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Thema:
eröffnet von Turambar am 25.05.11 22:16
letzter Beitrag von Dark Marvin am 07.01.12 20:02

1. Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 25.05.11 22:16

Unter fremden Monden



Vorwort

Verehrte Leserin, Verehrter Leser!
Dies ist nicht unbedingt eine erotische Geschichte; eine pornographische erst recht nicht. Im Grunde genommen handelt es sich möglicherweise um das erste Werk aus dem beliebten Genre des „Phantasy – Horror – SM – Erotik – Science – Fiction – Psycho – Thrillers“. Also demnach eine recht umfassende Erzählung, die sich mit der Seele des Menschen an sich beschäftigt, sowie im Zusammenhang damit mit den aufregenden Seiten der sexuellen Beziehungen zwischen zwei Menschen. Die Auseinandersetzung mit sexuellen Träumen und Phantasien, die den Bereich SM, Keuschhaltung und Unterwerfung betreffen, ist zumeist eher kritisch und hintergründig strukturiert, insbesondere dort, wo sie den Kontext eines einvernehmlichen, partnerschaftlichen Liebesspiels verlässt.

Die Seele des Menschen kennt viele Welten, die sich manchmal dem Geist öffnen. Und der Körper folgt dem Geist, während sich an Träumen die Realitäten brechen wie Wellen. So lebt auch das Ehepaar Mommsen ein weitestgehend völlig normales Leben in einer weitestgehend völlig normalen Welt. Aber jede noch so solide strukturierte Realität hat Löcher, hinter denen sich andere Wirklichkeiten befinden. Manchmal geht unvermittelt eine solche Tür auf, und in seltenen Fällen geht ein Mensch hindurch. Natürlich folgt gemeinhin in einem solchen Falle der Körper nicht dem Geist, aber der Vorstellungskraft sind hier keine Grenzen gesetzt.

Die gesamte Erzählung ist frei erfunden. Einige Orte sind der uns bekannten Wirklichkeit entnommen, mögen sich die Bewohner dort entweder geehrt fühlen, oder es mir verzeihen. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und Ereignissen sind allerdings nicht gewollt, und – falls es sie geben sollte – reiner Zufall. Teilweise enthält die Erzählung Darstellungen von Gewalt und sollte daher von empfindlichen Personen nicht gelesen werden. Außerdem ist der Inhalt wohl nur begrenzt zur erotischen Unterhaltung geeignet. Die geschätzte Leserschaft, welche primär nach sexuell stimulierenden Inhalten sucht, wird in den übrigen Geschichten des Forums durchaus hervorragendes und ernst zu nehmendes Material finden. Allen Übrigen wünsche ich viel Freude beim Lesen!


Inhaltsverzeichnis:

Erstes Kapitel - Ein kalter Hauch
1. Teil (siehe unten) / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil / 6. Teil / 7. Teil

Zweites Kapitel - Asynchron
1. Teil / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil / 6. Teil / 7. Teil

Drittes Kapitel - Zwei Feste
1. Teil / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil / 6. Teil

Viertes Kapitel - Das Ritual
1. Teil / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil

Fünftes Kapitel - Wetterwechsel
1. Teil / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil

Sechstes Kapitel - Hangar C
1. Teil / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil





Erstes Kapitel:
Ein kalter Hauch



1.

Drei Dinge geschahen ungefähr zur gleichen Zeit. Das Klicken der Zündung und das störrische Schweigen des Motors, dicke Regentropfen, die auf die Windschutzscheibe klatschten und das Pfeifen des Mobiltelefons in der Tasche des Jacketts. Mike Mommsen fluchte, verfluchte zunächst seine drei akuten Probleme, dann sein Leben, die Welt und sämtliche Götter, an die er ohnehin nicht glaubte. Während er das Innere der klapprigen Schrottlaube, die seine Frau ein Auto nannte, mit blumigen Kraftausdrücken erfüllte, fand er immerhin Zeit, das schlecht schließende Schiebedach zuzukurbeln; einsetzender Gewitterregen und verbale Obszönitäten konnten unter Umständen zu einer schwerwiegenden chemischen Reaktion führen.

Nachdem er weitstgehend im Trockenen saß, pulte er das Handy aus der Jackentasche, wiederstand dem Impuls, das nervtötende Gerät aus dem Fenster auf den Lehrerparkplatz zu schleudern, und nahm stattdessen das Gespräch an. Daß er seinen Namen mehr schrie als nannte, war ihm herzlich egal.

„Mommsen!“
„…“
„Ach, du bist das, Claire. Was willst du?“
„…“
„Wie soll ich das bitte verstehen?“
„…“
„Und sonst geht’s dir gut, ja?“
„…“
„Was hab‘ ich damit zu tun?“
„…“
„…“
„Nicht vor acht. Deine Scheyßkarre lässt mich hier gerade schmählich im Stich.“
„…“
„Was du nicht sagst. Es tropft durch das beschyssene Schiebedach, aber ich wäre ja nie darauf gekommen, daß das am Regen liegen könnte.“
„…“
„Wer hat das Teil gebracht?“
„…“
„Der hat sie doch nicht alle. Was sollen wir damit?“
„…
…“
„Ist gut. Ich nehm‘ die Bahn. Bis nachher, meine Fähe.“

Der Regenguss endete pünktlich in dem Moment, als Mike Mommsen die Tür zu dem kleinen Vorstadthaus aufschloss, in das er vor vier Jahren mit seiner Frau Claire eingezogen war. Seiner Claire, seinem Herzblut, seiner Fähe, die damals schwanger gewesen war. Das kleine Eigenheim hatte das Geburtshaus ihrer Tochter werden sollen, das Heim für ihr erstes Kind, das nicht in einer lauten Stadtwohnung hätte aufwachsen sollen. Anschließend hatte Mike das Haus wieder verkaufen wollen, hätte am liebsten nicht nur die Stadt sondern das Land, am besten eigentlich die ganze Welt verlassen wollen. Claire war dagegen. Claire hatte unbegreiflich schnell ins Leben zurückgefunden, und dann hatte sie gar die Kraft gefunden, auch Mike zurück in die Realität zu holen.

Er ließ das tropfende Jackett auf den Boden im Flur fallen, kickte die ruinierten Schuhe von den Füßen, wobei er seine Aktentasche umwarf. Heraus purzelte ein Stapel Klausurhefte, einige schienen zur Dicke von Telephonbüchern aufgequollen zu sein. Blieb zu hoffen, daß seine Schüler mit Kugelschreiber geschrieben hatten, und nicht mit Tinte. Auch wenn es ihm eigentlich egal war, wahrscheinlich wurde in keinem Fach dünneres Gewäsch abgesetzt als in Geschichte. Die Verantwortung für den Niveaulimbo seiner Schüler suchte Mike klassischerweise nicht bei sich selbst, sondern vielmehr in den unterirdisch langweiligen Lehrplänen.

„Claire? Wo steckst du? Ich will in die Wanne…“
Die Tür zwischen Wohnzimmer und Küche flog auf. Claire trug eine Schürze und Handschuhe. Nein, keine Handschuhe, das war Mehl. Ihre Hände waren bis zum Ellenbogen weiß von Mehl. Eine Schürze? Mike hätte ihr das Ding am liebsten vom Leib gerissen. Waren sie so alt geworden?
„Verdammt, wie siehst du denn aus? Was machst du?“
„Backen?“
„Was um alles in der Welt…“
„Hast du eben was von Baden gesagt?“
„Sag blos, du hast mir eins eingelassen?“
„Natürlich nicht. Bin ich deine Bedienstete?“
„Eigentlich schon. Aber wenn du nicht in Stimmung bist…“
„Wäre ich vielleicht, aber da müsstest du ein bisschen nachhelfen.“
„Wie hättest du’s denn gerne? So in der Art wie: Ab in die Küche und backe sie mir eine Torte, Weib!“

Offenbar nicht. Claire lief rot an, eigentlich ein neckischer Kontrast zur mehlweißen Schürze und den bepuderten Armen. Die Küchentür schloß mit einem Krachen; Mike begab sich ein Stockwerk höher, ging ins Bad, ließ Wasser einlaufen und kramte sich im Schlafzimmer ein paar bequeme Klamotten für den Abend aus dem Schrank.

Das Signal auf dem Bett war unübersehbar. Sie hatte nicht nur die Stahlmanschetten und Lederriemen aus der Kommode gekramt, sondern auch das reichlich teure Accessoire, das sie sich vor nun fast drei Jahren geleistet hatten. Ja, genau das hatte noch gefehlt um dem Tag die Krone aufzusetzen. Mike setzte sich aufs Bett, durch zwei offene Türen war das Rauschen des Wassers in der Wanne zu hören. Er nahm den sündhaft teuren Keuschheitsgürtel, lies die Finger über das glänzende Metall des Frontschildes gleiten, strich über das Neopren des Taillengurtes und legte das Teil wieder zu den anderen Sachen. Wann hatte er ihn Claire zuletzt angelegt? Das musste fast ein halbes Jahr her sein. So um die Zeit, als sie wieder angefangen hatte zu arbeiten. Hatte es ihm Spaß gemacht? Mehr als die anderen Sachen, mit denen sie ihr Sexleben in der schweren Zeit danach wieder hatten aufleben lassen. Hatte es ihr Spaß gemacht? Anscheinend mehr, als er es bisher vermutet hatte. Immerhin hatte sie die Sachen nun wieder hervorgeholt.

Badezeit. Feuchte Hose, klammes Hemd und nasse Socken wanderten unverzüglich in die Waschmaschine. Passende Sachen aus dem Wäschekorb ergänzten die Maschinenfüllung, Pulver und Entkalker dazu und los mit der Sause. Es soll ja Männer geben, die der Bedienung einer solchen Maschinerie nicht unkundig sind. Badeschaum mit Kieferngeruch. Nicht gerade das Non Plus Ultra, aber besser als Lavendel. Immerhin heiß und eine Wohltat für die geschundenen Nerven.

Warum hatten sie mit ihren Spielereien überhaupt aufgehört? Wegen Claires Beruf? Vielleicht. Es war ja nicht so, daß es sonst nicht lief zwischen ihnen. Aber auch wenn Standardsex nicht unbedingt schlecht war, so vermisste er doch etwas. Und Claire ganz offensichtlich auch. Eigentlich hätte sie auch einfach etwas sagen können. Falsch. Auch Mike hätte etwas sagen können; wahrscheinlich hatte sie gerade darauf gewartet, war ettäuscht, daß von ihm nichts kam. Es ließ ihn nicht los. Versuche, die Gedanken in eine andere, entspanntere Richtung zu lenken, scheiterten. Die Schüler? Blos nicht. Feierabend. Das Auto, das er am Gymnasium hatte stehen lassen? Achtung, Zorngefahr! Abendessen? Es roch im ganzen Haus nach Kuchen. Mike wollte Maultschen in Brühe. Verdammt, das Spiel, das er mit Claire über fast zwei Jahre gespielt hatte, war doch eigentlich unheimlich anstrengend. Nicht nur für sie, sondern auch für ihn. Alleine das Nachdenken über eine Wiederaufnahme war schon anstrengend. Erst recht in der Badewanne. Also raus aus der Brühe, abgetrocknet, rasiert, Bademantel und Schlappen an. Gab es da unten vielleicht noch etwas anderes zu essen als Kuchen?





© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
2. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Te Oma Gemini am 26.05.11 08:32

Hallo Turambar,

da scheint Dir ja eine sehr tiefgehende Story aus den Fingern zu fließen. Der Einstieg macht nicht nur Lust auf mehr, sondern läßt auch eigene Gedanken und vor allem auch Bedenken wieder zu ....

Ich freue mich mit der ganzen Gemeinde auf mehr ...

lg t
3. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Brumbear am 26.05.11 09:20

Hallo Turambar

Einem tollen Einstieg hast Du da hingelegt macht lust auf weiter

schönefolgen!! Mal Danke sagt für den Anfang


Gruß Brumbear
4. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Angelina18bi am 26.05.11 11:57

Hi Turambar,

das schreit nach Fortsetzung
5. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 26.05.11 18:28

Moin zusammen!

Noch kein Tag alt und schon drei Kommentare?!? Soll noch einer schreiben, es gäbe hier zu wenig Feedback. Find´ ich gut von euch!

Zitat
...läßt auch eigene Gedanken und vor allem auch Bedenken wieder zu ....

So soll das auch sein. Ich hoffe nur, dem auch weiterhin gerecht werden zu können.

Zitat
Mal Danke sagt für den Anfang

Es ist auch wirklich kaum mehr als ein kurzer Einstieg. Das muss sich erstmal langsam aufbauen, alles.

Zitat

das schreit nach Fortsetzung

Auf jeden Fall heute Abend noch. Aber schrei nicht zu laut, sonst weckst du die Ledermäuse...

, Turambar
6. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von SmartMan am 26.05.11 19:19

Der Einstieg gefällt mir, da der Alltag wie selbstverständlich mit in die Story einfließt. Dadurch erscheint sie mir näher an der Realität, was mir bei Geschichten wichtig ist, um sie quasi als nachspielbar wahrnehmen zu können und nicht nur als eine abgehobene Fiktion und/oder eine banale Auflistung geiler Erlebnisse.

Eine Geschichte ist also gerade durch den möglichst realen Bezug für mich interessant - wie das denn mit den Monden wird, wird man dann ja irgendwann sehen...

...vielleicht ist´s ja einfach n´ Tapetenmuster im Schlafzimmer...
7. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 26.05.11 20:42

2.

Abendsonne hatte die schweren Gewitterwolken vertrieben, und verwandelte den kleinen Garten vor der Terasse in ein dampfendes, tropisches Etwas. Claire hatte die gläsernen Schiebetüren zur Terasse geöffnet; es roch nach nassem Gras und Sommer. Das Erdgeschoss des Hauses bestand eigentlich nur aus einem großen Raum, neben dem sich der Eingangsbereich, Treppenhaus und ein kleines Arbeitszimmer drängten. Küche und Wohnzimmer bildeten eine Einheit nach amerikanischem Stil; der Küchenbereich drei Stufen erhöht und mit einem zentralen Küchenblock, bestehend aus Herd und großzügiger Arbeitsfläche. Der Esstisch stand frei im Raum, in der Nähe der breiten Fensterfront zwischen Küchenempore und einem behaglichen Couchbereich.

Frisch gebackener Zwetschgenkuchen kühlte neben der Spüle am Küchenfenster ab. Ohne ihre Backschürze balancierte Claire Gläser, Bier, Butter und eine Schale mit Obst vom Kühlschrank zum Esstisch, drapierte die Ergänzungen um eine Platte mit Sandwiches und zwei Holzbrettchen nebst Besteck. Verträumt ruhte ihr Blick auf den tropfenden Büschen des Gartens. Es sah nicht so aus, als hätte das Gewitter die Hitze der letzten Tage vertrieben. Im Gegenteil, das tropische Dampfbad ließ für die nächste Zeit noch mehr Waschküchenwetter erwarten. Immerhin war bald Wochenende.

Sie hörte Mike nicht, wusste aber dennoch, daß er sich in ihrem Rücken näherte. Ohne sich umzusehen ergriff sie seine Hand, noch bevor er sie in ihren Nacken legen konnte, und zog sie nach vorne und etwas tiefer. Er musste die Sachen auf dem Bett gesehen haben. War das also ein Routine – Brust – Kneten oder doch etwas mehr? Sie sah sich nicht um, wusste aber dabei, daß er genauso aus dem Fenster starrte wie sie selbst.
„Was für ein Dampf. Riecht nach klebrigem Ölwetter morgen.“
Sprach er mit ihr oder mit dem Garten? Claire zog seine andere Hand an ihre freie Brust. Das sollte doch als Antwort reichen…
„Sandwiches? Nicht schlecht. Besser jedenfalls als Kuchen.“
„Bist du sauer auf mich?“
„Ob ich was bin?“
„Na, wegen dem Empfang vorhin. Ich war etwas erhitzt, vielleicht. Das schwüle Wetter und die Backerei…“
„Ach was, ich bin nicht sauer. Was backst du auch an so einem Tag?“
„Denk mal scharf nach.“
„Hä?“
„Du selbst hast mich drum gebeten. Morgen Geburtstag von deinem Kollegen? Ring – ding – ding – ding – ding – ding; klingelt was bei dir?“
„Ach, Scheyße!“

Hände verschwanden von Claires Brüsten, dafür tauchte ihr Mann in ihrem Gesichtsfeld auf und ließ sich auf den Stuhl gegenüber fallen.
„Tut mir leid, Füchschen. Muss am Wetter liegen, schwüle Luft kann Alzheimer auslösen.“
„Ah, ja. Das Wetter.“
„Ich hab‘ gesehen was oben auf dem Bett liegt.“
„Na sowas! Hab‘ ich da vergessen, etwas aufzuräumen?“
„Willst du damit wieder anfangen?“
„Du nicht?“
„Wenn mich nicht alles täuscht, war ich nicht derjenige, der keine Lust mehr drauf hatte.“
„Was? Du bist doch… Wie war das mit Herrn Alzheimer?“
„Willst du mir jetzt etwa vorwerfen…?“
„Können wir das später besprechen? Ich habe Hunger.“
„Willst du oder willst du nicht?“
„Später? Bitte!“
„Boah…“

Mike schaufelte Schnittchen auf sein Brettchen. Schinken, Ei, Senf und Gurken. Gut, wenn sie das Spiel mit vollem Magen beginnen wollte, ihm war’s recht. Nur ihren angespannten und fragenden Blick wurde er nicht los. Was wollte sie denn noch? Mikes Augen wanderten durch den Raum, blieben kurz an einem riesigen Gegenstand hängen, der definitiv neu im Raum war. Er schüttelte den Kopf, wandte den Blick ab und stellte fest, daß der Fernseher lief. Den Ton hatte Claire abgestellt, also lief irgendeine pantomimische Darstellung einer schnulzigen, deutschen TV – Produktion. Irgendetwas kroch in seinen Kopf. Mike blickte wieder geradeaus und direkt in zwei riesige, grüne Augen, die ihn aufzufressen schienen, statt den Sandwiches. Was genau wollte sie jetzt, wenn sie das andere so explizit später wollte?

Mike entschied sich, das Problem auf elegante Weise zu lösen.
„Und, wie war dein Tag, Füchsin?“
Zwei Minuten später hatte er abgeschaltet. Ein bisschen schämte er sich dafür, aber seinem Appetit tat das keinen Abbruch.

Es war wie träumen. Die schwüle Abendstimmung versetzte ihn in eine Art Trance, aus der er erwachte, als die Platte mit Sandwiches leer, das Bier ausgetrunken und Claire verstummt waren. Hoffentlich hatte er nichts Wesentliches verpasst. Ein wenig mißtrauisch musterte er die Frau ihm gegenüber. Es war offensichtlich, daß sie nun ebenso mit offenen Augen vor sich hinträumte, wie er selbst vor wenigen Momenten. Mißtrauen räumte das Feld für liebevollere Gefühle, schöne Gefühle, allerdings durchzogen mit einer leicht bitteren Ader von Mitleid. Seit vier Jahren ein gewohntes Leid, das langsam verblasste, aber nie verschwinden würde.

Die letzten Sonnenstrahlen des Tages ließen ihre rot - blonden Locken noch roter erscheinen. Sah sie fern? Ihr Gesicht war dem stummen Gezappel auf dem Bildschirm zugewandt, aber der Punkt auf den ihre Augen fokussiert waren, schien sich sehr weit jenseits des Fernsehers zu befinden. Möglicherweise etliche Lichtjahre entfernt, vielleicht in einer ganz anderen Galaxie.
„Was wollte dein Vater hier?“
„Was?“
„Dein Vater. Du hast mich vorhin angerufen, und irgendwas von seinen Verrücktheiten erzählt.“
„Achso. Hast du’s nicht gesehen? Diese riesige Standuhr?“
„Ähm, Standuhr, genau. So im Vorbeigehen. Und was sollen wir mit dem Teil?“
„Was weiß denn ich? Er wollte uns wohl eine Freude machen.“
„Ah! So wie mit dem Polo. Wir hätten lieber einen Leihwagen von der Werkstatt nehmen sollen.“

Claire stand ziemlich aprupt auf; ihr Stuhl wankte, fiel aber nicht. Mike erhob sich etwas zaghafter, gemeinsam räumten sie die Reste des Abendessens auf. Es war nicht so, daß Mike etwas gegen Roland hatte. Im Gegenteil, er mochte den alten Sonderling eigentlich wirklich gerne, aber was er als verstörend empfand, waren die eigentümlichen Geschenke, die Claires Vater ihnen in unregelmäßigen Abstanden machte. Im Garten stand eine originalgetreue Miniatur einer amerikanischen Dampflock, im Keller gammelte ein funktionsfähiges Laufrad vor sich hin und im Schlafzimmer sowie in der Küche standen zwei nicht funktionsfähige, urtümliche Transistorradios. Roland Falk war Antiquariar mit Leib und Seele. Der Gipfel aber war der verrostete VW Polo, den er ihnen Anfang der Woche überlassen hatte. Bei dem Gedanken, daß er stattdessen lieber mit der Draisine zur Arbeit hätte fahren sollen, musste Mike unwillkürlich kichern.

Claire hasste es, wenn Mike sich über ihren Vater lustig machte.
„Was soll das? Er meint es nur gut, und die Uhr ist doch nicht hässlich. Siehst du die Schnitzereien?“
Der Fernseher war mittlerweile erblindet, die beiden wollten nach oben gehen und sich wesentlicheren Dingen widmen. Mikes Arm lag um Claires Taille, als sie vor der mannshohen Standuhr aus dunklem Holz standen. Hinter staubigem Glas ließen sich zwei schwere Pendel erahnen, die freilich still standen. Auch die Zeiger verharrten reglos auf einem wie Perlmutt schillernden Ziffernblatt. Merkwürdigerweise gab es derer drei statt zwei, und noch eigentümlicher erschien es, daß alle drei Zeiger exakt gleich groß waren.

„Wenn das Ding denn mal laufen würde. Aber wahrscheinlich ist es genauso alt wie der Polo und wird nimmer mehr auch nur irgendwas anzeigen.“
„Er hat gesagt, daß er am Samstag vorbeikommt, und sie zum Laufen bringt.“
„Na, das will ich sehen. Am besten bringt er auch noch andere Zeiger an. Ansonsten würde mich das Ding an sowas wie einen Schwarz – Schwarz – Fernseher erinnern.“
„Gehen wir jetzt hoch, oder was?“
„Warum sind das Überhaupt drei Zeiger?“
„Für die Sekunden vielleicht?“
„Quatsch. Eine Standuhr mit Sekundenzeiger? Hab‘ ich noch nie gesehen.“
„Was willst du jetzt noch mit der Uhr? Auf, ich hab’s eilig.“

Viel auszuziehen hatte sie nicht. Mike freute sich auf die „Zeremonie“; umso mehr, als ihr nackter Körper eine gewisse Gier ausstrahlte, mit der er in den nächsten Tagen wieder sein Spiel treiben konnte. Makellos, bis auf die Narbe unter ihrem Bauchnabel. Er stand, sie kniete vor ihm, den Kopf leicht schräg, den Blick nicht direkt auf seine Augen, sondern ein Stück tiefer; Hals oder Kinn.
„Bist du bereit, dich mir zu übergeben, deinen Körper und deine Lust, meine Fähe? Willst du deinem Meister dienen, mit allen Konsequenzen und so wie er es für richtig hält?“
„Ich übergebe meinen Leib und meine Lust, so wie ihr es wünscht. Ich nehme die Regeln an, ich freue mich, euch zu Diensten zu sein. Ich freue mich auf Belohnung und Strafe, ich unterliege nun den Wünschen meines Großen Wolfes.“

Mike zögerte. Sie nannte ihn manchmal „Wolf“ oder auch „Loup“, aber als seine „Sklavin“ hatte sie das bisher nie getan. Er beschloß, der Sache keine Bedeutung beizumessen, es war ein Spiel, auch die Zeremonie des Einschließens folgte bestenfalls einem losen Gedächtnisprotokoll. Das Entscheidende kam danach. Also ging er nun seinerseits vor ihr auf die Knie.
„Dann steh jetzt auf, Fähe!“
Das Anlegen des Keuschheitsgürtels übernahm Mike selbst. Den Spaß ließ er sich nicht entgehen. Begeisterung und einen Tusch: Er passte noch. Und wie! Glücklicherweise ließ sich das Taillenband noch etwas nachjustieren.
„Hast du abgenommen seit letztem Oktober?“
„Das fällt dir jetzt auf?“
„Keine Frechheiten, klar? Sonst fällt mir ganz schnell auf, daß du vergessen hast, die Reitgerte mit `rauszulegen.“
„Verzeihung, Grand Loup!“

Claire war heiß, so heiß wie schon lange nicht mehr. Kein Grund für Mike, sie abkühlen zu lassen. Im Gegenteil. Er drückte sie aufs Bett, sie sträubte sich ein wenig; gehörte alles zum Spiel, richtig? Richtig.
„Lass die Hände schön brav an deinen Seiten, sonst binde ich sie dir fest.“
Ausgiebig widmete er sich den besonderen Punkten ihres Körpers, genoß ihre Hitze, das Winden und Zucken ihres Körpers. Noch konnte sie die Hände stillhalten, aber das wäre auf die Weise nur eine Frage der Zeit. Als er das Gefühl hatte, daß sie kurz vor dem Platzen war, beendete er das lockende Vorspiel.
„So, das war’s. Jetzt bin ich dran.“
„Ein bisschen noch, ok?“
„Negativ. Vielleicht am Samstag. Oder Sonntag. Mal sehen.“

Was ihr Mund anschließend mit seinem Balken anstellte, brachte ihn zum Schweben. Claire, die stets behauptete, Oralsex wäre ja eigentlich nichts für sie, sie stelle sich dabei so unglaublich vertrottelt an? Von wegen. Nun belehrte sie ihn eindrucksvoll eines Besseren. Es machte ihn fix und fertig, und das Ganze auch noch zweimal. Zeit, die Füchsin duschen zu schicken, inclusive Zähneputzen, versteht sich.

Claire kam aus dem Bad zurück, abgekühlt, zumindest vorläufig. So ganz würde die Hitze die nächsten Tage vermutlich nie verschwinden, immerhin war das nicht ausschließlich ihr Problem. Was ihr weniger gefiel, war die Prozedur, die ihr Mann gerade dem gemeinsamen Bett angedeihen ließ. In der Bettritze machte er sich zu schaffen, befestigte einen Gurt am Rost zwischen den beiden Matratzen. Die beiden Riemen auf der Seite waren schon besfestigt, die Manschetten für Hände und Füße lagen einladend geöffnet auf der Matratze. Mit soviel Enthusiasmus seinerseits hatte sie eigentlich nicht gerechnet. Jedenfalls in dieser Nacht noch nicht.

„Ähm, sag mal, was genau hast du mit den Fesseln jetzt vor, Meister?“
„Soll das ein Witz sein? Die Dinger lagen da so chaotisch auf dem Bett `rum, also wollte ich mal aufräumen. Und am aufgeräumtesten sehen die Teile ganz klar an deinen Händen und Füßen aus.“
„Darauf würde ich jetzt aber gerne verzichten. Jedenfalls heute Nacht.“
„Nenenenenene! Wenn, dann spielen wir richtig. Ganz oder gar nicht. Oder soll der Keuschheitsgürtel wieder in die Kiste?“
„Nein, aber…“
„Hey, Ferien auf dem Ponyhof gibt’s wann anders. Was ist los?“
„Ich muss morgen arbeiten, und du glaub‘ ich auch. Oder feiern, besser gesagt. Deinen Kollegen zusehen, wie sie meinen Kuchen mampfen. Ich will schon, mit allen Konsequenzen und so weiter. Aber ich brauche eine oder zwei Nächte, bis ich mich an die Fesseln gewöhnt habe. Das weißt du. In der ersten Nacht tu ich kein Auge zu.“
„Oha. Und ich dann wohl auch nicht.“
„Wenn du nicht auf dem Sofa schlafen willst…“
„Will ich nicht. Vergiss‘ die Manschetten. Auch wenn’s kein Ponyhof ist, es ist immernoch ein Spiel.“
„Für uns beide. Aber lass die Riemen, wo sie sind. Morgen abend wirst du sie brauchen.“
„Warten wir’s ab.“




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.




Nachtrag, @ SmartMan:
Zitat
- wie das denn mit den Monden wird, wird man dann ja irgendwann sehen...

...vielleicht ist´s ja einfach n´ Tapetenmuster im Schlafzimmer...

Huch? Tapetenwechsel? Ich hatte beim Schlafzimmer der Beiden mehr an eine Art Terracotta – Putz gedacht. Lass dich überraschen. Aber Realität ist schon ein flüchtiger Traum…
8. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 27.05.11 18:23

3.

Wenigstens war das Labor gut klimatisiert. Nach dem Aufstehen, beim Frühstück, beim Blick auf den wolkenlosen Himmel und das Thermometer, das um sieben Uhr eine Temperatur von 19,8°C anzeigte, war die Versuchung groß gewesen. Am liebsten hätte sie das Spiel beendet, oder wenigstens bis zum Abend unterbrochen. Doch sie blieb stark, gleichwohl sie sicher war, daß Mike es akzeptiert hätte. Gedanken an die Unannehmlichkeiten, die der Tag bringen würde, schob sie resolut beiseite. Sie folgte einer Routine, die lange Zeit geruht hatte, die aber so unverschämt schnell wieder präsent war. Im Bad fand sie eine Rolle elastisches, schwarzes Klebeband, das seit ihrer letzten Keuschheitsphase im vergangenen Herbst nicht mehr angerührt worden war. Sie riss ein paar Streifen ab und überklebte die beiden Schlösser an der Vorderseite des Gürtels. Ruinierte Unterwäsche gehörte jedenfalls einer unerfahrenen Vergangenheit an. Das lästige Kaschieren verräterischer Formen unter ihrer Kleidung erfolgte durch einen robusten Baumwollslip und zusätzliche, bei der Hitze allerdings furchtbar lästige „bodyshaping“ – Pants. Nicht minder nervig, aber erfahrungsgemäß an den ersten „keuschen“ Tagen unverzichtbar: Eine Slipeinlage zwischen Slip und Keuschheitsgürtel, und ein paar Reserveeinlagen in der Handtasche. Letzte Konturen der Metallkonstruktion verschwanden unter einem lang geschnittenen Top und einem weit geschnittenen Trägerkleid.

Trotzdem hatte sie ständig das Gefühl, als würden Kolleginnen und Kollegen sie anstarren. Eine geheime Verschwörung, bei der allen Personen, mit denen sie zu tun hatte, ein Röntgenblick verliehen worden war, mit dem Ziel, sie zu demütigen, sie der totalen Lächerlichkeit preiszugeben. Durch ihre Arbeit vermochte sie sich kaum abzulenken. Eher war es umgekehrt. Das ganze Theater zwischen ihren Beinen lenkte sie von der Arbeit ab. Sicher, das würde sich mit der Zeit bessern, ebenso wie der unangenehme Verfolgungswahn verschwinden würde. Noch war aber ihr Denken viel zu sehr auf das Spielzeug an ihrem Unterleib fokussiert. In dem Maße, wie ihre Gedanken darum kreisten, projizierte sie eben auch Teile dieser Gedanken auf ihr Umfeld. Das Bewusstsein, daß diese paranoiden Vorstellungen blos idiotische Hirngespinste waren, nutzte wenig gegen ihr Unbewusstes Denken, welches stur auf seiner Ansicht beharrte, daß alle Anderen nicht nur durch ihre Kleidung, sondern auch direkt in ihren Kopf sehen konnten.

In Wirklichkeit fiel es Claires Kollegen noch nicht einmal auf, wie unkonzentriert und fahrig sie an diesem Freitag war. Selbst ihre Laborassistentin nahm kaum wahr, daß sie wegen Unachtsamkeit drei verunreinigte Proben hintereinander entsorgte, daß ihre Dokumentation erbärmlich viele Fehler aufwies, oder daß Claire ungewöhnlich oft auf die Toilette verschwand. Bindenwechsel. Das Eingeschlossen – Sein hatte nicht nur eine nervtötende Komponente. Sonst hätte Claire wohl auch kaum Interesse an der ganzen Prozedur. Von wegen Keuschhaltung! Eigentlich war das Ganze eher eine Art „Feuchthaltung“… Und je bunter und aufdringlicher das Bild ihrer hinter Metall eingesperrten empfindlichsten Körperteile in ihrem Kopf herumblinkte, desto intensiver nahm sie auch die damit verbundenen Gefühle war. Alle Gefühle, versteht sich.

Von einer Klimaanlage konnte Mike nur träumen. Geld aus dem Steuersäckel wurde schließlich nicht für die Klimatisierung von Gymnasien verwendet, denn es galt ja die Maxime, daß diese Gelder viel besser in einem aufgeblähten Verwaltungsapparat aufgehoben seien, dessen linke Hand nicht wusste, welches Geld die Rechte gerade verschwendete. Sinn – und hoffnungsloses Gedankentennis. Und warum eigentlich gab es für die Oberstufe kein Hitzefrei? Wahrscheinlich existierte irgendwo eine unwiederlegbare, teure Statistik, daß Schüler mit dem Eintritt in die elfte Klasse mit einem Schlag jede Beeinflussbarkeit durch Extremtemperaturen verloren.

Ein Blick über seine Klasse führte die imaginäre Studie eindrucksvoll ad absurdum. Selbst die drei Streberinnen in der ersten Reihe schienen beinahe weggetreten zu sein. Glasige Augen starrten auf eine antiquierte Schultafel, auf der allerdings nur das Gekrakel aus einer anderen Stunde zu bewundern war. Mathematische Hieroglyphen, Kurvendiskussion, abenteuerliche Integrale. Mike hielt sich nicht nur für außerordentlich interessant und klug, er war immerhin auch so fortschrittlich, daß er schon vor einigen Jahren seinen Unterricht auf integrative Diskussionsrunden, ergänzt mit peppigen Powerpoit – Präsentationen umgestellt hatte.

Leider konnte er derzeit seiner eigenen Präsentation nicht wirklich folgen. Was kein Problem darstellte, die Klasse hatte sich ohnehin weitestgehend ausgeklinkt. Kein Wunder, die politische Entwicklung während der Weimarer Republik konnte eigentlich ernsthaft interessant sein, wenn man dabei nicht einem reichlich emotionslosen Lehrplan zu folgen hatte. Hoch lebe die Oberflächlichkeit, so leicht ist sie zu kontrollieren!

In der hintersten Reihe spielten einige Schüler Karten. Interessiert stellte Mike fest, daß dort tatsächlich Doppelkopf gezockt wurde. Das mochte womöglich eine größere intellektuelle Herausforderung sein, als sein Unterricht. Trotzdem hätte er normalerweise diese unterrichtsfremde Aktivität unterbunden, oder die entsprechenden Jungspunde aufgefordert, ihr Spiel außerhalb seines Klassenzimmers fortzusetzen.

Nur an diesem Tag fehlte ihm dazu die Energie. Die Luft war unerträglich drückend, weit geöffnete Fenster verstärkten die betäubende Stimmung eher, als daß sie sie bekämpften. Gleißend brannte das gigantische Kernfusionskraftwerk der Mitagssonne von einem einheitlich blassblauen Himmel; dunstig zwar, aber frei von jeder Wolke, die eine gewittrige Abkühlung hätte in Aussicht stellen können. Dennoch ließ sich die Schwüle in der Luft beinahe mit den Händen greifen. Die Atmosphäre war zum Bersten gespannt mit einem knisternden Kribbeln, einem Summen, einem Druck auf Hirn und Haut; derart aufgeladene Stimmung kannte Mike eigentlich nur aus der mystischen einen Stunde, bevor sich ein heftiges Gewitter entlud.

In den ersten Stunden hatte er sich noch einigermaßen zusammenreißen können, aber mittlerweile waren seinen tieferen Gedanken, zermürbt durch Hitze und drückende Schwüle, Tür und Tor geöffnet. Mechanisch spulte sein Mund das Programm zum Unterricht ab, ohne daß er davon viel mitbekam. In seinem Kopf hatte sich Claire breitgemacht, vereinnahmte sein Denken und ließ sich nicht mehr aus dem Zentrum seines Verstands vertreiben.

Wahrscheinlich war sie durch das Spiel noch stärker von ihrem normalen Tagesablauf abgelenkt als er, aber je mehr er darüber nachdachte – gezwungen war, darüber nachzudenken – desto intensiver spürte er seine Frau. Er bildete sich tatsächlich ein, daß trotz der räumlichen Separation eine sehr lebendige Verbinbung zwischen ihnen entstand. Grell erschien – in leuchtenden Neonfarben – ein lebensechtes Bild vor seinem inneren Auge: Claire silbrig, ihr Haar rot wie Feuer, der Keuschheitsgürtel in wilden Wirrungen die Farbe wechselnd; neongrün, blau, pink…

Als er glaubte, sie sogar riechen zu können (Sie hatte doch hoffentlich daran gedacht, genug Binden mitzunehmen?), ertönte glücklicherweise der völlig unerotische, schrille Klang der Pausenglocke. Mike war irritiert, er hatte so ein Gefühl, seit mindestens fünf Minuten keinen Ton mehr gesagt zu haben. Ein skeptischer Blick in die Gesichter seiner Schüler: Desinteresse, Müdigkeit, unbeteiligtes Grinsen. Alles in Ordnung.

„Frau Mommsen? Alles in Ordnung bei ihnen? Läuft der Chromatograph wieder?“
Professor VonBosstejn, Leiter des Labors. Schweißtropfen auf seiner Glatze trotzten spöttisch der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage. Rotes Gesicht, wahrscheinlich wegen chronischer arterieller Hypertonie: Derber Kontrast zu seinem weißen Schnauzbart. Es war tatsächlich halb vier, kurz vor Feierabend. Claire stand auf, flimmernde Bilder aus dem Rasterelektronenmikroskop, in das sie seit fast einer Stunde starrte, zerflossen vor ihren Augen. Zwei Schritte ging sie unsicher auf ihren Chef zu, hätte sich gerne gestreckt, verwarf aber den Wunsch vorläufig. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, graue Linien auf ihrer Netzhaut verschwanden und sie ergriff seine ihr angebotene Rechte.
„Er läuft, Herr VonBosstejn. Aber ich fürchte, wir müssen den Versuch am Montag wiederholen, irgendwie gab’s Probleme mit den Proben. Wenn sie wollen kann ich aber auch heute länger…“
„Ach, Blödsinn, Frau Mommsen. Machen sie das besser am Montag, und in neuer Frische. Ich wollte eigentlich nur…“
„Ja?“
„Seien sie doch so nett, und kommen noch mal in meinem Büro vorbei, wenn sie hier fertig sind?“
„Natürlich. So in einer halben Stunde?“
„Passt.“

Claires Kuchen war schlichtweg der Hit. Einziger Wehmutstropfen war, daß Theo Lins, geschätzter Freund der Eheleute Mommsen, von seinem eigenen Geburtstagskuchen nichts mehr abbekam. In der ausgelassenen Plauderei des Kollegiums verschwand das Backwerk so rasch, daß Theo noch mit dem Sekt beschäftigt war, während Silke Raisch – Wickert das letzte Stück zügig vertilgte. Entweder war ihr entgangen, daß das Geburtstagskind bisher leer ausgegangen war, oder sie war der Ansicht, daß ihr Vorrecht auf Kuchen als Schulleiterin größer war als Theos Ansprüche.

Der Geprellte bemühte sich, es mit Humor zu nehmen.
„Mikey, deine Frau hat ganz klar den Hunger eines Lehrerkollegiums an einem Freitag Nachmittag unterschätzt.“
„Ich werd’s ihr ausrichten. Soll sie das nächste Mal lieber zwei backen? Daß es auch für alle reicht?“
„Da hab‘ ich `ne bessere Idee.“
„Schieß los!“
„Sag ihr, sie soll wie üblich einen Zwergenkuchen für all die Schnorrer hier backen, und dann noch einen richtigen, nur für mich ganz privat.“
„Oh, da wird sie sich bestimmt glücklich schätzen, dich ganz persönlich so verwöhnen zu dürfen.“
„Liebe geht eben durch den Magen.“
„Dann werde ich veranlassen, daß sie dir garnichts mehr bäckt, kocht, blanchiert, brät und so weiter.“
„Eifersüchtig?“
„Auf dich?“
„Hör mal, ich muss die Feier verschieben. Sonntag wird das nichts. Tina ist im Krankenhaus…“
„Was? Ich hoffe, es ist nichts Ernstes?“
„Ach, wo. Sie ist ja nur heute da drin, ambulant. Ist `ne Routinesache, du weißt ja bescheid. Aber mir wär’s trotzdem lieber, wenn wir nächstes Wochenende feiern würden. Dann aber am Samstag, statt am Sonntag“
„Ist kein Thema. Wir kommen auf jeden Fall.“

„Herr Mommsen?“
Was in aller Welt wollte die Raisch – Wickert jetzt von ihm? Eigentlich bestand ein schweigendes Einvernehmen zwischen ihnen, sich so umfassend wie möglich aus dem Weg zu gehen. Ungerne ließ er Theo stehen und wandte sich der gartenzwerggroßen Feministin mit Rubensfigur zu, die ziemlich genau das repräsentierte, was er unter dem endgültigen Antipol der Weiblichkeit an sich verstand.
„Sie sind abstinent, Herr Mommsen? Er geschehen noch Zeichen und Wunder.“

Er warf einen skeptischen Blick auf das Glas in seiner Hand. Trug er das schon so lange mit sich herum? In der Tat hatte der Sekt in dem Orangensaft längst aufgehört zu perlen. Er kam zu dem Entschluß, seine Vorgesetzte in dem Glauben zu lassen, daß er tatsächlich dem Alkohol entsagte und nahm einen Schluck des ekelhaft schalen Getränks zu sich.
„Ach wissen sie, Frau Raisch – Wickert, bei der Hitze besteht ein zu hohes Risiko, ihnen die Möglichkeit für Disziplinarmaßnahmen gegen mich zu verschaffen, wenn ich mich damit nicht zurückhalte.“
„Ich habe noch was Besseres für sie. Was sagt ihnen der Name Schlick?“
„Oh, bitte! Alles, nur das nicht.“
„Er sitzt genau in diesem Moment in Zimmer dreisiebenundvierzig und erwartet sie ungeduldig. Ich habe mir erlaubt, ihm zu sagen, daß sie unterwegs sind.“
„Wieso Er? Herr Schlick? Ich dachte es geht um Andrea?“
„Das tut es. Stellen sie sich nicht dumm, bitte. Herr Schlick ist natürlich der Vater des Mädchens.“
„Was? Sie hat einen Vater?“



© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
9. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 28.05.11 18:45

4.

Claire hätte gerne die Beine übereinandergeschlagen, nachdem ihr Chef ihr einen bequemen Ledersessel in der Sitzgruppe seines Büros zugewiesen hatte. Unglücklicherweise war diese Haltung derzeit für sie prohibitiv, weshalb sie einigermaßen steif in den weichen Polstern saß, dabei peinlich bemüht, wenigstens die Knie zusammenzuhalten. Sie machte sich nicht die Mühe, den angebotenen, sündhaft teuren Whisky auf Eis abzulehnen, auch wenn ihr eigentlich ein simples Mineralwasser lieber gewesen wäre. Geschmack und Wirkung des Getränks waren jedeoch durchaus famos. Nach wenigen Schlucken bereits hatte sie das Gefühl, einigermaßen duhn zu sein, und empfing die Einladung zu einer Party des Vorstands des Pharmaunternehmens, für das sie arbeitete. Sonntag in einer Woche hatte sie noch nichts vor, nein. Ob sie mit ihrem Mann kommen könnte? Aber selbstverständlich. Markus VonBosstejn wäre hocherfreut.

Beschwingt schritt sie durch die Flure dem Ausgang und dem Feierabend zu. Es schien beinahe, als hätte sich das Gewicht ihrer ganz speziellen Unterwäsche um mindestens einhundertvierzig Prozent verringert.

Kurz darauf jedoch fühlte sich an, als wollte die Hitze sie mit einem Knüppel niederschlagen. Der Temperaturunterschied, als sie den Labortrakt verließ, war beinahe übelkeiterregend. Das Klima in der Straßenbahn jedoch setzte noch mal eins drauf. Obwohl es eindeutig nicht stimmte, hielt sich hartnäckig die Legende, daß die Bahnen klimatisiert seien. Dafür waren selbstverständlich auch die Fenster mittlerweile nicht mehr zu öffnen. Klar, das machte ja auch keinen Sinn, solange die stinkende, klebrige Luft von der Klimaanlage gekühlt wurde. Soweit die Theorie. In der Praxis sah es so aus, daß die stinkende, klebrige Luft genauso stinkend und klebrig war, wie in jeder Straßenbahn, nur eben nicht kühl, sondern in etwa so temperiert wie eine amtliche finnische Sauna. Der Schweiß der dicht an dicht gedrängten Passagiere diente dabei als Aufguß.

