Brillengläser, bald kann ich gar nichts mehr sehen und erschöpft döse ich ein. Ich merke, wie ab und zu jemand kommt und nach mir sieht. Das ist aber schon alles und gottseidank werde ich in Ruhe gelassen.

Mittags kommt Jasmin, die ich an ihrer Stimme erkenne. Die hat mir gerade noch gefehlt, denke ich. „Sie machen aber auch Sachen“, erklärt sie mir, „ich soll sie zum Mittagessen bringen.“ Und dann nimmt sie mir den Knebel ab und schiebt mich in den Speisesaal, wo sich gefühlt zwölf Augenpaare nach mir umdrehen. In der Zwangsjacke gefüttert zu werden, ist immer ein besonderes Erlebnis. Toll, wie Jasmin mit dem Löffel vor meinem Mund herumfuchtelt. Aber irgendwann ist auch das überstanden.

Dann schiebt mich Jasmin in mein leeres Zimmer. Arthur ist so nett, mich aus dem Rollstuhl zu befreien und mir den Helm und die Zwangsjacke abzunehmen. Dann hängt er beides mit einem diabolischen Grinsen auf einen Kleiderbügel an den Schrank. Nun schnell zur Toilette und dann ab zur Mittagsruhe. Zum Glück unfixiert, ich habe wohl schon genug gebüßt.


Wieder ein Froschgesicht

„Sie haben den Anweisungen des Personals Folge zu leisten“, weckt mich die Stimme von Frau Dr. Hahn. „Das ist Teil des Therapiekonzeptes und gilt immer. Bei Verfehlungen gibt es Konsequenzen. Das wissen Sie doch.“ Ich setze mich verwirrt hin und stottere: „Aber ich habe doch nur…“ „Unterbrechen Sie mich nicht“, schneidet mir die Ärztin das Wort ab. „Das ist ja nicht das erste Mal, dass es Schwierigkeiten gibt. Tagelang geht alles gut und dann…“ Sie zuckt mit den Schultern. „Schwester Gerda ist gar nicht zufrieden mit Ihnen und ich kann ihr nur recht geben. Sie haben heute Nachmittag Gesprächstherapie?“ Ich nicke. „O.k. Sprechen sollen Sie auch, es gibt ja anscheinend genug Klärungsbedarf.“ Mittlerweile sehe ich Arthur, wie er den Rollstuhl vor mein Bett schiebt. „Bitte nicht schon wieder“, bettele ich, „bitte nicht wieder in den Rollstuhl.“ „Sie haben sich eigenständig die Brille abgesetzt, obwohl das verboten ist. Sie waren unverschämt zu Schwester Gerda. Sie sind weggelaufen und Sie haben sich gegen zwei Pfleger zur Wehr gesetzt.“ „Das ist nicht wahr“, schreie ich. „Und Sie bezichtigen mich der Lüge“, kommt die prompte Antwort. „Aber das können Sie ja gleich Ihrem Therapeuten erzählen.“ „Und wenn Sie jetzt nicht Ruhe geben, dann muss das leider warten“, fügt die Ärztin drohend hinzu. „Der Auszeitraum ist gerade frei.“

Oh, wie ich diese Frau hasse! Sie ist die Schlimmste von allen. „Machen Sie sich bitte im Bad frisch und ziehen Sie eine Windel an“, befiehlt sie mir. Ich stehe auf und gehe ins Bad. Dort denke ich über meine Möglichkeiten nach. Wahrscheinlich werde ich wieder in den Rollstuhl gesetzt, keine tolle Vorstellung. Aber einfach abhauen geht auch nicht, da hätte ich keine Chance. Ich mache mich schnell fertig, gehe zurück aufs Zimmer und nehme mir vor, alles über mir ergehen zu lassen. „So, nun für den Rest des Tages in den Rollstuhl, damit Sie uns nicht wieder weglaufen“, befiehlt die Ärztin. Arthur hält mich am Oberarm und ich setze mich in den Rollstuhl. Bei jedem Gurt, den er schön fest zuzieht, kichert er in sich hinein. Der Oberkörper, die Beine, selbst die Handgelenke werden am Rollstuhl fixiert.

„Nun“, fragt Frau Dr. Hahn, „wissen Sie noch, was ich Ihnen gesagt hatte, als sie schon einmal ohne Brille erwischt wurden?“ Ich glaube, ich weiß, worauf sie hinaus will. Wieder diese schreckliche Schwimmbrille? „Ich hatte meine Brille nur abgenommen, weil…“, möchte ich sagen. „Sie haben Ihre Brille nicht nur abgenommen sondern auch im Effekt durch den Raum geschleudert, das läuft unter Fehlverhalten“, unterbricht mich die Ärztin. „Sie erinnern sich an dieses hübsche Modell?“ fragt sie und holt dabei jene scheußliche Schwimmbrille aus ihrer Kitteltasche, die ich schon einmal tragen musste. „Da sind noch Ihre Gläser vom letzten Mal drin. Das war ja jetzt in dieser Hinsicht ihre zweite Verfehlung“, fährt sie fort, „das heißt - und so ist die Sanktion, die ich ihnen auch angekündigt hatte - Sie tragen diese Brille jetzt eine Woche ununterbrochen, verstanden?“ „Nein, bitte nicht, bitte, bitte nicht“, flehe ich. „Arthur“, sagt die Ärztin. Und Arthur zieht mir die Schwimmbrille über den Kopf, so dass sie schön stramm sitzt. Augenblicklich verfällt die Umgebung wieder in Dunst und Nebel. Dann wird das, was in der Nähe ist, wenigstens ein bisschen klarer. Ich bekomme noch mit, wie mir der Helm aufgesetzt wird. Klar, der darf nicht fehlen, wenn ich wie ein Depp aussehen soll.
„So, ab mit Ihnen zur Therapie. Arthur bringt sie hin. Und wenn es heute noch einmal Probleme gibt – auf Station D ist immer ein Bett für Sie frei.“ Und mit diesen Worten bin ich entlassen.

Die heutige Gesprächstherapie lasse ich mehr oder weniger über mich ergehen und antworte nur einsilbig. Ich schäme mich so. Der Psychologe möchte mir entlocken, was mich in die Fixierung gebracht hat. Ich würde es ihm vielleicht erzählen, wenn wir allein wären, jedoch nicht vor den anderen. Am Ende der Sitzung hält er mich zurück. „Frau Ferner, Sie müssen schon mehr kooperieren“, ermahnt er mich. „Beim nächsten Mal“, verspreche ich, „heute ging es einfach nicht.“ Und dann steht schon Arthur in der Tür und bringt mich in den Aufenthaltsraum.

„Wann darf ich denn endlich aus dem Rollstuhl raus?“ frage ich ihn. „Vor dem Abendessen“, verspricht er mir und rollt mich auf den Flur. Anne und Amelie kommen zu mir, als er gegangen ist, und flüsternd erzähle ich ihnen, was mir heute passiert ist und wie es mir geht. Wie gut tut es, als sie mich ganz fest drücken. Ich bin doch nicht alleine hier.

Überraschung am Abend. Melanies Bett ist frisch bezogen. „Morgen kommt jemand neues auf Ihr Zimmer“, erklärt mir Arthur, als ich brav ins Bett gegangen bin. Vorher hatte Jasmin mir eine Nachtwindel angezogen. Mir schwant deshalb Böses. Tatsächlich, und dann fixiert mich Arthur an Füßen, Händen und am Rumpf. „Hatte Jasmin mittags ja nicht gemacht und einen ordentlichen Rüffel bekommen. Muss sein, sagt die Ärztin“, kommentiert er. Die Brille muss ich natürlich aufbehalten. Ich lasse alles geschehen, möge der Tag nur vorbei gehen. Aber innerlich bebe ich vor Zorn. Ich habe so gut wie nichts Schlimmes getan und werde den ganzen Tag über bestraft. Ich halte lieber den Mund, habe keine Lust auf einen Knebel. Aber als ob Arthur meine Gedanken geahnt hätte, holt er mein Knebelgeschirr aus dem Nachtschränkchen und legt es mir mit einem zufriedenen Grinsen an. Na wenn schon, das werde ich auch überleben. Ich grunze ein „fi**k dich“ in den Knebel und warte, bis er endlich geht.
43. RE: Sechs Monate

geschrieben von pauli2004 am 27.10.22 10:49

Oh wei oh wei, ich fürchte, dass der Aufenthalt von Frau Ferner noch verlängert werden muss. Aber ich kann sie gut verstehen, ich glaube, es würde mir genauso gehen.
Bitte schnell weiterschreiben, es ist echt spannend.
44. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 27.10.22 15:31

Kim

Am Morgen weckt mich eine gut gelaunte Yvonne. „So, da bin ich wieder“, begrüßt sie mich, „ich hatte eine Woche frei, war noch Alturlaub. Ich habe gerade die Dokumentation gelesen, Sie haben wohl gestern eine Menge Ärger veranstaltet. Aber bestimmt wird heute ein besserer Tag.“ Ich schaue sie mit großen Augen fragend an. Welche Lügen und Übertreibungen haben die denn in die Berichte geschrieben, frage ich mich.

Yvonne löst meine Fixierungen und ich setze mich vorsichtig auf den Bettrand. Sie nimmt mir das Knebelgeschirr ab und ich sprudele los: „Ich habe gestern gar nichts gemacht, war nur so traurig wegen Melanie.“ „Naja, es stand da etwas von weglaufen und herumschreien“, antwortet Yvonne. „Ja, das stimmt, aber Schwester Gerda hat mich einfach nicht in Ruhe gelassen.“ „Am besten vergessen Sie das Ganze. Die Kollegin hat nun drei Tage frei und Sie können diesen Tag einfach neu beginnen.“ Na, die hat gut reden, denke ich, schon mal einen ganzen Tag unfreiwillig im Rollstuhl verbracht?

„Sie haben ja das frisch bezogene Bett gesehen. Gestern ist jemand neues gekommen. Sie heißt Kim Lorenz und ist ein wenig jünger als sie. Ich glaube 19“, erzählt Yvonne, „ es geht, wenn ich es richtig gelesen habe, bei ihr um selbstverletzendes Verhalten. Ritzen in exzessivem Maße. Vielleicht haben Sie ja Lust, sie etwas unter Ihre Fittiche zu nehmen.“
„Und kriegt sie das gleiche Willkommensprogramm wie ich?“, frage ich Yvonne. „Wie meinen Sie das?“ kommt die Gegenfrage. „Zwangsjacke, Knebel und Gummizelle und dann zur Schau gestellt zur Abschreckung“, ist meine prompte Antwort. „Das entscheiden die Ärzte“, Yvonne zuckt mit den Schultern, „komm, machen Sie sich fertig.“
Heute nach dem Frühstück ist erst mal eine Gymnastikeinheit. Ich freue mich schon darauf und hoffe auf andere Gedanken zu kommen. Die Erlebnisse gestern machen mir sehr zu schaffen, ich fühle mich so ungerecht behandelt und bin heilfroh, Schwester Gerda drei Tage nicht zu begegnen.

Mittags schaue ich mich im Speisesaal um, kann aber niemand Unbekannten entdecken. Gerade habe ich mich zur Mittagsruhe auf mein Bett gelegt, schieben Sven und Arthur einen Rollstuhl herein. Darin sitzt eine Frau, doch viel kann ich nicht von ihr erkennen. Auch ihr hat man eine dicke Brille verpasst und sie hat natürlich einen hübschen Lederhelm auf. Ich gehe etwas näher heran und erkenne, die Frau ist bewusstlos und ihr Kopf etwas zur Seite gesackt. Ihre Hände stecken in Fäustlingen.

„Tja, Frau Ferner, in unserem Beruf gibt es doch immer wieder was Neues“, meint Arthur zu mir, „diese Patientin ist gerade frisch angekommen und schon beim Eingangsgespräch mit der Ärztin völlig ausgetickt. Bekam sofort eine Beruhigungsspritze, weil alles andere keinen Sinn mehr hatte, und schläft nun schon seit zwei Stunden. Wir legen sie jetzt ins Bett und Sven hat ein Auge drauf.“
Die beiden heben die Frau ins Bett und mir fällt auf, wie klein und zart sie ist. Sie wird natürlich sorgfältig fixiert, auch der Kopf wird nicht vergessen. „Die wird sich wundern, wenn sie aufwacht“, meint Arthur, „willkommen auf der W 2, Frau Lorenz.“

Wenig später - ich bin alleine mit ihr im Zimmer – merke ich, dass sie aufwacht. Sie rüttelt an ihren Handgurten, versucht den Kopf zu heben und fängt dann an zu schreien. Ich bin sofort bei ihr, lege ihr vorsichtig die Hand auf den Mund und versuche sie zu beruhigen: „Sei lieber still jetzt. Warte, ich erkläre dir alles.“ Frau Lorenz schaut mich mit vor Panik groß aufgerissenen Augen an und wimmert: „Nein, nein.“ „Pst“, mache ich, „pst.“ Da kommt schon Sven ins Zimmer und guckt mich fragend an. Dann setzen wir uns an beide Seiten des Bettes und sprechen mit ihr. Sven kann ja recht empathisch sein und auch jetzt erfasst er gut die Situation. Er hält sich mehr im Hintergrund, während ich eine Hand der Frau fasse und mit ihr rede. „Du, ich bin Katrin. Ich bin auch eine Patientin wie du und schon länger hier. Wenn du kannst, werde ruhig oder stell Fragen, aber bloß keine Schreie mehr, bitte!“ Sie guckt mich mit ihren von den dicken Gläsern vergrößerten Augen an: „Ich kann nichts sehen. Ich kann mich nicht bewegen. Was habt ihr mit mir gemacht?“ Sven schaltet sich ein: „Ich werde Sie gleich losmachen. Aber hören Sie erst einmal zu!“

„Also, wie gesagt, ich bin Katrin. Und wie heißt du?“ „Kim“, murmelt sie. „Du warst schon bei der Ärztin?“ frage ich. „Ja, aber ich kann mich an nicht mehr viel erinnern.“ „Frau Lorenz“, schaltet sich Sven ein, „Sie sind hier, um ihr selbstverletzendes Verhalten therapieren zu lassen. Frau Dr. Schardtwald hat Ihnen unser Konzept erklärt. Ein Baustein sind verschiedene Maßnahmen zur Reizreduzierung. Deshalb tragen Sie in der nächsten Zeit diese Brille mit den ziemlich starken Gläsern, um Außenreize zu minimieren. Haben Sie verstanden?“ „Aber ich kann doch nichts sehen“, stammelt Kim. Sven macht die Fixiergurte los. „Jetzt setzen Sie sich erst einmal hin.“

Kim setzt sich mühsam auf. „Erkennst du mich?“ frage ich. „Ja“, sagt Kim und zu Sven gewandt, „und Sie auch. Aber dahinter ist alles verschwommen.“ „Das soll wohl so sein“, bemerke ich. „Du wirst dich daran gewöhnen. Guck mich an, wie ich aussehe. Aber es gab genug Situationen, da fand ich es gar nicht so schlecht, alles ausblenden zu können.“ „Und wenn Sie Kopfschmerzen bekommen sollten, können wir Ihnen gerne etwas dagegen geben“, ergänzt Sven. „Im Übrigen wird die Stärke der Gläser nach und nach reduziert.“
„Und warum war ich hier festgeschnallt“, fragt Kim. „Das ist zu Beginn bei allen Neupatienten üblich. So lange, bis wir sicher sind, dass keine Fremd- oder Selbstgefährdung vorliegt. Frau Dr. Schardtwald hatte Ihnen vorhin einiges zu unserer Verhaltenstherapie erklärt“, erklärt der Pfleger, „dabei ist wichtig, dass Sie wissen, wie bei negativem Verhalten sanktioniert wird. Als sie Ihnen die Zwangsjacke zeigte, sind Sie ziemlich aggressiv geworden und konnten sich kaum beruhigen. Wir mussten Ihnen deshalb eine Beruhigungsspritze geben.“ Sven schaut auf seinen Pieper. „Ich bin gleich wieder da. Frau Ferner, bleiben Sie bitte bei Frau Lorenz, ja?“ „Mach ich, Sven“, sage ich und bin froh, kurz mit Kim allein zu sein.

Sie ist so jung und zart und tut mir fast ein bisschen leid mit der monströsen Brille und dem Lederhelm. „Du, Kim, ein Rat vorweg. Du kannst dir hier nichts, aber auch gar nichts leisten. Alles wird sofort bestraft. Gutes Verhalten aber auch belohnt. Zuckerbrot und Peitsche halt. Und ich glaube, du hast noch Glück heute, dass nicht die andere Schicht da ist. Sven und Schwester Yvonne sind echt nett. Auch mit Frau Dr. Schardtwald und Frau Herenthal lässt sich reden. Wenn die anderen da sind, Frau Dr. Hahn oder Schwester Gerda musst du erst recht aufpassen.“ „Wo bin ich hier nur gelandet?“ fragt Kim. „Bist du nicht freiwillig hier?“ frage ich zurück. „Na, so halb. Ich war wegen Ritzen und eher halbherzigen Suizidversuchen schon dreimal in der Jugendpsychiatrie. Und da ich die Medikamente nur schlecht vertrug, meinte mein Psychiater, eine Verhaltenstherapie sei einen Versuch wert. Die Alternative wäre die längerfristige Zwangseinweisung.“ „Melanie, die bis gestern auf diesem Zimmer war, hat das hier alles geholfen“, sage ich, „bei mir bin ich da nicht so sicher.“ „Aber man hat hier genug Zeit, miteinander zu reden“, fahre ich fort, „und die meisten Therapien sind auch nicht schlecht. Aber es gibt hier halt ein ganz rigides Bestrafungssystem, um wie sie sagen, die Selbststeuerung zu stützen.“

„Und was passiert jetzt?“ fragt mich Kim. „Ich vermute, dass übliche Programm“, ist meine Antwort, „Kennenlernen der Bestrafungen. Ich musste eine Zwangsjacke anziehen, wurde mit einem Knebel ruhig gestellt und kam in den Auszeitraum, sprich Gummizelle.“ Kim guckt mich ungläubig an. „Sven weiß vielleicht mehr.“
Da kommt Sven auch schon wieder zurück. „Frau Lorenz, ich soll Sie jetzt sofort zur Ärztin bringen. Das Gespräch geht weiter. Und ich möchte Sie in Ihrem eigenen Interesse bitten, zu kooperieren.“ „Und was macht ihr jetzt mit mir?“ fragt Kim den Pfleger. „Wahrscheinlich werden Sie die Schutzjacke anziehen und den Auszeitraum kennenlernen. Aber nur für eine kurze Zeit und nun kommen Sie. Frau Ferner werden Sie, wenn alles gut läuft, zum Abendessen wiedersehen.“ Und dann schließt Sven einen Gurt um Kims Hüften, befestigt ihre Fäustlinge daran und führt sie aus dem Zimmer.

Ich bleibe zurück und denke an meine ersten beiden Tage. Melanie im Rollstuhl fixiert auf dem Flur, ich mittags auch im Rollstuhl und zur Schau gestellt, mein erster Zusammenstoß mit Schwester Gerda, was war ich abends fertig!
Meine Kunsttherapie beginnt erst in einer dreiviertel Stunde, vielleicht bekomme ich ja mit, wie es Kim ergeht. Ich gehe Richtung Gemeinschaftsraum und warte dort an der Tür. Und richtig, nach kurzer Zeit kommen Sven und ein anderer Pfleger, haben Kim in ihrer Mitte und bringen sie in die Gummizelle. Wie nicht anders zu erwarten, hat sie die Zwangsjacke an. Und der Ballknebel darf natürlich auch nicht fehlen.


Ein Gespräch bei Frau Dr. Schardtwald

Das Leben in der Klinik nimmt nun wieder seinen normalen Lauf. Tagsüber verschiedene Therapiestunden, abends recht früh ins Bett, nennenswerte Konflikte bleiben zum Glück aus. Ich bemühe mich um Kim, aber sie ist ziemlich verschlossen, wenn nicht sogar eingeschüchtert. Von sich aus spricht sie kaum, stellt wenig Fragen, die ganze Kommunikation mit ihr ist eher eine Art Einbahnstraße. Sie wirkt auf mich wie ein verschrecktes Reh, die Augen, welche durch die Brille stark vergrößert sind, immer ängstlich aufgerissen. Ihre Hände stecken den ganzen Tag in Fäustlingen, die ihr nur beim Essen abgenommen werden und die eine Selbstverletzung unterbinden sollen. Kim scheint sich in alles zu fügen. In den Nächten ist sie allerdings sehr unruhig, sie schläft schlecht und die Fixierung macht ihr zu schaffen.

Meine Strafe, sieben Tage mit dieser scheußlichen Schwimmbrille, wurde noch verschärft. Auch ich muss jetzt die Schutzhandschuhe tragen und werde im Bett wieder am Rumpf, den Beinen und den Handgelenken fixiert, weil ich es einmal gewagt habe, diese Brille mal kurz abzusetzen. Damit das nicht noch mal vorkommt, müssen diese Maßnahmen sein, wird mir erklärt. Was bin ich froh, als die Woche vorbei ist und ich das Teil loswerden kann! Aber die Abdrücke um meine Augen werden mich noch einige Tage begleiten.