Claire reduzierte ihre Atemtätigkeit auf ein Minimum, doch auch das war schon zu viel. Sie stand, versuchte verzweifelt, der Reibung ihres Körpers am Leib eines riesenhaften Alkoholikers zu entgehen, der seinem viel kleineren, aber mindestens ebenso unmißverständlich nach Bier duftenden Kompagnon lautstark unverständlichen Kauderwelsch ins Ohr brüllte. Weiter hinten schrie eine ganze Riege von Kleinkindern um die Wette, und mindestens zweihundert in körpereigenen Ausdünstungen schwelgende Berufsschüler ergötzten sich am Geplärr ihrer Mobiltelephone.

Der Riese schob ihr seine mit undefinierbarer Brühe verklebte Bierdose ins Gesicht.
„Halt das mal, Alle!“
Reflexartig griff Claires Hand nach des Säufers flüssigem Kleinod.
„Dangge, assrein. Jetz ma sehn…“
Als der Typ ein waffenscheinpflichtiges Klappmesser aus der Hose hervorzauberte, schien sein fetthaariger Kumpan fast noch blasser zu werden als Claire.
„Was hassn jetz vor? Mach kein Scheyß, klar? Nich heute, du. Weil doch eh…“
„Ach, Kopf zu, Mann. Bin doch nich blöd. Nee, nee. Aber kanns jetz ma seh’n, hier…“
Er beugte die stattliche Muskulatur seines Oberkörpers über einen Kniderwagen und eine geschockt wirkende Mutter, die vergeblich versuchte, ihr Kind zu beruhigen. Mit erstaunlich sicherer Hand prokelte er mit Fingern und Klinge an dem Verschluß des Bahnfensters herum.
„Dabbische Stroosebohne! Seid ihr alle so saublöd, im Scheyßgestank hogge zu wolle? Alla, guck zu jetz, wenn isch den Scheyß uffbekomm, könnt’er mir dangge.“

Claire spürte, wie ihr schwindelig wurde. So unangenehm der Mann ihr war, so abstoßend sein Geruch, seine Sprache, seine Ausstrahlung sein mochten, irgendwie empfand sie eine gewisse Bewunderung. Hatte er nicht recht? Wie die Ölgötzen saßen und standen sie lethargisch herum, litten sie alle in dieser Straßenbahn, weil irgendeine idiotische Betriebsanordnung des Bahnunternehmens das Öffnen der Fenster verbat. Was taten sie dagegen? Nichts. Bis ein mutmaßlicher Hartz – Vierler mit einem illegalen Messer und einer vehementen Bierfahne die Initiative übernahm. Er machte genau das, was der logische Menschenverstand eigentlich gebot, wozu aber niemand außer ihm den Mut hatte.

Es knackte in den Lautsprechern an der Decke, eine dünne, genervte Stimme rutschte aus der beinahe schleimigen Luft über ihren Köpfen.
„An den Mann beim zweiten Einstieg! Lassen sie das Fenster in Ruhe, die Fenster sind nicht zu öffnen. Lassen sie das, oder sie kassieren eine Anzeige wegen Sachbeschädigung!“

Claires Schwindel wurde zu einem Strudel. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Auch wenn eigentlich das Metall nicht direkt mit ihrer Haut in Berührung kam, spürte sie plötzlich den Keuschheitsgürtel als ein glühendes Dreieck um ihren Unterleib. Schmerzhaft, und zugleich von unerträglicher Energie, stärker als jeder Orgasmus, den sie bisher erlebt hatte, allerdings nur für die Dauer eines Sekundenbruchteils. Die Welt – das Universum der überfüllten Straßenbahn – verschwamm rotierend vor ihren Augen. An die Stelle trat etwas Anderes, drängte sich mit Macht in ihr nach vorne, bis es ihren ganzen Kopf einzunehmen schien. Distanziert stellte sie fest, daß sie schrie, daß sie der Stimme des Fahrers etwas erwiederte. Was umso verstörender war, als sie sich einerseits völlig klar fühlte, andererseits aber wie in einem kurzfristigen Rausch, bei dem etwas anderes die Kontrolle über sie an sich riss. Der ganze Zauber dauerte keine drei Sekunden, dann war sie wieder völlig bei sich. Die Erinnerung an den soeben erlebten Moment wirkte wie der blasse Schemen eines Jahre zurückliegenden Ereignisses. Zugleich meinte sie immer noch den Wiederhall ihrer Worte zu vernehmen.
„Halt die Klappe, und fahr! Ignorier das und schreib nachher deinen Bericht, aber halt die Klappe, Mann!“

In diesem Moment waren tatsächlich alle Augen auf sie gerichtet. Was sie aber in den Gesichtern las, waren Zustimmung, Anerkennung und hier und da Schadenfreude. Der Alkoholiker von gigantischer Gestalt musterte sie mit einem Ausdruck, der beinahe schon Ehrfurcht ausdrückte. Dann schüttelte er den Kopf, lachte, und wandte sich wieder dem Fenster zu, das kurz darauf ein Klicken vernehmen ließ, und sich bereitwillig öffnen ließ.

Glücklicherweise verblasste das verstörende Bild, welches Claires Kopf während ihrer kurzen Absence erfüllt hatte, ziemlich schnell. Bald schwanden die drei seltsam verformten, ineinander verdrehten Uhrzeiger zur Unkenntlichkeit. Was blieb, war eine seltsame Unruhe, als würde das zu schnelle Ticken einer Uhr ihren Herzschlag beschleunigen…

Mike bemühte sich um eine lässige Position, wippte ein wenig mit seinem Stuhl, während der Mann ihm gegenüber erste Anzeichen von Zorn erkennen ließ. Es war eigentlich immer das Selbe, wenn es auf das Ende eines Schuljahres zuging. Eltern, die sich in der Zeit davor einen Scheyßdreck um ihre Kinder gekümmert hatte, ging nun eine mögliche Nicht – Versetzung gegen den Strich. Also versuchte man, ein wenig auf die Lehrer einzuwirken, um dem Theater zu entgehen, selbst in der Erziehung aktiv werden zu müssen. Man war ja ein guter Mensch und ein toller Vater, auch das Kind war ja nicht wirklich unbegabt, sondern nur ein wenig faul vielleicht. Das sollte sich doch alles in einem guten Gespräch regeln lassen, richtig?

Falsch.

Die entsprechende Schülerin war schlichtweg schlecht. Nicht faul, nur etwas überheblich und obendrein den Anforderungen des Unterrichts nicht gewachsen. Für einen Vater, der Chefarzt oder so etwas in der Art war, bedeutete das natürlich eine ganz fatale Schmähung. Aber das war nicht Mikes Problem. Die fünf, die das Mädchen bekommen würde, war schon eher eine Gnadenfünf. Er hatte sicher nicht die Absicht, die Schülerin mit einem speziellen Maßstab zu messen, nur weil ihr Vater sich für eine Nichtversetzung der Tochter vor seinen Kollegen schämen musste.

„Herr Schlick…“
„Doktor.“
„Verzeihung?“
„Doktor Schlick, bitte.“
„Es tut mir leid, aber ich kann Andrea nicht anders bewerten, als alle anderen Schüler auch. Die Leistungen sind wie sie sind. Vielleicht hätten sie etwas früher kommen können. Ich habe sie immerhin vor drei Monaten schon deswegen angeschrieben. Dann hätten wir uns zusammen überlegen können, wie wir die Situation hinbekommen.“
„Damit sind sie jetzt natürlich ein bisschen spät, Herr Mommsen.“
„Genau davon rede ich ja. Deshalb hätte ich sie gerne deutlich früher gesehen.“
„Das kann jetzt nicht ihr Ernst sein. Sie lassen Andrea durchfallen, wegen einem Fach wie Geschichte?“
„Nein. Nicht wegen dem Fach, sondern wegen ihrer Leistung in dem Fach.“
„Wissen sie, wie das für mich klingt?“
„Wissen sie, wie wenig mich das interessiert, wie das für sie klingt? Ich mache meinen Unterricht, die Mitarbeit und den Lernerfolg der Schüler habe ich anschließend zu bewerten. Dabei habe auch ich mich an die entsprechenden Vorgaben zu halten.“
„Ihr Unterricht scheint ja eine schöne Katastrophe zu sein.“
„Dann sollten sie vielleicht das Kultusministerium dazu anregen, meine Leistung dahingehend zu überprüfen.“
„Das könnte ich tun. Aber sie könnten dem auch ganz einfach entgehen.“
„Da sehe ich keine Möglichkeit.“
„In dem Fall warne ich sie schon mal vor. Es wird mir eine Vergnügen sein, dafür zu sorgen, daß nicht mehr jeder dahergelaufene Schwarzafrikaner an deutschen Gymnasien deutsche Geschichte unterrichtet. Daß das nicht funktioniert, dafür sind sie ja mal das beste Beispiel.“

Normalerweise ließen rassistische Äußerungen Mike kalt. Solche Bemerkungen, die tatsächlich böswillig waren, ignorierte er für gewöhnlich weitestgehend. Scherzhaft gemeinte Anspielungen auf seine Hautfarbe fand er teilweise sogar komisch, konnte darüber durchaus lachen. Gelegentlich, meistens ab einem gewissen Alkoholpegel, riss er selbst sogar tendenziell rassistische Witze.

Umso überraschender war für ihn seine Reaktion in diesem Moment. Er hatte in der Sekunde, als seine linke Hand nach vorne schnellte, dem „netten Rassisten von nebenan“ die Brille von der Nase griff, während die rechte ausholte und ihren Abdruck auf der linken Backe des Dr. Schlick hinterließ, eigentlich keine Kontrolle über das was er tat. Dennoch hatte er nicht das Gefühl, affektvoll auszurasten, sondern vielmehr für eine Sekunde fremdgesteuert zu sein. Immerhin fühlte er sich bei der Aktion völlig klar, keineswegs entrückt. Abgesehen vielleicht von dem kurzen Aufleuchten eines grellen, brutalen Bildes in seinem Verstand, das er sich zunächst nicht erklären konnte.

„Das…“
„Nix „das“, Herr Mommsen. Ich würde sagen: Das war’s für sie. Ein Fall für’s Gericht wird das, das verspreche ich hoch und heilig!“
„Hören sie, Herr Doktor Schlick, es tut mir leid. Ich habe da die Fassung verloren, es…“
„Ja, leid wird ihnen das wirklich tun. Geben sie mir meine Brille wieder!“
Während Mike einem den Tränen nahen Doktor Schlick sein Nasenfahrrad zurückgab, wurde ihm vage bewusst, daß sich der Schritt seiner Hose durch eine Errektion ausbeulte, die zwar gerade im Abklingen war, einem aufmerksamen Beobachter aber dennoch hätte auffallen müssen. Glücklicherweise war der Mann, den er gerade geschlagen hatte, derzeit alles andere als ein aufmerksamer Beobachter.

Während er bei dem havarierten Polo auf den Abschleppdienst wartete, wünschte er sich nicht nur zum ersten Mal seit über fünf Jahren eine Zigarette, sondern auch, daß die zwanghaften Gedanken an Claire und ihren Keuschheitsgürtel zurückkehren möchten. Um seinen durcheinander gewirbelten Verstand ein wenig zur Ruhe zu bringen. Er wollte nur noch die Gedanken an seinen Ausraster verdrängen, damit würde er sich noch früh genug wieder ausseinandersetzen müssen. Wodurch die Erinnerung an sein neues Problem aber dann wirklich verdrängt wurde war das Bild. Im Gegensatz zu Claire in der Straßenbahn, konnte Mike das Gesehene durchaus einordnen. Es war die Uhr, das eigenartige Ziffernblatt aus Perlmutt, die drei seltsamen, bauchigen Zeiger. Die Zeiger bewegten sich in absurden, mathematisch völlig unmöglichen, gegenläufigen Kreisbahnen, verkrümmten sich und bildeten etwas wie ein abgerundetes, dreigliedriges Swastika. Er schüttelte sich, als bekäme er eben trotz der Hitze eine Gänsehaut.


© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
10. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Hanniball88 am 30.05.11 11:42

sehr gut geschrieben!!! bin sehr gespannt auf eine Fortsetzung
11. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 30.05.11 17:24

5.

Der Samstag brachte keine Abkühlung. Es war ebenso heiß wie an den Tagen zuvor, doch immerhin verwehte ein trockener Wind sie stickige Feuchtigkeit. Obwohl beide am letzten Abend nicht gerade in der Stimmung für erotische Spiele gewesen waren, hatte Claire die Nacht in Fesseln verbracht, und erbärmlich schlecht geschlafen. Trotzdem fühlte sie sich einigermaßen stolz. Umso mehr, als sie auch Mikes Stolz spüren konnte. Seinen Stolz und die Begierde in seinen Augen, wenn er sie ansah, über ihr Haar strich oder ihre Lippen mit den seinen berührte, was er an diesem Vormittag oft und ausgiebig tat.

Mit jeder dieser elektrisierenden Berührungen schien Claires Welt intensiver zu werden. Gefühle empfand sie so viel stärker als sonst, nicht nur ihre Lust. Beinahe jede Sinneszelle ihres Körpers lief geradewegs zu Hochform auf. Claire wollte mehr. Ihr Körper wollte sich dem Rausch hingeben, der Generator zwischen ihren Beinen schrie nach Erlösung; ihr Geist als Katalysator verlangte nach noch stärkeren Reizen, sowie nach Verlängerung der emotionalen Anspannung.

Sie war dabei sich einen Plan zu überlegen, wie sie Mike dazu bringen könne, ihr noch mehr Restriktionen aufzuerlegen, sie noch mehr anzuheizen, sie mittels noch stärkerer Reize zur Ekstase zu bringen. Darum ließ Mike sie schließlich auf dem Sofa alleine. Der geschockte Ausdruck im Gesicht seiner Frau brachte ihn zu Grinsen als er plötzlich aufstand.
„Kühl dich mal etwas ab, Feuerfüchsin! Ich hab´ da noch einen ganzen Stapel aufgequollene Klausurhefte, um die ich mich kümmern muss.“
„Nicht dein Ernst oder?“
„Oh doch! Wenn wir jetzt nicht aufhören, dann platzt du. Und ich auch. Soviel dazu.“
„Wenn du jetzt gehst, mach‘ ich den Rest einfach alleine.“
„Aha. Das würde ich zu gerne sehen.“
„Du weißt sehr wohl, daß das geht.“
„Kann sein. Aber du weißt ebenso gut, daß ich dann ziemlich sauer wäre. Sei einfach mal hübsch brav, dreh Däumchen, und dann denk‘ ich mal drüber nach, ob du vielleicht morgen eine tolle Belohnung bekommst.“
„Bis dahin bin ich so ausgelaufen, daß innen alles trocken wie die Sahara ist…“
„Dann solltest du ein Handtuch unterlegen, wenn du hier auf dem guten Sofa bleiben willst.“

So intensiv die Freude eben noch gewesen war, so unerträglich war nun die Frustration. Grummelnd ließ sich Claire auf dem Sofa auf den Rücken fallen, warf ein Bein über die Lehne, streckte das andere auf die Kissen und versuchte, ihre Hände irgendwie so zu platzieren, daß sie keinen Unfug anrichten konnten. Es war perfide, aber im grunde hatte Mike ihr genau das gegeben, was sie wollte. Erst angeheizt wie ein Brathähnchen und dann ins kalte Wasser fallen lassen. Aus die Maus.

Dem Körper fiel es schwer, wieder zur Ruhe zu kommen, dem Geist noch schwerer. Beherrschung war das Zauberwort. Doch Selbstbeherrschung fiel so viel schwerer, als beherrscht zu werden…

Als es an der Tür Sturm läutete, hatte sie so schön gedöst. Ihr Körper schien flüssig geworden zu sein und in schwereloser Freiheit durch einen Ozean aus Zeit zu treiben. Der Geist gelöst, gegenstandslos, unabhängig. Absoluter Frieden, sanftes Schweben im Licht. Dann durchbrochen von schrillem Geplärr: Seit vier Jahren dachten beide regelmäßig darüber nach, eine neue, angenehmere Klingelanlage einbauen zu lassen.

Stimmen an der Tür: Mike und Roland, Claires Vater. Sie setzte sich auf, bemühte sich, das dünne Kleid möglichst so zu arrangieren, daß es komische Formen um ihren Unterleib effektiv verheimlichte. Eigentlich hätte sie duschen sollen, ihr Geruch war schwach, aber relativ eindeutig. Peinliche Sache, vor allem, wenn der Besuch der eigene Vater war. Also jetzt aufstehen, Begrüßung, Umarmung, Bussi links und Bussi rechts? Eher nicht. Das Ertasten eigentümlicher, harter Strukturen über ihrem Bauchnabel oder wenn er ihr übers Kreuz strich, waren nicht unbedingt in ihrem Sinne. Obwohl sie so einen Verdacht hegte, daß ihr Vater ohnehin schon so Einiges ahnte. Aber er sollte ahnen, was er wollte, hatte er doch bisher nie etwas gesagt. Solange es sich einrichten ließ, war Claire nur zu gerne bereit, das Thema zu verdrängen und sich und ihrem Vater irgendwelche Peinlichkeiten zu ersparen. Sie streckte sich wieder auf dem Sofa aus, nahm unangenehmes Kneifen in kauf, als sie die Beine übereinander schlug, und blickte in ein hageres Gesicht mit krausem, grauem Vollbart und runder Brille, das über der Sofalehne auftauchte.

„Schläfst du?“
„Morgen, Paps. Ich hab‘ eher so’n bisschen gedöst. Schlecht geschlafen, letzte Nacht.“
„Die Hitze, was?“
„Schätze schon.“

Er beugte sich herunter, drahtiger Bart kitzelte auf ihrer Stirn und der Nase.
„Immer noch um keine Lüge verlegen, Streuselkuchen?“
„Was? Ich hab‘ doch nicht…“
„Wann hättest du je wegen heißem Wetter schlecht geschlafen? Das wäre ja was ganz Neues. Claire, ich bin zwar alt und werde langsam tatterig, aber ich bin noch nicht… Äh, wie sagt man? Tatterig, genau.“
„Wolltest du nicht nach der Standuhr sehen?“
„Ah, ja! Lass dich von mir nicht stören, auch wenn es mir Spaß macht.“
„Ich habe wirklich schlecht geschlafen, Paps.“
„Glaub‘ ich dir. Aber nicht wegen der Hitze.“
Roland legte eine Tasche mit Werkzeug und sein dickes, zerfleddertes Notizbuch auf die Anrichte neben der Uhr.
„Ich hoffe ja nur, es ist nicht wegen Cassandra. Das ist jetzt so lange her, Claire, daß…“
„Nein, es war ganz sicher nicht wegen Cassandra. Und ich will ganz bestimmt jetzt auch nicht über Cassandra reden. Denn es ist lange her, aber noch lange nicht lange genug.“
„Ich weiß, daß wird niemals…“
„Papa, bitte!“
„Ihr hattet auch keinen Streit, du und Mike?“
„Wenn du’s wirklich wissen willst, wir hatten so in etwa das genau Gegenteil von Streit.“
„Ok, ich will’s gar nicht wissen.“
„Danke!“

Auf jeden Fall hatte ihr Vater es geschafft, ihr jeden erotischen Gedanken auszutreiben. An Schlaf oder liquides Dahindösen war ebenfalls nicht zu denken, erst recht, nachdem Roland ungefragt die Stereoanlage einschaltete, auf Kanal 6 Radio Rockland fand, und zu den irgendwie eher nervigen Klängen von Bon Jovi an dem Ungetüm herumzubasteln begann, das er ihnen am Donnerstag ungefragt ins Wohnzimmer gestellt hatte.

Claire hörte Mikes Schritte trotz der lauten Musik, linste über die Sofalehne, und sah ihren Mann kopfschüttelnd im Durchgang zur Diele stehen. In der einen Hand hielt er ein Telephon, mit der anderen rieb er sich das Kinn, wobei er absolut dämlich aussah. Claire hob einen Finger an die Lippen, Mike zeigte ihr einen Vogel, anschließend auf Roland, dann verließ er den Raum, die Tür hinter sich zuziehend.

Sie versuchte verzweifelt, wieder ein wenig wegzudriften, das große, warme Blau wiederzufinden, aber das Radio dudelte ein viel zu glattes Lied nach dem anderen; die friedliche Stimmung des Vormittags war tot. Claire setzte sich auf. Rockland hatte in letzter Zeit stark nachgelassen, vielleicht sollte sie den Sender aus der Liste schmeißen.
„Weißt du, Streuselkuchen, ich habe so das Gefühl, daß Rockland in letzter Zeit stark nachgelassen hat, weil…“
„Dann such dir `nen anderen Sender. Oder mach dir `ne CD an.“
„Ich habe übrigens ein paar schöne, alte Schallplatten bekommen, aus einer Haushaltsauflösung. Wenn du sie dir mal anschauen willst…“
„Ich denk‘ mal `drüber nach, ok?“
„Nerv‘ ich dich irgendwie?“
„Nein. Ich hab‘ nur schlecht geschlafen.“
„Und hast keine Lust, dich zu unterhalten.“
„Ich geh‘ jetzt duschen, und dann mach ich Kaffee, und mit ein bisschen Glück kann ich Mike motivieren, noch schnell zum Bäcker zu fahren. Für Kuchen.“
„Fein!“

Mike war gerne bereit, beim Bäcker vorbeizuradeln. Er hätte auch den BMW nehmen können. Am Nachmittag des Vortages hatte er in der Werkstatt zwar noch fast eine Stunde warten müssen, aber immerhin konnte er dann den eigenen Wagen wieder mitnehmen. Auf den nicht funktionierenden Tempomaten konnte er gerne verzichten.

Aber wozu an einem solchen Tag ein Auto bewegen, wenn er mit dem Rad auch kaum länger brauchte? Außerdem hatte sich nach dem Telephonat mit Göran Schmidtner seine Stimmung drastisch verbessert. Göran Schmidtner war ein Freund aus Schulzeiten. In der Oberstufe war Göran der größte Kiffer von ihnen allen gewesen, außerdem nur etwa jede zweite Stunde anwesend, berühmt für diverse Verweise, Unfälle mit fremden Autos unter Alkoholeinfluß und jeden Tag irgendwie mit einem anderen Mädchen zusammen. Inzwischen hatte Göran Jura studiert, führte eine eigene Anwaltskanzlei und lebte mit einem zehn Jahre jüngeren Profisportler zusammen. Mike hatte Göran angerufen, um sich ein paar Erkundigungen wegen der Ohrfeigen – Geschichte einzuholen, und Göran hatte ihm angeboten, sich persönlich darum zu kümmern. Er habe gerade einen Prozeß für irgendeinen Energiekonzernsobermacker abgeschlossen, natürlich zur vollsten Zufriedenheit des Klienten, und im Moment ausreichend Zeit, um eine kleinere Sache für einen alten Freund zu regeln.

Im Garten nebenan hatte jemand einen kleinen Pool aufgebaut, der nicht nur den beiden Buben der Hartwigs, sondern auch einer recht großen Schar an halbwüchsigen Freunden der Jungs ein nasses und lautsarkes Vergnügen bereitete. Quasi als Kontrastprogramm dazu hörte auf der anderen Seite der verwitwete Kriminaloberkomissar a.D. Hieronimus Gross eine Puccini – Oper mit offenen Fenstern. Das tat er natürlich mit angemessener Lautstärke; sein Gehör war nicht mehr das Allerbeste.

Statt Kaffe hatten sich die Mommsens kurzfristig für Eistee entschieden. Roland Falk trank davon ungefähr eine ganze Kanne, dazu vertilgte er sage und schreibe drei Stücke Erdbeerkuchen. Es schien ihm weder aufzufallen, daß seine Tochter sich für ihren Ratansessel nach wenigen Minuten ein zweites Polster holte, noch daß sie in der schönsten Mittagshitze eine dicke Jeans mit Gürtel trug, dazu eine Bluse und darüber noch ein recht langes Stricktop. Seine Aufmerksamkeit schien durch die Kulisse an Sommergeräuschen abgelenkt zu sein.

„Also, ich verstehe ja nicht wirklich, was euch in dem Spießerviertel noch hält.“
„Wieso? Das Haus ist doch Klasse. Sowas finden Claire und ich nicht mehr so schnell. Und der Garten ist doch schön.“
„Ach, wer braucht schon einen Garten. Wenn ich grün will, fahre ich hoch in den Schwarzwald. Ich find’s zu laut hier.“
„Dich stören die Kinder?“
„Ne. Der Opernfetischist stört.“
„Ach, komm. Besser als Radio, oder nicht?“
„Was du nicht sagst, Claire. Aber ganz im Ernst: Bei mir ist es ruhiger. Direkt in der Innenstadt. So viel Gelärm hab‘ ich da noch nie gehabt.“
„Dafür ist hier ab zehn Uhr abends Ruhe.“
„Ja, wie auf dem Friedhof wahrscheinlich.“

Es fiel Roland zu spät auf, daß seine letzte Bemerkung nicht so ganz passend war. Claire stocherte etwas abwesend in Resten von Kuchenteig auf ihrem Teller, Mike hatte den Ellenbogen auf die Lehne seines Sessels gestützt, das Kinn auf der Faust. Ganz besonders konzentriert betrachtete er die Hecke, hinter der die Freudenschreie von mindestens sieben Kindern mit dem Platschen und Schwappen des Pool wetteiferten.

„Tut mir leid, ich bin ein Idiot. Warum muss ich auch immer jeden Scheyß, den ich gerade denke, laut aussprechen?“
„Ist schon ok, Paps. Das liegt nicht an dir, wir haben ja sonst auch keine Probleme, wenn jemand was sagt. Aber manchmal kommt’s eben doch durch…“
„Wegen der Uhr muss ich noch mal kommen, die Woche.“
„Du hast ja `nen Schlüssel.“
„Ich bin halt doch kein Uhrenexperte. Aber ich habe einen Bekannten, der sowas macht. Mit dem werd‘ ich mal reden, weil ich glaub‘, daß ich ein paar Ersatzteile brauche. Aber das krieg‘ ich schon hin, kein Problem.“
„Es eilt ja nicht. Ich finde die Uhr übrigens ganz hübsch…“
„Und du, Mike? Oder hättest du lieber noch ein Laufrad?“
„Sie passt zur Anrichte.“

Zum Abschied drückte Claire ihren Vater. Wenn der dabei etwas Ungewöhnliches spürte, dann schlimmstenfalls den Gürtel ihrer Jeans. Trotzdem kassierte sie wieder so einen Blick, irgendwie wissend, etwas spöttisch und auch angehaucht mit einem Schuß väterlicher Sorge. Daß er natürlich vergessen hatte, die Standuhr wieder an die Wand zu rücken, war keine Überraschung. Eher schon ungewöhnlich war sein Notizbuch, daß er aufgeschlagen auf der Anrichte hatte liegenlassen. Ungewöhnlich deshalb, weil er dieses Büchlein normalerweise wie seinen Augapfel zu hüten pflegte. Kopfschüttelnd klappte Claire das Buch zu und legte es in der Diele bereit. Es konnte sicher nicht lange dauern, bis Roland seinen Verlust bemerkte und wieder bei ihnen vor der Haustür stand.



© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
12. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von bluevelvet am 30.05.11 20:50

Hallo Turambar,

du hast deine Geschichte intelligent, einfühlsam und anschaulich geschrieben. Du vermagst Szenerien genau und nachvollziehbar zu beschreiben und nutzt die personale Erzählperspektive, um die Stimmungen und Reaktionen auszudrücken, aber auch eine gewisse Distanz zu wahren. Die Sätze sind gekonnt gebaut, ohne unübersichtlich zu wirken. Die Wortwahl ist durchweg situationsangemessen und treffsicher. Es macht mir Freude, deine Geschichte zu lesen. *lobrüberbeam*

Viele Grüße von

Bluevelvet (der diesen seinen Kommentar viel zu trocken und schulmäßig findet)
13. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 31.05.11 17:43

Hallo, bluevelvet!

*rübergebeamteslobgenieß*

Und doch denke ich, daß einige Leser enttäuscht sein mögen. Zu wenig Sex, zuwenig Kopfkino. Aber diese Geschichten überlasse ich lieber anderen Autoren, die das besser können. Diese Erzählung wird sich auch noch in unvorhergesehene Richtungen entwickeln, aber es wird wohl nie eine vordringlich erotische Geschichte werden. Das ist schon auch ein Bestandteil, aber genauso wie Sex und Erotik Teile des Lebens sind, soll sich diese Erzählung auch in einem weiter gefassten Rahmen bewegen.

Die Formulierung der Sätze, die Wortwahl und auch die inhaltliche Gestaltung erfordern auch immer einen ziemlichen Aufwand. Es ist fast wie Arbeit. Aber es macht Spaß, umso mehr, wenn dazu auch etwas an Feedback `rüberkommt, wenn ich also das Gefühl habe, daß mein Geschreibsel tatsächlich ankommt.

Übrigens, wegen "trocken und schulmäßig": Solche Kommentare hätte ich in der Schule lieber unter meinen Klausuren gelesen, als einen Haufen Fragezeichen und eine leicht verwirrte Drei. Ich war ein furchtbarer Schüler. Als ich gemerkt habe, daß manche Lehrer mit langen Sätzen Probleme haben (auch wenn die Sätze korrekt sind), habe ich mir bisweilen einen Spaß daraus gemacht, Satzmonstren über eineinhalb Schulheftseiten zu konstruieren. Lesbar war das nicht. Ich gebe mir Mühe, das besser zu machen.

Viel Spaß beim nächsten Abschnitt des ersten Kapitels (von so ca zwanzig bis dreißig)!

Grüße, Turambar.
14. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 31.05.11 17:45

6.

Was aber nicht geschah. Roland tauchte weder am Samstag noch am Sonntag auf. Mike war sich sicher, daß mit Claires Vater alles in Ordnung war, aber sie blieb unruhig. Mehrmals wählte sie Rolands Festnetz – und Mobilfunknummer an, wo sie jeweils mehrere Nachrichten hinterließ, als sich lediglich der Anrufbeantworter beziehungsweise die Mailbox meldete.

Nach dem Abendessen hatte Mike endgültig genug. Es war kurz nach sechs, das Wetter traumhaft schön, also packte er Handtücher, zwei Gläser und eine Flasche Wein in den BMW und schnappte Claire das Telephon aus der Hand, als sie eben die Wahlwiederholungstaste drückte.
„Tu mir einen Gefallen, ok? Vergiss Roland für ein paar Stunden, der kommt schon alleine zurecht. Lass dein Handy hier und komm mit zum Baggersee. Sonst fahre ich alleine, trinke die Flasche Wein leer, gerate dann auf dem Heimweg in eine Polizeikontrolle und muss meinen Lappen abgeben.“
„Findest du das normal, daß er nicht auftaucht und auch nicht erreichbar ist?“
„In einem Wort: Ja. Er ist irgendwo unterwegs, komischen Krempel kaufen oder Angeln oder so. Er hat sein Handy irgendwo liegengelassen, weil wenn er sogar sein Buch hier vergisst, wie soll er das an sein Mobiles denken?“
„Er muss gemerkt haben, daß sein Buch weg ist. Ich frag‘ mich eben, warum er sich dann nicht meldet.“
„Weil er genau weiß, daß es hier ist? Weil er es einfach heute nicht braucht? Weil er vielleicht zehn Mal versucht hat, bei uns anzurufen, du aber die ganze Zeit die Leitung blockiert hast?“
„So ein Schwachsinn!“
„Lass uns an den Baggersee fahren. Hallo? Ich bin auch noch da. Du könntet etwas mehr Interesse an deinem Keyholder zeigen, weil sonst Keyholder frustriert ist, sauer wird, und irgendwann auch keinen Bock mehr auf dich hat.“
„Ah! Erpressung!“
„Deine letzte Chance, Fähe! Schwing die Hufe!“
„Pfoten, wenn überhaupt.“

Der BMW rumpelte langsam über normalerweise für den Verkehr gesperrte Waldwege, bog links ab, rechts ab, zog sich den Zorn einer Gruppe Radler zu und erreichte das abgelegene Nordufer des Baggersees. Es war „ihre“ Stelle, für gewöhnlich fuhren sie den Platz mit dem Rad an, doch für Claire waren Fahrradsättel nicht nur sprichwörtlich ein rotes Tuch, wenn sie verschlossen war.

Vom improvisierten Parkplatz des BMW führte ein schmaler Pfad durch dichten Wald, rauschende Blätter über ihnen, Schattenspiele im Unterholz, wo die Sonne einen Weg durch die Bäume fand. Der Pfad endete an einer kleinen, sandigen Bucht. Selten kamen Badegäste an diese Stelle. Meistens waren es dann Pärchen, die in romantischer Stimmung die Abgeschiedenheit suchten. An diesem Sonntag waren es ein paar Jugendliche, die dort einen ruhigen Platz zum Kiffen gefunden hatten.

Claire wollte direkt umkehren, als sie die Gruppe von benebelten Halbstarken am Ufer sitzen sah. Mike grinste nur, legte den Finger auf die Lippen und näherte sich den Jugendlichen.
„Schöner Platz hier, nicht? Hallo, Vera, Markus und Jason. Die erste Stunde fällt übrigens morgen nicht aus. Das ist ein Gerücht, das wohl Eric in die Welt gesetzt hat.“
Vier glasige, rote Augenpaare starrten Mike an, als wäre er ein Gespenst oder ein Dämon aus der Hölle.
„Seid ihr noch ein Weilchen hier? Es stört euch hoffentlich nicht, wenn ich mich ein bisschen mit meiner Frau dazusetze. Wir können gerne schon mal eure Klausuren durchgehen, die ihr morgen zurückbekommt.“
Mike brauchte sich nicht umzusehen, er wusste genau, daß Claire schwer zu kämpfen hatte, um nicht laut lachen zu müssen.

„Ääääh… Also, eigentlich wollten wir gerade los, Herr Mommsen.“
Jasons Gesicht war inzwischen fast genauso rot wie seine Augen. Den Joint hatte er beinahe panisch ins Gebüsch geschnippt, als Mike sie angesprochen hatte. Die anderen hatten bereits mit unbeholfenen Bewegungen angefangen, sich anzuziehen, Decken, Tabak und Getränke einzupacken.
„Ach, seid doch so gut, und nehmt auch die leeren Bierflaschen mit. Ist doch Pfand drauf. Und Jason?“
„Häh? Was?“
„Schnapp dir mal eine von den leeren Flaschen, mach Wasser rein und schütt‘ es über den Joint. Muss ja nicht sein, daß der das Gebüsch abfackelt. Ins Wasser werfen wäre übrigens nicht weniger auffällig, aber deutlich weniger bescheuert gewesen.“

Die Schatten wurden länger, das Licht goldener, der Wind schlief ein. Auf der Wasserfläche zwischen der kleinen Bucht und der Insel, zu der Mike und Claire geschwommen waren, wasserten zwei Schwäne. Dort am Wasser lagen ihre Kleider auf der Böschung, ebenso die Handtücher. Mike hatte die Weinflasche und zwei Gläser mitgenommen, Claire den Autoschlüssel. Ein Geistesblitz hatte Mike den Schlüsselbund sicher an einem der Schlösser von Claires Blechhöschen befestigen lassen. Nun bimmelte sie wie ine Katze mit Glöckchen, wenn sie sich bewegte.


Die Flasche war zu zwei Dritteln geleert, als die Sonne unterging. Leicht fröstelnd suchte Claire die Wärme von Mikes Körper. Sie war völlig nackt, bis auf eine knapp geschnittene Badehose, und die bestand in ihrem Fall aus Metall. Vom anderen Ende des Sees waren die Geräusche einer illegalen Grillfete zu hören, eine schlecht gestimmte Gitarre wurde gespielt und ein Mädchen sang dazu betörend schief. Die Klänge waren weit genug entfernt, so daß sie die Ruhe auf der kleinen Insel nicht wirklich störten.

Claire schob ihre Füße unter Mikes Unterschenkel.
„Ist dir kalt?“
„Ein bisschen.“
„Du solltest noch etwas Wein trinken.“
„Alkohol wärmt nicht. Das ist eine Illusion.“
„Aber eine verdammt Gute!“
„Schenk mir mal ein!“

„Diese Typen an unserer Stelle waren Schüler von dir?“
„Drei von ihnen, ja.“

„Nimmst du mich eigentlich ernst, Mike?“
„Was? Wie meinst du das jetzt?“
„Wie ich es sage. Manchmal habe ich das Gefühl, daß du über mich lachst. So innerlich, meine ich.“
„Was soll der Quatsch? Ich lache über dich, wenn du was Witziges sagst, oder was Komisches machst, oder…“
„Verstehst du mich jetzt bewusst falsch? Du weißt, daß ich das nicht meine.“
„Claire, was genau willst du gerade von mir?“
„Ehrlichkeit.“
„Aha.“
„Machmal nimmst du mich nicht für voll. Machst du das bewusst, oder denkst du einfach nicht nach?“
„Ich liebe dich. Aber manchmal bist du rätselhaft.“
„Dann gib‘ dir mal Mühe.“

„Geht es dir um unser Spiel?“
„Um unser Spiel. Haargenau. Vor allem darum, daß du es so ganz einfach und würdelos „das Spiel“ nennst.“
„Ist es das nicht? Willst du es nicht? In dem Fall…“
„Das weißt du ganz genau. Du weißt, daß es mir gefällt, und dir gefällt es auch. Also warum habe ich immer wieder das Gefühl, daß es für uns nicht das Selbe ist?“
„Es ist gar kein Spiel für dich.“
„Es ist solange ein Spiel für mich, wie du es nicht ernst nimmst. Du rennst nicht mit so einem Teil rum. Du gibst dir nicht den Stress, nachts kaum ein Auge zuzubekommen, weil du dich nicht mal auf die Seite drehen kannst. Und wenn ich deswegen rumjammer‘ dann kommst du so ganz verständnisvoll daher, willst mich aufschließen, losbinden, was auch immer – aber du setzt dich nicht damit auseinander. Wenn es dir zuviel wird, dann ziehst du zurück. Ich bin die, die dann sagen muss, es ist alles ok, lass uns weitermachen.“
„Wenn es mir zu viel wird? Ich versuche nur, deine Grenzen zu respektieren, und wenn du mir sagst…“
„So siehst du aus! Wenn ich dir sage, ich will nicht, dann will ich in Wirklichkeit vielleicht, daß du mir sagst, daß ich muss. Mal daran gedacht?“
„Jetzt frage ich mich, ob du das nicht zu ernst nimmst. Ich habe einen Beruf, du hast einen Beruf. Wir haben ein Leben, dir geht’s doch auch nicht nur um Sex.“
„Es geht mir auch bei dem, was du so superniedlich „das Spiel“ nennst nicht nur um Sex. Das ist ein Teil davon. Ein Wichtiger, aber eben nur ein Teil. Ich hätte gerne mehr. Und ich spüre, daß es für dich eigentlich auch so sein sollte.“
„Aber ich kann doch nicht… Schon gut. Du liegst nicht daneben mit deiner Einschätzung. Ich werde aber ganz sicher niemals auf irgendwas bestehen, wenn du mir sagst, daß es nicht geht. Wie stellst du dir das vor? Ich kann dich nicht behandeln, wie meine Sklavin. Weil ich dich respektiere. Nicht nur als meine Frau, auch und ganz besonders als Partnerin. Als Freundin. Wenn du am Ende noch anfängst, mich jederzeit mit „Meister“ oder sowas anzureden, das mach‘ ich nicht mit.“
„So meine ich das auch nicht. Aber du hast vorhin was von Grenzen gesagt. Du kennst meine Grenzen nicht, und ich auch nicht.“
„Doch.“
„Ich bin mir sicher, daß du niemals zu weit gehen würdest. Also warum hältst du dich dann immer so vornehm zurück? Du wirst mich nicht verletzen. Was mich nämlich verletzt, ist daß du immer noch zu denken scheinst, du könntest zu viel von mir verlangen. Oder zu weit gehen.“
„Das denke ich?“
„Lieg‘ ich falsch?“
„Ja! Nein! Wenigstens denke ich überhaupt.“
„Schön für dich. Weißt du, wie das für mich klingt?“
„Vergiss‘ es!“
„Zu spät.“
„Wir sollten gehen. Es wird kalt.“
„Ja, eiskalt wird’s! Vor was hast du Angst? Ich bin sauer! Schön, daß du dich dann einfach aus der Affäre ziehst.“
„Vergiss den Autoschlüssel nicht.“

Mike setzte die Weinflasche an, kippte den letzten Schluck in einem Zug, griff sich die beiden Gläser und sprang ins nachtfinstere Wasser. Er zog sich aus der Affäre, zumindestens körperlich. Er hatte dazu einfach nichts mehr zu sagen. Das Thema war Claire wirklich wichtig, das stand fest. Wahrscheinlich hatte sie auch recht. Aber das, was sie von ihm wollte, und die Art, wie sie es ihm mitteilte, waren so paradox, daß sie sich eigentlich schon wieder selbst ad absurdum führte. Sie machte sich stark, verlangend, fordernd, und was forderte sie? Unterdrückt zu werden? Gequält zu werden? Was für ein Witz.



© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
15. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von bluevelvet am 31.05.11 20:13

Hi Turambar,

ach so ist das, die Schüler bauen bewusst diese überlangen Satzmonstren ... *gg* Meine Schüler verlieren allerdings spätestens nach einer halben Seite den Überblick über ihre Konstruktionen. - Die Sprache deiner Story ist völlig ok., auch die Satzlängen, die ja durchaus unterschiedlich sind. Wo steht denn geschrieben, dass man nur Hauptsatz an Hauptsatz reihen muss? Ich lese es gern etwas anspruchsvoller. Ein wunderbares Detail muss ich noch erwähnen:

> Die Schatten wurden länger, das Licht goldener, der Wind schlief ein.

So ein Satz ist einfach klasse, ein dichterischer Volltreffer. Es ist, als erlebte man die Abenddämmerung direkt mit. Schreib auf jeden Fall weiter. Und vielen Dank für die Mühe, die du dir machst.

VG Blue
16. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 01.06.11 18:29

7.

„Es hat dir wirklich gefallen, Füchsin?“
„Es war… Am Anfang war’s schon komisch. Ich hätte nicht gedacht… Naja, daß es so schön wird. Es ist der Wahnsinn, richtig geil. So – Erfüllend, das ist es!“
„Wow.“

Claire war noch immer erhitzt. Sie saß im Bett, Mike lag neben ihr, seine rechte Hand ruhte warm auf ihrem rechten Oberschenkel. Helle Schweißperlen glitzerten auf seiner dunklen Haut, die glänzenden Augen wirkten wie ein Spiegel, in dem sie das Innerste und Erhabenste ihrer eigenen Seele zu erkennen glaubte. So unglaublich schön dieser Gedanke sich anfühlte, hatte er doch auch etwas Unheimliches, vor dem sie in gewisser Weise zurückschreckte, auch wenn es nicht geradewegs beängstigend war. Die Tiefe ihres Selbst, in die sie ihren Mann hatte eintauchen lassen, wiedergespiegelt zu sehen, erfüllte sie mit Wärme, mit Glück, mit Scham, mit Unbehagen. Sie fühlte sich zu offen, einerseits ungeschützt, andererseits geborgen in Mikes Liebe und Vertrauen. Selten hatte sie sich selbst Zutritt zu diesen Ebenen ihrer Seele erlaubt, und jetzt drang sie mit ihrem Mann zusammen dorthin vor, unter seiner Führung sogar. Wie weit konnte Vertrauen gehen?

Sie ließ sich rücklings in die Kissen fallen, atmete tief durch, während Mike sich auf die Seite drehte, seine Hand auf ihrem Oberschenkel ein Stück höher kroch und seine Linke das haarige Durcheinander auf ihrem Kopf glattstrich. Die Arme hielt sie über der Brust verschränkt, rieb mit ihren Händen über die Haut knapp oberhalb der Ellenbogen, wo die Spuren von Mikes Kletterseil eben im Begriff zu verschwinden waren.

„Weißt du, ich hatte echt Angst, daß du es ablehnst. Weil das hätte dann zwischen uns etwas zerstört, was wir nicht mehr so einfach wieder hätten gutmachen können.“
„Blödsinn, Mike. Ich weiß nicht, wie du auf so eine Idee gekommen bist, aber du hast gewusst, daß ich das nicht ablehnen werde. Nichts, was du machst, könnte mich je abstoßen.“
„Meinst du?“
„Ich weiß es.“
„Du würdest es wieder wollen?“
„Jederzeit.“


Ihre Nase juckte. Reflexartig versuchte ihre rechte Hand, das Übel zu bekämpfen, kam aber nicht weit damit. Ein leises Seufzen konnte sie nicht unterdrücken, aber Mike neben ihr auf der anderen Seite des Bettes atmete ruhig und gleichmäßig weiter. Warm und weich gebettet in Erinnerungen war sie dem Schlaf entgegengedriftet, doch das dämliche Jucken hatte sie erbarmungslos zurückgeholt. Hellwach starrten Claires Augen in die Dunkelheit des Schlafzimmers.

Zur kribbelnden Nase gesellten sich dumpfe, ziehende Schmerzen in den Schultern und Armen, sowie Druck auf ihrem Becken und im Kreuz, der stärker wurde, je mehr sie sich darauf konzentrierte. Ein Schaffell unter ihrem Rücken hätte eigentlich den nervtötenden Druck auf ihre unteren Lendenwirbel abschwächen sollen, aber so wirklich ausgereift war das System nicht unbedingt. Dafür allerdings einigermaßen zu warm. Claire spürte eine Träne aus ihrem Augenwinkel über die Schläfe rinnen. Der Fokus ihrer Wahrnehmung verschob sich ein wenig, ihr Bewusstsein stufte gnädigerweise die körperliche Schmerzwahrnehmung ein wenig zurück, befasste sich aufs neue mehr mit „inneren Angelegenheiten“.

Von dem kleinen Dissens auf der Insel im Baggersee war immerhin eine Botschaft bei Mike angekommen. Während der Heimfahrt schien er keineswegs sauer gewesen zu sein, nur nachdenklich. Dennoch hatte Claire beinahe enttäuscht zur Kenntnis genommen, daß er keine Anstalten machte, seine Ankündigung des Aufschließens an diesem Abend zurückzunehmen. Was allerdings folgte, war die überraschende Erfahrung, daß ihre Worte ihn durchaus berührt hatten. Verblüfft fand sie sich in der Badewanne stehend wieder, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Ihr Körper wurde von Mike gewaschen, mit besonderer Hingabe widmete er sich der gründlichen Pflege ihres Intimbereiches, trieb sie dabei bis kurz vor die Spitze, um ihr kurz davor die Erfüllung zu verweigern.

Breit grinsend trat er zwei Schritte zurück, ließ sie breitbeinig und tropfnass in der Wanne stehen. Mit großer Zufriedenheit musterte er seine ziemlich verblüffte Fähe, schnitt ihr prompt das Wort ab, als sie den Mund öffnete.
„Excellent, passt doch. Bleib so, warte hier einen Moment. Bin gleich wieder da, ich muss nur noch schnell was vorbereiten.“
Claire klappte den Mund zu, ohne etwas zu sagen, was sich ohnehin nicht gelohnt hätte, denn Mike ließ sie einfach stehen. Sie versuchte, in der Position zu verharren, aber ihre Füße begannen in der nassen Wanne zu rutschen, also stellte sie diese etwas enger zusammen. Die Badezimmertür stand offen, kalte Luft flutete in den Raum, kühlte ihre nasse Haut und ebenso ihre Erregung unerbittlich ab.

Etliche Minuten blieb Mike verschwunden, sie hörte ihn auf der Treppe, hörte ihn im Schlafzimmer. Als er zu ihr zurückkahm, hatte sie eine Gänsehaut. Mit einem weichen, großen Handtuch rieb er sie gründlich trocken; das Spiel setzte von neuem ein, wieder ließ er ihr Barometer bis kurz vor den Anschlag steigen. Claire schloß die Augen, ließ sich treiben und landete unbarmherzig wieder auf dem Boden der Tatsachen, beziehungsweise des Badezimmers, als sich unvermittelt ein schneidend kalter Keuschheitsgürtel um ihre Taille und über ihre Scham legte. Erschrocken riss sie die Augen auf, schnappte stockend nach Luft.
„Verdammt, Mike, was hast du mit dem Ding angestellt? Ich vereise!“
„Im Gefrierfach war noch ein bisschen Platz. Wir sollten übrigens mal wieder Hähnchen machen.“

Die Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt wurde Claire ins Schlafzimmer geführt, wo sie sich über eine recht absurde Gurtkonstruktion auf dem Bett wundern durfte.
„Hä? Gehst du klettern, Mike?“
„Siehst du hier irgendwo Berge? Das ist für dich, geliebte Fähe. Eine anregende, keine Verschärfung, so du denn willst.“
„Wie soll das funktionieren? Ich bin gar gespannt, Meister.“
„Schön! Amtlich festgespannt bist du gleich.“

Das Sicherungssystem tat seinen Zweck ganz hervorragend. Mike hatte ihr die Klettergurte um Brust und Hüften gelegt und mit Reepschnüren analog zu den Hand- und Fußfesseln am Lattenrost befestigt. Ein Aufrichten des Oberkörpers war nicht mehr möglich, somit entfiel auch diese Möglichkeit, Becken und Kreuz ein wenig zu entlasten. So spürte sie Hitze, spürte jeden Muskel und Knochen in ihrem Körper überdeutlich und empfand ein irritierend paradoxes Glücksgefühl der Verzweiflung. War sie jetzt glücklich oder zufrieden? Konnte das sein, und für wie verrückt würde sie jemand halten, der sie in diesem Moment ansah, mit Tränen in den Augen und einem Grinsen im Gesicht?

„Sag mir endlich, wo wir hinfahren!“
Seit über zwei Stunden fuhren sie, rasten über die Autobahn einem mysteriösen Ziel zu, das nur Mike kannte. Er gab sich während der Fahrt wortkarg, insistierte darauf, eine Überraschung für sie vorbereitet zu haben. Irgendwo hatte die Raserei ein Ende, kriechender Verkehr, ermüdendes Stehen im Stau zerrte an Claires Nerven. Mike gab nach, griff in die Innentasche seiner Jacke und zog einige zusammengefaltete Zettel heraus, die er Claire wortlos in die Hand drückte.

Sie faltete die Papiere auseinander, studierte stirnrunzelnd die Ausdrucke von Internetseiten und E-mails. Völlig überrumpelt schüttelte sie den Kopf, las erneut die Mails, wobei ihr Mund halb offenstand. Sie blieb bei einigen Photos hängen, stellte fest, daß ihre Hände, die das Papier hielten, zu zittern begonnen hatten und legte die Ausdrucke in ihrem Schoß ab.Sie brauchte einige Zeit, bis sie die Sprache wiederfand.

„Spinnst du, Mike? Das ist ein Witz, oder?“
„Sollen wir umkehren? Da vorne ist eine Ausfahrt.“
„Du meinst das wirklich ernst…“
„Es tut mir leid, aber irgendwie… Ach verdammte Scheyße, ich hab‘ gedacht, es gefällt dir vielleicht. Gibt dir `nen Kick oder so…“

Claire starrte aus dem Fenster. LKW an LKW auf der rechten Spur, dazwischen kurze Ausblicke über hügelige Wälder, vereinzelte Wiesen und Felder dazwischen. Das musste sie jetzt erstmal verdauen; sie brachte keinen Ton heraus.

„Wenn du es bescheuert findest, dann sag‘ es jetzt. Ich dreh‘ einfach um, vielleicht gibt es hier ein nettes Hotel in der Gegend, wir machen uns einen schönen Abend und das Thema ist Geschichte. Ich hatte nicht vor, dich zu schocken.“
„Fahr weiter!“

Es war eine lange Fahrt, und zudem eine reichlich schweigsame. Claire spürte deutlich, wie Mikes Nervosität ständig zunahm. Allerdings hatte sie nicht wirklich Lust, ihn zu beruhigen, war sie doch selbst viel zu verwirrt dazu. Am Zielort hatte er ein Hotel gebucht, in dem sie beide eine weitestgehend schlaflose Nacht verbrachten. Der Termin war für den nächsten Vormittag vorgesehen, weder Mike noch Claire konnten dem wirklich guten Frühstück irgendwelche Begeisterung entgegenbringen.

Während des Gesprächs fühlte sie sich beinahe entrückt, beantwortete Fragen mechanisch, ohne wirklich wahrzunehmen, was sie denn sagte. Auf die Frage, ob ihr Mann bei der Anmessung anwesend sein solle, hätte sie fast mit: „Wer soll wobei anwesend sein?“ geantwortet. Stattdessen nickte sie nur. Die anschließende Veranstaltung war wohl das Seltsamste, was sie bisher erlebt hatte. Sie starrte Mike an, der auf einem Sessel sitzend ihrem Blick auswich und sichtlich nicht wusste, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Wenigstens schien er genauso angespannt wie sie selbst zu sein.

„Wir haben ein paar Probemodelle, Frau Mommsen. Wenn sie Interesse haben, mal einen anzuprobieren?“
„Was? Jetzt? Hier?“
„Nur wenn sie wollen. Wenn sie, Herr Mommsen…“
„Claire?“
„Ja, schon gut. Ich meine… Ach, bleib einfach hier, Mike. Wenn schon, denn schon.“
„Bin gleich zurück, Frau Mommsen.“

In dem Moment, wo sich zum ersten Mal das Metall um ihren Unterleib schloß, erlebte Claire eine Überraschung. Sie hatte fest damit gerechnet, sich völlig bescheuert zu fühlen. Halb hatte sie erwartet und halb gehofft, daß das Gefühl ihre Skepsis unbedingt bestätigen würde. Sie würde etwas sagen wie: „Tut mir leid, Mike, aber das ist nichts für mich,“ dieser würde daraufhin den Auftrag stornieren und das Thema wäre für die Zukunft erledigt.

Es kam anders. Nicht, daß ihre Unsicherheit von einem Moment zum nächsten völlig verflogen wäre, aber zumindest schrumpfte sie rasch auf ein eher unbedeutendes Maß, welches von zunehmender Neugier überlagert wurde. Interesse war erwacht. Woran das genau lag, und warum es plötzlich so kam, konnte Claire auch nach mehreren Jahren nie wirklich ergründen. Sie sah sich im Spiegel, ungewohnt und auf eine obskure Weise ziemlich sexy. Im Hintergrund des Spiegels saß Mike in einem roten Sessel, den Oberkörper aufgerichtet, die Hände auf die Armlehnen gestützt. Claire drehte sich zu ihm um, die Bewegung löste ein eigentümliches, warmes Kribbeln im Schritt aus. Dann die Wärme in seinem Blick, Wärme, Lust und dahinter ganz viel Liebe.


Von wegen Wärme! Was sie diesmal aus dem Halbschlaf riss, war schneidende, brutale Kälte. Ein Gefühl, als sprühte ihr jemand Vereisungsspray direkt auf die Scham. Sie fuhr zusammen, ihr Leib wollte sich im Bett aufrichten, wurde unsanft zurück auf die Matratze gepresst, die Hände wollten nach der plötzlichen, ekelhaften Kälte greifen, hatten aber keine Chance, das Desaster zu erreichen. Weil sich der Temperatursturz nur so lokal manifestierte, während der Rest ihres Körpers vor Hitze glühte, tatsächlich schweißüberströmt war, erlebte sie das Ereignis als noch erschreckender. Begleitet wurde es von einem hohlen, sonoren Klang, den sie noch nie gehört hatte. Ein beinahe gruseliges Geräusch, leise, aber ganz sicher aus einer Quelle im Inneren des Hauses. Regelmäßig dumpf und doch mit hellem Nachhall: Einmal, zweimal, dreimal, viermal… Das Läuten einer Uhr. Nur gab es im Haus keine Uhr, die läutete, denn die enizige Uhr, die das vielleicht konnte, stand definitiv still.

Sie musste geschrien haben, jedenfalls war Mike wach, richtete sich neben ihr im Bett auf, begleitet vom vertrauten Quietschen des Lattenrostes.

„Claire? Was ist los? Alles in Ordnung bei dir?“
„Hast du was gehört Mike?“
„Du hast geschrien. Geht’s dir nicht gut?“
„Das war die Uhr. Die von Paps, sie hat geschlagen, hast du nichts gehört?“
„Nein. He, du hast geträumt. Die Uhr läuft nicht. Also kann sie wohl kaum läuten.“

Sie spürte seine Hand auf ihrem Arm, dann auf ihrer Brust.

„Du glühst ja! Bist klatschnassgeschwitzt. Wirst du krank?“
„Weiß‘ nicht. Mir war auf einmal so… Mike, fass‘ den Keuschheitsgürtel an.“
„Was?“
„Mach’s einfach!“
„Scheyße! Was ist das denn?“
„Was fühlst du?“
„Der ist fast so kalt wie vorhin, nachdem ich ihn aus dem Eisfach geholt habe! Wie kann das…?“
„Nimm deine Hand nicht da weg!“
„Schon ok, schon ok. Wird schon wieder wärmer. Was hast du nur gemacht?“
„Ich?!? Gar nichts!“

Der Spuk verging nicht so schnell, wie er eingesetzt hatte, aber nach und nach kehrte unter Mikes Händen die Wärme zurück. Ihr Zittern legte sich, der Schweiß trocknete, während Mike sie so gut es ging in den Arm nahm. Und nun war er es, der wach lag, während Claire schon bald in tiefen Schlaf sank.



© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
17. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 02.06.11 18:55

Zweites Kapitel:
Asynchron



1.


Am nächsten Morgen stand Mike vor der Standuhr. Auch wenn sein Verstand es nicht wahrhaben wollte, die Pendel hinter der Scheibe bewegten sich, kontinuierlich und lautlos, die seltsamen Zeiger waren zum Leben erwacht, wanderten unwiederlegbar über das schimmernde Ziffernblatt. Jedenfalls zwei von ihnen. Ein Zeiger verharrte auf der Zwölf, die beiden anderen zeigten entweder sechs Uhr fünfundzwanzig oder fünf Uhr dreiunddreißig an. Je nach dem, welchen man als Minutenzeiger definierte, und welchen man für den Stundenmesser hielt.

Als Claire mit nassen Haare vom Duschen nach unten kam, stand Mike noch immer wie hypnotisiert da, von Faszination gebannt in der Betrachtung des asynchronen Ausschlags beider Pendel, die sich in grundverschiedenen Takten bewegten. Genaugenommen schien das hintere der Beiden überhaupt keinem festen Rhythmus zu folgen, pendelte mal schneller und mal langsamer als das konstant schwingende Vordere. Als er Claires Hand zwischen seinen Schultern spürte, wandte er sich ab.

„Glaubst du mir jetzt? Sie hat geläutet, gestern nacht.“
„Was für ein behämmertes Teil. Guck‘ dir die Zeiger an. Und die Pendel erst. Möchte wissen, was der Erbauer dieser Uhr so geraucht hat.“
„Vielleicht war es einfach nur ein ausgemachter Scherzbold, und das Ding hier sein Meisterstück zu Halloween.“
„Meinetwegen auch ein bekiffter Scherzbold. Ich frage mich nur, warum sie gerade jetzt zum Leben erwacht? Bis gestern abend gab das Teil doch keinen Muchs von sich.“
„Ist schon ein Rätsel, ja.“
„Wahrscheinlich hat dein Vater irgendwas in Gang gesetzt, was sich erst jetzt auswirkt…“
„Nein, wie naheliegend, Holmes! Und so einleuchtend, ich bin sprachlos.“
„Ja, ich auch. Genau das ist mein Problem.“

Dennoch hatte Mike beschlossen, die eigentümliche Wiederauferstehung der Standuhr möglichst nicht weiter zu beachten. Es mochte irgendeinen Grund geben. Fakt war, daß das Teil irgendwann in der letzten Nacht wieder in Betrieb gegangen war, geläutet hatte, weswegen Claire sich furchtbar erschrocken hatte. Zum Teufel mit den Mysterien des Alltags, seine Schüler erforderten zu viel Aufmerksamkeit, als daß er sich über solche Kleinigkeiten den Kopf zerbrechen konnte. Zumal es in diesem Kopf seit ein paar Tagen noch ganz andere, dringendere Baustellen gab.

Über Mittag hatte er zwei Hohlstunden, in denen er die Gelegenheit wahrnahm, dem indischen Restaurant zwei Straßen weiter einen ausführlichen Besuch abzustatten. Er bestellte Murgh Vindaloo, dazu Reis und Naan, um das Feuer in seinem Mund ein wenig abzulöschen. Die Schärfe war beinahe echt indisch, er spürte unter seinem Hemd den Schweiß perlen, genoß gleichzeitig die Kälte der voll aufgedrehten Klimaanlage. Wie gerne er jetzt ein Bier dazu getrunken hätte, und sei es um noch mehr zu schwitzen! Doch auch ohne das tat das Essen und das Ambiente des Restaurants seine Wirkung. Das schummerige Licht creierte kühle und behagliche Schatten zwischen bunten Wandbehängen und matt schimmernden Plastiken hinduistischer Götter. Sein Blick blieb an der zentralen Statue eines vergoldeten Ganesh hängen. Betört durch die Gerüche nach Koriander, Knoblauch, Mottenkugeln und Räucherstäbchen, beschwingt von dezent dudelnder indischer Popmusik, versank er in einen Zustand, der beinahe schon einer Meditation glich. Er leerte geistesabwesend sein zweites Mango – Lassie. Draußen vor der Tür lag die Straße in brütender Mittagshitze, draußen vor der Tür lief die Zeit schneller ab, draußen vor der Tür tummelten sich all die anderen kontrahierenden Universen, doch er befand sich hier drinnen außerhalb, er befand sich in einem Zwischenstadium, er…

... war wieder in Indien. Die Welt der Düfte, die Welt des unkontrolliert wuchernden Lebens und des Todes, der wie auf verlorenem Posten gegen das alles anzukämpfen versuchte. Wenn er das Lokal verließe, sich zurück in das staubige Gewimmel würfe, fände er dort sein Motorrad, eine für knapp sechshundert Dollar in Bangalore gekaufte Honda. Den Traveller – Rücksack auf dem Rücken, den Helm am Lenker baumelnd, fädelt er sich hupend in das organisierte Chaos und Durcheinander aus unglaublichen Fahrzeugen ein; nächstes Ziel: Kancheepuram. Von dort aus? Wird sich eine Straße finden. Höchstwahrscheinlich weiter richtung Osten, an den Golf von Bengalen. Koromandel – Coast, Chennai…

Er hatte Abstand gebraucht. Seine Heimat war zu einem Friedhof geworden, also hatte er kurzerhand ein Sabbatjahr beantragt. Arbeitgeber und Behörden waren ihm angesichts der Ereignisse, die so frisch hinter ihm lagen, gerne entgegengekommen, hatten eine kurzfristige Abreise ermöglicht. Natürlich hatte er Claire gefragt, ob sie ihn begleiten wolle. Er war froh, daß sie kein Interesse hatte. Er brauchte nicht nur Distanz zu seiner Umgebung, er hatte auch das Gefühl, Abstand von Claire zu brauchen. Und sie von ihm.Er flog von Mumbai nach Goa, verbrachte dort eine Woche, bevor er mit dem Zug über die Ghats ins Landesinnere reiste. Er folgte keinem konkreten Plan, ließ sich treiben, suchte die kleinen, von Touristen verschonten Tempel auf, wo er sicher war, kurze Zeit später mit irgendeinem Sadhu das Chillum zu teilen.

So trudelt er irgendwann in Bangalore ein, kauft ein Motorrad, um noch unabhängiger zu sein, rollt ziellos über die mystischen Landstraßen Südindiens. Die meiste Zeit ist er stoned, aber das ist in Ordnung. In jener Zeit ist es für ihn eine gute Lösung. Was genau er macht, warum er hier ist, woher er kommt – das Alles verliert langsam an Bedeutung. Was bleibt ist befreiende Leere, die sich langsam, ganz langsam wieder mit Leben zu füllen beginnt. In Chennai wird er sich nach Norden wenden. Immer an der Küste entlang. In Bubhaneshwar…

„Mike?“


„Mike! Was treibst du hier? Schläfst du?“
Es dauerte tatsächlich mehrere Sekunden, bevor Mike seine Zeiten und Realitäten wieder geordnet und sein Geist sich für eine davon entschieden hatte. Wer sich ihm gegenüber gerade niederließ und nach der Spreisekarte griff, war niemand anderes als Claires Vater.

„Ah, Roland! Ich habe ein bisschen gedöst, geträumt…“
„Oh ja, das kenn‘ ich! Geht mir auch manchmal so, wenn ich hier bin.“
„Du kommst oft hierher? Ich hatte keine Ahnung, daß du indisches Essen magst.“
„Nur im Sommer, Bursche. Aber ich mag die Atmosphäre hier. Entspannt ist eigentlich ein Wort, daß es nicht wirklich trifft. Aber so was in der Art.“
„Was du nicht sagst…“
„Was hattest du?“
„Hunger.“
„Das nehm‘ ich denn wohl auch…“

„Claire ist ein bisschen nervös wegen dir, übrigens.“
„Hä? Wie das?“
„Sie hat sich Sorgen gemacht, weil du dein Buch bei uns hast liegenlassen. Sie meint, daß wäre ein verheerendes Zeichen bei dir, und hat darum am Sonntag ungefähr fünhundert Mal versucht, dich zu erreichen.“
„Wie, mich erreichen? Warum hat sie nicht mein Handy… Ah! Moment, da war noch was. Ich hab’s vielleicht vergessen, zu erwähnen, aber ich habe seit letztem Donnerstag oder so eine neue Nummer.“
„Ja, das haben wir wohl irgendwie nicht mitgekriegt. Und dein Notizbuch hast du nicht vermisst?“
„Wieso? Das hab‘ ich doch hier! Aber warte: Ich hatte am Samstag bei euch noch ein anderes Buch dabei. Ein Älteres, in dem ich ein paar Sachen über Uhren aufgeschrieben hatte. Ich schreibe viel, da brauche ich schon so alle halbe Jahr ein neues Kritzelbuch.“
„Na dann… Sag‘ mal, Roland, was hast du eigentlich mit dieser Standuhr gemacht, als du bei uns warst?“
„Jaaaaa, tut mir leid, ich habe meinen Freund noch nicht angerufen deswegen. Es kann also noch ein bisschen dauern.“
„Mach dir keinen Kopf wegen der Zeit. Die läuft nämlich.“
„Natürlich läuft die. In manchen Köpfen zwar ein bisschen anders, und manchmal auch in die falsche Richtung, aber laufen tut sie immer.“
„Die Uhr läuft, die du uns geschenkt hast. Seit gestern nacht. Macht Tick – Tack und Bimm – Bamm.“
„Ernsthaft? Sachen gibt’s…“
„Kommst du trotzdem die Woche vorbei? Um das Buch zu holen, und auf `nen Kaffe vielleicht.“
„Bestimmt. Ich ruf‘ mal an.“

Mike stand auf, griff seine Tasche und zahlte an der Theke. Er wollte schon das Restaurant verlassen, als er noch einmal umkehrte, um sich von Roland die neue Handynummer geben zu lassen. Die musste Claires Vater freilich in seinem aktuellen Notizbuch nachschlagen, das er zunächst erfolglos in seinem abgewetzten Aktenkoffer suchte, bevor er es in seiner Jackentasche fand. Genau da, wo er es schon den ganzen Tag aufbewahrte.

Am Haupteingang des Schulhauses wurde Mike von zwei Gestalten angesprochen, die eine so perfekte Parodie von „Tatort – Komissaren“ darstellten, daß der Überraschungseffekt ihrer Polizeiausweise wie ein durchschaubarer Witz zum Verhungern verdammt war, noch bevor sie sich verbal als die Komissare Torun und Basstong vorstellen konnten. Was Mike überraschte, war die Eile, mit der die Anzeige dieses Doktor Schlick bearbeitet wurde. Wahrscheinlich hatte der Mann Beziehungen, die eine Beschleunigung auch bei einer Bagatelle wie dieser ermöglichten.

Er schloss ein unbenutztes Klassenzimmer auf, um das Gespräch nicht in der Eingangshalle seiner Schule führen zu müssen. Er und der jüngere der beiden Komissare, der blonde und athletische Herr Basstong, griffen sich zwei Stühle und setzten sich, während Torun mit seinem grauen Schnurrbart aus dem Fenster starrte, als ginge ihn die ganze Sache eigentlich gar nichts an. Also richtete Mike das Wort an Basstong.

„Ich hätte nicht gedacht, daß sich die Kriminalpolizei mit der Sache befasst. Als so dramatisch hätte ich es nicht eingeschätzt, um ehrlich zu sein.“
„Dann sind sie also schon im Bilde?“
„Ja, natürlich. Ich habe zwar nicht damit gerechnet, daß sie mich wegen einer Ohrfeige an meinem Arbeitsplatz aufsuchen, hatte eher daran gedacht, eine Vorladung zu erhalten, aber…“
„Verzeihung, aber da geht jetzt was durcheinander. Von irgendwas mit einer Ohrfeige weiß ich garnichts. Deswegen sind wir nicht hier.“
„Äh, umso besser. Aber warum wollen sie dann mit mir sprechen?“

„Ich weiß nicht, ob das jetzt in irgendeiner Weise besser ist. Es geht um das Grab ihrer Tochter.“
„Cassandra? Was ist damit?“
„Es hat – Es tut mir leid, Herr Mommsen, aber es hat heute nacht wohl eine Schändung des Grabes gegeben.“
„Erbärmliche Scheyße!“
„Darum haben wir sie direkt hier aufgesucht. Ich würde ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn das für sie in Ordnung ist. Wenn es jetzt nicht geht, würde ich sie bitten, in nächster Zeit bei uns vorbeizukommen…“
„Ich hab‘ noch ein wenig Zeit, kein Problem. Waren sie schon bei meiner Frau? Was genau ist denn passiert? Sieht es schlimm aus?“
„Bei ihrer Frau waren wir noch nicht, nein. Und bei den Beschädigungen handelt es sich um Schmierereien auf dem Grabstein. Und davor hat jemand ein Feuer entfacht…“
„Ein Feuer? Auf dem Grab?“
„Ja, so ist es leider.“
„Haben sie denn schon was? Meinen sie, das waren vielleicht irgendwelche Jugendliche, die sich für Vamps halten, oder so?“
„Dazu kann ich ihnen nichts sagen. Aber dafür sind wir hier, um das herauszufinden. Ich würde von ihnen gerne wissen, Herr Mommsen, wann sie das letzte Mal am Grab waren.“
„Also ich selbst am Sonntag, ich meine: Gestern vor einer Woche. Meine Frau in der letzten Woche am Mittwoch nachmittag.“
„Wer besucht noch das Grab außer ihnen beiden?“
„Der Vater meiner Frau gelegentlich. Roland Falk. Ich nehme an, daß die beiden in der letzten Woche zusammen auf dem Friedhof waren.“
„Sonst jemand? Haben sie Freunde oder Bekannte, oder auch ehemalige Freunde ihrer Tochter, die eventuell das Grab besuchen könnten?“
„Ich denke nicht. Das sollten sie Claire fragen, und zu…“
„Claire ist ihre Frau?“
„Freunde meiner Tochter! Haben sie eigentlich selbst einen Blick auf das Grab geworfen?“
„Bitte? Wie kommen sie…“
„Bei Gelegenheit vergleichen sie bitte das Geburts- und das Todesdatum.“
„Entschuldigung, Herr Mommsen. Ich war da wohl nicht ganz im Bilde.“
„Is‘ gegessen. Ja, Claire ist meine Frau.“
„Gibt es jemanden, der einen Groll gegen sie hegt?“
„Die entsprechende Person wird kaum ein Interesse daran haben, Cassandras Grab zu verwüsten. Was soll die Frage? Wieso soll da was Persönliches dahinterstehen, wenn irgendwelche Chaoten einen Friedhof verwüsten?“
„Der Friedhof wurde nicht verwüstet. Die Schändung betrifft nur ein einziges Grab.“




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
18. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 03.06.11 17:14

2.

Die Zeit dehnte sich aus. Sie verging nicht, sie verging noch nicht einmal langsam. Sie dehnte sich einfach nur immer weiter aus, so als befände sich Claire am exakten Mittelpunkt des Universums. Alles um sie herum rauschte exzentrisch in die Unendlichkeit davon, erschuf für sich selbst eine Illusion von Zeit und Vergänglichkeit, von der Claire aber ausgenommen war.

Spaß oder gar Freude hatten sich nachhaltig verabschiedet. Nervtötend, unbequem, lästig, schmerzhaft und demütigend waren Attribute, mit denen ihre Empfindungen treffend hätten beschrieben werden können. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht mit ihrer Handtasche die Toilette aufzusuchen, den Umschlag zu zücken, das Siegel zu brechen und der Sache ein Ende zu bereiten. Zusammenreißen bedeutete, daß die Zeit verging wie zähes Kaugummi. Zusammenreißen verhieß aber auch Aussicht auf Glück und Euphorie, Vorfreude auf die stolz glänzenden Augen ihres Mannes am Abend. Also Augen zu und durch, per aspera ad astra, erst durch Leid ermesse sich der wahre Wert des Glücks.

Leid und Glück? Nein, so einfach war das nicht, aber manchmal tat es eben gut, die Dinge im Leben auf möglichst simple Grundstrukturen herunterzubrechen. Das Bewusstsein, daß es sehr wohl Formen des Leides gab, die kein übergeordnetes Glück zuließen, war tief und unauslöschbar in Claires Verstand eingegraben. Oder brauchte ein so umfassendes Leid lediglich so viel mehr Zeit, um ein gleichwertiges Gefühl von Glück zu gewähren? Spielte die Zeit dabei überhaupt eine Rolle? Erstaunlicherweise dehnte sich Zeit unter dem Einfluss negativer Emotionen aus, während sie sich bei positiven Emotionen zusammenzuziehen schien. Ungerechte Welt! Damals war es so gewesen, in der Zeit der Trennung. Ihre eigene Zeit war stehengeblieben, oder hatte sich wenigsten so sehr verlangsamt, daß sie scheinbar gar nicht mehr fortschritt. Die sieben Monate, die Mike in Indien unterwegs gewesen war, hatte sie selbst wie sieben Jahre erlebt. Oder wie siebzig. Ausgehend von dem einen Ereignis, das zwar so viel kürzer gewesen war, in ihrem Unbewussten aber in gewisser Weise noch immer andauerte. Ein paar Momente, Bruchstücke von Tagen, in denen Teile von ihr immer noch herumirrten, auch wenn diese nun über vier Jahre zurücklagen.

In jener Nacht erwachte sie mit höllischen Schmerzen, die in massiven Kontraktionen an- und abschwollen. Sie waren so viel stärker als das leichte Ziehen, das sie in den letzten Tagen zweimal zu ihrem Gynäkologen getrieben hatte. Ultraschall und Blutbild waren völlig normal gewesen, Cassandra hatte sie zur Strafe ein paar mal zornig geboxt und getreten, das war alles. Jedenfalls bis zu diesem Moment. Claire konnte nicht schreien, reißende Schmerzwellen hatten alle Luft aus ihren Lungen gepresst, ließen sie in doppelter Todesangst verkrampfen. Klebrige Nässe zwischen ihren Beinen und unter ihrem Hintern. Nur kein Fruchtwasser, bitte nicht, das war viel zu früh, sie hatte doch noch fast sechs Wochen bis zu ihrem Termin. Eine schlimmstenfalls peinliche Unkontrolliertheit ihrer Blase, das musste es sein, ganz sicher, bitte, lieber Gott, und bitte lass die Schmerzen von der Wirbelsäule kommen, ein Bandscheibenvorfall oder irgendwas…

Ein paar flache Atemzüge später schlug sie die Decke zurück, schaltete die Lampe auf ihrem Nachttisch ein und richtete sich auf. Kein Fruchtwasser, aber auch kein Urin. Ihre graue Jogginghose war bis zu den Kniekehlen dunkelrot, fast schwarz verfärbt, klebrig und glänzend. Neue Kontraktionen setzten ein, als risse man ihr den Unterleib mit glühenden Zangen auseinander. Die blutige Brühe zwischen ihren Schenkeln breitete sich aus. Völlig erstarrt brachte sie nicht mehr als ein heiseres Flüstern heraus.

„Mike…“

Zwei Sekunden später kreischte sie, schrill und entsetzlich. Noch nie hatte sie so einen Ton von sich gegeben. Nie.


„MIKE!“

Noch nie hatte sie ihren Mann so panisch gesehen. Drei Versuche brauchte er, um drei Ziffern zu wählen. Er stammelte unzusammenhängende Sätze ins Telephon, am ganzen Körper zitternd, das Gesicht leichenblass, farblos, jede Pigmentierung schien wie ausgelöscht. Noch während er nach und nach die Antworten auf die Fragen des Disponenten am anderen Ende der Leitung suchte, wurde es um Claire dunkel. Vehement versuchte sie sich gegen die Ohnmacht zur Wehr zu setzen, aber eine weitere Flut grausamer Krämpfe waren mehr, als sie ertragen konnte.

Erst drei Tage später kam sie im Krankenhaus wieder zu sich. Schläuche in ihrer Nase, im Hals und am linken Unterarm,wohl auch weiter unten, aber ab einer Höhe etwa vom Bauchnabel abwärts war sie völlig gefühllos. Gefühllos und leer, so entsetzlich leer. Mattes Licht im Raum, leises Piepsen und Blubbern, fremde, schauerliche Geräusche. Sie bewegte die Arme, versuchte ihren Oberkörper aufzurichten und verspürte Druck auf der rechten Schulter und ihrem Oberarm. Mike erwachte, hob den Kopf, sie sah in sein Gesicht, verklebte Haare, rote Augen, verquollen und irgendwie brüchig.

„Claire…“
Ihre Augen fielen wieder zu. Merkwürdig, wie die Worte, die sie aussprechen wollte, in ihrem Verstand gebildet wurden, sich aber nicht aussprechen ließen.
„Ich liebe dich, Claire. Ganz…“
„Wo ist sie?“
„Sie lebt.“
„Will zu ihr.“
„Gleich, Claire. Nur noch einmal schlafen, ok?“
Während sie versuchte, den Sinn seiner Worte zu verstehen, war sie wieder weg. Ein Vorhang aus starken Morphinen senkte sich über ihren Geist und spendete fadenscheinige Wärme und kaltes Vergessen.



An manchen Tagen fiel es ihr unendlich schwer, das Ende ihrer Schwangerschaft in den tiefen Schubladen ihres Geistes verschlossen zu halten, wo es hingehörte. Aber es war in Ordnung. Schmerzhaft, das mit Sicherheit, aber sie konnte damit umgehen. Sie hatte es gelernt, weil sie sich damit auseinandergesetzt hatte, weil sie die Existenz der Vergangenheit zuließ und zugleich eine gewisse Distanz wahren konnte. Ihr Vater hatte bei der Bewältigung eine große Rolle gespielt. Eine wesentlich größere jedenfalls als die Therapeutin oder die Selbsthilfegruppe, abgesehen von Charon natürlich. Mike hatte natürlich eine wichtige Rolle gespielt, wenn auch eher indirekt. Wie hatte er sich geschämt, sie damals alleine zu lassen, und wie gut war es gewesen, daß er in jener Zeit seinen eigenen Weg gegangen war. Ein Segen für sie beide, ohne die vorübergehende Trennung wäre ein Neuanfang, ein neues, gemeinsames Leben, wohl ausgeschlossen gewesen.

Claire hatte fast schon nicht mehr zu hoffen gewagt, daß es tatsächlich noch mal Mittag werden würde. In der Kantine holte sie sich das Tagesessen, Putengeschnetzeltes mit Spätzle, dazu Salat und einen Fruchtsaft. Sie fand einen leeren Tisch, fand sogar eine einigermaßen akzeptable Sitzposition auf dem ungepolsterten Kantinenstuhl. Was sie nicht fand, war gesegneter Appetit an ihrem Essen. Zur Ablenkung schlug sie den schwedischen Kriminalroman auf, der ihren aktuellen Lesestoff bildete. So konnte sie sich dann mehr mit den düsteren Gedanken des Autors, als mit dem Geschmack ihrer Mahlzeit beschäftigen konnte.

Den Teller zur Hälfte leergegessen, war sie in ihre Lektüre vertieft, als zwei Tische weiter der Tumult begann. Vier Männer um die fünfzig verbrachten dort ihre Mittagspause. Claire war sich von zweien vage bewusst, daß sie in der Verwaltung arbeiteten. Einer von ihnen begann jedenfalls plötzlich keuchend nach Atem zu ringen, hielt sich die Hand auf die Brust und rutschte wie in Zeitlupe von seinem Sitz zu Boden. Entsetzt sprangen die Kollegen auf, ein hastig zurückgeschobener Stuhl kippte, während hektische Stimmen laut wurden.

„Was ist los Werner? Was hast du?“
„Das ist der Kreislauf! Ich hole Wasser!“
„Au! Herz…“
„Leg dich hin, Werner! Leg die Beine hoch, schnell!“

Als einer der Männer im Begriff war, die Beine des Zusammengebrochenen anzuheben, ging Claire dazwischen.
„Lassen sie die Beine unten! Oder wollen sie ihn umbringen?“
Der Mann sah verwirrt zu ihr auf, folgte aber ihrer Anweisung.
„Und jetzt knien sie sich hinter ihn, und richten den Oberkörper auf! Stützen sie ihn von hinten ab, damit das Herz entlastet wird!“
„Darf ich fragen, wer sie sind?“
„Jedenfalls kenne ich mich ein bisschen aus, also machen sie bitte einfach, was ich sage, wenn sie helfen wollen.“

Claire wandte sich an den zweiten Kollegen, der wie versteinert neben ihr stand.
„Sie können auch mal was machen, und zwar den Notruf wählen. Erzählen sie was von Herzinfarkt und daß ihr Kollege total weggetreten ist.“
„Aber Werner ist doch nicht…“
„Nein, aber mit ein bisschen Dramatik geht es wahrscheinlich schneller.“

Claire wendete sich dem auf dem Boden sitzenden Mann zu, der immer noch krampfhaft atmete, wobei sich auf seiner käsig weißen Stirn dicke Schweißtropfen bildeten. Der Kollege, der ihn von hinten stützte, schwitzte ebenfalls, allerdings aus anderen Gründen. Sie nahm die Hand des Kranken, wo sie einen schnellen, unregelmäßigen Puls fühlte.

„Wie heißen sie?“
„Werner… Kaltenbach.“
„Versuchen sie, langsamer zu atmen. Der Notarzt ist unterwegs, das wird schon.“
„Mein Herz…“
„Haben sie das schon mal gehabt?“
„Nicht so.“
„Sind die Schmerzen sehr schlimm.“
„Wird besser, glaub‘ ich.“
„Wo genau tut es denn weh?“
„Brust und Rücken. Und im Hals. Unterm Kinn.“
„Waren sie deswegen mal beim Arzt?“
„Angina, sagt der.“
„Hat der ihnen dafür Medikamente gegeben?“
„Tabletten und Spray. Spray ist nur für den Notfall.“
„Ein rotes Fläschchen? Haben sie das dabei?“
„Nein. Vergessen.“

Sie schickte den Angestellten, der mit einem Glas Wasser kam, prompt wieder los, um eine Decke aufzutreiben. Anschließend beauftragte sie den Mann, der den Notruf abgesetzt hatte, in der Kantine herumzufragen, ob irgendjemand mit Herzproblemen sein Nitrospray einstecken hatte. Mittlerweile hatte sich eine ganze Gruppe von Kantinenbesuchern um die Szene versammelt. Auch Claires direkter Vorgesetzter, Professor VonBosstejn, befand sich unter den Zuschauern, was sie aber gar nicht realisierte. Ebensowenig wie sie davon Notiz nahm, daß ihre Bluse aus dem Bund ihrer Jeans gerutscht war. Ihr Laborkittel hing über einer Stuhllehne an ihrem Arbeitsplatz. Glücklicherweise erregte der Mann auf dem Boden deutlich mehr Aufmerksamkeit, als die merkwürdig abstehenden Formen unter ihrem Unterhemd.

Kaum eine Viertelstunde nachdem Werner Kaltenbach abgerutscht war, trafen ein Notarzt und eine Rettungsmannschaft ein. Nachdem Claire ihren Schützling an den Arzt übergeben hatte, wollte sie sich möglichst schnell und unauffällig aus dem Staub machen. Doch VonBosstejn war schneller und passte sie am Ausgang der Kantine ab.

„Frau Mommsen! Sie haben ja ganz erstaunliche Qualitäten! Ich bin wirklich beeindruckt.“
„Finden sie?“
Claire war verunsichert. Mittlerweile war ihr bewusst geworden, daß die Position, in der sie vor Werner Kaltenbach gehockt hatte, nicht unbedingt dazu getaugt haben musste, ihr kleines Geheimnis angemessen zu bewahren. Die Frage war nur, ob das auch ihrem Chef aufgefallen war.
„Aber ja. Ich habe gesehen, wie sie reagiert haben. So ruhig und überlegen; also ich hätte nicht gewusst, wie ich mich in einer solchen Sizuation verhalten hätte.“
„Naja, bevor ich an die Uni gegangen ist, habe ich ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Roten Kreuz gemacht. Dazu gehörte auch eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin.“
„Sowas haben sie gemacht? Ist ja phantastisch!“
„Finden sie? Ich wusste nach dem Abizur noch nicht so wirklich, was ich machen sollte. Meine Freundinnen damals haben dann solche Sachen gemacht wie Au – Pair irgendwo im Ausland, oder Work – and – Travel. Und ich bin halt zum Rettungsdienst gegangen.“
„Sie haben meinen Respekt, Frau Mommsen. Ernsthaft. Ich bitte sie, trinken sie noch einen Kaffe mit mir. In meinem Büro.“
„Eigentlich sollte ich längst wieder im Labor sein…“
„Ach was. Hallo? Bin ich hier der Chef oder nicht? Dann kann ich ja wohl auch entscheiden, wie lange ich auf ihre Testergebnisse warten kann. Nach dem Stress eben haben sie sich wirklich etwas Ruhe verdient.“

Kurze Zeit später fand sie sich erneut in dem angenehm kühlen, geschmackvoll eingerichteten Büro ihres Chefs wieder. Nur daß ihr diesmal statt kaltem Whiskey heißer Kaffee angeboten wurde. Sie fühlte sich tatsächlich entspannt, vor allem das Unwohlsein des Vormittags war verflogen. Wie sie dazu kam, konnte sie nicht nachvollziehen, jedenfalls stellte sie nach einer Weile überrascht fest, daß sie zwanglos mit ihrem Chef plauderte. Wobei sie eigentlich erzählte, während er ihr zuhörte. Das Besondere daran war vor allem, was sie sagte. Sie fand sich selbst über Dinge erzählend, von denen sie gewöhnlich zu kaum einem Menschen sprach. Bestenfalls dann und wann mit Mike oder ihrem Vater.

„…das zweite Mal, daß ich beim Rettungsdienst gearbeitet habe, war in der Zeit nach meiner Fehlgeburt…“
„Sie hatten eine Fehlgeburt? Was für eine Schande. Mein Beileid, Frau Mommsen. Es tut weh, das von ihnen zu hören.“
„So ganz werde ich da sicher nie drüber wegkommen. Aber ich kann mittlerweile damit umgehen. Ich hatte eine Blutung in der dreißigsten Schwangerschftswoche. Sie haben Cassandra in einer Notsectio `rausgeholt. Elf Tage später ist sie gestorben. Ich weiß nicht, ob sie das verstehen können. Aber bei all dem Leid waren die paar Male, die ich sie im Arm halten konnte, das Intensivste, das Schönste auch irgendwie, was ich je erlebt habe.“
„Ich weiß nicht, ob man es „verstehen“ nennen kann. Aber es bewegt mich, Frau Mommsen. Wie soll jemand so etwas wirklich verstehen, nachvollziehen können, der das nie selbst erleben musste?“
„Wahrscheinlich haben sie recht. Kann sein, daß ich deshalb so selten darüber rede. Wissen sie, in der Zeit direkt danach habe ich natürlich schon viel drüber gesprochen. Während der Psychotherapie, in der Selbshilfegruppe; das hat geholfen, aber das war nicht das Entscheidende. Anders ist es, wenn ich mit meinem Mann oder mit meinem Vater darüber spreche. Wegen der emotionalen Verbundenheit.“
„Immerhin hatten sie jemanden, der sie in der Zeit auch auf jener Ebene begleitet hat. Aber das sollte man doch von einem guten Mann auch erwarten, nicht? Ihr Gatte kann sich glücklich schätzen, mit einer Frau wie ihnen.“
„Danke für die Blumen. Allerdings war er garnicht an meiner Seite in den Monaten danach. Er… Wir haben einfach Abstand gebraucht. Es war besser so.“
„Ernsthaft? Und das war ok für sie? Daß er sie einfach alleine lässt mit ihrem Schmerz…“
„So war es nicht. Er hat seinen Weg der Kompensation verfolgt, ich meinen. Ich bin froh, daß wir es so gemacht haben. Ich glaube, letztenendes hat uns das noch enger zusammengebracht. Und später haben wir viel darüber gesprochen.“
„Und sie haben ihren Weg über den Rettungsdienst gefunden? War das nicht unglaublich hart?“
„Sowas in der Art hat auch meine Therapeutin gesagt. Hat mich quasi für verrückt erklärt. Ich hab’s trotzdem gemacht, und es hat mir geholfen, so bescheuert das jetzt klingt.“
„Klingt überhaupt nicht bescheuert. Nur ungewöhnlich.“
„In der Selbsthilfegruppe habe ich damals einen Mann kennengelernt. Wir nannten ihn alle Charon. Er hieß nicht wirklich so, aber ehrlich gesagt, fällt mir sein richtiger Name gerade nicht mehr ein. Durch ihn kam ich auf die Idee. Komisch, wenn ich mir überlege, was dieser Typ damals für mich bedeutet hat…“
„Haben sie sich in ihn verliebt?“
„Um Gottes Willen, nein! Es war anders. Er war eher sowas wie – naja, ein großer Bruder vielleicht. Das kommt etwa hin.“

Auch wenn es nicht genau so gewesen war. Im Grunde genommen hatte der „Fährmann“ eine Bruderrolle übernommen. Aber da war auch noch mehr gewesen. Es war so eigentümlich, wie einen die Vergangenheit an manchen Tagen geballt heimsuchte. Claire versah ihren Dienst am Nachmittag grübelnd, aber immerhin nicht in der ausgelaugten Ruhelosigkeit, in der sie sich vor den Ereignissen der Mittagspause befunden hatte. Pünktlich um fünf Uhr machte sie Feierabend. Als sie durch die Gänge dem Ausgang zueilte, war sie froh, nicht erneut auf ihren Chef zu treffen. Die ungewohnte, überrumpelnde Vertrautheit und Intimität, in der das Gespräch in seinem Büro stattgefunden hatte, war einerseits sonderbar wohltuend gewesen, andererseits aber auch relativ furchteinflößend. Wie hatte es dazu kommen können, daß sie sich so öffnete? Noch dazu gegenüber einem Mann, der ihr Vorgesetzter war, und obendrein nicht ganz uninteressiert an ihr schien.