Nach drei Wochen werde ich zu einem Gespräch zu Frau Dr. Schardtwald beordert. Großer Bahnhof, anwesend sind auch Frau Dr. Hahn und die junge Assistenzärztin Frau Herenthal. „Ja, Frau Ferner“, beginnt die Chefärztin, „nun sind Sie schon fünf Monate bei uns. Bald läuft die Maßnahme aus, spätestens dann müssen wir sehen, wie es weitergeht. Sie sind freiwillig zu uns gekommen und können nach Ende der Maßnahme wieder gehen. Das wissen Sie.“ „Aber natürlich unter dem Vorbehalt, dass nichts vorkommt, was eine Zwangseinweisung nach sich führt,“ ergänzt Frau Dr. Hahn. Ich nicke und denke, das hättest du wohl gerne. „Über Ihre Entwicklung sind wir durchaus unterschiedlicher Ansicht“, fährt die Chefärztin „Ich bin aber ein positiv eingestellter Mensch und sehe trotz aller Rückschläge vor allem die positiven Tendenzen. Und beides gibt es bei Ihnen. Uns ist vor allem aufgefallen, dass sich trotz einiger Vorkommnisse ihr Sozialverhalten gebessert hat. Deshalb gehen wir davon aus, dass Sie mit äußeren Reizen nun besser zurechtkommen und wir auf künstlich hervorgerufene Reizreduzierung verzichten. Sprich: Sie versuchen es ohne Brille und tragen Ihre normale Kleidung. Sollte es zu negativen Zwischenfällen kommen, werden die Ihnen bekannten Therapiemaßnahmen wieder in Kraft treten. Haben Sie noch Fragen dazu?“ Ich lächele sie an, bedanke mich für das Vertrauen und setze die Brille ab. Wie immer sehe ich zuerst unscharf, doch dann kann ich die Umwelt wieder genauer fokussieren.

„Sie müssen klare Vorstellungen darüber entwickeln, wie Ihr Leben nach einer möglichen Entlassung aussehen soll“, erklärt die Ärztin weiter. „Das wird das übergeordnete Ziel der Therapie in der nächsten Zeit sein. Sollten Sie nach den insgesamt sechs Monaten der Ansicht sein, Sie seien noch nicht gefestigt genug für eine Entlassung und entspricht das auch unserer Wahrnehmung, so benötigen wir einen richterlichen Beschluss. Das wird dann eine temporäre Zwangseinweisung sein.“ – Bei dem Wort zucke ich zusammen. – „Und weil das hier eine Modellstation mit wenigen Plätzen und hoher Anfrage ist, müssten wir Sie dann erst einmal auf Station C oder D unterbringen.“

Mir wird heiß und kalt zugleich, als ich das höre. Innerlich bin ich hin und hergerissen. Die Klinik hat trotz allem etwas Geborgenes für mich, aber auch natürlich etwas sehr Einschränkendes. Es tut gut, von allen Verpflichtungen frei zu sein, nicht alles selbst bestimmen und entscheiden zu müssen, andererseits sehne ich mich nach Freiheit, nach Privatsphäre, shoppen zu gehen, ins Cafe zu gehen, ins Kino, mal andere Menschen zu treffen. Und habe doch Angst davor, dass es schief geht.
Ich antworte ausweichend: „Die Station D kenne ich. Was ist denn Station C?“ „Relativ viele restriktive Maßnahmen bei Patientinnen, die wir allerdings noch nicht als austherapiert ansehen“, antwortet Frau Dr. Hahn. „Um sich ein Bild davon zu machen, können Sie gerne ein paar Tage dort verbringen. Das würde gehen.“ „Ehrlich gesagt, ich weiß noch nicht so recht, was ich möchte. Habe ich noch Zeit zu entscheiden?“ „Natürlich“, antwortet Frau Dr. Schardtwald, „sofern nichts Gravierendes vorfällt, sollten wir in zwei Wochen ausführlich darüber sprechen.“

Und damit bin ich entlassen. Schwester Dorothea kommt mit und gibt mir auf meinem Zimmer meine Reisetasche und meine bei der Ankunft getragenen Sachen zurück. Ich finde es toll, nun wieder ganz normal herumlaufen zu können. Es ist ein seltsames Gefühl, auf einmal keine Brille mehr zu tragen. Eine Brille aufzusetzen finde ich ja faszinierend, nein fast erregend – und jetzt zum ersten Mal nach Wochen ohne Gestell auf der Nase zu sein, ist schon komisch.
45. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 29.10.22 12:20

Der Zwischenfall

So langsam scheint Kim Vertrauen zu mir zu fassen. In der freien Zeit und beim Essen sucht sie meine Nähe, spricht mich nun auch häufiger an. Sie erzählt mehr von sich, von ihrem Zuhause, den Schwierigkeiten mit ihren Eltern, ihrem übermächtigen Drang sich selbst weh zu tun, wenn sie gestresst ist. Sie fragt mich danach, wie ich hier zurechtkomme, ob ich schon einmal bestraft worden bin. Um Kim nicht Angst zu machen, gehe ich bei dieser Frage nicht allzu sehr ins Detail ein, lasse aber durchblicken, dass man gut beraten ist, sich möglichst zu kontrollieren.

Mit dem eingeschränkten Sichtfeld tut sich Kim schwer. Ein paar Mal ist sie schon gestürzt und konnte sich wegen der Fäustlinge nicht richtig abstützen. Der Helm und ihr gut gepolsterter Overall verhinderten Schlimmeres. Beim letzten Mal hat sie sich dann, noch auf dem Boden sitzend, die Brille abgesetzt und weggelegt. Ich setzte sie ihr schnell wieder auf, bevor das negativ auffiel. Danach ihr trauriger Blick wie bei einem verwundeten Tier…
Das hatte übrigens dann doch jemand vom Personal bemerkt; Arthur legte Kim gleich den Hüftgurt um und fixierte ihre Handgelenke an den Seiten. Ja, es entgeht ihnen nichts.

Einmal morgens nach dem Aufwachen, als Kim noch schlafend im Bett lag, habe ich mal ihre Brille aufgesetzt. Die Gläser müssten ungefähr die gleiche Stärke haben wie meine am Anfang; ganz schön heftig die Einschränkung - wie wird die Welt um einen klein, wenn man kaum einen Meter weit scharf sehen kann.

Es ist ein regnerischer Samstagnachmittag. Vor ein paar Tagen ist Schwester Gerda zur Oberschwester befördert worden. Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung wie es heißt. Wenn nun, wie es schon mal am Wochenende vorkommt, eine Ärztin für mehrere Stationen zuständig ist, hat sie auf unserer Station das Sagen.

Wir Frauen sind im Gemeinschaftsraum, sehen fern, andere spielen zusammen oder blättern in Zeitschriften. Da höre ich ein regelmäßiges patschendes Geräusch, das immer lauter wird. Ich sehe Kim am Fenster stehen. Sie schlägt sich immer kräftiger mit ihren in Fäustlingen steckenden Händen gegen ihren Lederhelm. Kim wirkt wie in Trance. Ich stehe auf und rufe: „Hey, Kim, hey, hör mal“, um sie aus ihrer Abwesenheit herauszuholen. Kim hört kurz auf, schaut herüber und schlägt dann weiter. Ich laufe zu ihr hin und halte ihre Hände fest. „Frau Lorenz, was machen Sie denn da?“ höre ich die Stimme der Oberschwester und an mich gewandt: „Und Sie, Frau Ferner, mischen sich da nicht ein.“ Ich lasse Kims Hände los, die sofort wieder beginnt, sich an den Kopf zu schlagen. Oberschwester Gerda stellt sich vor Kim hin, will gerade nach Kims Händen greifen, da stößt Kim die Schwester mit ihren Fäustlingen gegen den Oberkörper. Sehr weh kann das nicht getan haben, doch die Oberschwester schnaubt: „Diese Attacke wird Konsequenzen haben.“ Dann verlässt sie den Raum.

Ich nehme Kim in den Arm, sie fängt an zu weinen und kuschelt sich an mich. Auch alle anderen Frauen sind zu uns gekommen, Anne streichelt Kim über die Schultern, Amelie hockt vor ihr und hält Kims Hände.
Die Oberschwester und die Pfleger Sven und Arthur eilen in den Raum, Arthur mit einem weißen Päckchen unter dem Arm. „Frau Lorenz, Sie kommen bitte sofort mit“, kommandiert Schwester Gerda. Ich erkenne, dass Arthur eine Zwangsjacke mitgebracht hat, und versuche zu intervenieren. „Kim hat sich doch schon fast beruhigt. Wir kümmern uns um sie.“ Anne und die anderen nicken. „Mischen Sie sich nicht in therapeutische Maßnahmen ein“, ist die barsche Antwort, „Frau Lorenz, los mitkommen!“ Arthur greift nach Kims Arm, die sich nur noch fester an mich klammert. „Bitte, lassen Sie sie hier“, bettele ich, „wir kriegen das schon hin.“ „Gerda,“ wendet nun Sven ein. „Nun mach mal halblang, die Situation ist doch unter Kontrolle.“ Nun hat die frisch ernannte Oberschwester Angst, ihr Gesicht zu verlieren. „Habe ich um deinen Rat gefragt?“ faucht sie Sven an und greift dann unwirsch nach Kims Arm. Doch die anderen Frauen haben den Kreis um Kim und mich, Gerda und Arthur geschlossen, es wird unruhig und ungemütlich für die beiden. Sie wagen es nicht, Kim herauszuholen. Die Oberschwester richtet sich auf: „Das ist Aufruhr, Rebellion!“ und mit einem Blick auf mich: „Und ich weiß, wem ich das zu verdanken habe. Arthur, kommen Sie!“ Und beide stampfen aus dem Raum.

So eine Situation haben wir hier noch nie erlebt. Wir sind erst einmal ein bisschen baff, doch nach einer Weile wird die Tür erneut aufgerissen und die Oberschwester in Begleitung von sechs Pflegern kommt entschlossen auf uns zu. „So, jetzt ist Schluss mit lustig! Bernd und Arthur, Sie nehmen Frau Lorenz.“ Wir merken, dass wir jetzt keine Chance mehr haben, und lassen Kim los. Die wird von den beiden Männern in die Mitte genommen und dann in einen Rollstuhl bugsiert, den ein dritter Pfleger in den Raum fährt. Kim schreit, weint und tobt, doch natürlich kann sie nichts gegen die drei machen. Im Rollstuhl festgeschnallt wird ihr ein Knebel verpasst und dann von Arthur und Bernd aus dem Gemeinschaftsraum gefahren. „So, ab in die Weichzelle!“ hören wir noch Arthur rufen.

„So und jetzt zu uns beiden“, spricht mich die Oberschwester an. „Was fällt Ihnen eigentlich ein, hier solch einen Aufruhr zu veranstalten?“ „Aber ich habe doch nur…“, will ich sagen, doch Schwester Gerda schneidet mir das Wort ab: „Sie haben hier gar nichts zu sagen. Ich werde dafür sorgen, dass entweder Sie oder diese Frau Lorenz auf ein anderes Zimmer kommen. Diese Zweisamkeit scheint Ihnen ja nicht gut zu tun. Und zum Glück können wir heute schon damit anfangen. Eddie?“ wendet sie sich an einen Pfleger, „zieh ihr die Jacke an“, und an die anderen: „Wenn noch jemand Lust hat, sich in Dinge einzumischen, die einen nichts angehen; nur zu: Auszeiträume gibt es hier mehr als einen.“

Einen Moment überlege ich, die Schwester beiseite zu schubsen und wegzulaufen, doch ich realisiere schnell, dass ich nichts mehr ausrichten kann. Auch die anderen Frauen wirken eingeschüchtert. Da mischt sich Sven noch einmal ein: „Gerda, komm, lass uns eben miteinander sprechen. Wir können das hier noch zu einem vernünftigen Ende führen.“ „Sven“, zischt sie zurück, „hast du mich nicht verstanden? Ich brauche deinen Rat nicht. Und wenn du so weitermachst, brauchen wir hier auch deine Arbeit nicht mehr. Ich kann gut auf dich verzichten.“ Dann baut sich Eddie vor mir auf und befiehlt: „Los, die Arme nach vorne!“ Dann stülpt er die Ärmel der Zwangsjacke über meine Arme. Der Mistkerl zieht dann die Riemen und Schnallen besonders fest zu, so dass mir fast die Luft wegbleibt. Alsdann verschränkt er meine Arme und Schwester Gerda befestigt die Enden an meinem Rücken. Sie lässt es sich auch nicht nehmen, den Schrittgurt so stramm zu ziehen, dass es richtig weh tut. „So gefallen Sie mir schon besser“, murmelt sie dabei. Es ist Sven, der einen tiefen Rollstuhl bringt. Ich werde hineingesetzt und die Oberschwester selbst beginnt mich zu fixieren. „Ich habe Sie schon länger nicht mehr mit einem Ballknebel gesehen“, meint sie hämisch und zwei Minuten später hat ihn schon einer der Männer geholt und mir angelegt.

Die anderen Frauen haben erschrocken zugesehen. „Falls sich noch jemand mit mir anlegen will…“, schnaubt die Oberschwester herausfordernd und blickt fragend in die Runde. „Frau Ferner werden Sie so schnell nicht wiedersehen. Übrigens, Frau Ferner“, wendet sie sich mir wieder zu, „ ihr latent aggressives Verhalten, das schreit förmlich nach einer richterlichen Verfügung und einer Zwangseinweisung. Wir werden das im Leitungsteam sehr bald besprechen.“

„Soll sie nicht besser noch eine Brille tragen?“ fragt Eddie. „Das ist eine sehr gute Idee“, antwortet die Oberschwester. „Damit Frau Ferner Dinge, die sie nichts angeht, gar nicht erst bemerkt. Und bringen Sie dann bitte auch einen Helm mit.“
Eddie ist sofort zurück und hält in der Hand eine schwarzrandige Brille mit dicken, großen Gläsern und einem Gurt zusätzlich zu den Bügeln. „So, Frau Ferner, dann wollen wir mal“, murmelt er, setzt mir die Brille auf und befestigt sie mit dem Gurt an meinem Hinterkopf. Die weichen Ränder der Brille drückt er etwas an meine Gesichtshaut, so dass sie hauteng sitzt. Augenblicklich verschwimmt die Welt im Nebel. Dann wird der Ballknebel noch mal schön stramm gezogen und der Helm auf meinen Kopf gestülpt und unter dem Kinn festgemacht. „So, fertig für Station D“, meint Gerda, „erst mal auf unbestimmte Zeit. Habe gerade mit denen gesprochen. Auf der 2 ist noch ein Bett frei. Da ist das volle Programm für Sie vorgesehen. Ja, Frau Ferner, ich glaube, so schnell werden wir uns nicht wiedersehen.
Tja, D wie dauerhaft,“ fährt sie fort, „aber ich glaube, ich übernehme demnächst mal eine Vertretung dort, um zu gucken, was aus Ihnen geworden ist. Darauf freu ich mich jetzt schon.“
Ich werde auf den Flur geschoben, während die Oberschwester telefoniert. „Sven“, erteilt sie den Befehl, „auch wenn du mir gerade unqualifiziert widersprochen hast, du kannst deinen Fehler wieder gut machen. Bring unsere Patientin auf Station D 2. Die wissen dort schon Bescheid.“

Sven schiebt mich schnell über den Flur und dann in den Fahrstuhl. Als die Tür zu ist, öffnet mir Sven den Knebel und ich bringe ein schnelles „muss ich jetzt für immer auf Station D bleiben“ heraus. Er schüttelt den Kopf: „Dafür muss ein richterlicher Beschluss her. Und den müssen die Ärztinnen erst einmal beantragen. Ich habe alles mitbekommen, weil ich an der Tür stand. Auch Yvonne hat den Vorfall mitgekriegt. Ich weiß, dass Sie nichts Schlimmes gemacht haben, dass Sie ruhig geblieben sind und nur Ihre Hilfe angeboten haben. Aber das hat die Oberschwester wohl als Kratzen an ihrer Macht gesehen.“ Er schaut mich an: „Heute lässt sich nichts mehr machen. Morgen werde ich versuchen, mit Frau Dr. Hahn zu sprechen. Doch ehrlich gesagt habe ich wenig Hoffnung, dass sie eingreifen wird. Sie wissen schon, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Aber am Montag hat zuerst Frau Herenthal Dienst und mittags kommt noch die Chefärztin dazu. Denen werde ich erzählen können, was heute passierte. Die müssen Sie rausholen.“

Und damit geht die Aufzugstür wieder auf, Sven schließt schnell den Knebel und übergibt mich an Pfleger Eddie. Der hat schon die Tür zur Gummizelle aufgeschlossen und fährt mich bis an die Tür. Dann lösen beide die Gurte, helfen mir aus dem Rollstuhl und führen mich in die Zelle. Es wird von außen abgeschlossen und ich lasse mich in der Ecke auf den Boden sinken. Um mich herum sehe ich nur verschwommenes Weiß.

Kurze Zeit später kommen zwei fremde Schwestern herein. „Frau Ferner, kommen Sie bitte mit, wir ziehen Ihnen jetzt eine Windel an.“ Die beiden helfen mir an den Griffgurten der Jacke hoch und führen mich in einen anderen Raum. Dort setze ich mich zunächst auf eine Liege und dann umschließen die Schwestern sofort mit festen Gurten meine Unterschenkel. Eine fragt: „ Können wir davon ausgehen, dass Sie kooperieren, wenn wir Ihnen eben die Schutzjacke ausziehen, um Ihnen eine Windel anzulegen?“ Ich grunze bereitwillig. Dann lösen sie die Zwangsjacke und ziehen sie mir aus. Sofort werden meine Handgelenke an der Liege festgegurtet und dann machen sich beide an mir zu schaffen. „Sie wird ja nun etwas länger unsere Patientin sein“, meint eine der beiden, „nach allem, was bisher vorgefallen ist, ist das vielleicht auch besser so.“ „Ja, die Kleine soll wohl auf unbestimmte Zeit bei uns bleiben“, sagt die andere, „Gerda hat so etwas angedeutet. Ich glaube, Elfriede war ungefähr im selben Alter, als sie kam, oder? Mal eben den Po hoch. Und die ist immer noch hier.“ „Das war vor meiner Zeit“, sagt die erste Schwester wieder. „Heinz und Ingeborg haben es bei der hier ja auf die pädagogische Tour versucht. Gebracht hat es ja nicht viel, wie es aussieht.“ Mittlerweile bin ich unten herum schon gut verpackt. „Aber die hier kennt ja schon die Station D und wird sich hier sicher bald gut einleben. Bleibt ihr ja auch nichts anderes übrig, wir sollen die harte Tour fahren.“ Mich durchfährt bei diesen Worten ein eisiger Schreck. Das klingt so endgültig, was sie sagen. Bin ich jetzt für immer weggesperrt? Ich denke an Elfriede, die schon seit dreißig Jahren hier ist, und mir wird einen Moment übel. „So, Frau Ferner, mal eben hinsetzen.“ Die beiden lösen die Handgurte und helfen mir auf. „So, und die Arme schön nach vorne.“ Sie ziehen mir die Zwangsjacke wieder an, ziehen die Gurte auf meinem Rücken besonders fest – „die lockern sich schon von selbst etwas“ – und dann verschränken sie meine Arme und befestigen die Gurte. „Es besteht die Anweisung,“ erklärt mir nun eine der beiden, „dass Sie rund um die Uhr eine Windel tragen sollen und für die nächste Zeit auch wieder die Schutzjacke. Die Brille ist so angepasst, dass Sie sie problemlos immer tragen. Die sitzt hundertprozentig. Und sprechen dürfen Sie auch nicht.“ Ich stöhne in meinen Knebel hinein. Ich kann dank der dicken Brillengläser wenig mehr als die Gesichter der Frauen erkennen. Dann ziehen sie mir über die dicke Windel eine gelbe Gummihose und dann eine Art Jogginghose. Anschließend wird der Schrittgurt der Zwangsjacke wieder schön stramm gezogen.

Das harte Plastik der Gummihose schließt sich kalt und unangenehm um meine Oberschenkel. Ich bekomme eine Gänsehaut an den Beinen. Bei jedem Schritt scheuert das Gummi an ihnen. Dass es heute elegantere Möglichkeiten als dieses Gummihose gibt, scheint sich noch nicht bis hierhin durchgesprochen zu haben. Aber vielleicht ist sie auch eine beabsichtigte Demütigung.

Die beiden führen mich zurück in die Gummizelle, wo ich mich erschöpft auf den Boden sinken lasse. Nach einer halben Ewigkeit kommt wieder eine der beiden Schwestern herein. Sie hat Essen dabei, eine klein geschnittene Käsebrotscheibe, und ich lass mich mal wieder füttern. Dann gibt es noch etwas Saft aus dem Schnabelbecher und fertig ist das erlesene Abendessen. Eddie und Bernd stellen mich auf die Füße und bugsieren mich in ein bereit stehendes Netzbett. Sie fixieren erst meine Fußgelenke, ziehen mir dann die Jacke aus und ich bekomme dicke Fäustlinge angezogen. Dann werde ich an Rumpf, Handgelenken und Schultern sorgfältig am Bett fixiert, den Helm nehmen sie mir ab. Die Brille mit den riesigen Gläsern lassen sie mir auf. Und dann bekomme ich auch noch mein Knebelgeschirr angelegt. Sie fahren mich in ein Zimmer – ein bekannter Mief aus schlechter Luft, Urin und Schweiß – und stellen das Bett mit dem Kopfende an eine Wand. In diesem Zimmer kann ich nichts erkennen. Aber von den Geräuschen her scheinen noch mindestens drei weitere Betten besetzt zu sein. Ich kann aber nicht ausmachen, ob jemand darin liegt, den ich kenne.
46. RE: Sechs Monate

geschrieben von pauli2004 am 02.11.22 10:48

Die arme Frau Ferner,
sie kann ja machen was sie will, es ist immer falsch und wieder bekommt sie eine Strafe. Bestimmt wird sie auch nicht nach 6 Monaten entlassen, sie muss sicher noch länger bleiben.
Ich bin gespannt, hoffentlich geht es bald weiter.
47. RE: Sechs Monate

geschrieben von I'am Imposible am 02.11.22 11:46

In solch einer Anstalt sind meistens die, die etwas zu sagen haben, die verrücktesten. Oder zumindest die sadistischsten. Das zeigt sich ja hier.