Vorfreude auf Mike und die Dinge, die er mit ihr am Abend mit ihr anstellen könnte, begleiteten sie auf ihrem Weg durch die Stadt. Endlich richtete sich ihr Denken wieder in die Zukunft, statt in den Finsternissen der Vergangenheit zu verharren. Aber nur solange, bis sie aus der Straßenbahn stieg, und auf einmal Charon vor ihr stand.



© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
19. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 05.06.11 20:46

3.

Der Dienstag brachte die drückende, feuchte Hitze zurück. Schwüle, unbewegte Luft lastete wie ein Kissen auf der Stadt, erstickend, drohend, gewitterschwanger. Am Mittag bauten sich rings umher hohe Wolkentürme auf, zunächst diesig weiß, dann grau und beinahe schwarz werdend. Entfernter Donner rollte dumpf durch stickige Luftmassen. Es schien, als würde die ganze Stadt in Erwartung den Atem anhalten, in regloser Starre vor dem drohenden Unheil.

Doch als am Nachmittag Mike und Claire auf dem Friedhof zusammentrafen, hatten sich die Wolken in die Berge verzogen, die heftigen Gewitter mit Sturm und Hagel tobten sich in den Tälern und auf den Höhen aus. Die Stadt hinterließen sie ohne Abkühlung in drückender Atmosphäre; angespannt und aggressiv. Der Asphalt kochte auf den Straßen wie das Blut in den Köpfen der Menschen.

Die Kleidung klebte ihr am Leib, als Claire neben ihren Mann an das verunstaltete Grab trat. Um ihre Hand in seine zu legen, musste sie ihm die Faust öffnen. Die Handfläche fand sie beinahe glitschig, heiß und pulsierend wie in ohnmächtiger Wut. Er sah sie nicht an, aber sie merkte, wie sich sein Körper in ihrer Gegenwart, unter ihrer Berührung entspannte, als würde sie die in ihm angestaute Spannung ableiten oder erden.

Der Ort zeigte keine Spuren mehr einer polizeilichen Arbeit. Falls es hier jemals Absperrungen oder Ähnliches gegeben hatte, so wie das im Fernsehen gerne gezeigt wurde, dann war alles längst wieder aufgeräumt worden. Was blieb, war die schwarz verkohlte Erde vor dem Stein. Verschmorte Plastikteile lagen als die Überreste der Grablichte in grauer Asche und schwarzen Holzresten. Die Blumen und kleinen Sträucher, die Claire und ihr Vater gepflanzut hatten, waren verschwunden, niedergebrannt bis auf die Wurzeln. Mit roter und schwarzer Farbe hatte jemand in krakeligen Wiederholungen vielfach ein Zeichen auf Cassandras Grabmahl gesprüht. Zunächst hatte Claire die Schmierereien für Hakenkreuze gehalten, einige nach links, andere nach rechts ausgerichtet. Aber das war falsch. Jedes dieser Symbole hatte nur drei Arme, die auch nicht eckig, sondern rund waren. Einen Moment tauchte irgendwo in ihrem Geist ein schemenhaftes Bild auf: Ein betrunkener Riese, eine stickige Straßenbahn, ein Klappmesser. Mikes Hand schloss sich etwas fester um ihre, und das Bild verblasste.

Einige Zeit standen sie so stumm nebeneinander, in brütender Hitze und noch brütenderer Stimmung. Mikes Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst, seine Augen rot und feucht. Claire selbst empfand nur dumpfe Trauer und einen Anflug von Furcht. Sie wusste, daß Mike nicht gerne hier her kam. Er war alles andere als religiös, ihr Vater hatte einmal gesagt, daß Mike Kirchen meide, wie der Teufel das Weihwasser. Daß ihr ausgerechnet an diesem Ort jene Worte in den Sinn kamen, beschämte Claire. Es war Mikes Hilflosigkeit im Angsicht der letzten Ruhe seiner Tochter, die ihn von hier fernhielt. Das hatte nichts mit seiner Abneigung gegen alles Kirchliche zu tun. Im Gegenteil hatte Claire ihn schon oft als einen nicht nur sehr sensiblen, sondern auch durchaus spirituellen Geist erlebt. Erst als er sich vom Grab abwandte und sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, sprach Claire ihn an.

„Wie lange stehst du hier schon?“
„Keine Ahnung…“
„Hast du…“
„Mit dem Friedhofswärter gesprochen. Ja, hab‘ ich. Er soll jemanden zum saubermachen bestellen und uns die Rechnung schicken. Wird wohl gleich morgen… Wir sollen uns um die Bepflanzung dann selbst kümmern, weil…“
„Das mache ich schon. Wenn du willst, können wir zusammen neue Blumen aussuchen. Ich richte das Grab mit meinem Vater.“
„Danke… Weil ich…“
„Schon klar. Mike?“
„Hm?“
„Diese Schmierereien. Was soll das sein? Ich hab‘ erst gedacht, daß ist so Nazikram…“
„Kann schon sein. Manche Nazis benutzen das auch, aber… Ich weiß nicht. Warum ein Grab beschmieren, und dann mit `nem Zeichen, das nicht eindeutig ist? Nazis hätten Hakenkreuze gesprüht. Richtige…“
„Aber was dann? Und warum? Warum ausgerechnet Cassandra?“

„Weiß nicht. Vielleicht will ich’s auch gar nicht wissen. Das Symbol ist uralt, gibt’s in zig Kulturen auf der ganzen Welt. Ist ursprünglich auch nichts rechtsradikales dabei. Auch das Hakenkreuz wurde von den Nazis mißbraucht, und jetzt steht es in Europa für Rassenhass, Völkermord und sinn- und hirnlose Vernichtung. Während es in Asien noch etwas ganz Normales und Positives ist. Ein Zeichen für Glück…“
„Nicht wirklich, oder?“
„Doch, schon. Das hier ist wahrscheinlich genauso alt. Was es ursprünglich bedeutet hat, wo es herkommt, weiß man gar nicht. Oder ich weiß es jedenfalls nicht. Es ist keltisch, glaub‘ ich. Vielleicht irgendwelche Spinner, die sich für Druiden halten, oder was weiß ich.“
„Warum unser Grab? Warum nicht ein anderes?“
„Kann ich in die wirren Köpfe von diesen Grusel – Esotherikern `reinschauen? Vielleicht – vielleicht haben sie einfach das Grab des Menschen mit der kürzesten Lebensspanne `rausgesucht.“
„Bah!“
„Du wirst mich vielleicht für bescheuert halten, aber vor ein paar Tagen hab‘ ich an genau das Zeichen gedacht. Oder nee, gedacht ist falsch, eigentlich hatte ich es einfach in meinem Kopf. Für eine Sekunde oder so, nicht länger.“
„Mach mir keine Angst. Wann war das?“
„Ich habe dir davon erzählt. Letzten Freitag, als ich diesem Nazi eine geballert habe. Als ich ausgerastet bin. Da war dieses Rad, drei ineinander verschränkte Arme, die sich drehten. Und sie sahen ein bisschen so aus, wie die Zeiger von unserer dämlichen Uhr. Danach hatte ich die Brille von diesem Arzt in der Hand und seine Backe war dick.“
„Jetzt würde ich dich gerne für bescheuert halten, aber ich kann’s nicht. Irgendwie gefällt mir das nicht. Macht mich nervös…“

Mike bestand auf einer Pause für Claire, zumindest für eine Nacht, ogegen sie keine einwände hatte. Es war nicht nur wegen der Druckstellen an Becken und über dem Steiß, sondern viel mehr lag es an der Stimmung, die einfach nicht passte. Sie hatte an den letzten beiden Tagen den Keuschheitsgürtel zeitweise völlig vergessen, von einem gelegentlichen Zwicken und Drücken abgesehen. Die dauernde Einschränkung ihrer Bewegungen integrierte sich nach und nach wieder in ihren Alltag, auch die Reize, die das Tragen auslöste, ignorierte sie, oder nahm sie als etwas eher Normales wahr. Auf der Heimfahrt nach ihrem Besuch auf dem Friedhof aber hatte sie sich unwohl gefühlt. Nicht körperlich, sondern weil sie das Gefühl hatte, nicht mehr zusammenzupassen. Warum tat sie sich das an, fügte sich selbst dauerhaft Leid und Schmerzen zu, wenn sie davon doch schon reichlich genug erleben musste?

Am Abend hatten sie sich geliebt, ohne irgendwelche Spielereien und ohne jede Hilfsmittel. Es war schön gewesen, sie hatten beide ihre Erfüllung erlebt, aber dennoch fehlte etwas. Sie blieben an der Oberfläche, anstatt tief zu tauchen, wie ein Bad im seichten Wasser des Strandes, von der Brandung geschützt. Den atemberaubenden und tollkühnen Sprung von der Klippe in die Brandung des Ozeans blieben die Beiden sich gegenseitig schuldig.

„He, Claire?“
„Was’n?“
„Hast du ihn angerufen?“
„Ähm, wen?“
„Charon?“
„Oh, ja!“
„Und?“
„Er will gerne kommen, morgen abend.“
„Fein. Roland wird sich freuen.“
„Und du?“
„Weiß ich noch nicht. Aber nach allem, was du von ihm erzählt hast, bin ich schon wild `drauf, ihm mal zu begegnen.“
„Ich bin ja mal gespannt.“



© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
20. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 07.06.11 18:22

4.

Für einen Moment war Mike versucht, Claire aufzuwecken, um sie aus ihrem Albtraum heraus zu führen. Sanft strich er ihr Strähnen von Haaren aus der schweißnassen Stirn. Die Decke lag zusammengeknüllt zu ihren Füßen, halb aus dem Bett gerutscht. So präsentierte sich Claire ihm völlig entblöst, ihr Körper schutzlos und hilflos, während ihr Geist sich mir den Wirrnissen eines gänzlich fremden und für Mike unerreichbaren Traum – Zeit – Kontinuums herumschlug. Nackte Beine zuckten wild, lagen wieder still und begannen dann erneut zu strampeln.

Aufgewacht war Mike durch einen Stoß ihres Knies in seine Leisten; so also dankte sie ihm ihre nächtliche Freiheit! Mike beschloß, gnädig über die kleine Unartigkeit hinwegzusehen, weil seine Frau sich ganz offensichtlich nicht in der selben Welt befand. Dort, wo sie jetzt war, gab es augenscheinlich schon genug Ärger. Er sah sie die Fäuste ballen, während ihre Lippen sich stumm bewegten, seltsame Worte andeutend, die Mike nicht verstand. Claires gelegentliche Albträume waren nichts Neues für ihn. In der Regel reichte es aus, wenn er sie dann vorsichtig in den Arm nahm, ein wenig streichelte und küsste. Meistens glitt sie dann hinüber in andere, weniger stürmische Träume, ohne überhaupt wach zu werden. Wenn sie zu sehr litt, erwachte sie von selbst. Das waren die Träume von ihrem Kind, die ihr „entglitten“, wie sie es Mike gegenüber nannte. Jene Träume, in denen sie wehrlos tiefer und tiefer in den Strudel gerissen wurde, bis sie es nicht mehr ertrug und daraufhin aufwachte.

Von Mike geweckt zu werden, weil sie schlecht träumte, hasste sie normalerweise. Dennoch zog er es kurz in Erwägung, denn er kannte Claire und wusste, daß das jetzt kein Traum des Verlustes war. Ihre Bewegungen waren anders, auch die lautlosen Worte hatten nichts mit den ihm bekannten Träumen zu tun. Aber sie stand ohne Zweifel unter Stress, machte dabei aber keine Anstalten, zu erwachen, oder unter Mikes Berührung den Film zu wechseln.

Er wollte sie ansprechen, erstarrte jedoch bei dem Versuch, hielt inne voller Verwunderung und Überraschung. Sie zog die Knie an, klappte die Schenkel auseinander und ließ die rechte Hand an ihre Scham wandern. Fasziniert und entgeistert beobachtete Mike, wie ihre Finger sich an die Arbeit machten, an den Schamlippen zupften, hineinkniffen und sich schließlich dazwischen versenkten. In schnellem Rhythmus reibend drang Claire tiefer in ihre eigene Spalte hinein, nahm die Bewegungen ihrer Hand mit dem Becken auf, öffnete sich, machte sich herausfordernd zugänglich. Dabei blieb Anspannung und Angst weiterhin in ihrem Gesicht abgezeichnet. Schweiß perlte auf ihrem gesamten Körper, jeder Muskel schien gespannt, die linke Hand hatte sie so fest zur Faust geballt, daß die Knöchel weiß hervortraten. Es stand außer Frage, daß sie schlief, daß sie im Schlaf eine eigenartige und beunruhigende Masturbation ausführte. Mike war sich völlig sicher, daß sie das noch nie getan hatte. Jedenfalls nicht, solange er neben ihr schlief. Besonders erschrocken war er von der Vehemenz, mit der sie dabei vorging, wie sie sich selbst so gewaltsam aufspreizte, der verbissene Druck, mit dem sie ihre Perle bearbeitete. Untermalt war das ganze von den verstörenden Bewegungen ihrer Lippen, die nicht länger stumm blieben, sondern ein leises Zischen und Fauchen ausstießen. Unter flatternden Augenlidern, die ihre hektisch wandernden Pupillen vor Mikes ängstlichem Blick verbargen, liefen Tränen hervor, ein feiner Speichelfaden aus ihrem Mundwinkel wischte sich am Kissen ab, als sie ihren Kopf drehte.

Charon wartete vor dem „Speicherstübchen“ auf Claire und Mike. Als er die beiden kommen sah, trat er seine Zigarette aus und kam strahlend auf sie zu; Claire nahm die Umarmung an und sie küssten sich auf die Wangen. Leise summend schwebte über der Fahrbahn aus glänzendem Blei ein Schulbuß an den Straßenrand, senkte die Stützen ab und schaltete den Hooverantrieb aus. Als das Fahrzeug fest mit dem Untergrund verankert war, schossen die gewölbten Türen nach oben, und eine Schar Schüler ergoß sich auf den Gehsteig. Es dauerte eine Weile, bis sich das Gewimmel um sie herum beruhigte. Trotz der späten Stunde war es hell genug, der weiße und der rote Mond spendeten kaum weniger Licht als die Sonne.

Etwas überrascht war Claire darüber, daß Mike keine Anstalten machte, ihren alten Freund Charon zu begrüßen. Dabei hatte er sich doch so gefreut, diesen nun endlich persönlich kennenlernen zu können… Jetzt bemerkte sie, daß ihr Mann nicht nur Handschellen trug, sondern auch geknebelt war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, warum genau er so herumlief, war sich aber vage bewusst, daß es etwas mit Charons Versprechen zu tun hatte. Nur konnte sie sich leider genausowenig erinnern, was für ein Versprechen er ihr gegeben hatte. Oder war es überhaupt an sie gerichtet? Und nicht vielleicht an Mike?

„Schön, daß du gekommen bist, Charon!“
„Ja, ich denke, es wird auch höchste Zeit, Claire.“
„Aber sag mir ein, bitte: Warum ist Mike gefesselt? Und warum darf er nicht sprechen?“
„Liegt das nicht auf der Hand? Damit er nicht die Fragen stellen kann, die du selbst aussprechen musst, natürlich!“
„Was für Fragen? Ich hab‘ gar keine.“
„Jetzt hast du schon zwei gestellt.“
„Lass uns reingehen. Ich habe Hunger, und der Gehweg ist viel zu kalt klimatisiert.“
„Ach, wo. Die Temperatur ist doch auf allen Straßen immer gleich eingestellt. Du bist nur nervös, Claire, darum ist dir kalt. Das ist alles.“

Statt in ein gemütlich eingerichtetes Lokal mit gut bürgerlicher Küche zu gelangen, betrat Claire an der Seite von Charon das Schwarze Zimmer. Groß und leer schien der Raum, fensterlos, erhellt wurde er nur von vier großen Kupferschalen in den Ecken. Flackerndes Ölfeuer loderte dort unter verchromten Abzugshauben, durch die der schwarze Rauch in eine andere Wirklichkeit verschwand. Außer den Feuerstellen gab es nur noch drei Möbel in dem Raum. Vor der Wand gegenüber des Eingangs standen zwei große Ohrensessel mit dicken Armlehnen, die vollständig mit glänzendem, schwarzen Leder überzogen waren. Wie die Sessel im Büro ihres Chefs, dachte sich Claire. Mike hastete an ihr vorbei und warf sich in eines dieser Polstermöbel, nach wie vor die Hände in Handschellen und einen entschieden zu roten Ballknebel im Mund. Der andere Platz wurde von Charon belegt, Claire blieb in der Mitte des Raumes neben dem zentralen Möbelstück alleine stehen.

Charon zündete sich eine Zigarette an, reichte auch Mike eine, der plötzlich nicht mehr geknebelt war. Erneut spürte Claire Verwirrung und einen Anflug von Furcht in sich aufsteigen. Wann hatte Mike wieder angefangen zu rauchen? Und warum? Und vor allem: Warum wusste sie es nicht, wo er doch ihr Mann war, und sie liebte. Kurz öffnete sie den Mund, um ihre Gedanken laut auszusprechen, traute sich dann aber nicht. Es waren die falschen Fragen. Während die beiden Männer schweigend rauchten, sah sie sich verloren im Raum um. Boden und Wände waren mit straff gespanntem, schwarzem Gummi überzogen, das seidig matt glänzte, aber das Meiste des Feuerscheins einfach absorbierte, verschluckte und verdaute. Sie trat einen Schritt zurück, der Boden gab ein paar Millimeter nach. Sie sah sich um, beobachtete ihre Bewegung in neunzehn schmalen, endlos hohen Spiegeln. An jeder Wand gab es davon fünf, einzig dort, wo sich die Eingangstür befand, fehlte an ihrer Stelle der Mittlere.

Mitten im Raum stand ein seltsames Gestell, eineinhalb Meter hoch und einenhalb Meter lang. Von kupfernen Füßen, auf denen es stand, verschmälerte es sich nach oben hin, wo es in einer schmalen Kante wie der First eines Daches auslief. Über die ganze Konstruktion war ein feines, weißes Tuch gespannt. Claire ließ ihre Hand über das leichte und doch feste Gewebe gleiten, und spürte kostbare Seide. Ihr Blick ging nach oben. Aus der Unendlichkeit herab hingen hier zwei Handmanschetten an silbernen Ketten. Reglos und still in finstere Farblosigkeit führend, genau im Zentrum zwischen den schillernden Kaminen der Rauchabzüge.

Es war diese Leere über ihr, die sie mit Angst erfüllte. Dazu kam der Zorn, daß diese beiden Herren sich die einzigen Sitzgelegenheiten unter den Nagel gerissen hatten. Claire fühlte sich erschöpft, müde, ihre Knie begannen zu zittern. Hatte sie nicht eben erst den langen Weg durch die Unendlichkeit angetreten, um hier zu sein? Gerannt war sie, um ja pünktlich zu kommen. Um den richtigen Zeitpunkt zu erreichen, und nicht etwa kurz davor ins Nichts abstürzen zu müssen.

„Habt ihr’s bequem, ja? Wo soll ich sitzen?“
Mike lachte hysterisch, verschluckte sich am Rauch seiner Zigarette und erlitt einen erbärmlichen Hustenkrampf. Charon aber blieb völlig ruhig.
„Ah, wieder zwei Fragen, und gar keine Schlechten, wenn ich das sagen darf. Wir kommen der Sache näher. Auch wenn du eigentlich ganz genau weißt, wo dein Platz ist, Claire. Du bist schließlich hier zu hause, nicht wir. Also warum machst du’s dir nicht bequem? Du könntest zum Beispiel zunächst einmal ablegen.“

Stimmt. Er hatte völlig recht. Es war reichlich warm hier, und bei allem, was sie nicht wusste, stand es immerhin fest, daß in der Folge jede Kleidung eher unpassend sein würde.Also schlüpfte sie aus ihrem langen, nachtblauen Kleid aus fließend weichem, fast durchsichtigen Gewebe, stieg gleichzeitig aus den schwarzen Schuhen mit hohem Absatz, die sie aus purer Bequemlichkeit doch viel zu selten trug. Überrascht stellte sie fest, daß ihr gesamter Körper nun in unansehnlicher, mausgrauer Unterwäsche steckte. Sie schämte sich dieser unpassenden und viel zu biederen Verhüllung, spürte dabei, wie sie rot wurde. Hektisch versuchte sie, sich aus dem peinlichen Zeug zu befreien, das aus einem unangenehm dicken, festen Stoff bestand, fast wie sehr kompakte Gaze. Nein, eigentlich mehr wie Schaumstoff. Es war ihr unerklärlich, wie sie sowas hatte anziehen können, und noch unerklärlicher schien es ihr, wie sich sich bis eben darin so völlig normal hatte bewegen können. Entgeistert fummelte sie an der Kleidung herum, suchte in Falten und Wülsten nach dem Saum des Hemdes oder dem Bund der Strumpfhose, während ihr der Schweiß ausbrach.

Sie war gerade dabei zu verzweifeln, in Tränen auszubrechen, als Charon sich erbarmte und zu ihr trat. Langer, glänzender Stahl blitzte auf, als er ein Samuraischwert zog und es zweimal blitzschnell vor ihrem Körper niedersausen ließ. Die unangenehme Verpackung fiel wiederstandslos von ihrem unversehrten Körper ab. Zugleich spürte sie, wie der Kampf mit der Kleidung bei ihr Erregung ausgelöst hatte. Allmählich wurde ihr klar, daß sie nun bald die Anweisung erhalten würde, auf dem eigenartigen Gestell platz zu nehmen. Charons Schwert hatte sich in einen dicken, elliptischen Gegenstand verwandelt. Durchsichtig wie Glas, schillernd und funkelnd im flackernden Licht der Feuerbecken. Mit einem kurzen Ruck versenkte er das Teil in ihrer Spalte, wandte sich wortlos ab und setzte sich wieder neben Mike in den Sessel. Kein Ton wurde gesprochen, aber auf ein Winken mit der Hand hin, kletterte Claire auf den mit Seide bespannten Bock.

Zunächst stützte sie sich mit den Händen ab um den gräßlichen Druck, mit dem sich die Oberkante der Konstruktion in ihr Tal bohrte, etwas abzufangen. Hilfesuchend blickte sie zu den beiden Männern. Der eine - ihr Mann, den sie liebte, dem sie gehorchte - sah sie überhaupt nicht an, seine Augen musterten eine der Feuerstellen in der Zimmerecke. Charon erwiederte ihren flehenden Blick, zog herausfordernd und leicht spöttisch die Augenbrauen hoch.

„Was ist los, Claire? Mach einfach weiter, du weißt schon bescheid.“

Sie brauchte einige Zeit, um die Hände von der Kante zu nehmen, sich nicht mehr abzustützen. Langsam beugte sie sich nach vorne, schneidender Schmerz machte Anstalten, ihren Leib in der Mitte entzweizureißen. Sie beugte sich soweit vor, wie sie es irgend ertragen konnte; es reichte gerade um den Saum des Seidentuches etwas anzuheben und an die Fußfesseln zu kommen. Sie hielt den Atem an, fixierte erst den linken, dann den rechten Fuß und richtete sich anschließend wieder auf. Schwindel schoss durch ihren Kopf, die Spiegel um sie herum begannen zu rotieren. Während Mike nach wie vor eher teilnahmslos erschien, war Charon nahezu begeistert. Kerzengerade saß er in seinem Sessel und klatschte entzückt in die Hände.

„Phantastisch, Claire! Immer weiter so, jetzt die Handfesseln!“

Ihr Blick ging nach oben in endlose Dunkelheit entlang der silbernen Ketten. Unter Tränen hob sie die Arme, bekam die Handschellen zu greifen und ließ sie um ihre Handgelenke einrasten. Geschafft! In ihr tobte ein Tumult von Gefühlen, hilflos wie sie nun war, völlig ausgeliefert nicht nur ihrer Umwelt, sondern auch sich selbst und den eigenen, seltsamen Mäandern ihrer basalsten Triebe. Angst, Lust und Euphorie. Das Ding in ihrer Scheide bewegte sich, sobald ihr Unterleib den Schmerzen auszuweichen versuchte. Schmerzen, Lust und pure Energie; ihre Nässe tränkte das Seidentuch, als Charon sich hinter sie stellte. Als der erste Schlag ihren Rücken traf, hätte sie fast geschrien, stellte aber fest, daß es unnötig war.

„Jetzt lass dich gehen, Füchsin. Lass dich einfach los. Hier, wo wir jetzt sind, in der Zeit, wo wir jetzt sind, gibt es keine Grenzen. Nicht, solange du die Türen in dir selbst offen hältst. Sag mir, ob du noch Schmerzen verspürst!“
„Nein, keine Schmerzen. Nur Energie…“

Sie antwortete der Stimme des Großen Wolfes. Das Schwarze Zimmer war verschwunden, hatte sich in blauem Dunst aufgelöst. Eine warme, wohltuende Weite, die weniger um sie herum, als viel mehr in ihr selber Bestand hatte. Die Schläge schickten Wellen von erregender Kraft durch ihren Körper, konzentrierten sich in ihrem erogenen Zentrum, verstärkten sich in ihrer prall ausgefüllten Mitte. Konvulsionen pulsierten von dort zurück, bis sie sie ganz einnahmen und entrückten. Charon war nicht mehr da, sie hatte ihn zum Teufel gewünscht und er wurde durch ihren Wolf, durch Mike ersetzt. Durch Mike, der ihren bebenden Leib mit Schlägen traktierte, die so viel stärker waren, als die halbherzigen Spankings, die sie in einer anderen Realität gelegentlich von ihm erhalten hatte. Doch hier hatte sie keine Schmerzen, weil alles eins war. Alle Empfindungen und Emotionen fügten sich zu einem reißenden Strom von unvorstellbarer Kraft zusammen, auf dem sie dem Höhepunkt entgegenritt. Gleichzeitig fürchtete sie sich davor, denn am Ende musste alles zusammenbrechen, die einzelnen Teile würden wieder für sich stehen und all die pulsierende Energie würde aus ihr herausrinnen und sie in blutiger Verzweiflung zurücklassen.

„Nein, Fähe, wird sie nicht. Denn du wirst einfach nur erwachen, und ich werde bei dir sein. Also hör auf, dich zu sträuben!“

Sie ließ los, wurde fortgerissen, flog durch die Sonne und träumte auf der anderen Seite noch immer. Der blaue Mond stand hoch über ihnen, ergoß sein kaltes, mystisches Licht über gewaltige Brecher, die gegen die zerklüfteten Klippen rollten. Am Horizont, jenseits des Ozeans, würde in kürze der rote Mond aufgehen, violetter Schimmer über der Weite kündigte sein Erscheinen an. Mike versuchte es mit einem Lächeln, gab es aber schnell wieder auf. Claire zog den im Seewind flatternden Mantel enger um sich.

„Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich fragen wollte.“
„Dann behalt es für dich, Claire. Jedenfalls für den Moment.“
„Es spielt aber keine Rolle, weil du die Frage auch kennst. Genauso wie die Antwort.“
„Ich? Da liegst du falsch. Ich weiß gar nichts.“
„Du wirst es wissen, aber es spielt jetzt keine Rolle. Nicht, solange wir hier nur Gäste sind“


Mike beobachtete nervös Claires Höhepunkt. Er fühlte sich einsam, ausgegrenzt von dem, was in seiner Frau vorging, hilflos gegenüber einer Macht, die sie ihm zu entreißen schien. Bei ihrem Orgasmus stöhnte sie zweimal laut auf, irgendwie hohl und entrückt. Sie war immer noch in ihrem Traum unterwegs, unfassbar weit entfernt, auch wenn sie direkt neben ihm lag. Er hoffte und fürchtete gleichzeitig, daß sie nun aufwachen würde, aber sie drehte sich lediglich zur Seite, murmelte noch etwas Unverständliches in ihr Kissen und wurde dann ruhig. Ihr Körper erschlaffte, auf ihrem schweißüberströmten Leib bildete sich Gänsehaut. Mike griff nach Claires Decke und legte sie behutsam über seine Frau.

Aus dem Erdgeschoss erklang leise der hohle, sonore Ton der Standuhr mit den drei Zeigern. Sie schlug dreimal an; die richtige, die wahre Geisterstunde einläutend, die nicht um Mitternacht, sondern eben um drei Uhr begann und bis zum Morgengrauen dauerte. Mike rollte sich in seine Decke und suchte seinen eigenen Traum, der ihn bis zum Erwachen durch die Nacht tragen sollte. Bis zum Klingeln des Weckers und bis zum Beginn des nächsten normalen und völlig rationalen Tages.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
21. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 08.06.11 18:15

Hallo, Allerseits!

Kurzer Einschub: Die "fehlende" Textpassage im zweiten Abschnitt des zweiten Kapitels wurde mittlerweile ergänzt. Danke an Blue und das gesamte Mod - Team!

Frage an die verstummte Allgemeinheit: Was ist los? Zu langweilig oder zu langatmig? Zu schnelle Fortsetzungen? Unverständliche Sätze und Formulierungen? Oder prinzipiell Schwierigkeiten / Desinteresse bei einer Erzählung, in der die Erotik nicht den Hauptfokus bildet?

Kritik ist nach wie vor erwünscht. Und es hat niemand verlangt, daß nur Lob geschrieben werden darf.

Beste Grüße, Turambar.
22. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von SmartMan am 08.06.11 20:06

Nee; die Erotik fehlt mir nicht und mit Deiner Schreibe gelingt es Dir wirklich gut, die jeweiligen Szenarien plastisch darzustellen. Von daher ist´s schön, die Story zu lesen.

Ich bin inzwischen am Ende von Kapitel 6 stecken geblieben, da mich nicht nur mein chronischer Zeitmangel immer wieder ausbremst, sondern auch eine fast kontinuirlich düstere Atmosphäre in der Geschichte gegeben ist.

Damit, dass Du mit so ziemlich jeder Schilderung etwas Negatives darstellst, wirst Du wahrscheinlich auf ein Ziel zusteuern - also wohl die Grundlage für einen späteren (Stimmungs-)Wandel (zum besseren?) schaffen - jedoch ist´s mir inzwischen etwas zuviel grau in grau und lockt mich daher nicht mehr so recht. Aber da sind die Geschmäcker ja verschieden und das Leben hält ja nun mal leider wirklich auch relativ viel Unerfreuliches bereit.

Ich sollte mir wohl in ner´ ruhigen halben Stunde doch die Zeit nehmen und mich weiter durch die düsteren Szenarien durchwurschteln, um zu schauen, ob sich dann vielleicht doch allmählich n´ Licht am Ende des relativ finsteren Tunnel abzeichnet....

...dann sehe ich ja, ob Dir auch andere Schattierungen als grau und schwarz zusagen.

LG

SmartMan
23. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 09.06.11 14:46

Hallo, SmartMan!

Daß das hier keine heitere Geschichte ist, sondern sehr wohl eine eher finstere, ist schon so gewollt. Es geht um die Auseinandersetzung mit Ängsten, Erfahrungen des Lebens, das - wie du ja schreibst - eben viel Tragisches enthält. Es geht um den Einfluß dieser Dinge auf die Charaktere, und deren Umgang damit. Dabei spielt die seuelle Ebene eine Rolle, aber auch eine psychologische und eine gesellschaftliche.

Was mir aber beim Schreiben auch nicht so bewusst wurde, ist wie düster die bisherigen Texte tatsächlich rüberkommen, bzw. wie wenig Abwechslung es da gibt. Denn natürlich besteht das Leben eben nicht nur aus negativen Stimmungen und Grautönen. Ich werde wohl versuchen, das etwas "bunter" zu gestalten. Wandel wird es noch so einigen geben, aber ob zum Guten? Mal abwarten.

Allerdings habe ich für das Ende nach wie vor zwei verschiedene Szenarien vor Augen. Eines mit "Happy - End", das andere ohne. Aber bis dahin könnte es noch dauern.

[quoteAber da sind die Geschmäcker ja verschieden[/quote] Stimmt. Natürlich kann ich es nicht jedem Leser / jeder Leserin recht machen. Die einen mögen lieber Krimis, andere etwas Romantisches, Dramen, Komödien, Phantasy oder Horror... Ein Vorwort zu der Erzählung wäre vielleicht nicht verkehrt gewesen, um einen kleinen Vorgeschmack zu geben, womit man im Verlaufe zu rechnen hat.

Erstmal gibt´s jetzt aber den nächsten Abschnitt, der - wie ich hoffe - auch ein paar heitere Momente enthält.


<><><>




5.

Charon wartete vor dem „Speicherstübchen“ auf Claire und Mike. Als er die beiden kommen sah, trat er seine Zigarette aus und kam strahlend auf sie zu. Ein paar Meter weiter hielt ein Schulbuss quietschend an der Haltestelle, der tuckernde Dieselmotor pustete heißen Qualm in die fast genauso heiße Nachmittagsluft. Mit einem Zischen öffneten sich die Türen, und eine lautstarke Schülerschar strömte hinaus. Als sich der Tumult einigermaßen gelegt hatte, machte Claire Mike mit Charon bekannt, wobei sie dessen Spitznamen freilich durch Gregorij ersetzte.

Die Begrüßung war längst nicht so innig, wie in Claires Traum, aber große körperliche Vertrautheit hatte auch früher nicht zwischen ihr und Charon / Gregorij geherrscht. Dazu beigetragen hatte auch sein eher abweisendes Äußeres: Die langen schwarzen Haare des großen, hageren Mannes, sein schwarzer Vollbart, den er sich bis auf die Brust wachsen ließ, luden nicht unbedingt zum Kuscheln ein. Charon unterstrich zu jener Zeit sein düsteres Erscheinungsbild mit einigen Piercings in Augenbrauen und Nase, breitkrempigen Hüten und einem langen, schwarzen Ledermantel, den er nur im Notfall abzulegen pflegte.

So völlig unterschiedlich präsentierte er sich jetzt. Als Claire ihn vor zwei Tagen zufällig traf, hätte sie ihn zunächst fast nicht erkannt. Sauber rasiert war er, die Haare ordentlich geschnitten und gekämmt, von den Piercings in seinem Gesicht fand sich keine Spur mehr. Statt Ledermantel, Hut und derber Stiefel trug er einen gut sitzenden, beigen Sommeranzug über einem hellblauen Hemd. Und als er sich nun mit Claire und Mike zum Abendessen traf, erschien er in legeren Bluejeans, weißem T – Shirt und braunen Seglerschuhen. Unverändert freilich war seine hoch aufgeschossene, dürre Statur, sowie sein Gesicht mit der hohen Stirn, einer gewaltigen Hakennase und den tiefliegenden, kleinen Augen, die mit schnellen, blitzartigen Bewegungen die Umgebung scannten.

Dieweil Roland Falk sich wie gewohnt verspätete, bestellte die Dreierrunde Getränke im Biergarten. Der Duft von Gegrilltem stieg ihnen in die Nase, regte den Appetit an, auch wenn bislang keiner von ihnen wirklich Hunger verspürt hatte. Der Tag war schlichtweg noch immer zu heiß, um an Essen zu denken. Also warteten sie auf Claires Vater, tranken Bier und Aperol, und unterhielten sich über die letzten Jahre, in denen Claire und Charon sich aus den Augen verloren hatten.

„Und zu deiner Szene hast du keinen Kontakt mehr? So gar nicht?“
„Wenn du das „Szene“ nennen willst, Claire… Eigentlich war es das damals schon nicht. Ein Haufen Spinner, hauptsache alles ist schwarz, düster, hoffnungslos. Mittlerweile ist es noch schlimmer, glaube ich. Nur noch Kids, die nichts mit sich anfangen können. Die sind einsam, weil sich keiner für sie interessiert, versuchen sich damit interessant zu machen, und wundern sich, wenn sich da die Katze in den Schwantz beißt. Es bringt überhaupt nichts, wenn du dich krampfhaft an eine Scheingemeinschaft anpassen willst, die in Wirklichkeit jede menschliche Wärme, jede Gesellschaftlichkeit negiert.“
„Harte Worte, Gregorij. Ich habe ja einige Schüler, die auch so drauf sind. Immer schwarz angezogen, immer düstere Musik und finstere Parties. Dabei sind die Meisten von ihnen aber echt in ordnung. Haben keine Probleme mit der Schule oder den Eltern, sind völlig normal in ihrem Sozialverhalten.“
„Ich meine auch, daß es vor allem für die gefährlich ist, die sowieso schon Probleme mit sich selbst haben. So wie ich damals. Mein Glück war nur, daß ich eigentlich etwas völlig anderes gesucht habe. Mit dem ganzen Selbstmitleid und „Alles – ist – so – böse – Gehabe“ hatte ich sowieso nicht viel am Hut. Ich habe mich mehr für die Hintergründe interessiert. Mir ging es mehr um alte, europäische Naturreligionen. Was in den meisten Zirkeln und Szenen da abläuft, hat nichts mit den ursprünglichen, spirituellen Ritualen unserer Vorfahren zu tun. Wenn irgendwelche Teens meinen, sie führen okkultistische Zeremonien oder Hexenzirkel aus, ist das in der Regel nichts als total verfälschter Popanz. Dann versuchen sie, es besonders toll und echt zu machen, und dann wird es gefährlich, wenn Drogen wie Pilze, Stechapfel, Tollkirsche und so weiter ins Spiel kommen.“
„Aber wenn es dir um gesicherte Informationen über die Bräuche und Rituale der vorchristlichen Naturreligionen geht, dann hast du schon ein Problem. Weil dort selten etwas schriftlich dokumentiert wurde. Eine mündliche Überlieferung fand nicht mehr statt, nachdem die katholische Kirche über Jahrhunderte alle Andersdenkenden systematisch verfolgt und ausgerottet hat.“
„Schon richtig, Mike! Aber gerade das macht es ja so interessant. Es ist sozusagen Detektivarbeit. Und das betreibe ich nach wie vor noch, als Hobby sozusagen. Es macht mir einfach Spaß, da auf Spurensuche zu gehen, Infos zusammenzutragen und auszuwerten. Auf ihre Authentizität zu prüfen.“
„Du betreibst also Forschung. Und hast dir da eine echt schwieriges Fachgebiet rausgesucht. Aber ich habe einen Studienkollegen, der einen Lehrstuhl für Anthropologie in München hat. Wenn du willst, gebe ich dir seine e – mail. Der beschäftigt sich mit ganz ähnlichen Themen.“
„Gerne. Auch wenn ich eigentlich viel zu wenig Zeit dafür habe. Aber nachdem ich mich vor ein paar Wochen mal wieder von meinem Lebensgefährten getrennt habe, ist da schon wieder was drin.“

Claire verschluckte sich an ihrem Aperol, hustete, lachte und rang nach Luft, während Mike ihr betont vorsichtig zwischen die Schulterblätter klopfte.
„Nur keine Hemmungen, Mike! So wie du mich tätschelst, atme ich den Schluck nur noch tiefer ein.“
Ihr Gesicht hatte beinahe den Farbton ihrer Haare angenommen. Während sie sich den Mund mit Mikes Serviette abputzte – aus ihrer eigenen hatte sie ein Hütchen für Charon gebastelt – erspähte sie ihren Vater, der einigermaßen verloren am Eingang des Biergartens stand, und sich suchend umsah. Immer noch hustend hob sie den Arm und winkte ihm zu. Roland setzte sich zwischen Mike und Charon und wischte sich mit Mikes Serviette den Schweiß von der Stirn. Claire wollte etwas sagen, musste aber stattdessen erneut husten und ließ es einfach bleiben.

„Also, ich hatte schon gedacht, ich bin im falschen Lokal. Wartet ihr schon lange? Hatten wir nicht sieben Uhr gesagt?“
„Nein, Paps, eigentlich halb sieben. Außerdem ist jetzt viertel nach. Aber das macht nichts.“
„Gregorij! Schön, dich mal wieder zu treffen! Sehr eleganter Hut, aber der andere damals stand dir besser.“
„Nur arbeite ich jetzt nicht mehr als erfolgloser Werbetexter, sondern für eine Bank. Da schreibt der Dresscode eben zwangsweise Hüte aus Papierservietten vor. Die entsprechende Unterwäsche soll auch noch kommen, aber dann kündige ich; versprochen!“
„Gut, sehr gut! Ich hätte noch einen Job für dich in meinem Laden; angelaufenes Silberbesteck abstauben, zum Beispiel.“
„Wenn das noch immer das Wertvollste ist, was ich bei dir abstauben kann, dann bleibe ich lieber bei der Bank. Ist doch ein viel saubereres Geschäft.“

Sie bestellten Gegrilltes, das in riesigen Portionen vor ihnen aufgefahren wurde. Immer noch lastete die Hitze auf der Stadt, aber Gerüche und Gespräche wirkten angenehm entspannend. So kamen selbst Mikes Gedanken zur Ruhe, daß endlich Raum für gesunden Appetit frei wurde. Beim Essen rückten die belastenden Ereignisse der letzten Tage immer mehr in den Hintergrund, je weiter sich sein Bauch mit Steaks und Bratkartoffeln füllte. Zum Abschluß des Mahles tranken sie Mirabellenschnaps. Claire ging dabei leer aus, weil sie an diesem Abend Keyholderin der Autoschlüssel spielen musste. Als Entschädigung ließ Mike dafür unter dem Tisch seine Hand über ihren Oberschenkel wandern, drängte den Saum ihres Kleides immer weiter in die Defensive, bis seine Finger kurz vor dem Ziel auf metallenen Wiederstand stießen. Claire entfuhr ein leises Zischen, kurz darauf traf ein Absatz Mikes Knöchel. Seine Hand verschwand von der Blechbarriere ihres Schoßes und legte sich dafür um ihre Schulter. Sie kuschelte sich bereitwillig an, zog seinen Arm enger um sich und küsste wie beiläufig die unanständigen Finger.

Charon hatte von seiner Arbeit erzählt, von Fonds und Trusts und Firmenpleiten, hatte sich Rolands Banker – Bashing anhören müssen und versucht, ihm die Notwendigkeit funktionierender internationaler Finanzmärkte klar zu machen. Gleichzeitig stellte er die Wichtigkeit von strengeren Regeln und Kontrollen heraus. Roland blieb natürlich stur, als eingefleischter Sozialist waren sämtliche Geldgeschäfte und Transaktionen, bei denen kein unmittelbarer materieller Gegenwert bestand, das Werk des Teufels an sich. Wie genau sie auf alte tschechische Uhren zu sprechen kamen, war Mike ein Rätsel. Bei den Diskussionen über Banken hatte er sich ausgeklinkt, die Nähe seiner Frau genossen und versucht, dabei an gar nichts zu denken.