Wenn sie nichtmal positiv (also helfend) auf äußere Eindrücke reagieren darf, kann ich mir sehr gut vorstellen, daß ihr jetzt alle äußeren Reize erst mal komplett verwehrt werden. Schwarze Brille, das hören verhindern, Über Tage/Wochen noch viel strammer dauernd fixiert im Bett in dem Raum, in dem sie sich gerade befindet. Wer weiß, was ihr noch alles passieren wird. Ich bin gespannt. Mit der Entlassung nach 6 Monaten rechne ich nicht mehr.
48. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 02.11.22 19:36

Der Sonntag

Ich bin etwas stolz auf mich, am Nachmittag wenigstens ein bisschen Zivilcourage gezeigt zu haben und dabei ganz ruhig geblieben zu sein. Ob ich mich auf Sven verlassen kann und sein Versprechen, dafür zu sorgen, dass ich bald wieder von hier wegkomme? Vielleicht gibt es ja Differenzen bei den Ärztinnen und wenn Frau Dr. Schardtwald vielleicht auf meiner Seite ist?
Ich kann schlecht einschlafen, es ist zu warm, zu stickig, die Brille und das Knebelgeschirr nerven, zu viele Gedanken wirbeln mir durch den Kopf. Was macht Kim gerade? Wie wird sie bestraft? Gummizelle oder noch mehr? Und ich weiß, wenn ich wieder auf der W 2 bin, wird es nicht mehr lange dauern und ich werde gehen. Schwester Gerdas Regiment ertrage ich nicht.

Nur: hoffentlich komme ich bald von dieser Station hier weg. Vielleicht bin ich aber auch für sie mittlerweile ein austherapierter Fall, der wie Elfriede den Rest seines Lebens in der Geschlossenen bleiben muss. Ich bekomme Angst. Dieser Gedanke wird für mich immer größer und wahrscheinlicher.

Irgendwann wecken mich die typischen Krankenhausgeräusche des frühen Morgens aus einem unruhigen Schlaf. Nachdem ich von Schwester Margot aus dem Bett geholt wurde, werden mir die Fäustlinge und das Knebelgeschirr abgenommen und ich darf mich kurz waschen. Ich bekomme dann neben Windel und Gummihose einen netten Zweiteiler angezogen. Man macht sich nicht die Mühe, viel mit mir zu sprechen oder irgendetwas zu erklären. Ich frage höflich, was jetzt passieren wird, bekomme aber nur ein „erst mal Sicherheitsverwahrung“ hingemurmelt.

Eddie und ein fremder Pfleger ziehen mir wieder die Zwangsjacke an und legen mir Fußfesseln an. Dann ab in den Rollstuhl, natürlich den Helm auf, und ehe ich mich versehe, finde ich mich in einem der Käfige wieder, die ich ja schon einmal kennenlernen musste. Mit einem „Frühstück kommt gleich“ gehen die beiden Pfleger. Kurz danach kommt einer der beiden zurück, es ist Eddie, legt mir ein Plastiklätzchen um und stopft mir ungeduldig das Frühstück in den Mund. Ich protestiere gegen diese Behandlung, doch der Pfleger lässt sich nicht beirren. Als er fertig ist, hält er einen Ballknebel dicht vor mein Gesicht: „Damit Sie endlich mal lernen, den Mund zu halten“, und legt ihn mir an. Ich kann wieder nur grunzen und fühle mich so erniedrigt. Und dann werde ich aus dem Rollstuhl herausgeholt, auf eine Liege gesetzt und allein gelassen. Auf der Liege ist irgendetwas Weißes. Ich versuche, das genauer zu erkennen und stelle fest, dass das ein komplettes S-Fix-System sein muss. „Und übrigens“, kommt Eddies Warnung, „die Gurte hier auf der Liege, die sind für Sie, wenn Sie sich nicht ruhig verhalten.“

Irgendwann am Vormittag bekomme ich Besuch. Frau Dr. Hahn persönlich erscheint, in Begleitung von Pfleger Eddie. Sie bleibt vor dem Käfig stehen und ich erkenne sie nur an ihrer Stimme. „Guten Morgen, Frau Ferner“, begrüßt sie mich. „Da ist ja gestern einiges vorgefallen.“ Und zu Eddie: „Sie und Ihre Kollegen haben es aber gut gemeint. Lassen Sie das mal mit den Fußfesseln und der Jacke. Ich denke, der Fesselgurt um die Hüfte reicht. Und statt Ballknebel – Sie haben doch hier so schöne Mundgitter. Legen Sie ihr das doch an, dann brauchen Sie auch nicht so oft nach ihr zu sehen. Nicht wahr, Frau Ferner, manchmal ist es besser, wenn man nicht so viel redet. Und, Eddie, wenn es wieder schlimmer werden sollte, sofort Vollfixierung, o.k.?“ Eddie verschwindet und kommt dann mit den benötigten Sachen zurück. Und dann, während Eddie mich umzieht, nimmt die Ärztin mich ins Gebet: „Sie sind doch Altenpflegerin und wissen, wie es in der Pflege aussieht. Die Arbeit unseres Personals ist schon schwer genug, da müssen Sie ihm nicht noch in den Rücken fallen. Denken Sie mal darüber nach. Heute werden Sie dazu genug Zeit haben.
Am Mittwoch ist großes Ärzte-Meeting. Da wird sicher auch Ihr Fall besprochen. Es wird mein Wunsch sein, dass wir Ihre Akte zusammen mit den neuesten gestrigen Entwicklungen ans Amtsgericht schicken, wo dann ein richterlicher Beschluss Ihre weitere Unterbringung betreffend erfolgen wird. Oberschwester Gerda hat mit mir gesprochen und mir alles erzählt. Das war nun innerhalb kurzer Zeit Ihre zweite Attacke auf sie.“ Ich protestiere: „Das ist doch gar nicht wahr. Ich habe die Schwester doch gar nicht angefasst.“ „Die Schwester sagt aber etwas anderes“, ist die Antwort, „wie es für mich aussieht, liegt bei Ihnen neben all dem anderen mittlerweile auch eine Realitätsverschiebung vor. Und Sie scheinen ja ganz genau zu wissen, was für andere Patienten besser ist und was nicht. Diese Übergriffigkeit und dazu dieses aggressive Verhalten – das deutet auf eine Schizophrenie im Anfangsstadium hin. Ich werde es mir mal notieren. Auf jeden Fall bleibt bei Ihnen für die nächste Zeit die Sicherungsverwahrung bestehen.“ Und weg ist sie und lässt mich geschockt im Käfig stehen.

Mir ist total zum Heulen, aber Eddie lässt mir keine Zeit. Er nimmt mir kurz den Helm ab, platziert das Gitter auf meinem Mund und zieht die dünnen Lederriemen an meinem Kopf stramm. Anschließend aber schnell den Helm auf und dann bin ich wieder alleine.

Wegen den Handfesseln und dem Mundgitter bin ich der Ärztin fast ein wenig dankbar. Das Mundgitter ist doch um einiges angenehmer als der Ballknebel, weil es sich besser atmen lässt. Allerdings hat Eddie es so stramm gezogen, dass es bestimmt Abdrücke an meinem Mund hinterlässt. Und ohne Fußfessel und Zwangsjacke lässt sich der Tag sicher einigermaßen überstehen. Ob Sven vielleicht doch etwas bei ihr bewirkt hat und sie deshalb die Bestrafung ein wenig zurücknimmt?

Der Tag zieht sich endlos. Ich bin die einzige in diesem Raum, die Tür zum Gemeinschaftsraum ist geschlossen; nur ab und zu kommen Eddie oder Bernd herein, um nach mir zu sehen. Das Mittagessen, natürlich gefüttert, lasse ich über mir ergehen, danach muss ich aber nötigst auf die Toilette. Das sage ich Eddie, als er mir nach dem Essen das Mundgitter wieder anlegt. Doch der zuckt nur mit den Achseln und fragt mich, warum ich heute wohl eine Windel trage.

Später und wieder allein überkommt mich ein seltsames Zittern. Ist es die Anspannung, ist es Verzweiflung, ist es Panik? Oder die Isolation? Liegt es an den dicken Brillengläsern, mit denen ich wie durch dichten Nebel sehe und mit denen ich nichts erkennen kann? Ich trage sie jetzt fast 24 Stunden ununterbrochen und kann sie nicht einfach absetzen. Ich zittere unaufhörlich, obwohl mir nicht kalt ist, und stöhne laut. Ich weiß nicht, was mit mir los ist und ich bekomme Angst. Damit jemand kommt, werde ich noch lauter und werfe mich ein paar Mal gegen den Maschendraht. Immer heftiger, immer schneller, ich weiß nicht mehr, was ich tue. Ich höre mehrere Männer hereinkommen, starke Arme packen mich und zwingen mich auf die Liege. Vor Schreck schlage ich mit den Beinen und werfe den Kopf hin und her. Jemand setzt sich auf meine Beine, ein anderer hält meinen Oberkörper fest und ein dritter, das muss Eddie sein, fixiert erst meinen Oberkörper und dann die Hand- und Fußgelenke. Anschließend Schritt- und Schultergurt und ich liege nahezu bewegungsunfähig im S-Fix. „Wenn Sie jetzt nicht aufhören, kommt auch noch der Kopf dran“, sagt einer der beiden und dann verschwinden sie.

Ich liege nun ganz still da, das Zittern hat aufgehört und ich übergebe mich den Gurten, die mich fixieren. Ich spüre den weichen Stoff an meinen Gelenken und die unnachgiebigen breiten Gurte an meinem Rumpf. „Dem überlasse ich mich jetzt“, denke ich, „ich kann ja doch nichts machen.“ Ich merke, wie ich ruhiger werde, mich fast in die Gurte kuschele und ich döse vor mich hin. Am späten Nachmittag muss ich immer nötiger, irgendwann kann ich nicht mehr, ich lasse es laufen und spüre, wie die Windel immer nasser und schwerer wird. Eddie riecht die Bescherung, meint aber, ich müsse auf eine frische Windel bis zur Bettgehzeit warten. Sie hätten gerade keine Kapazitäten frei. Und dabei grinst dieser Mistkerl.