„Aha. So eine Uhr schenkst du Claire und Mike? Die muss an die tausend Eu wert sein.“
„Ach wo. Mehr als zweihundert hätte ich nie und nimmer dafür bekommen.“
„Kommt drauf an, wo du sie verkauft hättest. Ich kenne Leute, die hätten sich um das Stück gerissen.“
„Für gewöhnlich verkaufe ich meine Ware in meinem Laden.“
„Bist du nie auf die Idee gekommen, dich auch online zu präsentieren? Wenigstens mal bei ebay, das ist nun wirklich keine große Sache.“
„Ebay? Bah, Gregorij! Du weißt genau, was ich von dem ganzen Quatsch halte.“
„Der ganze Quatsch würde dir einen Haufen Geld einbringen.“
„Und vor allem einen Haufen Ärger. Unsere kleine Claire hier hat mir irgendwann mal Internet eingerichtet, mir einen account oder so gemacht. Da war ich zwei oder drei Mal drin. Ist nichts für mich.“
„Ohne Internet läuft bei mir gar nichts. Alleine schon beruflich, die meisten Geschäfte werden nur noch online abgewickelt.“
„Ja, das sind aber aus meiner Sicht auch keine wirklichen Geschäfte.“
„Du musst es wissen Roland, es ist dein Geld. Wie bist du überhaupt an die Uhr gekommen, wenn du sie nicht im Netz gefunden hast?“
„Urlaub im Erzgebirge. Angeln und Wandern, was dachtest du denn? Über die Dörfer gefahren, mit den Leuten geredet. So findet man die besten Sachen.“
„Hast du Zertifikate für das Teil?“
„Aber sicher! Alles korrekt. Frag doch mal deine platonische Ex – Geliebte, wenn sie Mikes Ohr zur Gänze aufgegessen hat. Vielleicht überlässt sie dir die Uhr. Ihr Ehegatte ist jedenfalls nicht so begeistert von dem Teil.“

Mike wollte protestieren, aber Claire kam ihm zuvor.
„Nene! Geschenkt ist geschenkt. Wir sind hier nicht bei den Hobbits, wo Geschenke immer weiterwandern, weil keiner sie haben will. Weil nämlich die Uhr auch nur für Mike und mich wieder tickt. Und bimmelt. Sie mag uns, glaube ich.“
„Sie läuft also? Alle drei Zeiger?“
Mike seufzte, Charons Interesse an der etwas verrückten Standuhr war ihm unverständlich. Am liebsten hätte er das Thema schnell wieder fallengelassen.
„Ein Zeiger zeigt die Stunden, ein anderer die Minuten. Man weiß halt manchmal nicht, welcher welcher ist. Und der dritte Zeiger steht völlig unbewegt auf der Zwölf, wenn’s dich interessiert.“
„Du und Claire, ihr könntet mich mal auf ein Bier einladen. Ich bring die Uhr vollständig zum Laufen. Ihr werdet begeistert sein.“
Überrascht zog Roland die Augenbrauen hoch.
„Du kennst dich mit Uhrwerken aus, Gregorij? Da schau her!“

„Wir haben doch alle so unsere Sonderheiten und Geheimnisse. Oder nicht, Claire?“
Warum musste Charon das jetzt auch noch ansprechen? Claire legte nicht unbedingt großen Wert auf das Thema, jedenfalls nicht, solange ihr Vater anwesend war.
„Es sind aber keine Geheimnisse, Charon. Mike weiß über alles bescheid, was ich damals angestellt habe.“
„Respekt. Da gehört viel Mut und Vertrauen dazu, das in einer Beziehung aufzuarbeiten.“
„Naja, ich weiß nicht alles, Gregorij, ich weiß zum Beispiel nicht, in wie weit du damals an Claires Affären beteiligt warst.“
„Beteiligt? Nicht im Geringsten. Ich war nur der, bei dem sie sich dann ausgeheult hat.“
„Ich weiß auch keine Einzelheiten, weil’s mich nicht interessiert. Sie hat mir erzählt, wieviele es waren und wie lange es ging. Dann haben wir uns gezofft, dann haben wir über das Warum gesprochen, dann haben wir zusammen geweint und zum schluß haben wir miteinander geschlafen.“
„Au ja, das war unser Urlaub in Spanien. Das Wetter war Scheyße, die Stimmung mies. Bis wir reinen Tisch gemacht haben. Saßen wir nicht mindestens drei Tage ununterbrochen im Regen auf dieser Klippe und haben geheult?“
„Ich kann mich nur noch daran erinnern, was wir danach im Zelt gemacht haben. Bis wir gemerkt haben, daß unter der Luftmatzratze ein Ameisenvolk wohnte.“
„War das ekelhaft, Mike!“
„Aber aufregend.“

Mike schüttelte sich vor Lachen bei der Erinnerung daran, wie sie nach der dritten oder vierten Nummer am Stück plötzlich beide splitterfasernackt aus dem Zelt geflitzt waren, einen wahren Veiztanz vor den verblüfften Augen der anderen Campingurlauber aufführend, um die Ameisen vom Körper zu schütteln. Claire konnte sich immerhin soweit zusammenreißen, um Charon und Roland die ganze Anekdote zu erzählen, worauf Charon ebenfalls lachend über dem Tisch lag. Roland war anscheinend weniger erpicht auf solchen Geschichten, runzelte lediglich die Stirn und schüttelte den Kopf.

Als Charon sich wieder unter Kontrolle hatte, wandte er sich immer noch prustend und giggelnd an Claire.
„Gehört das auch zu deinen ganz besonderen Interessen, Sex mit Ameisen?“
Während die Angesprochene ihm lediglich die Zunge herausstreckte, war Mike überrascht, starrte konsterniert seine Frau an.
„Was meint dieser Banker jetzt bitte damit, Fähe? Vielleicht würde es mich doch mal en détail interessieren, was du so mit deinen Liebhaberinnen getrieben hast…“
„Nichts so ausgefallenes wie Ameisen auf jeden Fall. So’n büsschen was hab‘ ich schon ausgetestet, damals. Aber nichts davon war annähernd so gut wie alles zwischen uns, Mike, das weißt du. Und es war nie Liebe im Spiel, mit keiner von ihnen.“
„War’s ja bei mir auch nicht, in Kolkata…“

Claires Vater war aufgestanden. Man sah ihm an, daß das Thema ihm nicht unbedingt behagte.
„Kinders, das ist jetzt nichts für einen alten Herrn wie mich. Muss auch an mein Herz denken. Außerdem wird’s langsam spät, ich muss ins Bett.“
„Und ich muss morgen auch wieder arbeiten. Claire, Mike, schön war’s. Wenn ihr wollt, ruft mich mal an.“
„Ich wollte die Runde nicht auflösen. Ich find’s schön, wenn ihr so ausgelassen über eure Affären schwadroniert. Ist nur nichts für meine väterlichen Ohren, das ist alles. Nur eins noch Mike! Weil so ein bisschen bin ich doch schon im Bilde: Wenn du erzählst, daß bei dir damals in Indien keine Liebe im Spiel war, tust du dann Sangita nicht vielleicht unrecht?“

Mike, der eben auch aufstehen wollte, um Roland zu verabschieden, erstarrte.
„Verdammt, woher weißt du denn eigentlich davon?“
Claires Vater streckte den Zeigefinger aus und richtete ihn erst auf Charon, dann auf Claire, und zum Schluß auf Mike.
„Ich habe die Geschichte von ihm gehört. Gespräche unter Anglern. Er weiß sie von ihr: Geschwistergetuschel, sozusagen. Und sie hat es ja letztlich von dir selbst erzählt bekommen.“
„Ähm, stille Post, oder wie?“
„So kann man’s nennen. Aber allein die Tatsache, daß du meiner Tochter den Namen von deiner Bekanntschaft erzählt hast, sie dir aber offenbar nicht einen einzigen Namen ihrer Liebhaberinnen verraten hat, sagt doch schon Einiges aus.“




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
24. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 14.06.11 23:50

6.

Auch wenn Mike durchaus überrumpelt und auch ein wenig sauer darüber war, was Claires Vater so alles wusste, und vor allem wie er mit diesem Wissen herauskam, so ganz unrecht hatte er eigentlich nicht. Er traf Sangita damals in Kolkata.

Eigentlich wollte er die Stadt in dem Moment wieder verlassen, als er hineinfuhr, aber daraus wurde letztlich ein Aufenthalt von fast vier Wochen. Keine der großen, indischen Metropolen, die er bisher auf seiner Reise gesehen hatte, war mit diesem pulsierenden Riesenhaufen vergleichbar, der eine zugleich abstoßende und mitreißende Atmosphäre besaß. Nirgendwo hatte er zuvor die unglaublichen Gegensätze dieser Welt so crass und gleichzeitig harmonisch miteinander wetteifern sehen. Verderben und Tod, Verwesung und Müll bildeten eine Einheit mit blühendem Leben, Farbenrausch, spiritueller Erleuchtung und grenzenloser Freude. Ließ man sich darauf ein, zog einen diese Stadt bald in ihren Bann, saugte einen in ihren Strudel, als wäre man süchtig.

In den ersten Tagen erkundete Mike die Stadt, besuchte Tempel und Sehenswürdigkeiten auf eigene Faust. Dabei war er meistens mit dem Motorrad unterwegs. Er kam nicht umhin feststellen zu müssen, daß es nicht einen brauchbaren Stadtplan gab. Überall wurde gebaut, nicht nur Häuser, Paläste und die unausweichlichen Slums, die um die Prachtbauten wucherten, sondern auch viele Straßen schienen sich von Tag zu Tag zu ändern. Neue Flyovers wurden aus dem Boden gestampft, alte abgerissen. Die Hälfte seiner Zeit verbrachte er damit, sich zu verfahren und mit der anschließenden, abenteuerlichen Suche nach einer Straße, die er kannte. Für gewöhnlich landete er dabei früher oder später in überfüllten Gegenden, wo kein Mensch englisch sprach, aber alle jederzeit lachend und begeistert auf Bengalisch auf ihn einredeten.

Indische Frauen faszinierten ihn, schon seit er den sonderbaren Subkontinent betreten hatte. Ihre natürliche Schönheit, die prachtvolle, bunte Kleidung; selbst die Ärmsten trugen stets etwas Farbenfrohes, wunderbar kompliziert Anzulegendes. Eine Europäerin in einem Sari wirkt normalerweise bestenfalls lächerlich, aber diesen Frauen stand es. Dazu gehörte eine unglaubliche Selbstverständlichkeit des Schön – Seins, eine Ausstrahlung, die gleichzeitig erotisch und zurückhaltend war.

In dem eher billigen Hotel, wo Mike seine Nächte (oder was davon übrig war) verbrachte, arbeitete Sangita als „Zimmermädchen“. Irgendwann hatte sich Mike angewöhnt, während der größten Hitze am Nachmittag auf seinem Bett im Hotel ein wenig zu dösen. Das Zimmer hatte keine Klimaanlage, nur einen großen Deckenventilator, der die stickige Hitze im Raum etwas umwälzte. Durch die geöffneten Fenster drang Straßenlärm, Staub und Gerüche hinein, während Mike in Boxershorts auf dem Bett lag, ein nasses T – Shirt über dem Gesicht und schwitzend döste.

Noch Jahre später assoziierte er mit großer Hitze immer das Geräusch des Ventilators (flapflapflapflap…), manchmal hörte er es sogar in seinen Gedanken, obwohl weit und breit kein solches Gerät lief.

Bei um die vierzig Grad Hitze ist es fast nicht mehr möglich, überrascht zu sein. Als Sangita unvermittelt im Zimmer auftauchte, um frische Handtücher und Bettwäsche zu bringen, war Mikes Körper zu keinem größeren Ausdruck der Verwunderung fähig, als die Augenbrauen etwas hochzuziehen. Anscheinend hatte er nicht daran gedacht, das entsprechende Schild herauszuhängen. Sangita allerdings war die Situation durchaus unangenehm. Sie begann sich zu entschuldigen, entschuldigte sich weiter und weiter, entschuldigte sich immer noch, als Mike sich endlich aufsetzen konnte, und die junge Inderin unterbrach.

„No problem, it was my fault. Just forgot to hang the card out. No need for apologize…”
“It’s never the guest’s fault, Sir, so I really, really…”
“Listen, please! You did not disturb me or anything. If you want, you may now do what you’re here for, or you may check another room first. I won’t mind.”
“Ok, Sir. I just – well, I was maybe just surprised seeing you on the bed and sleeping.”
“And nearly naked. I hope you weren’t offended.”
“Oh, no! For You this is allright. ‘Cos You’re a man, so…”
“Ah! That makes the difference. Babaree…”
“Babaree? You speak Bangla?”
“Caught some words in the streets, maybe. Not more than that.”
“Fantastic, really! I’m very proud you learned it.”
“What’s your name?”
“Sangita.”
“Bhalo, Sangita! Could you do me a favour?”

Mike ließ es langsam angehen.Ein paar Mal lud er sie zum Tee ein oder zum Essen, was sie stets höflich aber bestimmt ablehnte. Dabei lotete er vorsichtig ihre Situation aus. Sie war seit drei Jahren Witwe, hatte eine vier Jahre alte Tochter, lebte bei ihrer Mutter und ihren beiden Brüdern, die allesamt arbeitslos waren. Er bot ihr Geld an, dafür daß sie ihm ein bisschen die Stadt zeigte: Die kleinen Tempel und Märkte jenseits der Touristengebiete. Nach einigem Zögern ging sie darauf ein, nahm auch das Geld an. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als er ihr auf dem Blumenmarkt eine Kette anfertigen ließ. Sie nahm das Geschenk an, verweigerte aber danach jeden Dollar oder Rupi, den er ihr anbot.

Das erste Mal schliefen sie in Mikes Hotelzimmer miteinander. Mike war überwältigt, wie sie so auf ihn eingehen konnte, ohne daß sie ihn kannte, trotz aller kultureller Unterschiede. Er bemerkte ihre Gier, bediente ihre Lust. Sie schien in der Nacht wie befreit zu sein, als fiele etwas von ihr ab, das sie lange belastet hatte. Nicht nur, daß sie Mike ein Gefühl wie im siebten Himmel bescherte, es war offensichtlich, daß es ihr kaum anders erging. Umso verblüffter war Mike, als sie danach zu weinen begann.

„What’s up, Sangita? What was wrong?“
“Nothing. You’ve been perfect, really.”
“So why d’you cry?”
“Don’t know.”
“You slept with me, so you can talk to me as well.”
“It’s just… Well, there hasn’t been any man for me, since my husband died.”
“Why?”
“Cos it’s not good. I should find a new husband, for me, for my daughter, but that’s very difficult. For a widow.”
“But you could date someone, maybe it’s not forever, but just having a man for a few months… Maybe better than nothing.”
“I’m not doing that. I’m not a whore, ok? No man will marry me anymore, if I go out with different lovers. That’s not possible.”
“But You just did it. Whith me.”
“And that is my problem. I feel ashamed. I know, I should not tell you, because it’s not your fault. But I shouldn’t have done it. I know, that you will soon fly back to Germany, I will stay and have to deal with my problems. I have to deal with not beeing able to find a husband, not earning enough money to send my daughter to a good college.”
“Ah, bullshit, Sangita. Noone knows, what we’ve done tonight. You’re such a beautiful woman, you’re young, you have a good job, you’ll be the perfect wife for every man!”
“But I am a widow. Men like virginal wifes, that’s the point. And about us: Maybe noone knows. But I do. That’s what counts in the end, Mike.”
“Holy Shit! You really shouldn’t blame yourself for living. No matter what you’ve done, if someone loves you.”
“Please don’t curse the gods. Cursing the gods means cursing yourself. Bad Karma, ok?”
“I’ll do some Poojah tomorrow, allright? You may advice me with it.”
“That’s not a joke, Mike. It’s part of my problem.”
“Are you religious?”
“Everyone is religious. For my part, I know the gods would not dislike me for making sex with you. But others may think different. My mother for example.”
“But she will never know.”
“Oh, yes! That’s easy talk for you. You can take your flight and leave this all behind. Nevermind your little indian romance. But I can’t. I’m bound here and live with the people among me, also with myself. That’s not so easy as you might think!”

Mike dachte an Claire. Fühlte er Schuld? In gewisser Weise schon, auch wenn er dadurch noch längst nicht in der Lage war, Sangitas Gefühle nachzuvollziehen. Sein Gewissen nagte, weil er seine Frau betrog, die er dennoch liebte. Er hoffte, daß Claire ihm diese Affäre verzeihen würde. Gleichzeitig aber traf er sich weiterhin mit Sangita, er schlief mit ihr und sie mit ihm. Sie hatten beide ein Problem damit, aber sie taten es trotzdem. „Ami tomar bhalobashi.“ Er hatte Sangita gefragt, was das hieße, sie hatte sich geweigert, es zu übersetzen. Er konnte es sich denken. Er hatte Angst, Angst um sich und um Claire, aber auch Angst um Sangita. Trotzdem machte er weiter, weil er sich irgendwie dazu gedrängt fühlte. Wie eine innere Stimme, die ihm immerzu einflüsterte, daß er das Richtige tue, daß es wichtig sei, daß es keine Rolle spiele, ob er nun zweimal oder zehnmal mit Sangite fyckte.

Am Ende waren es zwölf Male. Beim vorletzten Mal erzählte er Sangita von Claire. Nicht nur das, er erzählte ihr, wie sie ihre Tochter verloren hatten, warum er durch Indien fuhr, warum seine Frau nicht bei ihm war. Sangita hörte sich seine Geschichte kommentarlos an, während er auf dem Bauch lag. Er erzählte, sie massierte ihn. Als er verstummte, sagte sie immer noch kein Wort. Sie setzte die Massage fort, etwa zehn Minuten später stand sie auf und zog sich an.

„I’m sorry. You’re so silent, Sangita. I know, I should have told you before about my Wife, but…“
“Maybe for you it’s ok like this. For me, it is not. Same with your wife, Claire. You just told me, that I’ve robbed the husband of another woman. I don’t feel very well with this.”
“But that’s my fault.”
“No. Since you’ve told me, I’m feeling guilty. I have to feel guilty. I can’t change; I’ve to cope with it. Remember what I said some nights ago? What I refused to translate?”
“Ami tomar bhalobashi?”
“You mustn’t say it. I wish I didn’t say it, though. It means “I love You”. And I meant it.”

Zwei Tage später trafen sie sich zum letzten Mal. Zunächst lief alles ab wie gewohnt: Sie aßen zusammen, redeten und lachten, irgendwo im Maidan spielte eine Band, sie setzten sich dazu, ließen sich von den Klängen verzaubern. Anschließend schlichen sie sich in Mikes Hotelzimmer. Sangita zog sich aus, zog Mike aus und wusch ihn. Als er sie aber aufs Bett ziehen wollte, stieß sie ihn zurück. Sie zog den Gürtel aus Mikes Hose und und drückte ihm den Riemen in die Hand. Kommentarlos beugte sie sich über einen Sessel, präsentierte ihm dabei ihre Rückseite. Die Beine leicht gespreizt, die Knie durchgedrückt, stützte sie sich mit den Händen auf der Sitzfläche ab.

„What the hell are you doing, Sangita?“
Als sie kicherte, richteten sich die Haare auf Mikes Unterarmen auf.
„You really have no idea, what to do now, Mikey?“

“I don’t… You’re kidding, Sangita. I will not do that!”
“Why not? For me, this is normal. If I make a mistake, I receive punishment. Was like this with my husband and with my father before. Just give me some relief for cheating your wife, and I’ll be satisfied. After that, we can have some sex.”
“Are you making fun of it? Listen, I feel a little annoyed by this.”
“I’m not making fun. It’s serious. Cos I will feel better this way. And I think you feel the same way, don’t you?”
“No. No way. Why should I feel better by beating you up? That’s ridiculous.”
“Then just consider it as some playing. Just having some fun.
“Sort of weird play, though.”
“For you maybe. You starting now?”

Das tat er. Trotz brütender Hitze im Zimmer, obwohl ihm der Schweiß aus allen Poren trat, bildete sich Gänsehaut auf seinen Armen. Er hatte sich vorgenommen, ihr pro forma ein paar Mal mit dem Gürtel möglichst sanft über den Hintern zu streichen. Aber es kam anders. Über das, was er anfangs tat, ließ Sangita nur ein verächtliches Schnauben hören. Kurze Zeit später brauchte sie ihn nicht mehr weiter anzustacheln. Die Nackenhaare waren nicht das Einzige, was sich aufgerichtet hatte. Beflügelt von ihrem mehr lust – als schmerzvollen Quieken ließ er sich bald zu mehr hinreißen. Er entdeckte daß es ihm gefiel, wenn sie bei jedem Schlag zusammenzuckte, ihm gefiel das Zittern ihrer Oberschenkel und wie sie zischend die Luft zwischen den Zähnen herauspresste, wenn er sie besonders gut getroffen hatte. Als sich das Zittern über ihren ganzen Körper ausbreitete, hörte er auf.

Unter dem Flappen des Ventilators an der Zimmerdecke und den Augen eines nimmersatten Geckos an der Wand, der die Mückenpopulation im Raum in Grenzen hielt, fielen sie übereinander her. In dieser Nacht liebten sie sich so lange und intensiv, wie sie es bisher noch nie getan hatten. Ohne darüber nachzudenken griff er kräftig in ihre geröteten Pobacken. Sie stieß einen überraschten Schrei aus und nahm ihn im selben Moment so in sich auf, wie er es noch nie erlebt hatte.

Wenige Tage später saß er in einer Maschine der Air India, flog von Kolkata nach Mumbai und von dort weiter nach Frankfurt. Zurück nach hause, zurück zu Claire. Sangita würde er nicht wieder sehen. Er hatte ihr einige emails geschrieben, sowie zwei Briefe. Sie hatte nie geantwortet.





© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
25. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 15.06.11 19:31

7.

Aus einer Laune heraus fuhr Mike auf dem Nachhauseweg beim Baumarkt vorbei, um einen Deckenventilator zu kaufen. Später balancierte er auf einer wackeligen Leiter im Schlafzimmer schräg über dem Bett, hantierte mit Bohrmaschine und Hammer, während Claire sich die Augen zuhielt.

„Diesmal wirst du dich umbringen, Mike! Als du das letzte Mal eine Lampe montiert hast, musste ich den Rettungsdienst holen. Ich hasse es, meinen Ex – Kollegen zuschauen zu müssen, wenn sie dich versorgen.“
„Keine Sorge, da passiert nichts. Diesmal ist die Sicherung aus. Sie ist doch aus, oder?“
„Ach du Scheyße!“
„Was?“
Claire kicherte nervös; als er um ein Haar das Gleichgewicht verlor, beeilte sie sich, ihn zu beruhigen.
„Natürlich ist sie aus. Auser geht nicht.“
„Siehste wohl!“

Die Leiter schwankte, Mike geriet ins Taumeln und der Bohrer ins Trudeln, verkantete sich und ein unschön großes Stück Putz brach aus der Decke. Während Bruchstücke auf die über das Bett gebreitete Plane rasselten, heulte die Bohrmaschiene verzweifelt auf, als Mike das Gerät erschrocken mit aller Kraft nach oben rammte, ohne dabei den Schalter für Betrieb loszulassen. Es knallte im Flur, die Maschine verstummte, das Flurlicht quittierte gleichzeitig den Dienst, als die Sicherung dort ebenfalls heraussprang. Mike ruderte wild mit den Armen; im nächsten Moment landete er auf dem Bett, dessen Rost mit einem unheilvollen Knacken nachgab.

Bis auf eine schmerzhafte Prellung am Schienbein, wo ihn die umstürzende Leiter getroffen hatte, blieb er unverletzt. Claire kühlte vorsichtig die Schwellung mit einem nassen Tuch, wobei sie immer wieder lachen musste.

„Ich hab’dich gewarnt, oder?“
„Mäkele sie nicht herum, sondern kühle sie die Wunde ihres Ritters, Weib!“
„Wenn du eine Bohrmaschine in die Hand nimmst, ist immer Ärger im Anflug. Also stell dich nicht so an, du wirst den blauen Fleck schon verkraften.“
„Ha! Welch Impertinenz! Sollte ich dir vielleicht auch den einen oder anderen blauen Fleck verpassen?“
„Du? Du kannst ja angeblich noch nicht mal aufstehen.“
„Dann schmier endlich von dem Diclo drauf. Das Einzige, was wirkt.“
„Diclo? Auf eine lächerliches, winziges Hämatom?“
„Ja, eins das ganz schlimm wehtut. Also gut, ich verspreche hiermit feierlich, nie wieder eine Borhmaschine anzurühren. Und was den dämlichen Ventilator betrifft: Wär‘ doch ein gutes Geschenk für Theo, oder was meinst du?“
„Hö? Wollten wir nicht einen Olivenbaum kaufen?“
„Ah, richtig. Vielleicht wär’s was für deinen Chef?“
„Huch, wie originell. Und so gar nicht exzentrisch. Ich mach dir `nen besseren Vorschlag. Wir laden Roland ein, und der schraubt das Ding so an die Decke, daß auch das Loch verschwindet. So, wenn ich noch weiter kühle, friert dein Bein ab. Wenn du mir immer noch den Hintern versohlen willst, musst du dann mal aufstehen.“
„Bin eigentlich nicht wirklich in Stimmung dafür.“
„Umso besser, ich nämlich auch nicht so ganz.“

Claire hätte sich mehr über eine Klimaanlage als über einen Ventilator gefreut. Trotz der offenen Fenster war es heiß im Schlafzimmer, so daß beide auf den Decken anstatt darunter lagen. Claire starrte das gezackte Loch in der Zimmerdecke an.

„Wir sind schon irgendwie arg merkwürdig, Mike. Sind wir abnormal?“
„Was? Wieso das denn? Ich finde uns ziemlich durchschnittlich.“
„Ach ja? Das könnte jetzt daran liegen, daß du nicht mit Keuschheitsgürtel rumläufst. Ich glaube, die meisten unserer Freunde und Bekannten würden uns für total pervers halten, wenn sie das wüssten.“
„Aber sie wissen es nicht.“
„Mein Vater ahnt etwas…“
„Egal. Der ist selbst wunderlich genug.“
„Und in den letzten Tagen hatte ich ab und an das Gefühl, daß meine Kollegen auf der Arbeit was gesehen haben.“
„Dann pass ein bisschen mehr mit deinen Klamotten auf.“
„Es geht nicht nur darum. Es fühlt sich einfach komisch an. Weil ich immer was verstecken muss. Das nervt. Und wegen den Parties jetzt am Wochenende, da würd‘ ich vielleicht…“
„Nönö! Kommt nicht in Frage. Was soll schon passieren? Außerdem bin ich ja dabei. Und ich werde unglaublich scharf sein, wenn wir nach hause kommen. Du wirst genauso spitz sein, und dann geht’s ab!“
„Das Fest von meinem Konzern wäre ja ok, das wird sowieso eher eine steife Sache. Aber bei Theo, das wird ein ziemlicher Spießrutenlauf.“
„Vielleicht lässt du’s einfach?“
„Was lassen?“
„Das Versteckspiel. Wir könnten uns outen. Und dann scheyß drauf, wer ein Problem damit hat, soll sich verpissen. Schert uns doch nicht. Und ganz ehrlich: Ich glaube den meisten wäre es sowas von egal.“
„Ohne mich! Ganz gruselige Vorstellung, wenn das jemand merkt, sterbe ich vor Scham!“
„Wie du meinst…“

„Und trotzdem. Manchmal ist es einfach… Weiß nicht, fühlt sich irgendwie schizophren an.“
„Wie, schizophren?“
„Weil einerseits bin ich die Claire, wie unsere Freunde und meine Kollegen mich kennen. Normal, nett, kaum verrückt, nur manchmal ein bisschen vergrämt, wegen Fehlgeburt, und weil ich keine Kinder mehr bekommen kann. Und auf der anderen Seite steh‘ ich auf so obskures Zeug, ich hab‘ Träume, in denen ich regelrecht gequält werde, und bin superglücklich, wenn ich das mit dir noch ausleben kann.“
„Ich finde nicht, daß das schizophren ist. Menschen sind so voller Wiedersprüche. Schau dir doch mal die ganzen Normalos in unserer Umgebung an, dann versuch dir vorzustellen, was die vor dir geheimhalten. Wahrscheinlich würdest du ne Menge ganz ähnliche Gedanken sehen, wenn du denen in den Kopf schauen könntest.“
„Kann sein.“
„Die meisten sträuben sich nur, das vor sich selbst einzugestehen. Andere tragen es exzessiv nach außen. Beides muss ja nicht sein. Ich glaube, so wie wir es machen, ist es schon ok. Und wenn jemand was merkt: Claire, es ist doch egal. Kein Mensch würde was dazu sagen. Da kannst du dich auf die Schamhaftigkeit deiner Mitmenschen verlassen. Ist es nicht das Entscheidende, wie du selbst dabei empfindest, und was du willst? Es geht doch auch niemanden was an, wie zum Beispiel Frau Raisch – Wickert ihren Sexualtrieb befriedigt.“
„Brrrrrrr! Jetzt hab‘ ich Angst.“
„Eben. Unsere Sexspiele gehen nur dich und mich an. Kaum jemand wird sich darüber das Maul zerreißen.“
„Oh, unterschätze nie den Tratsch! Die fünfte Gewalt einer jeden Gesellschaftsform.“
„Und wenn schon.“

„Mike?“
„Claire?“
„Hast du dir schonmal vorgestellt, jemand ganz anderes zu sein? Oder in einer ganz anderen Welt zu leben?“
„Klar. Als Kind sowieso. Aber Kinder leben immer in einer eigenen Welt. Außerdem hab‘ ich schon mal in einer ganz anderen Welt gelebt. Bei meiner Flucht nach Cassandras Tod.“
„Ne, so meine ich das nicht. Extremer. Ich meine, in eine wirklich ganz fremde Welt zu geraten, die Erde zu verlassen. So wie in den Büchern, die ich in meiner Kindheit gelesen habe. Alice im Wunderland, die Chroniken von Narnia, die Unendliche Geschichte…“
„Ich weiß nicht. Als Kind ist das doch ganz normal. So mit zwölf oder dreizehn habe ich manchmal wochenlang in solchen Welten gelebt. Als kleiner Hobbit, als Bastian Baltasar Bux, als Winnetou…“
„Howgh, mein grüner Bruder.“
„Aber diese Welten verblassen irgendwann. Auch wenn ich noch meinen Spaß an solchen Geschichten und Märchen haben kann, es ist nicht mehr so real wie früher. Und irgendwann ist das Fremdeste, das Außergewöhnlichste und Andersartigste, was man sich vorstellen kann, ein monatelanger Trip durch Indien. Aber ist es nicht genau das? Eintauchen in eine fremdartige, sonderbare Welt, voller Wunder und Mysterien. Manchmal habe ich mich in der Zeit wirklich wie ein Kind in einer Phantasiewelt gefühlt. Aber als Erwachsener muss man Träume in der Wirklichkeit suchen. Sonst bleiben es Träume, die dann einfach verschwinden.“
„Seh‘ ich anders. Bevor wir Cassandra verloren haben, war’s vielleicht so. Aber danach… Irgendwie gewinnt die Traumwelt mehr Bedeutung für mich. Mehr Substanz. Ich lebe in der Realität, ich mache meine Arbeit, verbringe mit dir meine Freizeit, aber dabei habe ich ständig das Gefühl, daß dahinter mehr ist. Manchmal kommt es stärker nach vorne, zum Beispiel, wenn ich den KG trage. Und das fühlt sich dann schizophren an. Als ob die feste, normale Wirklichkeit an den Rändern brüchig wird.“
„Weil du einfach mehr siehst, mehr wahrnimmst. Du hast eine starke Phantasie, die begleitet dich natürlich. Das ist so, wie die Sache mit den geheimen Gedanken der anderen Leute. Hinter der offensichtlichen Realität befinden sich bestimmt noch andere Wirklichkeiten. Weil jeder Mensch eine eigene Sichtweise auf die Dinge hat, und damit auch eine individuelle Wirklichkeit. Nur daß du vielleicht manchmal einen Teil davon durchschimmern siehst. Ist ja nichts Schlimmes.“




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
26. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 17.06.11 23:40

Drittes Kapitel:
Zwei Feste



1.


Stress arbeitete sich durch dicke Luft. Was über die Woche liegen geblieben war, drängte am Freitag nachmittag in geballter Form auf Claire ein. Ein Haufen nervtötende Kleinigkeiten von der wiederspenstigen Art: Normalerweise eine Reihe von „mal – eben – schnell – erledigt“ – Geschichten, beanspruchte nun jede Aktion in etwa die dreifache Zeit, die an anderen Tagen dafür nötig gewesen wäre. Ein Phänomen des Freitags. An diesem speziellen Wochentag gab es wie immer nichts, das einfach mal eben funktionierte. Alles dauerte länger, alles ging irgendwie auch dreimal schief dabei. Je näher es auf den Feierabend und das Wochenende zuging, desto mehr Probleme tauchten auf, viele davon in Form von Kollegen, die noch ganz kurz eine dringende Kleinigkeit benötigten.

Der Kopf fühlt sich an wie eine aufgedunsene, schwammige Masse, die Augen sind irgendwie viel zu dick und groß für die von der Evolution für sie vorgesehenen Aussparungen im Gesichtsschädel. Die Leitfähigkeit der Neuronen in den Fingern ist stark vermindert; Ataxie spottet dem cerebral verkrampfenden Drang, einfachste Koordinationsaufgaben in zügigem Ablauf gelingen zu lassen. Vielleicht wurde aber auch nur die Tastatur des Rechners gegen eine Miniaturausgabe mit entsprechend kleineren Knöpfen ausgetauscht. Man muß schließlich mit jeder noch so abwegigen Sparmaßnahme rechnen.

Als Claire um kurz nach sechs die Laborräume hinter sich zuschloss, hätte sie am liebsten laut geschrien. Oder beim Passieren der Sicherheitsschleuse einen Molotov - Cocktail über die Schulter zwischen all die sündhaft teuren Geräte und Maschinen geschleudert. Sie hatte keinen Molotov – Cocktail, noch nicht mal ein bisschen TNT oder C4. Sie hatte nur einen Stapel mit Berichten und zwei dicke Hefter mit völlig aussageunkräftigen Statistiken. Damit ließ sich keine vernichtende Explosion auslösen, damit ließ sich noch nicht mal jemand erschlagen. Aber allein der Gedanke half ein wenig. Immerhin hatte sie es geschafft, dabei lediglich eineinhalb Überstunden benötigt, die sie nicht bezahlt bekommen würde. Was ihr einigermaßen egal war, das Gehalt an sich war gewissermaßen den Aufwand wert.

Die Tür zu VonBosstejn Büro stand offen. Claire spielte mit dem Gedanken, sich vorsichtig zurückzuziehen, und die Unterlagen in das Fach ihres Chefs zu legen, das sich am anderen Ende des Korridors befand. Jetzt noch in ein Gespräch verwickelt zu werden, war so ziemlich das Letzte, worauf sie Lust hatte. Sie wollte nach hause, vor allem wollte sie zu Mike, dem Geheimniskrämer, dem verfluchten. Vorsichtig spähte sie ins Halbdunkel des Büros ihres Chefs und stellte fest, dass es verwaist war. Sie schüttelte ungläubig den Kopf; was immer dieser Mann treiben mochte, es war wohl nicht unbedingt vernünftig, die Tür zum Allerheiligsten so einladend offen zu lassen. Von einem Block auf VonBosstejns Schreibtisch stibitzte Claire einen Zettel. Sie zog einen eigenen Kugelschreiber aus der Tasche, um ihm eine kurze Nachricht zu hinterlassen, die sie gut sichtbar auf den Akten platzierte. Quasi im nächsten Moment war sie bereits auf und davon.

Mittlerweile hatte die Werkstatt auch den Polo wieder auf Vordermann gebracht, so blieb ihr immerhin die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln erspart. Außerdem saß Mike in dem unklimatisierten Kleinwagen, Claire hatte er den BMW überlassen. Dafür spannte er sie seit nunmehr zwei Tagen mit dieser zweifelhaften Überraschung auf die Folter. Natürlich versuchte Claire, ihm irgendwelche Infos zu entlocken, was er da für sie bereithielte. Mit einem halb spöttischen, halb mitleidigem Grinsen blockte er regelmäßig und enervierend ab. Nur auf die Frage, ob sie sich darauf freuen oder davor fürchten solle, hatte er ihr nahegelegt, beides zu gleichen Teilen zu tun.

Die Tragepause von Freitagabend bis Samstag nachmittag konnte wohl kaum die angekündigte Überraschung sein. Eine Wohltat war es trotzdem, wenn auch eine beinahe als zweifelhaft empfundene. Immerhin hatte Claire fast schon ein schlechtes Gewissen, neben der Gewissheit, dass noch etwas auf sie wartete, auf das sie sich zugleich freuen und sich davor fürchten sollte.

Vormittags schwitzten sie im Gewächshaus eines Gartencenters, wo sie auf der Suche nach einem hübschen, kleinen Olivenbäumchen waren. Die gab es in verschiedenen Größen, von sehr teuer bis ganz unglaublich teuer. Mike schien vor den Bäumchen mit den kleinen, mattgrünen Blättern zu meditieren, sein Gesicht war geprägt von abwesendem Blick und kleinen Schweißperlen auf den Schläfen. Claire hingegen hatte im Grunde genommen schon eine Entscheidung getroffen, den Baum betreffend. Weil Mike den Anschein machte, als wolle er es in dem Treibhaus den Oliven gleich tun und festwachsen, griff sich Claire seinen Arm, und zog ein bisschen daran.

„Mike? Schläfst du?
„Nö.“
“Also was ist jetzt? Nehmen wir den da?”
„We want: A Shrubbery!“
„No! Not the knights who say Ni!“

Zwei Großmütterchen mit blaugefärbten Haaren, die in dem Moment einen Wagen mit Hortensien vorbeischoben, schüttelten die Köpfe und dicken Kinnfalten und zogen mißbilligend die Nasen kraus. Nichts wie weg von dem verrückten Pärchen; was bitte gab es hier in einem gesitteten Gartencenter laut zu lachen? Mike befreite sich von Claires Händen, lief den zeternden Frauen ein paar Schritte hinterher, wobei er sie mit einigen furchtbaren „Ni!“ – Rufen vor sich her scheuchte.

Es war diese andauernde Hitze, die alle Leute verrückt machte. Normalerweise brauchten sie für die Fahrt vom Gartencenter nach Hause kaum zehn Minuten, an diesem Tag dauerte sie fast eine halbe Stunde inclusive zwei Beinahe – Unfällen mit einem Kieslaster und einem Radfahrer. Claire sehnte sich nach Abkühlung: Ein Gewitter, Fünf Tage Dauerregen, Sturm und Hagelschauer, Graupel… am besten dazu ein paar Schneeverwehungen. Umso unverständlicher erschien ihr Mikes beste Idee des Tages: Eine Joggingrunde um dreizehn Uhr, zur Zeit der größten Hitze und der absurdesten Ozon – Werte. Darauf konnte sie verzichten.

Lieber döste sie im Bikini auf einer Liege im Garten. Einen Sonnenschirm brauchte sie nicht, weil hohe, eintönig graue Wolken die Sonne verschleierten. Kein Lufthauch regte sich. Auch unter der Bewölkung dräute Hitze, schnell klebte alles an Claires Körper, so dass sie sich nach drinnen auf die Couch legte. Ein wenig besser war es dort, aber keine wirkliche Erleichterung. Theoretisch wäre es wohl das Beste gewesen, die Liege in den Keller zu stellen, dort unten war es immerhin ein paar Grad kühler. Aber es blieb bei der Theorie. Die Maxime für den Nachmittag besagte konsequente Untättigkeit.

Irgendwie hatte sich Claires Hand vom Verstand gelöst, um sich auf eine selbstgesteuerte Erkundungstour in einen Bereich zu begeben, der nach Berührung lechzte. Diesmal verwehrte kein unnachgiebiges Metall den Zugriff. Es war nicht so, dass die Berührung unter erotischen Hintergedanken erfolgte. Es war einfach ein gutes Gefühl. Ein bisschen reiben, ein bisschen Zwicken und Kratzen; die kurze Kontrolle, ob das Lustknöpfchen noch da war. Ein Gefühl von lässiger Freiheit nach Tagen des Eingeschränkt – Seins breitete sich aus.

Kurz bevor sich harmlose Berührungen zu etwas entwickeln konnten, was in eine andere Richtung ging, nahm Claire ihren Willen zusammen, zog die Hände zurück und verschränkte sie hinter dem Kopf. Abwarten. Ein bisschen Vorfreude, ein bisschen Angst vor Mikes Überraschung waren es wert, noch zu warten. In der pappigen, heißen Luft ließ sich sowieso nicht viel Wirkungsvolles ausrichten.

Halbschlaf verschaffte ihr Wachträume voller wirrer Gedanken und seltsamer Phantasien. Ein großer Teil des Reizes ihres Spiels bedeutete für sie genau diese – zumindest teilweise – erzwungene Einschränkung. Nicht nur was das Ausüben sexueller Handlungen betraf. Es waren ganz einfache Dinge, wie ein leichtes Jucken, das sie nicht bekämpfen konnte. Daß sie Teile ihres eigenen Fleisches garnicht oder nur sehr eingeschränkt berühren konnte. Somit wurde ihr Körper der eigenen Kontrolle entzogen, was hundsgemein, perfide, erniedrigend und dabei so unglaublich spannend und aufregend war. Erotisch aufregend auch, aber genau genommen war es mehr als das.

Aber alles war nur ein Spiel. Was sich dahinter abspielte, in ihrer Phantasie, ging häufig weit darüber hinaus. Einiges davon hatte sie Mike erzählt, aber längst nicht alles. Als Mike schweißüberströmt von seiner Joggingrunde zurückkehrte, war Claire mit der Vorstellung beschäftigt, wie es sein musste, die Kontrolle völlig entzogen zu bekommen. Wie gewöhnlich war die Vorstellung intensiv, schillernd bunt und beinhaltete keinerlei Notschlüssel, kein Nachgeben eines vernunftbegabten Schlüsselherrn, kein Erbarmen und keine Gnade für die arme Claire. Als Vorstellung nahm sich das so lebhaft und extatisch an, und für die Wirklichkeit gab es in dieser Phantasie keinen Platz. Oder aber jene brutalen, erbarmungslosen Teile dieser Wünsche machten gerade den reizvollsten Teil des ganzen Tagtraumes aus.

„Claire?“
„Hm?“
„Schläfst du?“
„Glaub‘ ich nicht. Zu warm.“
„Hör mal, ich geh eben schnell duschen. Willst du auch?“
„Was wollen? Ein Eis? Klar! Mit viel frischen Erdbeeren, bitte!“
„Duschen. Wenn wir um fünf bei Theo sein wollen…“
„Was? Schon so spät?“
„Halb drei.“

Nachdem Claire geduscht hatte, war es kurz nach vier. Großartig ins Zeug schmeißen musste sie sich nicht, Theo Lins war eher ein legerer Typ, ebenso wie die meisten von Mikes Freunden und Kollegen. Auf einer Grillparty im Abendkleid aufzutauchen wäre schlichtweg die Lachnummer. Blieb noch die Frage ob Jeans und Top oder ein leichtes Kleid für den Abend die bessere Lösung wären. Als sie merkte, dass Mike hinter ihr stand, wollte sie ihm zu gerne mit eben dieser Frage auf die Nerven gehen. Obwohl sie seine Antwort kannte. Bevor sie aber etwas sagen konnte, legte sich seine große, warme Hand auf ihren Mund. Sie schluckte die Worte hinunter.

„Bleib einfach stehen. Sag nichts, und dreh dich nicht um.“
Claire gehorchte der Anweisung, derweil es in ihrem Bauch leicht zu Kribbeln begann. Über ihre Augen legte sich ein schwarzes Samttuch, welches sogleich straff gezogen und hinter dem Kopf verknotet wurde. Einen Moment rechnete sie mit einem Knebel, also öffnete sie leicht die Lippen. Aber stattdessen hörte sie nur wieder Mikes ruhige, sanfte Stimme.

„Lass dich führen. Ich möchte, dass du dich aufs Bett legst. Ich möchte nicht, dass du dir am Bettpfosten die Schienbeine blutig schlägst. Und nicht sprechen!“

Hände auf ihren Schultern, die sie eigentlich nicht gebraucht hätte. Die paar Schritte bis zum Bett hätte sie auch blind alleine gefunden. Er aber führte sie um das Bett herum, so daß sie sich auf der anderen Seite hinlegen konnte. Er führte sie, langsam und mit Nachdruck, steuerte ihre Bewegungen, leitete ihr Becken in die Sitzposition, dann legte er sie auf den Rücken. Sie spürte Hände auf ihren Füßen, auf den Unterschenkeln und den Knien. Ihre Beine wurden sanft und doch bestimmt in eine ganz bestimmte Position gebracht, in der sie ihm besonders offen, besonders zugänglich war.





© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
27. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 19.06.11 13:17

2.

Kurze Zeit später machte er sich an ihrer Spalte zu schaffen, massierte sanft ihre Klitoris, bis er ein ausreichend humides Milieu hergestellt hatte. Claire entspannte sich, ließ sich fallen, leckte sich lasziv die Lippen.