Am Abend macht mich Schwester Margot los und füttert mich – ein irres Erlebnis, vollgemacht essen zu müssen! Und dann darf ich mich endlich von der nassen Windel befreien und ausgiebig duschen. Ich darf zwar den Helm, nicht aber die Brille abnehmen. „Wir müssen allerdings auf Nummer sicher gehen“, sagt die Schwester. „Ich werde Sie gleich sauber machen und damit nichts passiert, dabei festschnallen. Und damit ich nicht gebissen werde, bitte einmal Mund auf.“ Ich ahne, was kommt, mache meinen Mund bereitwillig auf und schon wird der Ballknebel hinter meine Zähne geschoben und im Nacken fixiert. „So, ich mache Sie dann mal fest“, kündigt Schwester Margot an, „bleiben Sie bitte ganz ruhig.“ In der Dusche werden zunächst meine Handgelenke an kurzen Plastikgurten festgemacht, die an den Wänden befestigt sind. Dann sind die Fußgelenke dran, die ebenfalls an Plastikgurten, die im Fußboden verankert sind, fixiert werden. „Ich lasse Ihnen schon mal das Wasser laufen“, sagt die Schwester, „und werde später noch mal nach Ihnen sehen und Sie waschen.“

Dann stehe ich da mit gespreizten Beinen und fixierten Armen in dieser Dusche, die Brille mit den dicken Gläsern umgeschnallt und einen Knebel im Mund und genieße das warme Wasser. So jemals zu duschen, hätte ich mir nie träumen lassen. Bin ich verrückt oder sind sie es? Auf jeden Fall haben sie wohl Angst vor mir.
Dann kommt die Schwester zurück, seift mich überall ein und dann lässt sie die angenehm warme Dusche noch schön lang an. Für wie wenig man schon dankbar ist.
Anschließend werde ich abgetrocknet und dann wieder losgemacht. Immer schön sicher mit Ballknebel im Mund. Ich ziehe mir selber die Windel, die Gummihose und etwas für die Nacht an, darf mich fönen und dann ab ins Netzbett.

Vorher wartet aber noch eine Überraschung auf mich. Ich liege auf dem Bett und erst wird ein großes festes Nylonnetz über meinen gesamten Körper ausgebreitet, so dass nur noch mein Kopf, die Arme und die Füße herausgucken. Eddie und Bernd befestigen das Netz an den Bettseiten und ziehen es ordentlich stramm. Dann gibt es noch Fixierungen an den Oberarmen, an den Handgelenken und an den Waden sowie dicke Fäustlinge für meine Hände. Den Knebel nehmen sie mir erst jetzt ab. Das Netz wird nochmals strammer gezogen und ich bin fertig für die Nacht. Ein Posey-Bettnetz, frisch aus den USA, wie man mir sagt, ich sei die erste, die es ausprobieren dürfte. Ich darf also mächtig stolz auf mich sein und kann nur immer wieder staunen über diese Vielfalt an restriktiven Maßnahmen, die es im Psychiatriebereich gibt.

Da schaut Frau Dr. Hahn noch mal vorbei. „Frau Ferner, Frau Ferner“, säuselt sie, „Ihr heutiges Verhalten setzt aber allem die Krone auf. Ich möchte dem Richter nichts vorweggreifen, aber Sie müssen sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass Sie in Zukunft zwangsweise untergebracht sein werden und zwar hier auf Station D. Leider ist bei Ihnen eine ganz klare Abwärts-Tendenz zu vermerken. Bin gespannt, wie die Kolleginnen Ihren Fall einschätzen. Meiner Ansicht nach liegt bei Ihnen eine akute Psychose vor, mit mittlerweile deutlichen Anzeichen einer hebephrenen Schizophrenie. Falls sich der Verdacht bestätigt, müssen wir zusätzlich zur Verhaltenstherapie auf Antipsychotika zurückgreifen. Wie gesagt, das ist meine persönliche Meinung und wir warten jetzt noch den Mittwoch ab, aber Sie können davon ausgehen, dass das hier nun Ihr neues Zuhause sein wird. Mir tut das für Sie leid, Sie hatten sicherlich gute Ansätze, aber etwas anderes kann ich nicht verantworten. Zu Ihrer eigenen Sicherheit bleiben die Schutzmaßnahmen zumindest bis Mittwoch bestehen. Ich habe Frau Dr. Hartmann informiert und das Personal weiß auch Bescheid.“ Und weg ist sie.

Nun liege ich mal wieder fast völlig bewegungsunfähig da, kann gerade den Kopf etwas anheben. Das Netz ist nicht unbedingt unangenehmer als die Fixierung von vorhin. Aber es hat etwas sehr Beklemmendes an sich. Ich merke, wie langsam wieder Panik in mir hoch kriecht. Ich werde immer unruhiger, ziehe und zerre an meinen Fesseln. Und irgendwann kann ich nur noch schreien. Ich verliere völlig meine Selbstkontrolle, schlage mit dem Kopf hin und her und schreie und schreie.
Es kommt, wie es kommen muss. Margot und Eddie stürmen herein, stülpen mir mein Knebelgeschirr über und fixieren meinen Kopf mit Kinn- und Stirngurt. Ich kann nur noch grunzen, das ist das einzige, was mir bleibt.
Die Nacht wird furchtbar.
49. RE: Sechs Monate

geschrieben von I'am Imposible am 02.11.22 19:53

Irgendwie hatte ich mit sowas gerechnet. Ist auf jeden Fall wieder eine starke Fortsetzung.
50. RE: Sechs Monate

geschrieben von Amgine am 06.11.22 05:46

Bin gespannt, ob sie aus der Nummer rauskommt und was ggfs. ein Richter dazu sagt ?
51. RE: Sechs Monate

geschrieben von I'am Imposible am 06.11.22 09:11

Ich denke jetzt zwar nicht, daß sie gleich lebenslang eingewiesen wird. Aber ein Jahr auf Station D in der höchsten Sicherheitsstufe und danach einem halben Jahr auf Normalstation um zu sehen ob die Therapie auf Station D gewirkt hat, kann ich mir schon vorstellen. Dann kann ja neu entschieden werden. Neue, noch extremere Dinge auf Station D testen zu dürfen (müssen) wird wohl ihre Hauptbeschäftigung werden...
52. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 06.11.22 19:58

Angeleint

Am Montagmorgen wache ich relativ früh auf. Ich bemerke eine gewisse Unruhe auf der Station, aber das offizielle Weckkommando kommt noch nicht. Irgendwann macht eine ziemlich geschaffte Meike die Tür auf und tritt ein. Sie kommt zu meinem Bett, hilft mir aus der Fixierung und bittet mich, dass ich mich heute Morgen alleine fertig mache. Nichts lieber als das, aber warum? Meike redet etwas von Personalmangel, Schwester Margot ist plötzlich krank geworden, Ingeborg hat frei, auch Frau Dr. Hartmann ist krank; kurz, die Pflegeschülerin Meike ist die einzige weibliche Mitarbeiterin auf der Station und daher für die ganzen morgendlichen Hygienemaßnahmen zuständig. Eddie und Bernd sollen bei allen anderen Arbeiten helfen und haben die Oberaufsicht. Das kann ja heiter werden!

Immerhin kann ich mich so alleine frisch machen und lasse mir auch ausreichend Zeit dabei. Mit der Brille kann ich zunächst nur verschwommen sehen, aber zu meiner Erleichterung merke ich, dass meine Sicht so langsam besser wird. Dann kann ich einigermaßen in Ruhe frühstücken. Vorsichtshalber habe ich den Helm wieder aufgesetzt. Ich will keinen Ärger haben.

Das Wetter ist schön; daher beschließen Eddie und Bernd, dass alle nach draußen zu gehen haben. „Und was machen wir dann mit der?“ fragt Eddie und zeigt auf mich, „es hieß doch weiter Sicherheitsverwahrung und Schutzmaßnahmen.“ „Wir können sie aber nicht alleine im Käfig lassen“, meint Bernd, „dann muss ja immer einer von uns nach ihr gucken.“ „O.k.“, sagt Eddie zu mir, „Sie dürfen mit nach draußen, aber nur schön gesichert.“

Was das heißt, erfahre ich nach dem Frühstück. Meike legt mir eine Windel an und dann halten mir die beiden Pfleger mit einem freundlichen „wir haben schon Ihr schickes Jäckchen mitgebracht“ die offene Zwangsjacke hin. Ich brauche nur noch hineinschlüpfen. Ich denke, nicht schon wieder, aber ich bin schon so zermürbt, dass ich die beiden widerspruchslos agieren lasse. Und welchen Sinn hätte jetzt ein Aufbegehren? Ich würde es nur noch schlimmer machen.

Dann geht’s nach draußen auf den Hof. Den kenne ich schon von meinem letzten Aufenthalt, hohe Mauern und ein mit Fallschutzmatten ausgelegter Boden.

Aber was jetzt kommt, verschlägt mir die Sprache. „Dann will ich Sie mal festmachen“, sagt Eddie. Dann fummelt er hinten am oberen Ende meiner Zwangsjacke herum und befestigt dort eine Art Leine. „Was soll das“, wage ich zu fragen. „Dient nur zu Ihrem eigenen Schutz“, ist Eddies Antwort. „Damit Sie niemandem zu nahe kommen, denn was meinen Sie, was Sie erwartet, wenn wieder was passiert? Mindestens 48 Stunden Dauerfixierung, danach werden Sie Sehnsucht nach der Schutzjacke haben. So, diese Leine ist 4 m lang, ich mache sie dort in der Hofecke fest. Die Mitpatienten halten wir von Ihnen fern und Sie haben dennoch genügend Auslauf.“ Und dann führt er mich tatsächlich an der Leine in die beschriebene Ecke und bindet sie dort an.

Ich fasse es nicht. Das Duschen gestern war schon arg strange und jetzt bin ich dick eingepackt mit einer Hundeleine festgebunden. Ich probiere vorsichtig aus, wie weit ich mit der Leine gehen kann, bevor ich den Ruck im Nacken spüre.

Unter dem Helm und in der dicken Jacke wird mir schnell warm, deshalb suche ich den Schatten auf und lehne mich an die Hauswand. Ich höre die Stimmen der anderen Patientinnen; niemand kommt jedoch in meine Nähe.

Eddie fordert mich auf, mich mal ein bisschen mehr zu bewegen, das würde mir gut tun. Als ich nicht reagiere, holt er mich energisch aus meiner Schattenecke und befiehlt mir mal fünf Minuten hin- und herzugehen. Er würde auf die Uhr gucken.
Ich kann wegen der dicken Gläser kaum etwas erkennen und gehe ganz vorsichtig, so weit wie es mir meine Hundeleine erlaubt. Ich weiß gar nicht, wie es passiert, aber irgendwie komme ich ins Stolpern und falle übel hin. Wegen der Zwangsjacke kann ich mich nicht abstützen und ich knalle mit dem Kopf erst gegen die Mauer und dann auf den Boden. Endlich ist der Helm mal zu was nütze!

Eddie und Bernd helfen mir fluchend schnell wieder hoch. Anstatt mich zu fragen, ob ich mir irgendwo weh getan hätte, schnauzen sie mich nur an, was mir denn einfiele. Beide sind ja wahrhafte Ausbünde an Empathie! Bernd holt schnell einen tiefen Rollstuhl und mit dem Hinweis, dass dies nicht noch einmal passieren dürfe, setzen sie mich hinein. Sie fixieren meinen Oberkörper mit einem breiten Ledergurt und ziehen dabei auch Gurte über die Schultern. Dann noch schnell die Beine fixiert und ich bin bis auf den Kopf vollkommen immobil.