„Was meinst du, was jetzt nasser ist: Deine Muschi oder dein Mund?“
„Je nach dem… Find’s doch einfach `raus.“
„Hab‘ ich nicht vor.“

Ein ungutes Gefühl beschlich Claire, als die Liebkosungen ihres Lustzentrums plötzlich eingestellt wurden.
„Sag mal: Aaaah!“
Während Claire ihren Mund öffnete, wirbelten in Sekundenbruchteilen Gedanken und Erwartungen durch ihr Gehirn; In der Schwärze unter ihrer Augenbinde tanzte das Bild von Mikes errigiertem Freudenspender vorbei, vielleicht hatte sie aber auch mit einem Knebel zu rechnen. Oder etwas zu essen? Fruchtige Süßigkeiten, eine brandheiße Chillischote oder Zitroneneis?

Es fühlte sich im ersten Moment wie ein Knebel an. Jedenfalls schmeckte es leicht nach Gummi, also keine scharfe Zungefolter und leider auch kein Eis am Stiel. Das Ding war recht groß, unregelmäßig gewellt und geriffelt und leicht elastisch. Die Grundform, die sie mit Lippen und Zunge ertastete, erzeugte ein ziemlich skurriles Bild in ihrem Kopf: Ei am Stiel.
„Mach‘ es nur richtig gut nass, Füchsin!“

Das suffizient befeuchtete Ei am Stiel verschwand aus Claires Mund, um im nächsten Moment den Weg in ihre Scheide zu finden. Genüßlich langsam, unter drehenden, mäandernden Bewegungen schob sich der Korpus in sie hinein, wobei Wellen von kribbelnder Hitze von ihrem Becken aus den Rücken hinaufjagten. Als das Spielzeug seine endgültige Position erreicht hatte, schlossen Mikes Hände ihre Oberschenkel, führten ihre Füße aus dem Bett und legten sich sanft um ihre Handgelenke.

„Ich möchte, daß du jetzt aufstehst. Und untersteh dich, ihn rausrutschen zu lassen!“

Mit kontrahierter Beckenbodenmuskulatur stand sie in ihrer Dunkelheit irgendwo neben dem Bett, erregt und gespannt wie ein Flitzbogen. Als sie ein vertrautes Klicken hörte, ein wohlbekannter Druck sich um ihre Taille legte, setzte sich das Puzzle in ihrem Kopf zusammen. Von einem Moment zum nächsten waren Erregung und wohlige Lüsternheit wie weggeblasen. Der Torwächter wurde fest über ihre intimen Öffnungen gelegt, das Schloß rastete ein; Claire hielt die Luft an. Sie war sich ziemlich sicher, daß dies eine der Phantasien war, die sie Mike (noch) nie offenbart hatte. Nicht nur eine Verweigerung des Zugangs, sondern auch des Ausgangs; in der Vorstellung nahm sich das durchaus verführerisch an, aber in der Realität? Während einer Grillparty?

„Ähm, Mike?“
„Ist was?“
„Bist du übergeschnappt? Drehst du jetzt völlig durch?“

Die Augenbinde verschwand, Claire blinzelte in den hellen Sonnenstrahlen, die das gemütliche Schlafzimmer fluteten. Mike stand vor ihr, runzelte die Stirn und sah ihr einigermaßen ernst in die Augen.
„Also ich fühl‘ mich eigentlich ganz nüchtern. Die Frage ist, ob du dich in ein paar Stunden auch noch einigermaßen beieinander fühlst, oder ob du ausflippst.“
„Mike, wie soll ich…“
Bevor sie aussprechen konnte, legte er ihr den Zeigefinger auf die Lippen.

„Psssss… Ich möchte, daß du mitspielst, Fähe. Ich möchte daß du voll auf deine Kosten kommst, damit ich auch meinen Spaß habe. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, daß es für sich ein zweifelhafter Spaß wird, eben wegen dem Umfeld. Aber schau mal: Es läuft nicht immer so, wie du es dir in deinen tollen Träumen ausmalst. Das ist kein Traum, das ist die Wirkllichkeit. Da spielst du nicht alleine, sondern ich spiele auch noch mit. Darum laufen die Dinge halt ein bisschen anders. Überraschend anders sozusagen. Um herauszufinden, wie sich die Wirklichkeit anfühlt, musst du die Kontrolle abgeben, du musst dich auch auf Unvorhergesehenes einlassen. Sonst funktioniert es nicht. Das ist der Preis.“
„Du bist ein verdammter Saukerl, Mike! Was soll das Geschwätz? Wir gehen zu einer Grillparty, nicht auf eine Erotik – Messe. Das wird ein Spießrutenlauf für mich!“
„Stimmt. Da musst du durch, wenn du was erleben willst. Du weißt, daß ich den Schlüssel mitnehmen werde. Du weißt, daß du jederzeit den Rückzug antreten kannst. Ich bin auch nicht sauer, wenn du es abbrichst. Aber ich will, daß du es versuchst. Und ich wünsche mir sehr, daß du es durchziehst. Weil es eben auch mein Spiel ist.“
„Ehrlich gesagt…“
„Claire, sag bitte jetzt gar nichts mehr. Oder du sagst klipp und klar, daß du die Sache hier beendest. Dann machen wir uns einfach nur einen schönen Abend. Nicht außergewöhnlich schön, sondern einfach nur schön. Klar soweit?“
Claire sagte keinen Ton, nahm sich aber vor, die nächste Zeit ein bisschen zu schmollen.

Am Anfang hatte sie tatsächlich das Gefühl, durchzudrehen. Eine Zeitlang fühlte sie sich geradezu beschyssen, das Ding in ihr war einfach nur ätzend lästig. Wenn Mike sich nicht so vorbildlich um sie gekümmert hätte, sich nicht ständig in ihrer Nähe aufgehalten, den Arm um sie gelegt und diskret mit Blicken und Berührungen beruhigt hätte, wäre sie nach einer halben Stunde mit dem Schlüssel auf der Toilette verschwunden. Alles in allem kostete es schmerzhaft viel Überwindung, in dieser Phase nicht aufzugeben. Weil sie an nichts anderes denken konnte, als an das, was in ihr steckte, war sie kaum in der Lage, an der Party aktiv teilzunehmen. Gleichwohl war sie nervös, hibbelig und aufgeregt angesichts all der Leute um sich herum; Freunde und Bekannte, denen sie auf Ansprache mechanische Antworten gab, ohne sich wirklich auf ein Gespräch konzentrieren zu können.

Sie klammerte sich an Mike, der Sicherheit ausstrahlte, ihr Ruhe und Schutz vermittelte, während er Bekannte begrüßte, mit Freunden anstieß, hier und da über Alltägliches plauderte. Er wirkte so angenehm gelöst und normal wie immer, nur Claire spürte seine innere, verborgene Anspannung. In seinen Gedanken war er völlig bei ihr, und das hob ihre Stimmung ganz gewaltig. Gut gekühlter Weißwein tat ein übriges. Langsam legten sich die bedrohlichen Schwingungen, und Claire wurde selbstbewusster. Nach und nach gelang es ihr immer besser, sich mit ihrer ungewöhnlichen Situation arrangieren.

Stets präsent blieb dabei allerdings ein dumpf prickelnder Druck, welchen sie jedoch immer weniger als unangenehm oder peinigend empfand. Mit der Zeit entwickelte sich daraus dann eine eigentümliche, intensive Körperlichkeit. So als wären alle ihre Sinne massiv geschärft, vor allem ihre Haut schien verstärkt empfindlich für Wahrnehmungen zu sein. Sinnlichkeit auf allen Ebenen. Dem Alkohol gelang es nicht, dieses besondere Gefühl verschwinden zu lassen oder ihre Konzentration zu stören. Dafür verlieh der Wein ihr Gelassenheit, sowie das Selbstvertrauen, sich auf die Situation einzulassen und ihren Spaß zu haben.




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28. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 20.06.11 20:23

3.

Die Gesellschaft bestand aus etwa zwanzig Personen, die sich größtenteils in Theos Garten versammelt hatten. Auf der Terasse waren Bierbänke aufgebaut, auf dem Rasen ein großer Grill, der von Theos Sohn bedient wurde. Die meisten Leute standen auf der Terasse und auf dem Rasen herum, die Bänke waren noch weitestgehend leer und verwaist. Dafür war eine Sitzgruppe von einigen gemütlichen Korbsesseln belegt. Claire erkannte Theos Frau und zwei weitere gute Freundinnen, die sich angeregt über die letzten moralischen Fehltritte der politischen Prominenz unterhielten. Sie ließ Mike beim Grill stehen, nachdem sie ihm und seinen beiden Kollegen Sekt geholt hatte, um sich zu der „Damenrunde“ zu gesellen, wo sie erfreut begrüßt wurde. Theos Frau Karo bot ihr an, ihr einen Stuhl aus dem Haus zu holen, was Claire aber dankend ablehnte. Vorerst blieb sie lieber stehen. Der Gedanke, sitzen zu müssen, gruselte sie ein wenig.

Im Stehen genoß sie ein weiteres Glas Weißwein, beteiligte sich an der Unterhaltung, lachte, lästerte und tratschte mit den Anderen. Dabei begann ihr das Gefühl zu gefallen, ein verborgenes, erregendes Geheimnis mit sich zu tragen, von dem nur sie Kenntnis hatte. Gegenüber den Unwissenden und Ausgeschlossenen empfand sie sich erhaben.

Als sie sich zum Essen zwischen Mike und eine ältere Frau, die sie kaum kannte, auf die Bank quetschte, stellte sie fest, daß es weniger unangenehm war zu sitzen, als sie befürchtet hatte. Von den fettschwangeren Fleischbergen, die der Grillmeister auf die Tafel verfrachtete, aß sie nur wenig, dafür griff sie bei den Salaten und dem gegrillten Gemüse zu. Natürlich sparte sie auch weiterhin nicht am Wein.

Joaquin Hernandez war ein ehemaliger Kollege von Mike und Theo, der mittlerweile als Dozent für theoretische Physik an der Uni in Karlsruhe arbeitete. Ein durchaus nachvollziehbarer Schnitt für einen Lehrer, der mit seinem Wisssen jeden Siebt – oder Achtklässler hoffnungslos überfordert hatte, und seinerseits komplett mit der Ablehnung der Schüler überfordert gewesen war. Vom Essen war nicht viel übrig, als Joaquin bei Theo einlief. Dafür nahm er kaum eingetroffen mIke in Beschlag. Es dauerte nicht lange, da fanden sich die beiden im Obergeschoß des Hauses wieder, stellten sich Stühle auf den Balkon und bewaffneten sich mit Grappa und Zigarren.

Sie sangen im Duett das alte Lied: Der Geisteswissenschaftler und der Naturwissenschaftler, die akribisch nach einem Weg suchten, ihre jeweiligen Fachgebiete in einer universalen Theorie in Einklang zu bringen. Weil jeder Zuhörer eines solchen Gespräches spätestens nach fünf Minuten entweder dem Wahnsinn verfallen, oder aber an Langeweile verstorben wäre, empfahl sich ein Rückzug in einen weniger belebten Bereich. Für einige Zeit vergaß Mike Theos Party, vergaß, daß er versprochen hatte, keinen Alkohol zu trinken und vergaß sogar vorübergehend Claire. Das Zimmer in ihrem Rücken versank in Dunkelheit, während der Horizont noch von der untergegangenen Sonne nachglühte. Im Schatten glühten gelegentlich zwei Zigarren auf.

„Das ist ja das Schöne an der reinen Theorie. Sie macht alles möglich. Du kannst dir nicht nur jeden Unfug ausdenken, du kannst es sogar beweisen. Mathematisch, meine ich. Wenn du es geschickt anstellst, kannst du ausrechnen, daß wir uns jetzt, in diesem Augenblick zeitgleich zum Urknall befinden.“
„Warum auch nicht? Zeit ist ja bekanntlich eine von der Wahrnehmung abhängige Größe.“
„Aber nicht in der Physik. Auch wenn Zeit sehr relativ ist, sich zum Beispiel im Umfeld massereicher Objekte mit dem Raum krümmt. Das ist ja auch nicht einfach nur Theorie, im Einflußbereich schwarzer Löcher oder massereicher Sterne ist das nachgewiesen. Man kann es messen. Das, wovon ich rede, ist aber nicht messbar. Es ist beweisbar, aber niemals nachweisbar. Und hier kommst du ins Spiel. Denn da bewegen wir Physiker uns in einem Bereich, den wir zwar schon mathematisch darstellen und berechnen können, aber es fehlt völlig das Verständnis. Ich bin immer wieder unzufrieden. Da hat ein Kollege eine wirklich hervorragende Arbeit abgeliefert, messerscharf, absolut logisch und stichhaltig. Es ging genau um diese Sache der Gleichzeitigkeit. Irgendwann unterhalte ich mich mit dem Typen, und stelle ihm die Frage, was das denn nun bedeutet, was sozusagen die Exegese seiner Arbeit wäre. Du kannst dir denken, er starrt mich einfach nur mit großen Augen an, als hätte er gerade einen Geist gesehen. Oder einen Geisteswissenschaftler. Für viele Physiker gibt es da nämlich keinen Unterschied. Dann fängt er an, mir irgendwelche Quantengleichungen runterzurattern, also genau das Zeug, was in seiner Arbeit steht. Er hat noch nicht mal verstanden, was ich von ihm wollte. Das ist das Problem, Mike. Für solche Leute ist die Physik eine Sackgasse. Sie können es ausrechnen, aber begreifen können sie es nicht.“

„Schon möglich. Wobei du dann das Gegenbeispiel ist. Aber mich wundert gar nichts mehr. Mit uns Philologen ist es doch nicht anders. Sobald da die Naturwissenschaft ins Spiel kommt, schalten die meisten ab. Dabei wäre da der Austausch ein Gewinn für beide Seiten.“
„Eben.“
„Manchmal frage ich mich, wie sich das so separiert hat. Zur Blütezeit des Hellenismus gehörten Mathematik, also Geometrie und Philosophie unmittelbar zusammen.“
„Ha! Und Sport!“
„Haargenau. Mir ist zwar nicht klar, wie du jetzt zu der Assotiation kommst, aber bitte…“
„Du weißt es sicher besser als ich, aber war es nicht in vielen alten Hochkulturen so? Perser, Römer, Chinesen, Maya, Ägypter…“
„Naja, in gewisser Weise bestimmt. Vordringlich ging es dort aber oft um die Verbindung von Spiritualität und Naturwissenschaft. Erstaunlicherweise kannst du da fast überall ähnliche Beobachtungen machen. Meistens entspringen die ersten Ansäzte von Geometrie und Mathematik aus der Beobachtung der Sterne und der Sonne. Auch die Kelten konnten da so einiges berechnen, sofern sich das aus der Analyse der alten Kultstätten schließen lässt.“
„Ah, Stonehenge zum Beispiel?“
„Ich dachte jetzt eher an sowas wie das Menhirfeld in Carnac. Interessant ist in dem Zusammenhang, daß solche Orte mit eindeutig naturwissenschaftlicher, mathematischer Struktur eine immense spirituelle Bedeutung hatten. Wenn man dann davon ausgeht, daß sich eine Religion nicht nur auf feststehende Doktrien beruft, sondern einen eher philosophischen Charakter hat, wie recht viele alte Naturreligionen, dann hast du da einen Zusammenhang, eine Coexistenz, die uns heute oft fehlt.“
„Wenn du damit sagen willst, daß diese untergegangenen Kulturen und Gesellschaftsformen unserer heutigen Kultur überlegen sind…“
„Sagen will ich es nicht, weil sonst hätte ich es gesagt.“
„Dann vielleicht andeuten.“
„Wir verstehen uns.“

„Du hast von dieser Arbeit von dem Kollegen erzählt, Joe. Das mit der Gleichzeitigkeit. Dabei fällt mir auf, daß es bei den Urvölkern, von denen wie es eben hatten, ja oft genau darum ging: Zeit. Zeitmessung, Sonnenzyklen, Mondphasen, deren Einfluß auf Wetter, Ernte und Fruchtbarkeit.“
„Redest du jetzt von Sex?“
„Reden Menschen jemals von etwas anderem?“
„Noch Grappa?“
„Ich passe. Muss nachher noch irgendwie den Wagen nach hause bekommen.“
„Dein Pech.“

„Glaubst du, daß du mir den Inhalt dieser Arbeit über Gleichzietigkeit so erklären kannst, daß ich es verstehe?“
„Nein. Aber ich kann dir das erklären, woran der entsprechende Kollege gedanklich gescheitert ist. Also das hintergründige Verständnis seiner Theorie.“
„Und los!“
„Ich versuch’s mal kurz und knapp: Wenn sich alles im Universum mit unendlicher Geschwindigkeit bewegt, bedeutet das die absolute Gleichzeitigkeit des Seins. Also auch daß Jetzt zeitgleich zum Urknall ist.“
„Oh. Na, das klingt doch ziemlich simpel. Folglich könnte man ja aber auch an jedem beliebigen Ort und zu jeder beliebigen Zeit sein? Also wäre der ganze lamoynte Ablauf des Lebens hier mehr so etwas wie eine Illusion?“
„Ach was. Das ist eben der Unterschied. Das ganze ist nicht mehr als eine theoretische Möglichkeit. Zwar mathematisch beweisbar, aber eben nicht zutreffend.“
„Was macht dich da so sicher?“
„Die Zerfallsraten von Caesiumkernen zum Beispiel. Oder der Punkt, daß unendliche Geschwindigkeit nur ein sehr instabiles Theorem ist.“
„Das heißt also, daß unendliche Geschwindigkeit nicht gleich der Lichtgeschwindigkeit wäre?“
„Was? Um Himmels Willen! Lichtgeschwindigkeit ist durchaus begrenzt. 299792458 Meter pro Sekunde im Vakuum, um genau zu sein. Und es ist auch nicht möglich, einen Körper auf diese Geschwindigkeit zu beschleunigen.“
„Wenn ich mich also mit Lichtgeschwindigkeit bewege, wäre ich nicht überall gleichzeitig?“
„Nö. Von der Sonne hierher würdest du zum Beispiel so ungefähr acht Sekunden brauchen. Wenn du ein Photon wärst.“
„Was soll dannd er ganze Quatsch mit den Zeitreisen?“
„Das ist dann wieder die Theorie. Und dann wird es ernsthaft interessant, aber der Bereich ist eben für einen Physiker nicht mehr wirklich nachvollziehbar. Deswegen war ja die Arbeit, von der ich sprach, so gut. Der Kollege hat sich eigentlich darin selbst ad absurdum geführt, und er hat es auf eine naturwissenschaftlich astreine Art und Weise getan. Stell dir einfach mal vor, irgendetwas braucht für die Strecke von der Sonne hierher nur zwei Sekunden. Immernoch vergeht Zeit, aber aus unserer recht eingeschränkten, menschlich – naturwissenschaftlichen Perspektive vergeht diese Zeit quasi negativ. Solche Ideen können wir eigentlich nur philosophisch angehen, weil unsere Mathematik, unsere ganzen Naturgesetze da nicht mehr anwendbar sind.“
„Als wäre die Kapazität der naturwissenschaftlichen Betrachtung abhängig von der geistigen Kapazität des Menschen.“
„So in etwa.“

Als im Zimmer jenseits des Balkons das Licht anging, fühlte es sich für Mike an, als fiele er aus einer Schwebeposition etwa zwanzig Zentimeter oberhalb des Stuhles unsanft zurück auf den kalten Boden der Realität. Claires Stimme kam ihm etwas schrill und schwammig vor.

„Mike? Mike! Hier steckst du. Was ist los? Findet hier ein konspiratives Treffen statt? Alle Welt sucht nach dir. Theo steht kurz davor, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Nur um Haaresbreite konnte ich ihn davon abbringen, die Polizei zu rufen.“
„Und dafür schickt er dich auf die Pirsch, Füchsin? Sowas…“
„Ich fühl‘ mich ein bisschen vernachlässigt. Wir haben im Garten die Tische weggeräumt, die Tanzfläche ist frei. Also wie sieht’s aus, Grand Loup?“
„Hej, das ist meine erste Zigarre seit gefühlten zweihundert Jahren.“
„Ich seh’s. Du solltest dich schämen.“
„Das werde ich tun, ich versprech’s. Aber erst, wenn ich sie fertig geraucht habe.“

Joaquin erhob sich, streckte die Glieder und ließ seine Gelenke knacken.
„Dann pass mal auf meine auf, während ich meinen Wasserhaushalt reguliere. Nicht, daß Claire sie in einem Zug wegraucht.“
Die Geschmähte nahm die Gelegenheit wahr, sich leicht unbeholfen auf Mikes Schoß fallen zu lassen. Mike stellte erneut fest, daß sie beinahe ein wenig lallte, als sie Joaquin ein paar Nettigkeiten hinterherrief.

„Bist du betrunken, Claire?“
„Ach, woher. Ein bisschen beschwipst.“
„Du wirkst ganz schön aufgedreht.“
„Echt jetzt? Dreimal darft du raten, woran das liegt.“
„Ich glaube du brauchst ein bisschen Zuwendung.“
„Auf jeden Fall. Es drückt mich ganz schön, könnte man sagen. Ein bisschen schmerzhaft mittlerweile, aber ausgesprochen geil.“
„Geil?“
„Ja, geil. Ich bin geil und ich fühle mich geil.“
„Geile Sache.“
„Also was ist? Kommst du mit runter, oder soll ich mit Rudy tanzen?“
„Was? Mit Rudy? Du musst ja echt verzweifelt sein.“
„Was denkst du denn? Ich gebe dir genau zwanzig Minuten. Rudy und Maren sind gerade erst gekommen. Ich quatsche jetzt noch ein bisschen mit Maren, mach noch eine Flasche Wein auf, und dann schlepp ich entweder sie oder ihren Freund ab, wenn du nicht da bist.“
„Na, viel Spaß dabei. Das mit dem Abschleppen dürfte für dich eine recht einseitige Sache werden.“
„Arschloch!“
„Ich komme in zwanzig Minuten!“

Beschwingt begab sich Claire wieder in die gesellige Heiterkeit der Feiergäste, wo sie bald Maren ausmachen konnte. Auf dem Weg zu ihrer Freundin schnappte sie einem glatzköpfigen, athletischen Typen mit grauem Jacket die halbvolle Weinflasche aus der Hand. Maren präsentierte dazu die zwei passenden Gläser.



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29. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 22.06.11 16:34

4.

Knapp eine halbe Stunde später war die Zigarre verraucht. Die Stimmung unter den Gästen war mittlerweile ausgelassen, auch die Anzahl hatte sich vergrößert. In Wohnzimmer, Küche und Garten verteilten sich inzwischen gut und gerne über dreißig Menschen. Es erinnerte Mike fast ein wenig an alte Zeiten, an jene Parties, die erst nach Mitternacht so richtig begannen. Am Kühlschrank in der Kücher versorgte er sich mit Cola, um anschließend im Garten nach Claire zu suchen. Die meisten Leute hielten sich dort im Freien auf. Theos Sohn hatte auf einem der Esstische Stereoanlage und Boxen aufgestellt, aus denen nun die Klassker der achtziger Jahre dudelten. Mehrere Pärchen tanzten tatsächlich auf der Terasse, aber weder Claire noch Rudy und Maren waren dabei. Suchend ließ Mike den Blick über Grüppchen von Leuten schweifen, die auf dem Rasen um den noch schwach glimmenden Grill standen.

Bunte Lampions an den Bäumen tauchten die Personen in schummeriges, wechselhaftes Licht. Entweder prüfte Claire die Toiletten auf ihre Tauglichkeit, oder sie durchstöberte mit Maren Theos Weinkeller. Hier draußen hielt sie sich in jedem Fall nicht auf. Mike stellte sich zu Theos Sohn, um ein wenig in der Plattensammlung zu stöbern.

Der Keller war ein Treffer. Zunächst hatte Claire deutliche Schwierigkeiten, den Lichtschalter zu finden, schon dabei wäre sie ohne Maren aufgeschmissen gewesen.
„Bist ganz schön knülle, was?“
„Joa, gut dabei. Musst dich ranhalten, wenn du mich einholen willst, Mary.“
„Dann lass uns auf Schatzsuche gehen, Schätzchen.“

Der Vorratskeller bildete den größten der insgesamt vier Räume. Daneben gab es noch einen Heizungskeller und einen Waschkeller mit Ausgang zum Garten. Claire und Maren ließen sich von ihrer Neugier leiten und untersuchten sämtliche Kellerräume. Das kleinste Zimmer war zugleich am besten beleuchtet, hier hatte sich Theo seinen Werkraum eingerichtet. In den Regalen lagerten Hölzer und Werkzeuge, auf der langen Werkbank waren halbfertige Projekte zu bewundern, wie ein Vogelhäusschen und ein mit kunstvollen Schnitzereien verziertes Puppenhaus. Dazu etwas, das vielleicht mal ein Gewürzregal werden sollte, zwischen einem Haufen Holzsstückchen, Späne und Werkzeug.

„Nein, wie süß! Schau dir das an, Claire! Theo ist ja ein richtiger Künstler. So ein Puppenhaus will ich auch für Tini, die würde ausflippen!“
„Frag ihn doch, ob er ihr eins baut.“
Claire entdeckte auf der Werkbank noch etwas ganz anderes, nämlich eine verkorkte Flasche ohne Etikett, die zu zwei dritteln mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Sie zog den Korken und schnupperte am Flaschenhals.
„Schnaps, Mary! Ich würde sagen: Pflaume, selbstgebrannt.“
Triumphierend hielt sie ihre Entdeckung hoch.
„Oha? Lass mal sehen.“

Die Flasche ging etliche Male zwischen den beiden Frauen hin und her. Claire saß auf Theos Werkbank, Maren auf einem Drehhocker mit drei kleinen Rädchen. Sie ließ sich hin und herrollen, kreiselte mal nach links und mal nach rechts, während der Pegel in der Pflaumenschnapsflasche sich langsam senkte. Claire hatte so ihre Schwierigkeiten Marens Bewegungen zu folgen. Die auf dem Werkhocker umherwirbelnde Maren verschwamm immer wieder vor ihren Augen, einsetzendes Schwindelgefühl wurde begleitet von einem Anflug von Übelkeit. Maren stoppte ihren Reigen und stellte den Schnaps zurück auf die Werkbank, anstatt die Flasche an Claire weiterzureichen.

„Claire? Alles ok?“
„Hö? Na sicher doch, hoff‘ ich doch.“
„Du siehst ganz grün aus.“
„Is’n starker Tobak, dieser Schnappes.“
„Nicht, daß du auf der Nase liegst, wenn du jetzt von der Bank aufstehst.“
„Aber, aber! Heut‘ nacht sauf‘ ich Jack Sparrow unter’n Tisch, wart’s ab.“
„Ein guter Plan. Dann komm jetzt, lass uns von dannen ziehen und diesen Jack Sparrow suchen gehen. Und den Wein. Den brauchen wir auch ganz dringend dazu.“

Akribisch bereitete Claires benebelter Verstand den Prozess des Aufstehens vor, während Maren mit einem breiten Grinsen im Gesicht neben ihr stand. Fest stützte sie die Hände seitlich der Hüften auf der Kante der Werkbank ab, hielt damit das Schwanken ihres Oberkörpers in Grenzen. Claires Augen fixierten hochkonzentriert den Punkt auf dem Boden, wo sie ihre Füße mit elegantem Sprung aufsetzten würde, um anschließend würdevoll wie eine Turnerin nach dem Absprung von Pferd, Reck oder Barren mit triumphierender Geste in sicherem Stand den Applaus des Publikuns entgegenzunehmen.

Schwungvoll stieß sie sich mit beiden Armen ab, nach einem langen Flug landete sie taumelnd auf einem heimtückischen Kellerboden, der sich, während Claire sich in der Luft befunden hatte, irgendwie um knapp vierzig Grad geneigt hatte. Sie verlor prompt das Gelichgewicht und wäre mit dem Kopf voran in ein Werkzeugregal gestürzt, wenn Maren sie nicht festgehalten hätte. Instinktiv klammerte Claire sich an Marens Schulter, wodurch sie sie mit sich zu Boden riss. Lachend und stöhnend lagen die Beiden in Staub und Hobelspänen, Claire auf dem Rücken, Maren auf ihr.

„Schuldigung, Mary, war so nicht geplant. Mist, doch keine guten Haltungsnoten.“
„Ist unschlimm. Bin ja weich gefallen, außer…“
Maren richtete ihren Oberkörper auf, blieb aber auf Claire sitzen, ihre Hände auf Claires Oberarme gestützt.
„Wow, Mary, wenn uns jetzt jemand sieht, denkt der du stellst gerade wer weiß was mit mir an.“
„Bist du bewaffnet? Was hast denn du im Slip? Ne Pistole? Mit Patronengurt oder so?“
„Was? Runter von mir!“

Maren rappelte sich auf und reichte Claire die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
„Bleib locker, Claire. Wenn du ein Attentat oder so vorbereitest: Ich schweige wie ein Grab. Plauder dich aus!“
„Ach, woher. Ist eigentlich gar nichts. Würde dich auch nicht interessieren, glaub‘ ich.“
„Was’n Blödsinn. Jetzt machst du mich erst recht neugierig. Seit wann kennen wir uns? Zehn Jahre? Zwölf? Hey, Claire, du weißt alles über mich. Die Sache mit dem Vaginalpilz? Rudy hat immer noch keine Ahnung, warum ich damals zwei Monate nicht mit ihm geschlafen habe. Oder daß ich meiner Oma ihren Silberschmuck geklaut habe? Oder daß ich bei der Semesterabschlußfeier im Jahre zweitausendzwei in die Bowle gepinkelt hab‘?“
„Also das mit der Bowle wusste ja jeder. Außer Frieder…“
„Ach scheyße, der arme Kerl tut mir heute noch leid. Ähm, zurück zum Thema: Du hast was zu erzählen Claire. Was windest du dich so? Dir muss doch klar sein, daß du’s nur immer spannender für mich machst. Zur Not find‘ ich ganz schnell eine Möglichkeit, dir unters Kleidchen zu spicken.“
„Also gut. Scheyß drauf. Wenn du schwörst, kein Wort darüber jemals jemandem zu erzählen.“
„Ich schwöre.“
„Und wenn du schwörst, mich nicht auszulachen!“
„Ich schwöre.“

Claire zögerte einen Moment, bevor sie – von Wein und Schnaps enthemmt – ihren Rock auszog und anschließend Strumpfhose und Schlüpfer langsam und gespielt wiederstrebend bis zu den Knien herunterschob. Vorerst verschlug es Maren die Sprache; sie trat einen Schritt zurück und starrte Claire mit offenem Mund und großen Augen an.

„Was um… Wow, Claire, ist das das, was ich denke, daß es ist?“
„Ich habe keine Ahnung, was du denkst. Aber ich denke, wenn du das Richtige denkst, dann ist es genau das.“
„Ein Keuschheitsgürtel?“
„Stimmt.“
Claire machte Anstalten, ihr Geheimnis wieder unter der Kleidung verschwinden zu lassen. Dagegen hatte Maren Einwände.

„Moment noch! Das will ich jetzt aber ganz genau wissen. Das ist ja viel zu abgefahren.“
„Hey, lass die Finger von mir!“
„Geht nicht. Muss mich überzeugen, daß das keine Halluzination ist.“

Claire spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss, als Maren den Gürtel betastete. Es kribelte unangenehm in Claires Rücken, als Maren neugierig an mehreren Stellen ihre Finger unter den Taillengürt quetschte. Unglübige Hände rüttelten und zogen an Gürtel und am Frontschild, welches Maren einigermaßen erfolglos zu verschieben versuchte. Letzteres ließ das Lustei in Claires Vagina tanzen. Ein Anflug von Erregung wurde von Scham und Peinlichkeit verwischt, und Claire schob Marens Hand energisch von sich.

„Hör auf damit. Es reicht jetzt, ok?“
„Das sitzt ja irre fest, Claire. Ist das nicht wahnsinnig unbequem?“
„Absolut, ja.“
„Du hast `nen Knall, echt! Was soll das? Warum machst du das? Ist das so `ne Sexgeschichte?“
„Gewissermaßen schon. Ein Spiel zwischen mir und Mike, und ja, es hat auch und ganz besonders mit Sex zu tun.“
„Ein Spiel soll das sein? Ich glaub‘ ja nicht, was ich höre! Das kann doch nicht lustig sein. Wie kann man sowas aus Spaß machen? Oder zwingt Mike dich dazu?“
„Ach was. Ich mach‘ das schon freiwillig.“
„Trägst du das immer? Auch zur Arbeit und so?“
„Meistens schon, ja.“
„Ist ja verrückt. Das muss doch irrsinnig lästig sein, oder? Ich versteh‘ echt nicht, wie dir das Spaß machen kann, aber hey: Es ist deine Sache. Das haut mich echt um jetzt.“
„Du wolltest es aber auch unbedingt wissen. Jetzt weisst du’s.“
„Und bin völlig verwirrt. Funktioniert das Teil denn wirklich? Nimmst du `nen Schlüssel mit, wenn du aus dem Haus gehst? Ist das nicht voll die Tortur im Alltag? Kannst du damit überhaupt aufs Klo gehen? Wie schläfst du mit Mike mit dem Ding? Schläfst du überhaupt ind em Ding? Scheuert und drückt das nicht überall? Wie kann das ein Sexspiel sein, wenn es doch eigentlich ein totales Anti – Sex – Mittel ist?“
„Häh? Was waren jetzt noch mal die ersten hundert Fragen?“
„Sorry, aber darüber musst du mir alles erzählen. Sonst gebe ich keine Ruhe.“
„Och nö! Ich hab’s befürchtet. Verdammt, mir ist das echt oberpeinlich und ich bin stockbesoffen. Wenn ich dir jetzt was erzähle, dann kommt doch nur Scheyßdreck raus.“
„Okay, dann versprich mir, daß wir uns die Tage treffen, und du mir Rede und Antwort stehst. Am besten übrigens morgen, sonst sterbe ich vor Neugier.“
„Ich fürchte nur, wenn ich nicht mehr betrunken bin, ist mir das alles noch viel, viel peinlicher. Ich weiß nicht, ob ich dir dann überhaupt noch begegnen kann, geschweige denn irgendwas erzählen. Ich würd‘ bestimmt vor Scham im Boden versickern.“
„Ach, was’n Blödsinn, Claire. Peinlich… Ich leb‘ doch auch nicht hinter’m Mond. Ein Haufen Leute machen einen Haufen komisches Zeug beim Sex. Ich war jetzt nur ein bisschen überrumpelt, daß gerade du… Ach, egal. Ich find’s nicht schlimm, Claire, auch wenn ich’s nicht verstehe. Genau darum würd‘ mich ja interessieren… Was’n jetzt los? Fängst du gerade an zu heulen?“
„Weiß – noch nicht – so genau…“
„Wegen dem Gürtel? Oder wegen mir? Weil ich falsch reagiert hab‘ oder so?“
„Nö. Keine Ahnung. Keins von beidem und beides ein bischen. Und ein bischen viel Alkohol vor allem. Erleichterung, weil ich’s bisher niemandem erzählt hab‘. Außer Mike natürlich. Vielleicht hab‘ ich auch einfach gerade bock, rumzuheulen, klar?“
„Könnte alles nicht weniger klar sein.“

Nach einigen Minuten hatte Claire sich wieder einigermaßen im Griff. Sie wischte sich die Augen und Wangen ab und warf Maren ein hilfloses Lächeln zu.
„Aber daß das blos unter uns bleibt, klar?“
„Ich habe geschwören. Der Teufel soll meine Lippen verlöten, wenn ich den Schwur breche.“
„Ruf mich morgen mal an.“
„Klaro. Und jetzt: Weinkeller?“
„Weinkeller!“

Jeweils mit vier Flaschen Wein aus Theos Vorräten bewaffnet, stiegen Claire und Maren wieder aus den Katakomben des Hauses in den ausgelassenen Trubel schwungvoller Festivität auf. Während Claire sieben der acht Flaschen in den Kühlschrank räumte, füllte Maren zwei Gläser. Sie blieben vorerst in der Küche, um sich weiter zu betrinken. Vom Garten her tönten inzwischen etwas wildere Klänge; Mike hatte Theos alte Platten von Led Zeppelin, Deep Purple und Black Sabbath gefunden. Die Kommunikation zwischen Claire und Maren bestand größtenteils aus einem verschwörerischen Blickwechsel.

Die Welt drehte sich um Claire; sie wollte sich mitdrehen. Kommentarlos schnappte sie sich Mike und zerrte ihn auf die zur Tanzfläche mutierte Terasse. Farbenwirbel, inmitten derer Claire sich wild wand und zappelte. Mike, deutlich maßvoller, bremste sie ab und an ein wenig und führte sie achtsam so, daß sie nicht verhängnisvoll mit anderen Tanzpaaren kollidierte. Bald flogen Claires Turnschuhe irgendwo in die Dunkelheit des Gartens. Auf Strümpfen tanzte es sich besser, über glatte Fliesen beschwingt gleitende Füße kaschierten die des Alkohols wegen schwindende Anmut.

Trunkenheit und die Stimulation durch den im Tanz Schwerstarbeit leistenden Eindringling in ihrem Allerheiligsten ließen Claire zur Höchstform auflaufen. Sie fühlte sich großartig, gelöst und in jeder Hinsicht heiß. Ihre Extase riss auch Mike mit, der bei aller Nüchternheit im Sog von Claires Bewegungen im Tanzrausch versank. Aufmerksamkeit war dem wirbelnden Pärchen gewiß, so daß sich rasch eine größere Schar Bewunderer um sie sammelte. Einige klatschten ihren Pirouetten Beifall, Maren steuerte sogar einige anspornende Pfiffe bei.

Was große Begeisterung auslöst, endet meist kritisch. So brachte Claire es fertig, auf den Knien mit weit zurückgebeugtem Oberkörper zwischen Mikes Beinen hindurchzurutschen. Was ihr anschließend aber nicht gelang, war eine elegante Rückkehr in den Stand. Sie hatte eben nicht berücksichtigt, daß ihre Koordination recht eingeschränkt war. Zwar schaffte sie es, nach der Rutschpartie auf die Füße zu kommen, aber gleich im nächsten Moment verlor sie das Gleichgewicht, taumelte, und flog in hohem Bogen kopfüber von der Terasse in Theos Hortensienbüsche.

Claires wild strampelnde Beine ließen für einen Moment den Saum ihres Rockes über die Hüften zurückfallen. Für einen kurzen Moment war der Blick für alle Anwesenden frei auf verrutschtende Strumpfhosen und die sich darunter allzu deutlich abzeichnende Form von etwas Starrem zwischen den zappelnden Schenkeln. Doch außer einer erschrockenen Maren und dem herbeieilenden Mike konnte sich wohl keiner der Umstehenden einen Reim auf diese Absonderlichkeit machen. In den malträtierten Hortensien knieend, half Mike seiner Frau, sich aufzusetzen, wobei er vorsichtig ihre Kleidung zu ordnen versuchte. Er nahm sie in den Arm, wischte ihr den Schmutz aus dem Gesicht, unter dem er außer einer Beule an der Stirn und einem Kratzer am Kinn keine Verletzungen fand.

„Alles okay bei dir? Mensch, was machst du nur für Sachen, Claire.“
„Bin in Ordnung. Tut nur alles weh. Mike?“
„Hm?“
„Ich glaub‘ ich will jetzt heim.“
„Ich glaub‘, das ist `ne gute Idee.“

Er half ihr hoch, sie hielt sich an seinem Arm, wankend, aber einigermaßen unversehrt. Sie versuchte eine halbe, einigermaßen lächerliche Verbeugung, bei der sie den Umstehenden heiter zuwinkte.

„Vielen Dank für den Applaus, wertes Publikum! Leider kann die Vorstellung nicht fortgesetzt werden, wegen Erde im Mund der Darstellerin. Mein Partner Mike…“
Schwungvoll drehte sie sich zu ihm um, wobei sie um ein Haar erneut in die Hortensien gestürzt wäre, wenn seine Brust sie nicht gebremst hätte.
„… steht ihnen allen gerne morgen für Autogramme zur Verfügung!“
Der Auftritt erntete einiges an Gelächter, und diesmal war es an Mike, sich peinlich berührt zu fühlen.

Mit der betrunkenen Claire in seinem Arm machte er die Runde, um sich zu verabschieden. An der Haustür wurden beide von Maren abgefangen, die Claire feixend ihre Schuhe in die Hand drückte.
„Da hast du ja den Vogel abgeschossen, Mädel.“
„Was? Ich? Wieso?“
„Denk mal scharf nach, wenn du wieder nüchtern bist. Hier, nimm mal deine Schuhe.“
„Danke, bist’n Schatz, Mary.“
„Da hatten so einige Herren und Damen ganz schön Stielaugen bekommen, wie du ihnen so schön Einblick auf deine sehr spezielle Unterwäsche gewährt hast.“
Erschrocken starrte Mike Maren an.
„Woher verdammt noch mal weißt du…?“
Claire feixte, zerrte an Mikes Arm, während Maren Daumen und Zeigefinger über ihre Lippen wandern ließ, als gäbe es dort einen Reißverschluß zu schließen.
„Maren ist eine Hexe und eine Seherin, Mike. Sie weiß alles und sieht alles. Und jetzt komm, bitte, mir wird gerade schlecht.“

Verwirrt und kopfschüttelnd setzte Mike Claire auf den Beifahrersitz und fuhr los. Als er bemerkte, daß Claire wirklich sehr übel war, fuhr er neben einer Straßenbahnhaltestelle hastig rechts an den Straßenrand. Er stieg aus, ging zur Beifahrertür und half Claire beim Aussteigen. Im nächsten Moment gab sie ihren Mageninhalt von sich. Mehrmals übergab sie sich schwallartig, während Mike ihre rotblonde Mähne hielt. Er kam sich maximal bescheuert vor. Wie ein Teenager mit seiner Schulfreundin, die auf einer Party irgendwo in jugendlicher Verblendung den Übergang vom Besäufnis zum Sex verpasst hatten.

„Geht’s einigermaßen, Claire?“
„Ja. Ne. Noch nich‘ so richtig.“
Ein weiterer Schwall ergoß sich in den Rasenfleck neben dem Wartehäuschen. Zu allem Überfluß begannen die Schienen nun zu singen, kurz darauf hielt direkt neben ihnen eine Bahn an, aus der eine Gruppe grölender Jugendlicher ausstieg. Glücklicherweise kannte Mike keinen der Jungen.

„Alter, was geeeeeeeeht! Isse vollstrack, oder was?“
„Nein, wir haben nur Schweinegrippe. Wollt ihr was abhaben?“
„Mann, schon peinlich, wenn dir die Alte die Haltestelle vollkotzt, ne?“
„Ach was. Du warst doch sicher auch mal jung, vielleicht kannst du dich noch daran erinnern, wie das war.“

Die Jugendlichen zogen ab, bogen sich vor Lachen. Eine Bierflasche zerschellte auf dem Bürgersteig, am liebsten hätte Mike sich den Idioten dafür vorgeknöpft. Er kam damit klar, wenn sich junge Leute vollaufen ließen, aber er hasste es, wenn das zu assozialem, gedankenlos – zerstörerischem Verhalten führte.

Eigentlich hatte er sich auf eine heiße Session mit Claire gefreut, hatte sich schon ein paar zärtlich – fiese Pläne für die Nacht überlegt. Doch in Anbetracht von Claires Zustand blieb ihm nichts übrig, als das Vorhaben zu verschieben. Sie bekam noch nicht einmal mehr viel davon mit, wie sie aufgeschlossen wurde, und Mike das Ei des Kolumbus aus ihr entfernte. Das glibberige Stück ließ er ins Waschbecken fallen, anschließend wusch er sich Hände und Gesicht. Als er ins Schlafzimmer zurückkam, hatte sich Claire auf die Seite gedreht. Sie schlief tief und fest, als er sie sanft zudeckte und sich neben sie legte.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
30. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 22.06.11 21:51

Für jene Leser, die aus Zeitgründen oder warum auch immer, mit dem Lesen etwas zurückhängen, gibt es jetzt im Startbeitrag ein Inhaltsverzeichnis zum `rumzappen. Und eine kurze Einleitung. Hätte ich beides schon viel früher machen sollen, aber manches geht ab und an mal unter.

Grüße, Turambar.

ed: Ich habe die Links nicht einzeln überprüft. Falls sich da Fehler eingeschlichen haben sollten, bin ich für sachdienliche Hinweise dankbar.
31. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 23.06.11 18:04

5.

Alles in ihr sträubte sich dagegen, die Augen zu öffnen. Warum, warum nur war sie überhaupt wach? Warum sollte es nicht möglich sein, so lange weiter zu schlafen, bis der Kater abgeklungen war? Nutzlose, quälende Gedanken. Es war ja genau die körperliche Misere am Morgen danach, die sie geweckt hatte. Der Leib meldete sich mit Schmerzen, um zu signalisieren:
„Hallo, aufstehen, mach was, sonst passiert ein Unglück.“
Welches Unglück also meinte dieser verfluchte Körper? Ein verkaterter Morgen ist ein generalisiertes Unglück an sich. Dumpf dröhnte Beethovens Neunte aus dem Erdgeschoss herauf und in Claires Ohren. Im Vergleich zu den hämmernden Kopf- und Nackenschmerzen war das noch ein geringes Übel. Die Zunge klebte geschwollen und ausgedörrt am Gaumen. Wiederlicher Geschmack und ebenso wiederlicher Geruch zersetzte den Rest eines sich verlierenden Albtraums.

Der penetrante Geschmack von Erbrochenem vermischte sich mit dem ekelhaften Geruch von alkoholisch - säuerlichem Schweiß. Übelkeit und rasant stärker werdende Kopfschmerzen befahlen Reglosigkeit, während die zum Bersten gefüllte Blase in höchster Dringlichkeit eine diametral entgegengesetzte Forderung stellte:
„Raus aus dem Bett und ab auf’s Klo, aber Zack – Zack!“
Böser Konflikt.

Claire musste wohl oder übel aufstehen, wenn sie nicht ins Bett machen wollte. Einen Moment blieb sie an der Kante sitzen, während ihr Kopf in gleißenden Schmerzwellen explodierte. Auf dem Nachttisch stand eine Flasche Mineralwasser neben einem gefüllten Glas. Der Inhalt schien frisch zu sein, viele kleine Bläschen perlten vom Boden und den Wänden des Trinkgefäßes zur Oberfläche.
„Trink es aus! Trinke es aus! Trink es!“
schrie und kreischte Claires ausgedörrte Kehle. Sie ging das Risiko nicht ein, stattdessen stand sie vorsichtig auf und wankte ins Badezimmer. Hastig klappte sie den Deckel hoch und ließ sich auf den Sitz plumpsen. Erste Erlösung des Tages. Das Badezimmer schwankte und drehte sich um sie herum. Es dauerte eine Weile, bis die Realität wieder etwas stabiler wurde. Unangenehmes Kribbeln im eingeschlafenen linken Fuß bestätigte Claires Verdacht, daß sie wirklich eine ziemlich lange Weile da gesessen hatte.

Immerhin protestierte ihr Gehirn diesmal mit weniger Schmerzen gegen das Aufstehen. Auch war der Kopf mit seinen geschwollenen Hirnhäuten nicht ihr einziges Schmerzzentrum. Auch an anderen Stellen fühlte sie sich unangenehm wund. Zum einen im Hals, weil Magensäure für gewöhnlich ja nichts in der Speiseröhre zu suchen hatte. Ähnlich strapaziert fühlten sich auch die empfindlichen Hautpartien weiter unten an. Eine zitternde Hand drehte den Wasserhahn auf, um es anschließend der anderen Hand gleichzutun, und fest den Beckenrand zu umklammern. Die Welt schwankte wie ein Schiff bei hohem Seegang, gut festhalten tat Not. Ungenutzt rauschte das Wasser aus dem Hahn in den Abfluß, während Claire den Fehler machte, den Kopf zu heben, und in den Spiegel zu blicken. Ihr wurde schlecht, sie drehte das Wasser wieder zu und taumelte ins Schlafzimmer zurück. Nachdem sie in einem Zug das bereitstehende Glas geleert hatte, zog sie sich die Bettdecke über den Kopf, rollte sich zusammen und schlief wieder ein.

Als Mike eine halbe Stunde später Claires Decke von ihr riss, war Beethovens Neunte durch Metallica’s Black Album abgelöst worden. Dafür drang der Geruch von frisch aufgebackenen Brötchen, Kaffe und Marmelade in ihre Nase. Verwirrt und immer noch reichlich verkatert setzte Claire sich im Bett auf und stellte genervt fest das sie nackt war. Sie zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Ihr Bademantel kam auf sie zugeflogen, doch statt ihn zu fangen landete der weiße Stoff auf ihrem Kopf. Als Claire das Teil von ihrem Gesicht zog, um es sich um die Schultern zu legen, bemerkte sie ein ziemliches Ei über ihrer rechten Augenbraue.

„Was’n das? Hat mich jemand verprügelt?“
„Nö. Sagen wir’s mal so: Du hattest gestern eine kleine Auseinandersetzung mit Theos Hortensien.“
„Häh? Was?“
„Kleiner Filmriss, Fähe?“
„Weiß nicht. Lass mich in Ruhe, Mike. Hau ab, mir geht’s beschissen. Mir’s total elend, ich stinke nach Kotze und Schnapsladen. Ich hab‘ son’n Gefühl, als hätte ich mich gestern abend furchtbar blamiert. Und dich auch…“
„Ach wo. Ich will’s mal so sagen: Du hast der Party den richtigen Kick gegeben. Leute werden sich lange daran erinnern.“
„Oh, bitte nicht. Was’ne Scheyße…“
„Frühstück? Mit Aspirin und Selters?“

Während sie zu zweit im Bett frühstückten, dämmerten mehr und mehr Erinnerungen in Claire herauf, von denen die meisten ausgesprochen peinlich waren. Sie erinnerte sich erschrocken daran, daß sie ihrer besten Freundin ihren Keuschheitsgürtel gezeigt hatte. Daß sie ihr zu allem Überfluß auch noch versprochen hatte, ihr alles darüber zu erzählen. Nebulös war ihr nach wie vor der Abflug ins Gebüsch nach dem heißen Tanz mit Mike. Auch daran, daß sie auf der Fahrt nach hause in aller Öffentlichkeit eine Straßenbahnhaltestelle vollgekotzt hatte, konnte sie sich nur bruchstückhaft erinnern.

Essen mochte sie nur wenig, aber dafür trank sie mit einer gewissen Gier alles an Flüssigkeiten, was sich in ihrer Nähe befand. Der Wecker auf ihrem Nachttisch zeigte halb elf, als Mike das leergefutterte Tablett neben dem Bett abstellte. Nun sehnte sich Claire nach einer Dusche oder einem Bad; ihr ganzer Leib fühlte sich grauenhaft klebrig an. Durch die geöffneten Fenster drang dumpfe, stickig heiße Luft, die sich langsam und schleichend im Raum ausbreitete. Träge und schlaff hingen die Gardinen in den Öffnungen und erzählten tonlos von Schlaf.

„Ist das mein Kater, oder ist es heute wirklich so erbärmlich schwül?“
„Falls es dich beruhigt, Claire, es ist so schwül. Heute abend soll’s Gewitter mit Unwetterpotential geben, kam vorhin im Radio.“
„Ist nicht gut für meinen Kopf, gar nicht gut. Nein, mein Schatz!“
„Glaub‘ ich gerne. Wie geht’s übrigens deinem Honigtöpfchen?“
„Das hat jetzt erstmal Sendepause. Kannst mich in drei Wochen noch mal fragen.“
„Ich frag‘ dich lieber in drei Minuten.“
„Ich könnte gerade wieder einschlafen, Mike. Am liebsten mit dir genau da neben mir.“
„Aber vorher gehst du duschen. Und Zähne putzen! Dann solltest du noch das Bett frisch beziehen, das Haus einmal durchsaugen, die Blumen gießen, beide Autos waschen, den Rasen mähen, meine Hemden bügeln, die Fliegen in der Küche einzeln mit der Hand fangen und die Fenster putzen. Ach genau, und unbedingt die Fensterrahmen neu streichen. Ganz wichtig!“
„Wow. Was soll das sein? Werd‘ ich jetzt bestraft für meine Entgleisungen gestern? Mike, sei ein lieber großer, dunkler Wolf und erlass mir wenigstens das Zähneputzen. Bitte! Bin ich nicht schon gestraft genug? Mir ist immer noch übel, so total elend, mein Schädel hämmert und brummt und ich bin völlig ermattet.“
„Ermattet! Goldig! Kannst du das bitte noch mal sagen, dir dabei die Hand so vor die Stirn halten und die Augen ein bisschen verdrehen? Genau so! Hervorragend!“
„Ich glaube, ich werde nie wieder auf eine Party gehen.“
„Da seh‘ ich schwarz. Was ist mit heute abend?“
„Autsch. Da hab‘ ich noch gar nicht dran gedacht.“
„Dann sieh mal zu, daß du bis dahin einigermaßen fit wirst. Und einigermaßen vernünftig aussiehst.“
„Dann brauch‘ ich auf jeden Fall noch mindestens zehn Stunden Schönheitsschlaf.“

Während Mike in die Küche ging, um die Überreste des Frühstücks aufzuräumen, ließ Claire sich ein Bad ein. Langsam kehrten die Lebensgeister zurück, aber ein benommenes Gefühl blieb ihr erhalten. Aus Erfahrung wusste sie, daß es wohl bis zum Montag dauern würde, bevor sie wieder völlig klar war. Eigentlich wusste sie recht gut, daß sie beim Alkohol sehr vorsichtig sein musste, aber hin und wieder geriet ihr so ein eigentlich toller Abend völlig außer Kontrolle. Regelmäßig, wenn sie einen gewissen Punkt überschritt, gab es für sie kein Halten mehr, dann brachen alle Dämme. Diese Hemmungslosigkeit, in der sie sich dann verlor, war es, dessen sie sich am meisten schämte.

Wahrscheinlich war sie in der Wanne eingenickt, denn als sie hochschreckte, fand sie das Wasser kalt. Die Musik aus dem Erdgeschoss war verstummt. Claire stieg langsam aus der Wanne, nachdem sie sich noch einmal abgeduscht hatte. Sie zog sie den Stöpsel und ging nackt über den Flur, die Haare noch nass, zurück ins Schlafzimmer. Auf dem Bett lag Mike, der langsam eine Illustrierte durchblätterte, während er einen kleinen Schlüssel an einem Ring um seinen Finger kreisen ließ.

„Sag mal, Füchsin, wenn ich das mit den Strafarbeiten vorhin ernst gemeint hätte, wie würdest du reagieren?“
„Was? Inwiefern ernst gemeint? Jetzt, heute, oder so ganz pauschal an irgendeinem Tag?“
„Völlig egal. Jetzt oder irgendwann.“
„Ähm… Keine Ahnung. Da müsste ich erst mal drüber nachdenken.“
„Nein. Ich will, daß du jetzt antwortest!“
„Ach… Na gut. Also bis auf das mit dem Streichen von den Fensterrahmen…“
„Und das mit dem Fliegenfangen. Beides war natürlich reiner Blödsinn.“
„Ja, verdammt noch mal! Wenn du das verlangst, dann mach‘ ich’s. Scheyß drauf!“
„Okay, klasse! War aber nur ein Scherz. Vorerst jedenfalls.“

Claire atmete erleichtert auf. Nicht, daß sie erwartet hätte, daß Mike mit seiner Litanei wirklich ernst gemacht hätte. Jedenfalls nicht an diesem Sonntag.

„Nur eins noch, Fähe, dann kannst du wieder ins Bett schlüpfen!“

Bei diesen Worten reichte er ihr den Keuschheitsgürtel. Sie nahm ihn ein wenig wiederstrebend an, weil sie eigentlich gerne noch länger ihre Freiheit genossen hätte. Irgendwie war es ein Unterschied, den Gürtel zu tragen ohne in Stimmung zu sein, oder ihn in einem Moment anlegen zu müssen, wenn sie eigentlich gerade damit garnichts zu tun haben wollte. Genau so einen Moment hatte Mike nun ausgesucht. Dennoch rang sich Claire ein gequältes Lächeln ab, als sie die Schlösser einrasten ließ, während Mike entspannt auf dem Bett lag und sie dabei beobachtete.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
32. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 24.06.11 20:34

6.

Als Mike um kurz vor sechs den BMW gegenüber des Drei – Sterne – Italieners parkte, rollte bereits ferner Donner durch die Straßen. Auf dem Weg durch die stehende Hitze klapperten Claires Absätze über den Asphalt; ein langes, schulterfreies Kleid aus matt glänzendem, schwarzem Samt spielte um ihre Waden. Für zahlungskräftige Gesellschaften hielt das Restaurant mehrere, seperate Räumlichkeiten bereit, angenehm klimatisiert, in die Mike und Claire nun von einer Empfangsdame geleitet wurden.

Mehrere Kellnerinnen versorgten die Anwesenden im Salon mit prickelndem Champagner und kunstvoll arrangierten Hors D’oevres. Dazu hatte man einen DJ angeheuert, der sich um eine nervtötend seichte Beschallung bemühte: Easy – Listening – Geplärr der langweiligsten Sorte. Daneben litt der arme Mann unter einem angefrorenen Dauerlächeln, das einen riesigen, goldenen Schneidezahn aufdringlich ins Zentrum seines Gesichtes rückte. Über einer gigantischen, verspiegelten Sonnenbrille glänzte rosig seine Vollglatze. Sein schokoladenbraunes Seidenhemd unter einem pinken Jackett lieferte einen beinahe schmerzhaften Kontrast zur dezent wohlhabenden Abendgarderobe der Gäste.

Auch Mike hatte sich wiederstrebend in seinen teuersten Anzug gequält; standhaft war er bei seiner kategorischen Ablehnung einer Kravatte oder gar Fliege geblieben. Die hinreißende Claire an seiner Seite kompensierte diesen Mangel an Etikette in ausreichendem Maße. Mit weich perlendem Dreihundert – Euro – Champagner in geschliffenen Kristallgläsern machten Mike und Claire die Runde. Stellten sich vor, wurden vorgestellt, wurden weitergereicht von den wichtigen zu den noch wichtigeren Persönlichkeiten. Mike machte sich nicht die Mühe, sich irgendwelche Namen einzuprägen. Er fühlte sich ohnehin ausgesprochen deplaziert. Indessen machte er aufschlußreiche Beobachtungen, die Kongruenz zwischen Einkommensniveau und Attraktivität der Partnerin betreffend. Ausnahmen bestätigten die Regel: Einige der teilweise schon greisen und unglaublich wichtigen männlichen Personen waren offenbar tatsächlich in Begleitung ihrer langjährigen Gattinen aufgetaucht.

Wenig überraschend war die Zusammensetzung der Gesellschaft. Mike stellte sehr schnell fest, daß er hier ein absoluter Exot war. All die Vorstandsmitglieder, Laborchefs, Abteilungsleiter und Hauptaktionäre waren männlichen Geschlechts. Und bis auf wenige Ausnahmen dienten ihre häufig wesentlich jüngeren Begleiterinnen vordringlich repräsentativen Zwecken. Seltsamerweise kam Mike ein interessanter Vergleich in den Sinn: Erfüllten diese Begleiterinnen einen ähnlichen Zweck für ihre Gönner, wie die teuren Handtaschen für die Begleiterinnen selbst?

Ideen für hochklassige, sozialwissenschaftliche Dissertationen waren Mikes einziger Ausweg aus ungemütlicher Langeweile, und dem Gefühl, daß er niemals Teil dieser versnobten Welt sein könne. Vielleicht tat er einigen Anwesenden Unrecht, vielleicht verhielten die sich privat und unter Freunden ganz anders, und waren von dieser Versammlung ebenso gelangweilt wie Mike. Ohne zu fragen spürte er jedenfalls ganz klar, daß Claire so ziemlich das selbe empfand wie er. Außerdem hatte er so ein Gefühl, daß Claire recht deutlich spürte, was er von der Sache hielt, sowie daß sie spürte, daß er spürte, daß sie das selbe spürte.

Blieb zu hoffen, daß solche Abende nicht zur Regel würden. Den Absprachen nach würde Claire im Herbst den Posten der Laborleiterin übernehmen. Nicht, weil sie gut aussah, oder ihrem Chef schöne Augen machte, sondern aus dem einfachen Grund, daß sie gut war. Sie arbeitete akribisch, hatte creative Ideen, die sie auch umsetzten konnte, und sie konnte bei Bedarf verflucht hartnäckig sein. Dabei war sie nicht das, was man „karrieregeil“ nennen konnte. Vor vier Jahren war sie in einer ähnlichen Situation gewesen, bevor sie schwanger wurde und ihre Karrierepläne ohne zu zögern begrub. Umso mehr freute es Mike, wenn sie nun wieder die Gelegenheit bekommen sollte, sich weiterzuentwickeln. Ein Ersatz für die Kinder, die ihr nun verwehrt waren, konnte das nicht sein, aber es half ihr offensichtlich bei der Kompensation.

Laborleiterin, als eine der wenigen Frauen in gehobener Position in dem Unternehmen. Ein wiederlicher Gedanke zuckte durch Mikes Bewusstsein, wie ein unvermittelter Kontakt mit einem Zitteraal. Hatte sie den Posten angeboten bekommen, nachdem durchgesickert war, daß sie unfruchtbar war? „Übrigens, sie müssen sich keine Sorgen machen, daß ich eine Auszeit wegen Schwangerschaft nehme. Meine Gebärmutter ist glücklicherweise grundlegend zerstört. Terra Deserta, wenn sie verstehen…“ Mike wusste mit absoluter Sicherheit, daß Claire niemals zu solchen Mitteln greifen würde. Wenn nicht aus Rücksicht auf Mike oder sich selbst, dann aus Rücksicht auf Cassandra. Ein solcher Gedanke war nicht nur peinlich, er war schmerzhaft. Mike kannte diesen Schmerz: Ein plötzliches, brutales Reißen und Ziehen in seinen Eingeweiden, kurz aber heftig. Mikes Arzt kannte den Schmerz ebenfalls, beschrieb das hin und wieder auftretende Ereignis als psychosomatische Noxe. Wie auch immer man es nennen mochte: Der Körper folgt dem Geist, positiv wie negativ.

Das Bankett fand in einem anderen Raum statt. Zwei lange Reihen von Tischen, verschiedene Redner standen der Reihe nach auf und erließen sich in langwierig ausschweifenden Dankes – und Lobreden. Es folgte ein ausgeklügeltes Vier – Gänge – Menue; wenn man den Stehempfang mit „Sekt“ und „Schnittchen“ dazurechnete, ware es freilich fünf Gänge. Nichts davon sagte C laire wirklich zu. Sie saß zwischen Mike und VonBosstejns Begleitung, eine der weiblichen Ausnahmen im Saal. Der teure Ehering war der selbe, den auch Claires Chef trug. Mit ihren fünfundfünfzig Jahren war sie auch genau in dessen Alter, ihre Kleidung, das Makeup sowie die hochwertigen Zeugnisse plastischer Chirurgie in ihrem Gesicht, verdeutlichten, daß sie sich auch ganz zwanglos an den Konten ihres Mannes bedienen durfte.

Zwischenzeitlich versuchte Claire mit dieser Frau ein Gespräch zu beginnen, stellte aber bald fest, daß es ihnen nicht gelang, ein gemeinsames Thema zu finden. Dennoch versuchte sie, gute Miene zum langweiligen Spiel zu machen. Über den Tisch hinweg tauschte sie belanglose Nettigkeiten mit irgendeinem Aktionär aus, während der übergewichtige Betriebsratsvorsitzende drei Plätze weiter sie mit den Augen auszog. Also fasste Claire den Entschluß, den Mann für alle Zukunft abstoßend zu finden.

Nach dem vierten Gang hatte sie immer stärker mit den Auswirkungen der letzten Nacht zu kämpfen. Nach außen hin hielt sie tapfer die Fassade interessierter Heiterkeit aufrecht, während sie sich innerlich immer elender zu fühlen begann. Zu allem Überfluß schien Mike sich recht gut mit dem Leiter der Innenrevision neben ihm zu verstehen. Claire schnappte Gesprächsfetzen auf, in denen sie die Namen „Dante“, „Sartre“, „Dostojewski“ und irgendwann auch „Heidegger“ zu vernehmen glaubte. Zwei Plätze weiter wurde schallend über gruselige Zoten aus VonBosstejns letztem Thailandurlaub gelacht. Ein Kontrollblick ins Gesicht seiner Frau zeigte einen stir geradeaus gerichteten Blick und zusammengepresste Lippen. Claires Gedanken gerieten für den Bruchteil einer Sekunde außer Kontrolle, in dem sie sich selbst aufstehen und auf den Tisch steigen sah. Direkt vor ihrem Chef zog sie das Kleid hoch, ging in die Hocke und präsentierte ihm ihre eingeschlossene Scham, bevor sie unter schallendem Gelächter und Mikes Applaus auf VonBosstejns Teller pisste.

Sie schrak zusammen und schüttelte das verstörende Bild ab. Wie sie es hasste, so unvermittelt von durchaus unerwünschten Gedanken heimgesucht zu werden. Und auf einmal fühlte sie sich völlig allein in dem Saal, ein Gefühl das erschreckend echt und stark war. Als wäre sie wirklich völlig isoliert. Ihr Blick schweifte umher, sehr wohl sah sie die anderen Leute um sich herum, Mike eingeschlossen, aber die waren entrückt, gehörten nicht länger zu ihrer Realität. Irgendwie waren alle anderen außerhalb und nur Claire selbst war innerhalb, in einem engen, erstickenden Kokon. Am ehesten ähnelte das, was sie sah, einer Spiegelung. Sie saß in einem amorphen Spiegel, der sie vollständig umgab. Nur daß sie sich darin nicht selbst sah, sondern die Spiegelung der Partygesellschaft, der Welt, deren Bestandteil sie noch bis vor einer Sekunde gewesen war. Angst stieg in ihr hoch. Während ein Teil ihres Bewusstseins signalisierte, sie sei lediglich ein bisschen überdreht, es sei ja alles bestens, beharrte der tiefere, stärkere Teil darauf, daß sie jetzt in Panik auszubrechen habe.

Sich zusammenzureißen kostete einige Überwindung, dennoch stand sie vermeintlich ruhig auf und tippte Mike auf die Schulter. Sie hörte sich wie durch Watte ein paar Worte murmeln, in der Art von: „Bisschen unwohl, frische Luft, Toilette“, worauf sie zügig den Saal verließ.

Während sich die Räume für private Festlichkeiten im Erdgeschoß befanden, gab es im ersten Stock auch ein öffentliches Restaurant mit großer Dachterasse. Claire zögerte einen Moment, ob sie die Treppe hinaufsteigen und oben nach einer Toilette fragen sollte. Doch sie überlegte es sich anders; natürlich mussten auch im Erdgeschoss passende sanitäre Einrichtung zu finden sein. Sie wandte sich an den Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes, den ihre Firma für die Feier organisiert hatte.

Die Räumlichkeit war edel, blitzend sauber und geräumig. Mehrere Waschbecken mit breitem Rand und großen Spiegeln luden förmlich dazu ein, das Makeup nachzurüsten oder ein paar dünne, weiße Linien auf den schwarzen Marmor zu ziehen und durch einen fünfhundert Euro Schein wieder verschwinden zu lassen. Claire öffnete eine der Kabinen, auch hier war alles herrlich sauber. Duft von Limonenfrische überlagerte dezent die Gerüche nach Reinigungsmitteln, welche ihrerseits alle unangenehmeren Belästigungen der Nase vertrieben hatten. Claire schloß die Tür hinter sich ab und setzte sich auf den hinuntergeklappten Toilettendeckel. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, barg sie ihr Gesicht in den Händen. Wenige Augenblicke später gab sie dem Drang, den Tränen freien Lauf zu lassen, einfach nach.

Als die Eingangstür aufgestoßen wurde, biss sie sich auf die Unterlippe um auffälliges Schluchzen zu unterdrücken. Zwei kichernde und giggelnde Stimmen, die Claire vage bekannt vorkamen, hallten durch den Waschraum. Sie hörte das Rascheln von Handtaschen, klappernde Kosmetika und das Rauschen eines Wasserhahnes, untermalt von Lachgeräuschen, eines davon eher dezent kichernd, das andere mehr ein schrilles Kreischen. Die beiden Frauen sprachen russisch, Claire hörte ein paar Einzelheiten wie: „Schwantz“, „Hemdkragen“, „Sekt“, „Lippenstift“ und „Hure“ heraus. Nachdem die Stimmen sich entfernt hatten, die Tür wieder geschlossen war, wischte Claire sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie suchte sich eines der Waschbecken aus, in dem sie keine Tropfen vorfand und drehte das Wasser auf. Die Hände auf den Rand gestützt, beobachtete sie den Strudel, in dem die Flüssigkeit im Abfluß verschwand. Der drehte sich brav gegen den Urzeigersinn, alles wie immer, alles in Ordnung. Sie hob den Kopf, um einen Blick in den Spiegel zu riskieren. Was sie darin sah, war nicht unbedingt ein Grund zur Freude. Tränen hatten die wenigen Spuren von Schminke, die sie benutzt hatte, in eine reichlich bescheuerte Fratze verwandelt. Ohne eine Gründliche Korrektur konnte sie sich unmöglich zurück wagen. Leider musste sie im selben Moment feststellen, daß ihre Handtasche über der Lehne ihres Stuhles im Eßsaal hing.

Mike machte sich auf die Suche nach Claire, als das Dessert aufgetragen wurde. Ohne groß darüber nachzudenken, griff er sich auch ihre Tasche, bevor er der oberschichtlichen Geselligkeit vorerst den Rücken kehrte. Auch er hätte den Sicherheitsmann nach seiner Frau fragen können, aber er ließ es bleiben. Stattdessen stellte er seinen Geist auf Claire ein. Sie war zur Toilette gegangen, obwohl sie nicht musste, wahrscheinlich zu der im Erdgeschoß, weil oben zuviele Gäste waren. Seitdem waren fast zwanzig Minuten vergangen, in denen sie definitiv den Aufenthaltsort gewechselt hatte. Also frische Luft. Mike stieg die breiten Treppenstufen zum öffentlichen Bereich hinauf, wo er nach kurzer Zeit Claire am Rand der Dachterasse fand.

Mittlerweile war das Gewitter deutlich näher gerückt, so daß die Luft von Elektrizität zu knistern schien. Der Himmel war pechschwarz, grollte und rumpelte, aber noch regte sich kein Lufthauch. Über den Dächern blitzte Wetterleuchten auf. Ein paar Gäste standen noch in einiger Entfernung am Eingang und rauchten, während mehrere Kellner eilig die Tische abräumten. Claire stand direkt am Geländer. Rücken, Schultern und Arme kontrastierten nahezu strahlend weiß mit der Finsternis jenseits der Terasse, während sich vor dem weiß getünchten Steingeländer ihr schwarzes Kleid energisch abhob. Neben ihr auf dem Geländer stand ein Glas Wasser, zur Hälfte ausgetrunken. Mike trat hinter sie und legte die Arme um ihre Schultern. Eine Weile schauten beide schweigend in die Schwärze vor ihnen, bis Mike die Stille zerbrach.

„Was ist passiert? Du warst eben ziemlich komisch, da unten.“
„Schon. Mir war eben total komisch, da unten.“
„Es lag nicht an dieser reichlich steifen, irgendwie unangenehmen Gesellschaft.“
„Nein. Oder vielleicht auch, ein bisschen. Aber ich glaube, das alles war nur, sozusagen: der Katalysator für etwas, das eigentlich schon da war. Weisst du, für einen kurzen Moment war ich gar nicht mehr richtig präsent. Irgendwie total entrückt. Oder eigentlich nicht ich, sondern meine Umwelt. War alles ganz weit weg.“
„Ich glaube, du solltest wirklich in Zukunft nicht mehr so viel trinken wie gestern.“
„Stimmt. Aber auch damit hatte das nicht wirklich was zu tun. Ich hab‘ schon seit ein paar Tagen ein komisches Gefühl. Als wenn die ganze Welt um mich herum seltsam brüchig wird. Außerdem bin ich ziemlich sicher, daß du da ganz ähnlich empfindest, stimmt’s?“
„Ich sag’s mal so: Ich laufe auch seit einiger Zeit mit einem ziemlich geblähten Kopf herum. Aber hey: Was soll ich anderes erwarten? Die verfluchte Hitzewelle ist schuld daran. Das ist doch immer so: Wir sind alle auch vom Wetter gesteuert. Also häufen sich bei so einem Extremzustand wie in der letzten Zeit die ganzen Merkwürdigkeiten an. Wahrscheinlich hat das mit Murphy’s Law zu tun.“
„Mike, du bist echt ein Idiot! Das Wetter ist schuld? Ja ganz bestimmt!“
„Was denn sonst? Was willst du von mir hören? Du machst dich da irgendwie verrückt.“
„Ach, was weiß ich. Kann sein. Jedenfalls will ich nach hause. Am besten jetzt. Ich hab‘ gerade keinen Bock mehr auf das alles hier.“
„Kann ich nur zu gut verstehen. Mein Vorschlag: Wir gehen wieder runter, du machst dich ein bisschen frisch, wir verspachteln noch den Nachtisch, und dann werden wir uns spätestens in einer dreiviertel Stunde sehr höflich und steif verabschieden. Einverstanden?“
„Klingt okay.“

Für einen Moment blieben sie noch auf der Terasse stehen, um sich zu küssen, während der Donner näher rückte. Als eine erste, staubige Winböe über den mittlerweile menschenleeren Außenbereich des Restaurants fegte, rissen sie sich voneinander los. Claire nahm Mike ihre Handtasche ab, um damit noch ein zweites Mal in die edle Atmosphäre der Toiletten einzutauchen. Aufrüsten für den vermeintlich letzten Teil eines anstrengenden Abends.

Zu Claires Erleichterung schafften sie es sogar noch vor der von Mike avisierten Zeit, zu ihrem BMW zurückzukehren. Sie wollten eben die leere Straße überqueren, als Mike ihren Arm packte und festhielt. Claire hatte die Lichtblitze zunächst für Wetterleuchten gehalten, aber an der Kreuzung schaltete das Feuerwehrfahrzeug die Preßluft ein, raste mit quietschenden Reifen und einem Höllenlärm um die Kurve und an dem überraschten Pärchen vorbei. Zwei weitere Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr folgten, im Schlepptau des Löschzuges dröhnten ein Rettungswagen und zwei Polizeifahrzeuge vorbei. Mike vergewisserte sich, daß nicht noch weitere Blaulichtautos hinter der Ecke auf ahnungslose Beute lauerten, dann überquerten sie die Straße.

„Was meinst du, Claire, mit deiner Erfahrung: Brennt’s da hinten wirklich?“
Sie folgte seinem Blick. Ein paar Straßen weiter hatten die Fahrzeuge gehalten und tauchten die Umgebung in hektische blaue Lichtblitze, zwischen denen aufgeregte Personen in reflektierender Kleidung herumhasteten. Aus einer anderen Richtung trafen weitere Fahrzeuge ein, bis die gesamte Straße blockiert war.
„Ja, da brennt’s definitiv. Lass uns abhauen.“

Als sie sich dem Auto näherten, blieb Claire allerdings aprupt stehen.
„Mike?“
„Hm?“
„Was ist da los? Siehst du das? Guck dir unsere Reifen an! Die sind doch platt!“
„Scheyße! Das gibt’s nicht.“
Claire stand kopfschüttelnd vor dem Auto, während Mike einmal rund herum ging.
„Das darf nicht wahr sein! Alle Reifen platt! Die hat jemand zerstochen!“




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
33. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 25.06.11 19:23

Viertes Kapitel:
Das Ritual



1.

Für einen Moment herrschte ratloses Schweigen angesichts der vier feinsäuberlich aufgeschlitzten Reifen. Claires Hände spielten in ihrer Handtasche mit dem Mobiltelephon, ihre Gedanken mit Anrufen bei Polizei und Abschleppdienst. Als ein gleißender Blitz die Straße für Sekundenbruchteile in hellem Licht aufleuchten ließ, verlor ihre Hand jegliches Interesse an dem Kommunikationsgerät und klammerte sich dafür an Mikes Arm. Krachender Donner hallte zwischen den Häusern wieder.

„Wenn wir jetzt losrennen, sind wir in drei Minuten an der Haltestelle, Mike. Ich habe keine Lust, im Unwetter auf die Polizei zu warten.“
„Seh‘ ich auch so. Wir könnten uns ins Auto setzen, aber…“
„…dann bleibt immer noch die Frage, wie wir nach hause kommen.“
„Und an der Haltestelle sind wir im Wartehäuschen mal vor dem Gröbsten geschützt.“
„Dann los, weil jeden Moment ist hier Achterbahn. Gib mir deine Schuhe!“

Eine heftige Sturmböe brauste zwischen den Häuserwänden hindurch, peitschte Staub und Müll über die Straße. Claire musste sich an Mike festhalten, der seinerseits Mühe hatte, dem Druck des Windes standzuhalten. Ein Stück hinter ihnen gab mit lautem Krachen ein Baum nach und legte sich quer auf einige geparkte Autos. Schnell schlüpfte Claire aus ihren High Heels, um die teure Unbequemlichkeit Mike zu übergeben, dann rannten sie los.

Mit der Haltestelle bereits in Sichtweite, schlug mit einem ohrenbetäubenden Knall ein Blitz direkt neben ihnen in ein Haus ein. Weitere Sturmböen trugen kleine Äste und eine Mülltonne in wirbelnden Bewegungen durch die Luft, sowie die ersten, pflaumenkerngroßen Hagelkörner. Scheppernd schlug das windgetriebene Eis gegen geparkte Autos und schwankende Straßenschilder, tanzte auf dem Asphalt der Fahrbahn und auf den Gehsteigen. Wassermassen schlugen mit den Windböen vom grollenden Himmel, so daß Mike und Claire sich Schutz suchend in einen überdachten Hauseingang hineinquetschen mussten. Obwohl kaum zwei Sekunden dem Niederschlag ausgesetzt, waren sie schon völlig durchnässt. Fröstelnd schmiegte sich Claire an Mikes Brust, sein triefendes Jackett klebte kaum Sc hutz bietend über ihren Schultern. Durch die wirbelnden Schleier aus Wasser und Eis war nicht einmal mehr die gegenüberliegende Straßenseite auszumachen, geschweige denn das Wartehäuschen der Haltestelle in weniger als hundert Metern Entfernung.

Begleitet von einem ineinander fließenden Stakkato von Donnerschlägen peitschte der Wind immer wieder prasselnd kalten Regen in Claires und Mikes Versteck. Eine besonders heftige Böe in Orkanstärke schob in unmittelbarer Nähe eine abgerissene Markise über den Straßenbelag, warf das Vordach polternd und kreischend gegen einen Kleinbus am Straßenrand. Im tosenden Aufruhr der Elemente wirkten diese Geräusche klein und unbedeutend. Jedenfalls war an einen Sprint zur Haltestelle bei solchen Verhältnissen nicht zu denken. Claire zog ihr nasses Handy aus dem Swimmingpool in ihrer Handtasche. Um sich verständlich zu machen musste sie ihren Mund in unmittelbare Nähe zu Mikes Kopf bringen und ihm ins Ohr schreien.

„Scheyße. Verdammter Sturzregen, mein Mobiles ist tuk. Kein Bild, kein Ton.“
„Und meins liegt zuhause in der Küche.“
„Na ganz toll. Ich hab‘ gedacht, ich rufe mal eben ein Taxi…“
„Ich bin mir nicht so sicher, ob bei dem Wetter eins kommen würde. Der Baum vorhin… Da sind sicher noch einige mehr umgestürzt und blockieren die Straßen. Schau dir mal an, wie hoch da jetzt das Wasser steht. Ein Fluß, wo vorher Fahrbahn war.“
„Super. Die Straßenbahn können wir dann auch vergessen, bestimmt sind wieder irgendwo die Oberleitungen kaputt.“
„An der Haltestelle war aber vorhin jemand, drei oder vier Leute.“
„Ja, bevor hier die Hölle losgebrochen ist.“
„Die werden sich aber da wohl kaum wegbewegt haben. Und wo Leute sind, gibt’s auch Handys. Dann warten wir einfach, bis das Gröbste vorbei ist, und bestellen zusammen ein Taxi.“
„Du willst jetzt nicht ernsthaft da rüber laufen, oder?“
„Mal sehen.“

Wie auf Kommando ging der Hagel in beinahe waagrecht getriebene Regenschleier über. Auch der Wind schien ein bisschen nachgelassen zu haben; immerhin waren die Häuser gegenüber wieder zu sehen. Im Flackern der Blitze peitschte der Regen auf die überflutete Straße. Prüfend betrachtete Mike die schwankenden Straßenlaternen, bevor er Claires Hand nahm und losrannte.

„Lauf! Gib auf deine Füße acht, Claire, da schwimmt eine Menge Scheyßdreck im Wasser!“

Das Wasser war tief, ging ihr bis über die Knöchel. Sie hielt den Saum ihres Kleides und rannte neben Mike her, wich einem treibenden Briefkasten und schwimmenden Bierflaschen aus. Sie befanden sich mitten auf der Straße, als es erneut zu hageln begann. Zwei Scheinwerfer kamen durch das Inferno auf sie zu, blendeten mehrmals auf und kamen kaum einen Meter von ihnen entfernt zum Stehen. Verzweifelt kämpften die auf maximale Frequenz geschalteten Scheibenwischer gegen auf die Frontscheibe gepeitschte Wassermassen an, während sich zu den Geräuschen des Unwetters, Sturm und Donnergrollen, gurgelndem Wasser und prasselnden Niederschlägen, das schrille Wimmern mehrerer PKW – Alarmanlagen gesellte, die gegen die erneuten Einschläge dicker Eiskörner protestierten. So war die Stimme kaum zu hören, die durch das halboffene Fenster auf der Fahrerseite aus dem Wageninneren schrie.

„Claire! Mike! Einsteigen! Macht, daß ihr von der Straße kommt!“

Eine weitere Aufforderung benötigten beide nicht. Mike öffnete die Tür zum Fond auf der Fahrerseite, schob Claire hinein und folgte so schnell er konnte; die Autotür hinter sich zuziehend landete er klatschnass wie er war halb auf Claires Schoß. Der Fahrer des Wagens drehte sich nach hinten um, erst jetzt erkannten sie Charon respektive Gregorij, der stirnrunzelnd die Sauerei auf seiner Rückbank betrachtete. Charon seufzte leicht, fuhr den Wagen an den Straßenrand und stellte den Motor ab, ließ aber Abblendlicht und Warnblinker an.

„Hilft nichts, bei dem Unwetter kann ich unmöglich weiterfahren.“
„Uns hast du immerhin noch rechtzeitig gesehen.“
„So eben noch, Claire, so gerade eben. Was macht ihr ihr eigentlich bei dem Wetter draußen auf der Straße? Noch dazu in solch feinem Zwirn?“
„Wir waren auf der Vorstandfeier von Claires Firma und wollten eben nach hause. Das Gewitter hat uns sozusagen überrascht.“
„Naja, nicht ganz richtig. Wir wären ja gefahren, aber irgendein Arschloch hat unseren BMW lahmgelegt.“
„Wie das?“
„Alle vier Reifen aufgeschlitzt!“

Bei den letzten Worten simulierte Claire mit der Hand das Zustoßen mit einem Messer, um der dreisten Aggressivität dieser Handlung noch mehr Nachdruck zu verleihen.

„Naja, ihr seht’s ja selbst, mit dem Auto wärt ihr wohl auch nicht weit gekommen.“
„So sieht’s aus, ja. Aber wir hatten ja das Glück, daß du Claire und mich überhaupt erkannt hast.“
„Hab‘ ich zuerst mal gar nicht. Nicht bevor ihr direkt vor der Motorhaube gestanden habt. Aber bei dem Wetter hätte ich wohl so ziemlich jeden hier reingelassen.“
„Bist ein rechter Menschenfreund, Gregorij. Jeder Raubmörder wird dir innig dankbar sein.“
„Keine Sorge, Claire. Da wüsste ich mir schon zu helfen.“
„Wer denkt in so einer Situation schon an sowas. Wobei… Du hast doch den Totschläger dabei, Claire, oder? Wollen doch mal sehen, was die Brieftasche von diesem Typen so hergibt.“
„Tut’s auch ein abgesoffenes Handy?“
„In meiner Brieftasche sind so ungefähr zwanzig Euro. Und vielleicht noch mal zwei oder drei im Handschuhfach und unter dem Beifahrersitz. Aber ich kann euch ersatzweise anbieten, euch nach hause zu fahren, bevor Claire mit ihrem furchteinflößenden Waffenarsenal ernst macht.“
„Wie wären dir ewig dankbar.“
„Das hört man gerne, gerade von dir, meine Teuerste. Sobald ich da draußen wieder was sehe, geht’s los.“

Aber das Unwetter machte keine anstalten, sich zu beruhigen oder weiter zu ziehen. Fast eine halbe Stunde wüteten die Naturgewalten mit unverminderter Stärke weiter, bevor Charon es wagen konnte, die Fahrt durch den zwanzig Zentimeter tiefen Fluß auf der Straße fortzusetzen. Schon eine Weile vorher hatte er den Motor wieder angestellt um Heizung und Lüftung aufdrehen zu können. Mike und Claire waren völlig durchweicht, die Scheiben im nu beschlagen und Claires Körper in Mikes Armen zitterte vor Kälte.

Doch auch als sie wieder einigermaßen sehen konnten was sich unmittelbar vor Charons Passat befand, kamen sie teilweise nur im Schrittempo voran. An manchen Stellen waren die Straßen von reißenden Flüssen überspült, die Schlamm und Steine mit sich rissen. An anderen Stellen lagen große Äste oder anderes teilweise undefinierbares Gerümpel im Weg. An einer Stelle mussten Mike und Charon aussteigen, um in mühseliger und nasser Handarbeit eine Barriere aus Absperrgittern, Sonnenschirmen und Teilen eines Baugerüstes von der Fahrbahn zu räumen.

Erst nach mehr als einer dreiviertel Stunde bog Charons Wagen auf das Grundstück der Mommsens ein, wo er vor der Garage hielt.




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34. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 26.06.11 19:29

2.

Mikes Hand strich über das Autodach, die von den Hagelkörnern verursachten Dellen betastend. Noch regnete es leicht, aber zumindest vorläufig war die Unwetterfront weitergezogen. Vom Garagendach troffen immer noch Ströme von Wasser, dazu das wilde Gluckern in den Dachrinnen, sowie das Gurgeln und Stöhnen der total überlasteten Kanalisation. Mit Schaudern beobachtete Claire den rülpsenden Gulli, während sie zitternd vor Kälte barfuß in einer schlammigen Pfütze stand, wo vorher einmal der Weg zum Hauseingang gewesen war. Mit ungläubigem Kopfschütteln befühlte Mike einen besonders tiefen Einschlag im Lack von Charons Passat.

„Wow. Wenn mich oder Claire so ein Teil erwischt hätte, dann wär’s dunkel geworden. Ich hoffe, deine Versicherung deckt den Schaden ab, Gregorij?“
„Keine Ahnung. Ich muss es nachschauen. Dein Auto wird auch nicht besser aussehen, Mike.“
„Weiß ich. Und ich bin mir ziemlich sicher, daß der BMW dagegen nicht versichert ist.“
„Hallo, Männers! Wenn ihr mit eurem Autokram fertig seid, könnten wir dann vielleicht reingehen? Ich weiß, daß ihr als Männer ja gar nicht frieren könnt, aber meine Temperaturwahrnehmung funktioniert einwandfrei. Und die gibt mir jetzt zu verstehen, daß ich mich gerade in einen Eisklotz verwandele.“

„Whiskey? Oder Grappa? Wie sieht’s aus Gregorij, ein bisschen Wärme kann uns nicht schaden, oder?“
„Ich würde sagen, wir haben es uns verdient. Gerne, Mike.“
Mit nasser Anzughose und barfuß griff Mike drei Gläser aus dem einen Schrank und eine Flasche Single Malt aus einem anderen.
„Du nimmst doch auch einen, Füchsin?“
„Später bestimmt. Aber zuerst muss ich aus den nassen Sachen raus und ganz irrsinnig heiß duschen. Wenn du unbedingt mit dem ruinierten Anzug das Wohnzimmer versauen musst, bitteschön. Aber ich gehe kurz hoch.“
„Ich ziehe mich auch gleich um, aber vorher trinke ich einen kurzen Schluck mit unserem Retter in der Not…“
„Ich bin kurz weg, dann.“
„Stop! Nimm das hier lieber mit!“

Claire schnappte sich, begleitet von Charons verwirrtem Blick, den kleinen Schlüssel, der an der Kette von Mikes ausgestrecktem Zeigefinger baumelte. Im Gehen warf sie Mike einen grimmigen Blick zu, den er mit einem frechen Grinsen erwiederte. Charon kratze sich am Kinn; so richtig schlau wurde er aus dieser Darbietung nicht.