Da mein linkes Knie schmerzt, sage ich das den beiden und bitte sie, etwas zum Kühlen daraufzulegen. Genauso gut hätte ich sie auch um ihre Autoschlüssel bitten können. Beide gucken mich nur groß an und meinen, so schlimm wird es doch nicht sein. Als ich dann auch noch darum bitte, die Fußfixierung zu lösen, damit ich mein lädiertes Bein ausstrecken darf, ist das genau ein Satz zu viel.

„Das nervt allmählich“, stellt Eddie fest. „Sie sind hier nicht die einzige Patientin, um die wir uns kümmern müssen.“ Grinsend kommt Bernd auf mich zu. Ich merke, er hält irgendetwas in seiner Kitteltasche. „Den Tritt in meine Eier vor ein paar Wochen, den habe ich noch immer nicht vergessen, und da Sie keine Ruhe geben, habe ich hier was Nettes. Kennen Sie ja schon.“ Und dabei hält er mir den schwarzen Butterfly-Knebel dicht vor die Augen.

Da verliere ich die Nerven und fange an zu schreien. Erst schreie ich die beiden Kerle an und dann werde ich von einem Weinkrampf geschüttelt. Diesen Moment nutzen die beiden, schieben mir das Teil in den Mund und pumpen es schnell auf. Ich merke, wie sich das Gummiding in meinem Mund breit macht, wie meine Zunge lahm gelegt wird und wie sich meine Wangen spannen. Ich kann nur noch leise fiepen und bitte die beiden kopfschüttelnd und mit großen Augen damit aufzuhören. Doch Bernd lacht nur: „Ich glaube, für heute Vormittag ist die ruhig gestellt.“

Zum Glück schiebt Meike mich wieder in den Schatten. In der Sonne hätte ich es dermaßen verpackt kaum ausgehalten.

Ich weiß nicht, wie lange ich so sitze. Nahezu bewegungsunfähig, nur Nebel vor den Augen und mit diesem dicken Gummiknebel im Mund. Da höre ich von drinnen eine Tür schlagen, eine andere wird aufgerissen und dann die wütende Stimme der sonst so netten Frau Herenthal: „Was ist denn hier los?“
53. RE: Sechs Monate

geschrieben von I'am Imposible am 06.11.22 21:28

Da ist sie ja zumindest bisher recht gut durch den Tag gekommen.

Jetzt bekommen die ganzen Pfleger noch Ärger wegen ihr. Das wird sie wohl heftig zu spüren bekommen.

Und irgendwas wird ihr sicher wieder in die Schuhe geschoben. Absichtliche Selbstverletzung ihres Beines. Um die 2 Tage Dauerfixierung auf dem Bett wird sie unter diesen Umständen sicher nicht herum kommen.

Und auch ihr Ausraster wird vermutlich Folgen haben. Ich denke die Überwachung wird ja entsprechend gut funktionieren. Warum auch sonst sollte Frau Herenthal plötzlich auftauchen….
54. RE: Sechs Monate

geschrieben von I'am Imposible am 06.11.22 22:41

Da ist sie ja zumindest bisher recht gut durch den Tag gekommen.

Jetzt bekommen die ganzen Pfleger noch Ärger wegen ihr. Das wird sie wohl heftig zu spüren bekommen.

Und irgendwas wird ihr sicher wieder in die Schuhe geschoben. Absichtliche Selbstverletzung ihres Beines. Um die 2 Tage Dauerfixierung auf dem Bett wird sie unter diesen Umständen sicher nicht herum kommen.

Und auch ihr Ausraster wird vermutlich Folgen haben. Ich denke die Überwachung wird ja entsprechend gut funktionieren. Warum auch sonst sollte Frau Herenthal plötzlich auftauchen….
55. RE: Sechs Monate

geschrieben von Amgine am 07.11.22 17:24

Oh je - sie hat aber wirklich kein Glück…
56. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 07.11.22 18:03

Heute poste ich die letzten beiden Kapitel der Geschichte. Katrin hat alle Facetten der Behandlung in der Klinik erfahren, zuletzt viel durchlitten, hatte aber auch Menschen, die es gut mit ihr meinten.
Ich hoffe, die Geschichte hat euch gefallen und gehörig das Kopfkino angeregt. Bis einandermal DW


Der Entschluss

„Sind Sie verrückt geworden?“ fährt die Ärztin die beiden Pfleger an. „Machen Sie sofort Frau Ferner los. Wer hat Ihnen eigentlich die Erlaubnis für das hier erteilt?“ Eddie und Bernd stottern etwas von Schwester Gerda und Frau Dr. Hahn und Sicherheitsverwahrung und dann machen sie sich an mir zu schaffen. Sie befreien mich von Knebel, Fixierungen, Rollstuhl, Brille, Jacke und Helm und schauen die Ärztin kleinlaut an. „Darüber wird noch zu sprechen sein“, sagt sie nur und an mich gewandt: „Frau Ferner, Sie kommen nun am besten mit mir.“

Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht; bin zu erstaunt, um mich richtig zu freuen.
Frau Herenthal führt mich aus der Station D hin zur W 2. „Jetzt machen Sie sich erst einmal frisch und dann richtig gemütlich“, sagt sie, „nachher gibt es Mittagessen und heute Nachmittag dürfen Sie zu Frau Mellendorf zur Kunsttherapie; aber jetzt erst mal ausruhen. Möchten Sie einen Tee oder einen Kaffee?“ „Tee, bitte“, antworte ich. Frau Herenthal holt mir eine Tasse Tee und fährt fort: „In einer Stunde möchten Frau Dr. Schardtwald und ich gerne mit Ihnen sprechen. Ich hole Sie dann ab. Und wenn bis dahin was ist, Sven ist in Ihrer Nähe.“

So langsam gewöhnen sich meine Augen wieder an die Sicht ohne die dicken Brillengläser. Der Nebel lichtet sich, ich kann zunächst wieder Konturen und danach alles einigermaßen deutlich erkennen.
Als ich dann frisch geduscht mit einer guten Tasse Tee in der Sitzecke des Gemeinschaftsraumes sitze, lässt sich Sven blicken.

„Haben Sie dafür gesorgt, dass ich dort rausgeholt wurde?“ frage ich ihn. Sven nickt: „Hatte ich ja versprochen. Aber ich war nicht allein. Auch Yvonne hat gesagt, wie der Vorfall wirklich war, und selbst Arthur hat alles bestätigt. Frau Dr. Hahn schien aber zuerst nicht zu reagieren. Wir haben uns dann an Frau Herenthal gewandt. Soweit ich weiß, hat dann heute Frau Herenthal erst mit Gerda gesprochen und dann sofort Frau Dr. Schardtwald angerufen. Die hat zum Glück gleich gehandelt und Frau Herenthal auf die D geschickt. Übrigens“, und dabei spricht Sven leiser, „Oberschwester Gerda war gerade bei Frau Dr. Schardtwald zum Gespräch und danach hat sie sich sofort krank gemeldet. Ich vermute mal, da ist etwas nicht so toll für die gute Gerda gelaufen.“ „Sven, danke“ sage ich mit Nachdruck und lächele ihn an. „Aber hoffentlich hat das keine negativen Folgen für Sie.“ Sven zuckt mit den Achseln: „Die schätzen hier meine Qualitäten, auch Gerda. Und wenn es mir zu doof wird, suche ich mir was Neues. Leute wie ich werden immer gesucht.“ „Und Frau Dr. Hahn gibt klein bei?“ frage ich. „Ich weiß nicht“, antwortet er, „aber die stellt ihr Fähnchen sowieso nur in den Wind. Wenn die Gegenwind spürt, knickt sie ein“

Im Büro von Frau Dr. Schardtwald wird mir mitgeteilt, wie leid ihnen der Vorfall täte, dass sich auch Ärzte irren können, zumal Frau Dr. Hahn fast ausschließlich auf die Beurteilungen des Personals angewiesen war, und dass leider einige Mitarbeiter ihre Kompetenzen überschritten hätten. Ich hätte in den angesprochenen Situationen vernünftig reagiert und man würde mein Verhalten gutheißen. Es sei verständlich, dass ich die Klinik nach diesem Vorfall verlassen möchte. Andererseits hätte ich aus Sicht von Frau Dr. Schardtwald viele Fortschritte gemacht und es wäre nicht ratsam, die Therapien jetzt alle abzubrechen. Ob ich mir vorstellen könne, die letzten Wochen bis zum Ende der Maßnahmen zu bleiben. Es hätte den Vorteil, dass man mich noch besser auf den Alltag nach der Entlassung vorbereiten könne. Ich bin etwas überrascht wegen dieses freundlichen Tones und bitte mir Bedenkzeit bis morgen aus, die mir ohne weiteres gewährt wird.

Eine Frage liegt mir aber auf den Lippen. „Frau Dr. Hahn hat vermutet, dass bei mir eine Schizophrenie vorliegt. Meinen Sie das auch?“ „Nein“, antwortet die Chefärztin, „die Anzeichen sehe ich nicht. Wir könnten das diagnostisch abklären, aber Frau Herenthal und ich sind der Meinung, dazu besteht kein Anlass. Seien Sie ganz beruhigt.“

Beim Mittagessen versuche ich, Kim irgendwo zu entdecken. Ich sehe sie nirgendwo und frage Anne nach ihr. „Oh, ich glaube, für Kim ist es nicht gut gelaufen“, erzählt Anne, „Kim wurde nach dem Zwischenfall erst einmal in die Gummizelle gesteckt. Beim Abendessen sah ich sie nicht, bemerkte aber später, wie sie im Rollstuhl und in der Zwangsjacke in euer Zimmer gefahren wurde. Gestern war erst mal alles normal, doch dann hat Kim am Nachmittag ihre Brille zerbrochen. Ich glaube, es war Absicht und Gerda ist schier ausgeflippt. Sie haben Kim dann mitgenommen, ich weiß nicht wohin. Vielleicht auch auf die D?“ „Weiß nicht“, antworte ich, „hoffentlich nicht.“

Nach der Mittagsruhe sitze ich mit einigen anderen im Aufenthaltsraum, da sehe ich, dass Arthur jemanden hereinbringt. Dass muss Kim sein, klein und zart, aber von ihrem Gesicht her ist sie kaum zu erkennen. Natürlich trägt sie ihren Lederhelm, und man hat ihr ein wunderschönes braun-weißes Knebelgeschirr verpasst. Und statt einer normalen Brille hat sie diese Art Schwimmbrille umgeschnallt bekommen, wie ich sie auch tragen musste; diese Schwimmbrille mit geschliffenen Gläsern, hinter denen ihre Augen enorm vergrößert sind. Arthur merkt, dass ich sie anstarre und er fühlt sich bemüßigt zu erklären: „Das ist die Sanktion dafür, dass Frau Lorenz ihre Brille nicht tragen wollte. Dieses hübsche Modell muss sie nun eine Woche immer tragen; und immer heißt auch immer, also auch nachts. Abmachen, das schafft sie jetzt nicht mehr. Sie wird sich schon daran gewöhnen.“ Ich schlucke, fasse mich aber rasch und gehe zu den beiden hin.

„Hallo, Kim“, sage ich. Kim blickt auf, kommt vorsichtig auf mich zu und dann umarmt sie mich heftig. Ihre Hände stecken in steifen Handschuhen, sie streichelt mir damit übers Gesicht und spricht etwas in ihren Knebel hinein. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, umarme sie ebenfalls und spüre, wie Kim sich an mich schmiegt. Wir setzen uns aufs Sofa und auch wenn die Kommunikation sehr eingeschränkt ist und Arthur sichtlich stört, weiß ich, dass Kim meine Nähe wichtig ist.
„Kann sie heute Abend mit uns essen?“ frage ich Arthur. „Ja, schon“, antwortet der Pfleger, „mögen Sie ihr das Essen anreichen?“ „Das mache ich schon“, ist meine Antwort.

In der Kunsttherapie fange ich ein neues Bild an. Ich habe Sehnsucht nach dem Meer und habe ein Bild vor Augen, wie ich vor sechs Jahren das erste Mal am Mittelmeer war. Dieses türkisgrüne Wasser, der strahlendblaue Himmel, die blasse Grün des Grases. Ich beschließe ein Aquarell zu malen und Frau Mellendorf hat heute immer mal wieder Zeit, um mich zu beraten. Schön, wenn sich jemand wie sie mitfreut, wenn mir etwas Gutes gelingt. Beim Malen kann ich wunderbar nachdenken, die Szene mit Kim geht mir nicht aus dem Kopf.

Als das Bild fertig ist, weiß ich, was ich will. Ich werde bleiben, bis die Maßnahme zu Ende ist, die sechs Monate also um sind. Kim zuliebe und auch, um das hier für mich in Ruhe abzuschließen. Ich denke, Kim wird mich brauchen. Und wie mir Sven vorhin zuflüsterte, ist Schwester Gerda tatsächlich für zwei Wochen krankgeschrieben worden und danach hat sie sowieso Urlaub. Die werde ich also nicht wiedersehen.


Epilog

Katrin sitzt auf der Terrasse eines Cafés. Die Sonne scheint, es ist ein wunderschöner Samstagvormittag. Ab und zu trinkt Katrin etwas von ihrem Cappuccino und schaut auf die Uhr. Wo Melanie nur bleibt?

Die Woche nach der Entlassung ist wie im Flug vergangen. Katrin hat ihre Wohnung wieder bezogen und schon einiges dort an Veränderungen in Gang gesetzt. Die frische helle Farbe peppt die Räume auf und ein kleines Atelier für ihre Malarbeiten ist fertig eingerichtet.

Aus den freien Stellen in diversen Seniorenheimen hat Katrin sich nach mehreren kurzfristig anberaumten Vorstellungsgesprächen die attraktivste ausgesucht. Sie ist gespannt auf ihren ersten Arbeitstag am Montag.
Am Mittwochabend wird sie Sven treffen. Sie schreiben sich nach ihrer Entlassung regelmäßig. Vielleicht kann ja noch was Richtiges daraus werden, denkt Katrin schmunzelnd.

Katrin nimmt kurz ihre Brille ab, setzt sie dann rasch wieder auf. Das dünne, schwarze Gestell passt gut zu ihren nun wieder längeren dunklen Haaren. Sie betrachtet sich im spiegelnden Fenster; ja, die Brille steht ihr wirklich gut. Einer der ersten Gänge in dieser Woche führte sie zum Optiker. Bei einem Sehtest wurde ihr bestätigt, was sie beim Fernsehen in der Klinik schon ahnte und was sie im Prinzip auch schon vorher wusste: ihre Augen sind nicht wirklich schlecht, aber eben auch nicht optimal.
Heute Morgen hat sie die fertige Brille abgeholt. Sie ist überrascht, wie scharf sie nun sehen kann. Bei dem Baum dahinten ist jedes Blatt zu erkennen. Und das da, das muss Melanie sein!

Katrin steht auf und winkt, Melanie winkt zurück und kommt auf sie zugelaufen. Die beiden Frauen umarmen sich, beide können kaum die Tränen unterdrücken.
„Mensch, Katrin, ich hätte dich kaum wiedererkannt“, bringt Melanie heraus, „aber gut siehst du aus. Tut mir leid für die kleine Verspätung. Ich kenn mich noch nicht so gut aus hier und bin eine Station zu weit gefahren.“ Katrin kann gerade gar nichts sagen, sie drückt die Freundin und ist einfach nur froh.

Die nächsten Stunden vergehen wie im Flug. Nach mehreren Cappuccinos, einem langen Spaziergang und einem Einkauf kochen sie in Katrins Wohnung ein leckeres Abendessen. „Erinnerst du dich noch an das Essen in Bodenhain?“ fragt Katrin. „War nicht die allerbeste Küche, aber auch nicht ganz schlecht“, meint Melanie. „Warst du eigentlich mal auf Station D?“ fragt Katrin weiter. Melanie schüttelt den Kopf. „Da gab`s ´ne Pampe. Zum Gruseln, reine Nahrungsaufnahme“, erzählt Katrin. „Nie mehr, nie wieder. Ab jetzt, das habe ich mir bei meinem letzten Aufenthalt dort vorgenommen, esse ich nur noch gute Sachen.“ „Magst du mir von Station D erzählen“, fragt die Freundin. „Später“, lautet die Antwort, „jetzt lass uns erst einmal essen.“

Als sie später am Abend noch zusammensitzen, sagt Katrin: „Du, ich habe mir übrigens ein Souvenir aus der Klinik mitgenommen. Willst du mal sehen?“ Katrin steht auf, geht an den Schrank und kommt mit einer Lederapparatur zurück. „Mein Knebelgeschirr“, grinst sie, „ich habe es so oft tragen müssen, da habe ich es schon fast liebgewonnen. Ich konnte mich nicht von ihm trennen.“ Melanie lacht: „Du bist ja eine. Einfach mitgenommen?“ „Ja. Gefragt habe ich nicht. Legst du es mir noch mal an?“ „Wirklich? Du möchtest, dass ich dich kneble?“ „Ja“, sagt Katrin, „ich will es noch mal fühlen.“

Melanie nimmt Katrin behutsam ihre Brille ab. Dann stülpt sie das Ledergeschirr über Katrins Kopf und verschließt es sorgfältig. „Jetzt kann ich mich aber schlecht mit dir unterhalten“, lacht sie. Katrin grunzt nur, geht ins Bad und stellt sich lange vor dem Spiegel. Sie zieht mit ihren Zeigefingern die Konturen der Gurte nach, atmet den matten Geruch des Leders ein und betrachtet lange ihr Gesicht von vorne und von den Seiten. Sie betastet den Lederriemen um den Hals, den Riemen um die Stirn und das breite Lederband auf ihrem Haar. Sie fühlt ein merkwürdiges Ziehen im Bauch und spürt die Erinnerungen hochkommen. Es wird ihr warm und kalt gleichzeitig.

Katrin geht zurück ins Wohnzimmer. Sie muss ein wenig lächeln – Melanie konnte der Versuchung nicht widerstehen und hat Katrins Brille aufgesetzt. Sie passt gut zu ihr. Katrin setzt sich neben Melanie und legt dann ihren Kopf in deren Schoß. Einige Minuten bleibt sie so liegen und hängt ihren Erinnerungen nach. Dann streichelt sie sanft die Freundin und versucht ein Lächeln zustande zu bringen. „Soll ich es dir wieder abnehmen?“ fragt Melanie. Katrin nickt und Melanie löst die Verschlüsse. „Weißt du“, sagt Katrin, „ich bin mit dem all noch nicht so richtig fertig. Manchmal kommt es mir schon so unwirklich vor und manchmal so verdammt real. Und meine Gefühle sind auch nicht immer gleich. Manchmal finde ich all das, was ich in der Klinik erlebte, nur furchtbar und manchmal sehne ich mich danach, die Fixierungen oder die Zwangsjacke zu spüren. Es ist seltsam. Ich weiß nicht, ob du mich verstehen kannst.“ „Mir geht es eigentlich nicht so“, sagt die Freundin. „Ich bin einfach nur froh, dass alles hinter mir gelassen zu haben und meinen Alltag wieder organisiert zu bekommen. Aber ich bin ja auch schon etwas länger draußen.“

„Lass uns schlafen gehen“, bittet Katrin, „und leg dich ganz eng an meinen Rücken. Das brauche ich jetzt.“ Im Bett kuschelt sie sich auf die Seite, Melanie legt sich hinter sie und umfasst sie fest mit einem Arm. Katrin stöhnt entspannt und kann sich endlich dem Schlaf überlassen.

ENDE
57. RE: Sechs Monate

geschrieben von I'am Imposible am 07.11.22 18:55

Hallo Deep Wishes

Vielen Dank für die super Geschichte.

Schön, daß sie es geschafft hat, und daß es noch Menschen gibt diemzueinander stehen und auf andere aufpassen. Wäre das nicht der Fall, es wäre nicht auszudenken wie es ihr noch ergangen wäre.

Andererseits war es eine Geschichte die immer spannend und voller Überraschungen war. Daß es jetzt so schnell vorbei ist, ist natürlich auch etwas schade. Möglichkeiten hätte es sicher noch viele gegeben, was sie noch erleben könnte.

Trotzdem, wie gesagt: Vielen Dank.

Imposible
58. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 07.11.22 20:26

Hallo Imposible,

vielen Dank für die lieben Worte und die Begleitung während des Postens. Das hat mich immer wieder neu motiviert.

LG
DW
59. RE: Sechs Monate

geschrieben von burli am 10.11.22 11:53

Hallo Deep Wishes!

Vielen Dank für diese spannende und kurzweilige Geschichte! Das Ende kommt zwar plötzlich, aber ich meine zum richtigen Moment!

Ich ziehe meinen Hut, verneige mich und sage: "DANKE"

Grüssli von Burli
60. RE: Sechs Monate

geschrieben von Amgine am 14.11.22 16:50

Lieber Deep Wishes,

sehr schöner Abschluss, welcher sogar noch Raum für weiteres Kopfkino offen lässt.

Zunächst hatte ich gedacht, dass Katrin sich zu einer freiwilligen signifikanten Verlängerung entscheidet, aber der Titel sagt ja schon...sechs Monate.

Dennoch gibt das letzte Kapital eine dunkle Sehnsucht frei, vielleicht kehrt sie ja freiwillig zurück - im Rahmen der Wissenschaft um Methoden auch an Gesunden zu evaluieren, wer weiß!

Liebe Grüße, Amgine
61. RE: Sechs Monate

geschrieben von Deep Wishes am 20.11.22 21:01

Vielen Dank euch für eure lieben Kommentare!
LG
Deep Wishes


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