„Was war das denn? Schließt ihr das Badezimmer ab, wenn ihr das Haus verlasst, oder wie?“
„Ach woher. Das Badezimmer abschließen? Das wäre doch wirklich komplett abwegig. Nein, nur Claire wird abgeschlossen. Ist doch viel logischer.“
„Häh? Was?“
„Prost, Gregorij! Auf den Sachbearbeiter deiner Versicherung!“
„Möge er meinen Schaden erstatten, oder ansonsten an Syphilis erkranken!“

„Und?“
„Gutes Stöffchen, Mike. Ein Irischer?“
„Jou. Mir gefällt die Farbe: Das selbe, warme rotblond wie Claires Haare.“
„So in etwa, stimmt. Bist’n hoffnungsloser Ramontiker, was?“
„Bei Gelegenheit. Sag mal, musst du gleich weiter, oder bleibst du noch ein bisschen? Bei mir ist vorerst an Schlaf nicht zu denken. Und wenn Claire geduscht hat, würde sie sich glaub‘ ich auch freuen…“
„Also eilig hab‘ ich’s nicht. Wenn euch das nicht zu viel wird, nehme ich die Einladung gerne an.“
„Prima. Achso, du hast dich ja auch für unsere Uhr interessiert. Dann hast du jetzt Gelegenheit, sie mal in Augenschein zu nehmen, während ich mich umziehe. Und danach machen wir es uns noch ein bisschen gemütlich; Flasche Wein und Palaver…“

Claire befand sich noch im Bad, als Mike schon ein frisches T-Shirt und Jeans angezogen hatte. Durch die geschlossene Tür hörte er eben noch Wasser rauschen, gefolgt von einem leicht komischen Fiepen aus ihrer Kehle, als Claire anscheinend den Regler aprupt von heiß auf kalt stellte. Wenige Sekunden später hörte er die Dusche ausgehen, worauf er die Tür ein stück öffnete, um hineinspicken zu können.

„Wie weit bist du?“
„Bin ganz in der Nähe. Willst du auch duschen?“
„Nö. Später. Daß du da blos nichts Unanständiges anstellst, so allein da drin.“
„Auch wenn’s schwer fällt, ich reiß‘ mich mächtig zusammen. Soll ich mich wieder einschließen?“
„Auf jeden Fall! Wenn’s dir jetzt schon schwer fällt, wird es ja gerade interessant.“
„Sehr witzig.“
„Vergiss meinen Schlüssel nicht!“
„Den bekommst du, wenn ich wieder runterkomme. Der Kopf unseres Gastes raucht ja schon gewaltig wegen dem Rätsel.“

Nach dem Duschen zog sie sich eine weite Fleecehose an, dicke Socken, T-Shirt und Pulli; sie hatte keine Lust, sich noch einmal in Schale zu werfen. Den Schlüssel steckte sie gedankenverloren in die Tasche der unförmigen Hose, um ihn anschließend dort zu vergessen. Unten saßen Mike und Charon, vertieft in ein Gespräch, und so vergaß auch Mike, sie nach dem Schlüssel zu fragen, was sich später als unverschämtes Glück herausstellen sollte. Claire setzte sich neben Mike auf das Sofa, wo sie sich an der Schulter ihres Mannes anlehnte. Charon war gerade dabei zu erzählen, was ihn mitten im schönsten Unwetter in Claires und Mikes Reichweite verschlagen hatte.

„Jedenfalls wollte ich eigentlich vor dem Gewitter noch nach hause kommen, aber wie das so ist, man unterhält sich, Zeit vergeht, und am Ende steht man im Regen.Ich kenne diesen Nobelitaliener, wo ihr gewesen seid. Dieser Wasenstein wohnt in der selben Straße, ich bin also vorbeigefahren.“
Claire wurde hellhörig.
„Da war doch alles voller Feuerwehr und Polizei. Aber das war nicht bei dir, oder?“
„Nein. Das muss das Haus nebenan gewesen sein. Aber ich war ziemlich zugeparkt von denen. Wenn da der Auflauf nicht gewesen wäre, säße ich wahrscheinlich jetzt noch bei Beat. Ein interessanter Mann, ich stehe seit einiger Zeit mit ihm in Kontakt, aber heute habe ich ihn zum ersten Mal getroffen.“

Mike verzog das Gesicht, zugleich führte er mit der Linken eine recht abfällige Handbewegung aus.
„Interessant, wirklich? Ich habe ein paar Sachen von ihm gelesen. Halb esoterisch, halb weltverschwörerisches Zeug. Ziemlich abwegig fand ich das eigentlich.“
„Ja, seine Schlußfolgerungen sind eher bescheiden. Aber mir ging es um seine Grundlagen. Und die sind wirklich sehr fundiert. Der Mann hat sich sehr in der Tiefe mit vorchristlichen Religionen und ihren Ritualen befasst. Er verfügt über Quellen, von denen ich noch nie gehört habe, und genau um die ging es mir. Von seinen abgehobenen und ziemlich wirren Ideen und Idealen halte ich genauso wenig wie du, Mike.“
„Du hängst dich ja ziemlich rein, in dein Hobby.“
„Es ist eigentlich mehr als ein Hobby für mich. Meine reguläre Arbeit mache ich, um ein angenehmes Leben führen zu können. Aber ich träume davon, mal selbst etwas zum Ursprung und zur Bedeutung alter, vorchristlicher Bräuche zu verfassen. Und natürlich, wie manche davon ihren Weg in den heutigen Alltag gefunden haben.“
„Nach allem, was ich bisher über dich weiß, das meiste davon natürlich von Claire, würde das auch viel besser zu dir passen, als eine Arbeit als Fondsmanager.“
„Findest du das? Wirke ich so seltsam und verschroben?“
„Wie denkst du denn, wie du wirkst? Selbst ich bin eigentlich nie aus dir schlau geworden. Was nicht schlimm ist, bist ja soweit ein netter Kerl, aber du gibst dir schon Mühe, ein bisschen unheimlich zu wirken.“
„Eigentlich solltest gerade du mich da ein bisschen besser kennen, Claire. Aber wenn du schon so anfängst…“

Charon verstummte, eine Weile sah er seine beiden Gastgeber grübelnd an, nippte dabei tief in Gedanken an seinem Whiskeyglas.
„Wenn ich so anfange, dann was?“
Er stellte das Glas auf den Couchtisch, zuckte die Schultern und stand auf.

„Ich habe mir vorhin ein bisschen eure Uhr angeschaut. Wirklich ein sehr interessantes Handwerksstück. Habt ihr euch einmal diese Schnitzereien genauer betrachtet? Komischerweise war etwas ganz Ähnliches auch Gegenstand in dem Gespräch, das ich eben mit Beat Wasenstein geführt hatte.“
Irgendwas an seinem Ausdruck, seiner Körperhaltung und seinen Worten sorgte bei Mike für eine unangenehme Irritation.
„Ich wüsste zu gerne, auf was du hinauswillst. Du wälzt da irgendeinen Gedanken in deinem Kopf, jetzt schieß schon los.“
„Ähm, es ist eigentlich eine blöde Idee… Es ist schon recht spät, und ihr beide würdet mich für bescheuert halten, glaube ich.“
„Bist du sehr müde Claire? Also ich bin noch quietschvergnügt. Oder meinst du, der Typ ist bescheuert?“
„Also, von meiner Seite nö und nö. Ich bin topfit und der Typ macht doch einen ganz soliden Eindruck. Immerhin arbeitet er bei einer Bank.“
„Also gut. Aber ihr müsst es sagen, wenn ihr keine Lust habt. Oder es zu viel wird.“
„Wieso? Willst du uns eine vollständige Solodarbietung von Wagners Ring geben oder so?“
„Nicht ganz, Mike. Aber sowas in der Art vielleicht. Habt ihr Lust auf ein kleines Experiment? So eine Art Session, angelehnt an ein paar alte Rituale und Bräuche?“




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
35. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von ISLAPET am 27.06.11 20:20

Da bin ich mal gespannt, wie sich so ein Schlüsselverlust als "unverschämter Glücksfall" herausstellen vermag...

Ach, dieser gelassene, selbstverständliche Umgang mit dem KG im Alltagsgebrauch, einfach so wie´s sein sollte...Die geschichte wird immer besser, nur weiter so!

LG
Miguel
36. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 27.06.11 22:57

Hallo, Miguel.

Das tut doch dem Autorenherzen gut, wenn es sich hin und wieder an einem Kommentar erfreuen darf. Es gibt so ein bisschen die Sicherheit, daß ich nicht an allen "Story Readers" total vorbeischreibe.

Weiter geht´s morgen. Vielleicht "so", vielleicht auch ganz anders.

Ob das vielleicht eine Idee für einen neuen Nutzerstatus wäre? "Story Reader"? So ab dem fünfzigsten Kommentar in einem Geschichten - Board... denn was wären die Schreiber ohne die Leser?

Grüße, Turambar.

37. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 28.06.11 16:03

3.

Gereizt öffnete Alfons Basstong die Fahrertür. Vor Nässe triefende Männer in Feuerwehruniformen rollten Schläuche zusammen, oder schleppten Atemschutzausrüstung zurück zu den Fahrzeugen. Dazwischen wirkten die Kollegen vom Streifendienst und der Verkehrspolizei einigermaßen unsortiert, Absperrungen wurden verschoben, um abrückende Fahrzeuge durchzulassen, wieder aufgestellt um jene Neugierigen im Zaum zu halten, die sich trotz des Unwetters versammelt hatten. Anscheinend war es nicht ganz einfach, die Gaffer von denen zu trennen, die aus dem brennenden Haus evakuiert worden waren. Basstong warf einen Blick ins Innere eines Rettungswagens mit offener Tür, in dem sich an die zehn Personen zu drängen schienen. Er zuckte die Achseln und setzte seinen Weg durch das Flackern der Blaulichter fort, stapfte mit durchweichten Schuhen durch den langsam nachlassenden, prasselnden Regen.

Das Seitenfenster fuhr herunter, nachdem er dreimal gegen die Scheibe des Einsatzleitwagens der Feuerwehr geklopft hatte. Ihm kam der stämmige, glatzköpfige Mann auf dem Beifahrersitz bekannt vor, ohne daß er sich an seinen Namen erinnern konnte. Es war unschwer zu erkennen, daß der Einsatzleiter mindestens ebenso genervt war, wie der Kommissar.

„Was gibt’s? Wenn sie ein Interview wollen, dann gehen sie zur Polizei. Bei mir nicht.“
„Genau von ihnen brauche ich aber das Interview. Weil nämlich ich bin die Polizei. Kripo, Alfons Basstong.“
Der Einsatzleiter reichte seinen Funkhörer an den Fahrer, um Basstong die Hand zu geben.
„Was willste denn wissen?“
„Die Anwohner sind alle draußen?“
„Aus dem betroffenen Haus und den angrenzenden, alle evakuiert. Die Verletzten werden noch versorgt oder sind unterwegs ins Krankenhaus, die anderen sollten größtenteils in dem Restaurant die Straße runter sein. Ich hab‘ da mal einen Saal requiriert, bei dem Wetter kannste die Leute ja nicht im Regen stehen lassen.“
„Geht klar. Ich schick‘ da mal `nen Kollegen runter. Wie viele Verletzte habt ihr?“
„Acht sind registriert, alles Rauchgas. Aber oben drin liegt ein Toter, das wäre was für dich, dann.“
„Ja super. Das hat mir gerade noch gefehlt. Oben drin? Also Dachgeschoß? Brandherd war auch oben?“
„Ja. Waren praktischerweise alle Dachfenster auf, der Sturzregen hat uns ein bisschen geholfen, sonst wär’s schwierig geworden.“
„Wann können wir rein?“
„Sobald geklärt ist, ob der Dachstuhl hält.“

Mit zunehmend schlechter Laune stapfte Basstong zum Dienstwagen zurück. Unterwegs nahm er sich den ranghöchsten Kollegen, den er finden konnte, und sprach die Sicherung der Einsatzstelle sowie die Personenbefragung der betroffenen Bewohner mit ihm ab. Auf ein Klopfen aufs Autodach öffnete sich die Beifahrertür des Dienstwagens, drinnen saß Torun im Trocknen, in einer Hand das Funkgerät, in der andern eine Zigarette; Rauchverbote interessierten den Hauptkommissar nicht wirklich.

„Wir haben einen Toten, Yildiray. Bestell doch mal noch Spusi nach.“
„Hab‘ ich schon. Aber die stecken fest, weil die Straße blockiert ist. Verdammtes Unwetter, war so klar, daß ausgerechnet dann so ein Einsatz anläuft.“
„Wundert dich das?“
„Nö. Ist doch immer so.“
„Komms du mit rauf? Ansonsten mach dich mal kundig, wie’s mit der Brandursache aussieht.“
„Bah. Die wissen eh noch nichts. Soll das die Forensik klären. Können wir denn schon rein?“

Schwarzverschmierte Flecken an den Knien der weißen Hose des Notarztes ließen vermuten, daß er neben der Leiche gekniet hatte. Angewiedert rümpfte Basstong die Nase. Ein Sanitäter hatte ihm einen Mundschutz aus Papier gegeben, der allerdings gegen den starken, Übelkeit erregenden Brandgeruch und den Gestank von kaltem Rauch keine Hilfe war. Auf einen Mundschutz hatte Torun verzichtet, dafür steckten seine Hände bereits in ebenfalls vom Rettungsdienst geklauten Gummihandschuhen. Er hatte sich Schulter an Schulter mit dem Arzt gestellt, um diesem beim Ausfüllen seines Protokolls zusehen zu können.

„Was schreibst du als Ursache auf den Schein?“
„Ungeklärt, was sonst? Der Körper ist ziemlich verschmort, aber soweit ich sehe, gibt’s keine äußeren Verletzungen. Den Rest überlasse ich gerne den Kollegen von der Pathologie. Die Leiche liegt noch genau so, wie wir sie gefunden haben. Was die Feuerwehr gemacht hat weiß ich nicht, und mein Job ist, den Tod festzustellen. In dem Fall kein großes Kunststück.“
„Hast du `nen Namen?“
„Die Wohnung gehört einem Doktor Beat Wasenstein. Den Namen schreib ich auch auf’s Protokoll, mit Fragezeichen, weil ich keinen Ausweis oder so gesehen habe. Identität feststellen ist doch Sache der Polizei, oder hat sich das jetzt geändert?“
„Nönö. Aber wenn du’s dir leicht machen willst, dann schreib‘ bei Name einfach auch unbekannt rein. Sonst kommt ein findiger Kollege bei uns vielleicht auf die Idee, nochmal nachzufragen. Weil man hat ja nie genug Papierkram zu erledigen.“
„Danke für den Tip. Geht ihr von Mord aus? Brandstiftung?“
„Müssen wir ja leider, solange nichts geklärt ist. Wird auf jeden Fall `ne lange Nacht.“
„Hast mein vollstes Mitgefühl. Bei uns sieht’s aber auch nicht besser aus. Schon dreimal angepiepst, seit wir hier sind. In der Stadt ist die Hölle los, wegen dem Unwetter.“
„Was du nicht sagst.“
„Hier ist dein Durchschlag. Wir ziehen denn mal weiter.“
„Ich wünsch‘ dir trotzdem `ne ruhige Nacht.“
„Danke, auch wenn’s damit wohl nichts wird.“

Alfons Basstong untersuchte vorsichtig die Überreste der Kleidung des verbrannten Mannes. In der Innentasche der Jacke fand er eine Brieftasche, deren Inhalt noch einigermaßen intakt geblieben war. Auch der Personalausweis war noch lesbar, und bestätigte insofern die Vermutung des Arztes. Torun ging langsam durch die verbrannte Wohnung, ein ausgebautes Dachgeschoss mit vielen schrägen Fenstern. Die meisten lagen nun in Splittern auf dem Parkettfußboden, der überzogen war mit einem glitschigen Schleim aus Ruß, Regenwasser und Löschmitteln. Die Wohnung war groß und geräumig, fast schon ein richtiges Penthouse. Im größten der Räume lag die Leiche, hier waren auch die Verwüstungen durch den Brand am deutlichsten. Küche und Badezimmer dagegen hatten von dem Feuer kaum Schaden genommen, standen allerdings durch die Arbeit der Feuerwehr ebenfalls unter Wasser. Was Yildiray Torun in der Küche auffiel, war eine leere Weinflasche und zwei Gläser in der Spüle. Er würde feststellen müssen, wer hier zu Besuch gewesen war.

Nach dem kurzen Rundgang kehrte er zu Basston zurück, der vor einem Haufen von verbrannten Papieren hockte. Zwischen den Überresten eines Sofas und einem zusammengebrochenen Wohnzimmerschrank mit geborstenen Glastüren lag ein weiteres solches Häuflein, das wahrscheinlich einmal ein Stapel Bücher oder Schnellhefter gewesen war. An einer der Wände hatte vor dem Brand ein großes Bücherregal gestanden, daß aber beinahe zur Gänze ein Raub der Flammen geworden war. Ein großer Flachbildfernseher lag dort nun teilweise geschmolzen in einem Haufen kaum definierbarer Trümmer. Basstong stand kopfschüttelnd auf und zog sich die Gummihandschuhe aus.

„Zum Kotzen, Yildiray, wie immer. Es gibt nichts nervigeres als einen Wohnungsbrand mit Todesopfer. Ein Haufen Ermittlungen, ein unheimlicher technischer Aufwand, und am Ende läuft es sowieso wieder auf einen Unfall heraus.“
„Mal abwarten. In der Küche sind zwei benutzte Weingläser; war wohl Besuch da, heute Abend.“
„Wird ja immer besser. Also noch mehr Arbeit.“
„Wo sind die anderen Bewohner aus dem Haus? Da brauchen wir Personalien, und…“
„Das läuft schon an. Soweit nicht im Krankenhaus, sind die Anwohner in dem Restaurant neben der Lukaskirche. Zwei Kollegen sind dabei und nehmen die Daten auf.“
„Komm, wir müssen nicht hier warten. Wir suchen uns Kaffee, und hocken uns ins Auto, bis die Spusi anrückt. Ohne die können wir eh nicht weitermachen.“
„Besser so. Bevor wir hier oben ersticken…“

Der Regen hatte mittlerweile aufgehört, so daß Torun statt weiterhin das Wageninnere mit Zigarettenrauch anzufüllen, seine Lunge im Freien weiter beschädigen konnte. Basstong stattete dem als Notunterkunft mißbrauchten Restaurant, in dem bis vor kurzem noch der Vorstand eines Pharmaunternehmens gefeiert hatte, einen Besuch ab. Er unterhielt sich mit den Kollegen, die mit den Bewohnern des Brandhauses sprachen. Er besorgte auch Kaffee, der ziemlich gut schmeckte solange er heiß war. Als die Feuerwehr unter Sirenenlärm abrückte, auf dem Weg zum nächsten Einsatz, war der Kaffe kalt. Noch vor der Spurensicherung traf bald darauf der Leichenwagen der Pathologie ein. Torun musste weitere drei Gauloises rauchen, bevor die Untersuchung des Brandortes wirklich anlaufen konnte. Eine Untersuchung, die Alfons Basstong mißmutig als vergäudete Zeit und verschwendetes Geld ansah, rechnete er doch fest damit, in seinem Abschlußbericht nur wieder einen häuslichen Unfall mit Todesfolge zu dokumentieren. Die Ergebnisse in den nächsten Tagen belehrten ihn dann aber eines Besseren. Oder eines Schlechteren, das kam ganz auf den Standpunkt an.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
38. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 29.06.11 16:04

4.

Am Boden lag ein großes Blatt Papier ausgebreitet, auf das Charon einen Kreis mit einem dreizackigen Stern in der Mitte gemalt hatte. Die Strahlen trennten sich in annähernd gleichen Winkeln. Charon malte sie bauchig und dick, so daß sie beinahe eine Replik des Ziffenblattes der Standuhr im Hintergrund bildeten. Fasziniert beobachtete Claire, wie er um den Kreis herum kleine Figuren skizzierte. Seine filigranen und präzisen Bleistiftstriche verdichteten sich zu sonderbaren Gestalten: Phantastische Wesen, menschliche Körpern mit Tierköpfen, kopulierende Dämonen und archaische Götter; Feuer, Schwert und Eisen.

Während Charon zeichnete, brachte Mike Kerzen, Wein und Gläser, die er neben der Zeichnung abstellte. Mittlerweile verdichteten sich die miteinander eng verflochtenen Fabelgestalten zu einem weiten, äußeren Ring um den inneren Kreis mit dem Stern in der Mitte. Fast brutal war dieser Kontrast zwischen der nüchternen, geometrischen Darstellung im Zentrum, die in ihrer schlichten Einfachheit dem filigranen Muster voller seltsamer und schauriger Details entgegenstand. Einzig an den Punkten, wo die Spitzen des Sternes den inneren Kreis berührten, wurde der umgebende Reigen verschlungener Körper durchbrochen. Stattdessen malte Charon dort jeweils kleinere Repliken des zentralen Symboles.

Wie selbstverständlich ordneten sich die beiden Mommsens und ihr Gast so um die Zeichnung an, daß daß auf jeden von ihnen ein solcher „Zeiger“ ausgerichtet war. So saßen sie sich gegenüber, in annähernd gleichem Abstand voneinander, drei Drittel eines Kreises. Mike und Charon im Schneidersitz, Claire auf einem Kissen, die Knie nach rechts zur Seite abgewinkelt. Mit der linken Hand stützte sie sich auf dem Boden ab, die Rechte ruhte auf ihren Fußgelenken. Charon stellte drei Kerzen auf die kleinen, geometrischen Symbole an den Spitzen des inneren Sterns. Ein großes, leeres Weinglas platzierte er im genauen Zentrum seiner Zeichnung, während Claire die drei übrigen Gläser mit dunklem Rotwein füllte. Sie fühlte sich in eine angenehm prickelnde Stimmung versetzt, verschwörerisch und aufregend. Wie zu ihrer Schulzeit, als sie mit Freundinnen konspirative Treffen edes streng geheimen Mädchenzirkels abgehalten hatte. Damals war es allerdings irgendwann meist darum gegangen, bei Kerzenschein und im Flüsterton über die Jungs der Klasse herzuziehen und über die außenstehenden Mädchen zu lästern. Irgendwie war das hier besser: Dunkler, tiefergehend; realer. Claire nippte an ihrem Wein, entspannte sich, ließ die Blicke von der Zeichnung zu Charon schweifen, wieder auf das Blatt Papier und dann zu Mike.

Der auch ziemlich entspannt war. Genaugenommen war er aufgeregt entspannt, ein leicht paradoxes Gefühl, das er aber durchaus schätzte. Er staunte über Charons Kunstfertigkeit im Umgang mit dem Bleistift, umso mehr als er verblüfft feststellte, daß sich viele der gezeichneten Figuren auch in den Schnitzereien an der alten Standuhr von Claires Vater wiederfanden. Als er sie nun aber auf Papier aufgemalt und um einige Bilder ergänzt vor sich sah, erkannte er zum ersten Mal den kulturellen und spirituellen Hintergrund darin. Menschliche Urängste und Archaetypen waren bildhaft dargestellt; geschlechtliche Vereinigungen von Götterwesen, kriegerische Szenen zwischen Dämonen, Geburt und Tod der niederen Geschöpfe. Freilich hatte Charon recht schnell gezeichnet, so daß manche Details nur mehr angedeutet waren, aber dennoch lag auch darin eine teilweise erschreckende Präzision. Besonders bewegt wurde Mike von dem Bild einer Gruppe von Menschen, Männer und Frauen, die anscheinend allesamt in Keuschheitsgürtel eingeschlossen waren. Diese Gestalten trugen eine Art Diwan, auf welchem die sexuelle Vereinigung zweier Götterpaare stattfand. Getrieben wurde diese Gruppe von einem dämonischen Wesen mit Peitschen in jeder der sechs Hände. Von Faszination geleitet stand Mike auf, um diese Szene in den geschnitzten Bildern auf der Uhr zu suchen. Er fand sie ein bisschen versteckt an einer Seite, erneut musste er die Präzision von Charons Zeichnung bewundern.

„Stimmt was nicht, Mike? Ich hatte gehofft, die Bilder auf eurer Uhr ziemlich exakt wiedergegeben zu haben.“
„Und ob, Gregorij! Es stimmt nahezu eins zu eins.“
„Naja, nicht ganz. In der Zeichnung gibt es ein paar Darstellungen, die du an der Uhr nicht finden wirst. Und andersrum fehlen ein paar Kleinigkeiten in meiner Version, aber das Wesentliche stimmt überein.“
„Du hast kaum mehr als eine halbe Stunde gebraucht, um das alles zu malen. Absolut irre. Du solltest kein Buch schreiben, sondern Zeichner werden. Wie wär’s mit einem Comic?“
Charon prostete Claire über das Gemälde am Boden hinweg mit seinem Weinglas zu.
„Danke für dies Komliment, Teuerste. Aber ich muss zugeben, daß ich heimlich geübt habe. Deswegen auch die Unterschiede. Ich male das Bild nämlich nicht zum ersten Mal. Ein paar Versuche habe ich auch schon deutlich besser hinbekommen, aber es sah auch schon oft viel schlechter aus.“
„Nur eins frage ich mich: Du kanntest doch die Uhr gar nicht. Woher also hast du so genau gewusst, was da für Bilder dran sind?“
„Denk‘ mal einen Schritt weiter, Mike: Woher hatte der Künstler, der diese Schnitzereien gefertigt hat, seine Inspiration? Was hatte er für Vorlagen?“
„Also musst du sozusagen die Quelle der Inspiration des Erbauers gekannt haben. Aber das kann ja auch nur eine Vermutung gewesen sein, richtig?“
„Schon. Ehrlich gesagt, war ich selber überrascht, wie viel Übereinstimmung es gibt, als ich vorhin die Uhr gesehen habe. Da steckt aber einiges an Recherche dahinter. Claires Vater hat mir da sehr weiter geholfen, indem er mir den Kaufvertrag und die Zertifikate für das Stück gezeigt hat. Auch wenn da nicht der Name des Erbauers auftaucht, ich habe anscheinend die richtigen Schlüsse gezogen.“

Eine Weile saßen sie alle drei schweigend im Kreis, tranken Wein und ließen die Gedanken und Gefühle in der Symbolik der Figuren auf dem Papier treiben. Durch die offene Terassentür und die Fenster wehte wunderbar frische, kühle Luft herein. Ganz in der Ferne, irgendwo in den Bergen, grollte leise der Donner. Claire begann sich ein bisschen schläfrig zu fühlen, zugleich aber stieg in ihr mächtig das Verlangen nach Körperkontakt mit Mike auf. Gedimmtes Licht aus dem Küchenbereich, Kerzenschein, der volle, schwere Rotwein, die ganze mystische Stimmung zwischen ihnen vermittelte ihr ein starkes Gefühl von wilder Romantik. Prompt gab Mike ihr zu verstehen, daß sie nicht alleine so fühlte. Seine Hand fand trotz der Entfernung zwischen ihnen die Ihre, um sie festzuhalten. Einzig Charon stand dabei nun ein wenig außerhalb, auch wenn er es war, der Mike und Claire diese atmosphärische Erfahrung ermöglicht hatte. Ein Hauch von schlechtem Gewissen, ein Anflug von Scham: Die Hände der Liebenden verloren sich wieder, doch die Bindung blieb bestehen. In diesen Momenten wurde sie von ihnen beiden besonders stark empfunden, und in ihrem Selbstverständnis des Moments ewig und unzerstörbar.

Es war Claire, die einige Zeit später das Schweigen brach.
„Hey, Gregorij! Du bist der Fährmann. Müsstest du uns nicht auf die andere Seite bringen, irgendwie? Gehören jetzt nicht irgendwelche kryptischen Beschwörungsformeln in die Zeremonie?“
„Kryptische Beschwörungsformeln? Die haben wir längst hinter uns. Wo bist du denn jetzt? Wo ist Mike jetzt? Wir sind schon seit einer ganzen Weile mitten auf dem Fluß. Es ist ein Trick, das mit den Sprüchen und Beschwörungen. Das Entscheidende liegt ja eigentlich tiefer, ganz individuell in der eigenen Wahrnehmung, im eigenen Geist. Da liegt der Schlüssel, darauf kommt es an.“
„Aber dann erleben wir nicht das Selbe. Sind wir nicht ziemlich isoliert? Brauchen wir nicht etwas wie eine ganz objektive Vereinigung?“
„Würde ich nicht sagen, Mike. Es gibt keine Objektivität. Völlig egal, welchen Rahmen man sich da schafft, letztlich geht jeder für sich den Weg. Darum sind wir ja verschieden: Die Natur an sich gibt es vor, daß jeder Konsens und jede Vereinigung immer durch die Subjektivität des Einzelnen bestimmt ist. Erst jenseits davon, wenn ein Einzelner sich selbst so annimmt und seinen persönlichen, subjektiven Weg zurückgelegt hat, findet sich eine gemeinsame Basis. Ein Ozean der grundlegenden Gemeinsamkeiten, in denen wir uns alle als Eines definieren. Dann löst sich die Subjektivität des Denkens auf, und alle Möglichkeiten stehen offen.“

Nachdenkliches Schweigen brütete im leichten Flackern der Kerzen, als ein leichter Wind von draußen durch den Raum wehte.

„Ist das die kryptische Beschwörungsformel, die du vermisst hast, Claire?“
„Ich weiß nicht. Nicht so ganz und gleichzeitig ein bisschen mehr, Gregorij, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Mike?“
„Hm. Ich überlege gerade, wo du das her hast. Jung? Heidegger? Tibetischer Buddhismus? Vorchristliche Mystik?“
„Spielt das eine Rolle?“
„Nö. Aber Claire hat es vielleicht besser auf den Punkt gebracht als du: Nicht so ganz und gleichzeitig ein bisschen mehr.“
„Dann gehen wir so ungefähr in die selbe Richtung. Schenk doch mal der Mitte auch ein bisschen Wein ein.“

Claires Blicke folgten Mikes Hand, wie diese die Weinflasche entkorkte, um behutsam das bisher leere Weinglas in der Mitte von Charons Zeichnung zur Hälfte zu befüllen. Weil sie auf einmal Kälte spürte, drehte sie sich ein wenig zur Seite und fischte eine Wolldecke vom Sofa, die sie sich um die Schultern legte. Dabei fiel ihr auf, daß sie schon seit geraumer Zeit völlig ruhig da saß, ohne ihre Position verändert zu haben. Gerade bei einer solchen Haltung mit geschlossenen Oberschenkeln konnte sie normalerweise nur recht kurz verharren. Der Keuschheitsgürtel drückte dann auf die Blutgefäße und Nerven in den Leisten, so daß ihr recht bald die Füße einschliefen. Mit einiger Verwunderung spürte sie diesmal davon nichts, als sie sich in ihre Decke gewickelt anders hinsetzte, obwohl sie sich seit mindestens einer halben Stunde nicht mehr bewegt hatte. Seit einer halben Stunde? Mit einem Mal war sie sich da ziemlich unsicher. Ihr wurde bewusst, daß sie eigentlich keine Ahnung hatte, wie lange sie schon dasaßen und auf das seltsame Mandala auf dem Boden starrten. Jegliches Zeitgefühl schien ihr abhanden gekommen zu sein. Die Digitaluhr des DVD – Players befand sich ziemlich genau in ihrem Rücken. Natürlich hätte sie sich umdrehen können, einen Blick auf die Anzeige werfen und sich Gewissheit verschaffen können, aber etwas schwer zu bestimmendes hinderte sie daran. Es wäre nicht nicht richtig, nicht der Situation angemessen und würde ihrer eigenen, subjektiven Zeit nicht gerecht werden. Stattdessen blickte sie zu der Standuhr auf, aber dort verschwammen die Zeiger im Halbdunkel vor ihren Augen. Mit zwei Fingern rieb sie sich die Stirn. Profane Gedanken über Uhrzeiten und einen Wecker, der sie zu einem doch sehr objektiven Zeitpunkt am kommenden Morgen wecken würde, geisterten kurz durch ihren Kopf, verschwanden aber sofort wieder rückstandslos.

Die Weinflasche war wieder verkorkt und verschwand in Mikes Schatten, erreichbar nur für seine Hände. Charon kramte dieweil in seiner Hosentasche, wo er zwei kleine, verstöpselte Flakons fand. In jedes dieser Fläschchen passten nur wenige Milliliter Flüssigkeit, die Charon jetzt in den Wein des Mittelpunktes hineinfließen ließ. Die eine Flüssigkeit war klar, die andere dick und dunkel, im Schein der Kerzen fast schwarz.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
39. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 30.06.11 16:56

5.

„Was ist das?“
„Nicht fragen, Claire. Ein paar Tropfen aus dem Ozean der Gemeinsamkeit, wenn du so willst. Das Eine war zum Beispiel mal Eis, das natürlich jetzt geschmolzen ist. Um genau zu sein, handelt es sich um etwas Eis von der Zunge des Rhonegletschers. Aber eigentlich spielt es keine Rolle, jedenfalls im Moment noch nicht.“
„Wenn du das sagst…“

Charon war der Erste, der einen Schluck aus dem zentralen Kelch nahm. Er trank, dann stellte er das Glas zurück in den Mittelpunkt, ohne einen Kommentar dazu abzugeben. Für einen Moment befürchtete Claire, daß er sie jetzt auffordern würde, ebenfalls aus diesem Glas zu trinken. Aber er tat es nicht; das Weinglas stand in der Mitte, Charon hüllte sich in Schweigen. Dafür wurde das Grummeln des Gewitters wieder etwas lauter, rückte wieder etwas näher. Trotz Wolldecke spürte Claire eine leichte Gänsehaut auf ihren Unterarmen, gefolgt von dem ihr wohlbekannten erregenden Kribbeln des Verschlossen – Seins. Ihre Gedanken hängten sich kurz daran auf, wie sich diese Gefühle doch so oft selbst und unvermittelt die seltsamsten Momente auswählten, um sie mit dieser ganz eigenen, leidvollen Lüsternheit zu erfüllen. Bis ein recht lauter und unangenehm naher Donnerschlag ihren Gedankengang durchbrach.

„Männers, ich glaube, das Gewitter kommt zurück.“
Wie um ihre Worte nachhaltig zu betätigen, fiel mit einem leisen Klicken der Strom aus. Die Lichtquellen in Küche und im Flur erloschen mit einem kurzen Flackern. Übrig blieb das unruhige Licht der Kerzen: Drei auf dem bemalten Papier in ihrer Mitte, zwei weitere jeweils auf dem Couchtisch und dem Esstisch im Hintergrund. In dieser Beleuchtung sah Claire Mike nach dem Glas greifen. Auch er nahm nur einen Schluck, um es anschließend unter striktem Schweigen wieder auf seinen Platz zurückzustellen.

„Vielleicht sollte jemand die Terassentür zumachen, sonst regnet’s gleich rein…“

Wieder erntete Claire auf ihre Worte Schweigen. Es war verrückt, aber sie hatte nichts anderes erwartet. Eigentlich war sie sogar froh, daß sie die Stimmung zwischen ihnen nicht durchbrechen konnte. Sie fühlte sich so seltsam behaglich und leicht, also griff sie als Letzte nach dem Glas, schloß die Augen und tat einen tiefen Schluck. Mit einem schwer zu definierenden Gefühl der Genugtuung und der Erleichterung platzierte auch sie das nun fast leere Glas wieder an seinem Platz. Erleichterung war eigentlich noch zu wenig. Erlösung war das richtige Wort; Wärme stieg in ihr auf, begleitet von einer wundervollen Leichtigkeit.

Die Kerzenflammen tanzten, und die Gestalten, die Charons Kreis umringten, schienen plastisch zu werden. Sie flossen ineinander, nahmen im Tanz des Kerzenscheines den Rhythmus auf, so als würden sie ein eigenes Leben entdecken.

Mike und Charon hatten die Augen geschlossen, Claire folgte ihrem Beispiel. Die Dunkelheit hinter den Lidern füllte sich mit Symbolen.

Aus der Perspektive der Standuhr hätten die drei auf dem Boden sitzenden, schweigenden Leute wie sanft träumende Schläfer gewirkt. Eine friedliche Stimmung ging von dem Bild aus, drei in sich ruhende Gestalten in vertrauter Runde, getaucht in das warme Licht von Kerzen. Aber Standuhren haben keine Perspektive, sie haben kein Bewusstsein, daß ihnen eine Perspektive ermöglichen könnte. Eine Standuhr ist nur ein unbelebtes Objekt in einem Raum, unfähig zu subjektiver Lebendigkeit und daher unfähig, fremde Subjekte in irgendeiner Weise wahrzunehmen.

So verschwand der Anblick des glücklichen, verträumten Lächelns auf den Gesichtern von Claire und Mike in der Leere der Welt. Und in der Wirklichkeit der Trance, in die beide sich begeben hatten; in der sie mit geschlossenen Augen das Lächeln des jeweiligen Partners wahrnehmen konnten, während sie auf getrennten Bahnen die Unendlichkeit durchmaßen.

So verschwand auch Charons letzter Atemzug in der Einsamkeit. Es war nichts Großes, nichts Spektakuläres; nur, daß sich sein Brustkorb ein letztes Mal hob und senkte, während der sitzende Körper noch ein wenig mehr in sich zusammensackte. Danach verharrte dieser Leib in grenzenloser Stille, in der ein paar Tropfen, ein kleines Rinnsal Blut aus seinem linken Ohr und dem linken Nasenloch sickerte.

Unter langsamen, ruhigen Atemzügen ließen die beiden Anderen den Fährmann hinter sich, ganz vielleicht wurde ihr Lächeln dabei etwas fadenscheiniger. Auch wenn das keine große Rolle spielte, genausowenig wie das Gewitter, das sich langsam wieder über die Stadt und das Haus bewegte. Immerhin hielten sich die Naturgewalten diesmal im Zaum, die wenige Spannung und Energie zwischen den Wolkentürmen reichte kaum für ein paar wenige Blitze und Donnergrollen. Nur ein großer Schlag, ein einzelner, immenser Hammer brachte die Erde zum Beben zu der Zeit, als das Uhrwerk einer unbelebten Struktur im Raum dumpf tönend die dritte Stunde des Tages beläutete.

Und auch der große Schlag, die Erschütterung, die mehr aus dem Boden als aus der Luft zu kommen schien, rührte Claire und Mike nicht. Ein Fensterglas zersprang, in der Vitrine im Wohnzimmer klirrten die Gläser, und in der Küche fiel scheppernd etwas zu Boden. Wie ein gewaltiger Ruck schien das Fundament des Hauses kurz zu wanken. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, für den Nachhall einer Ewigkeit.

Vor der offenen Terassentür war der Fußboden des Wohnzimmers naß von nächtlichem Regen. Der Sprung in der großen Scheibe neben dieser Tür rettete einer Amsel wohl das Leben, weil sich darin das Sonnenlicht des Morgens brach, und der Vogel gerade noch die Kurve bekam, um dem ansonsten unsichtbaren Hindernis auszuweichen. Die Amsel landete auf einem Gartenstuhl, der auf der Terasse stand, und vermischte ihr Schimpfen mit dem Läuten des Telephons im Inneren des Hauses. Das Telephon klingelte recht oft im Laufe des Vormittags, aber niemand machte Anstalten, hier ein Gespräch entgegen zu nehmen. Manchmal war es der Anschluß der Festnetznummer, der gerne wahrgenommen worden wäre, dazwischen das Brummen von Mikes Handy auf dem großen Küchenbloch neben dem Gasherd. Einzig Claires Mobiltelephon schwieg, denn das lag in seine – mittlerweile getrockneten – Einzelteile zerlegt auf dem Esstisch.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
40. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 03.07.11 15:38

Fünftes Kapitel:
Wetterwechsel



1.

Roland Falk fühlte sich unwohl. Rasante Wetterwechsel machten ihm schwer zu schaffen, sie raubten ihm Konzentrationsfähigkeit und Appetit, seine Nerven wurden zu Katzenschnurrhaaren. Nichts war ihm unangenehmer als das Gefühl der Entrücktheit, fast schon der Verwirrung. Sicher, in den letzten Jahren wurde das langsam und schleichend immer mehr zum Bestandteil seines Lebens, aber bei besonders aprupten Veränderungen der Wetterlage wurde es manchmal schier unerträglich. Wieder wählte er Mikes Handynummer, klemmte das Telephon zwischen Kopf und Schulter, um Schalten zu können. Es war wie verhext, und ausgerechnet jetzt brauchte er sein altes Notizbuch. Am Morgen, nach dem Aufstehen, hatte er es verzeifelt überall gesucht, bis ihm eingefallen war, daß er es vor über einer Woche bei seiner Tochter und ihrem Mann hatte liegen lassen. Immer wieder wollte er es sich holen, und immer wieder kam ihm etwas dazwischen. Oder er vergaß es einfach. Aber jetzt brauchte er es, weswegen er seit Stunden versuchte, mit einem der Deiden zu sprechen. Doch trotz aller Hartnäckigkeit gelang es ihm nicht, seine Tochter oder seinen Schwiegersohn zu erreichen. Sogar im Labor und in der Schule hatte er angerufen, nur um zu erfahren, daß beide nicht zur Arbeit erschienen waren. Wie zum Hohn bekam er mitgeteilt, daß sie auch telephonisch nicht erreichbar wären, und er sie doch bitten solle, sich zu melden.

Nachdem er ein paarmal geklingelt hatte, zückte Roland Falk seinen Schlüssel, und öffnete die Haustür der Mommsens, wobei er sich ordentlich auf der Türmatte die Schuhe abtrat. Im Eingangsbereich blieb er einen Moment stehen, der Stille im Haus lauschend. Rechts von ihm das Treppenhaus, in dem seine Stimme kurz nachhallte, als er nach den Bewohnern des Hauses rief. Links eine geschlossene Tür: Mikes Arbeitszimmer. Vor ihm eine Garderobe, an der er gedankenverloren seine Jacke aufhängte, daneben eine offene Tür. Sein Blick wanderte durch das Wohnzimmer zur Terassentür, die ebenfalls offen stand.

Zunächst konnte er das Bild nicht einordnen, er merkte nur, daß Angst ihm die Kehle zuschnürte. Die Stille im Haus, offene Türen, ein Telephon, das auf ein Mal irgendwo im Wohnzimmer zu läuten begann. Ihn beschlich ein grundlegendes Gefühl von Falschheit, alles wirkte so entsetzlich absurd. Wie angewurzelt stand er in der Diele, paralysiert vom Klingeln des Telephons, während seine Knie weich wurden und zu zittern begannen. Als das Klingeln aufhörte, war es, als fiele ein Bann von ihm ab. Mit zwei Sätzen stand er im Wohnzimmer, sein Blick flog über den Küchenbereich, den Esstisch mit dem darauf ausgebreiteten Inhalt von Claires Handtasche, eine gesprungene Fensterscheibe, eine offene Tür, das um einen guten Meter verrückte Sofa. Zuletzt hängten sich seine Augen fassungslos an Charons totem Körper auf.

Bucklig und zusammengesunken, aber immer noch in sitzender Position, vor einem grotesken Durcheinander von Weingläsern, Kissen, verloschenen Kerzenstummeln wirkte der wie eine Wachsfigur. Roland Falk wusste eigentlich sofort, daß Charon nicht mehr lebte. Die Haut auf seinem schweißüberströmten Rücken zog sich unangenehm zusammen, als er über ein bizarr bemaltes Blatt Papier auf dem Boden zum toten Freund seiner Tochter ging. Sein Verstand notierte beiläufig, daß sogar der dicke, helle Teppich großzügig umgeschlagen worden war, wie um dem Gemälde auf dem Boden Platz zu machen.

Claires Vater hatte nichts anderes erwartet, als er Gregorijs Schulter packte und schüttelte. Alle Muskeln waren verhärtet, hielten sämtliche Gelenke in ihrer Errstarrung und den Leib in der absurden Sitzposition fest. Roland Falk ging rückwärts, stieß ein leeres Weinglas um, trat auf eine leere Flasche und wäre beinahe gestürzt. Im nächsten Moment kam die Panik, Claires Namen schreiend rannte er die Treppen hinauf, riss alle Türen auf, doch er fand überall nur die selbe Verlassenheit und Leere vor, die auch das Erdgeschoss beherrschte. Claire und Mike waren nicht hier.

Der Disponent, der auf der Leitselle der Polizei die Anrufe bearbeitete, ging zunächst von einem klassischen Montag – Vormittag – Schnaps – Problem aus. Die belegte, leicht lallende Stimme am anderen Ende der Leitung ergoß sich in einem Schwall zusammenhangloser Verwirrtheiten in sein Ohr. Der Disponent wog die drei Möglichkeiten gegeneinander ab: Entweder viel zu viel Alkohol, oder viel zu wenig Alkohol, oder ein Fall für die Psychiatrie. Erst nach einigem Nachfragen kristallierte sich der Grund des Anrufes heraus. Die Tochter des Trunkenbolds sei verschwunden. Wieso? Sie reagiere nicht auf Anrufe, genauso wenig, wie ihr Mann. Aha. Seit wann? Seit dem Morgen? Diesem Morgen? Väterchen, mach die Leitung frei, geh nach hause und schlaf deinen Rausch aus. Kein Wunder, daß deine Tochter keine Lust hat, sich mit dir in dem Zustand zu unterhalten. Gerne hätte der Disponent den Anrufer in diesem Moment aus der Leitung geschmissen, aber stattdessen fragte er lieber noch ein paar Sachen ab.

„Wo sind sie denn jetzt, Herr Falk?“
„…“
„Ach so, sie sind im Haus ihrer Tochter? Nicht in ihrem eigenen Haus.“
„…“
„Nein, ich fürchte, daß haben sie bisher noch nicht erwähnt.“
„…“
„Wer ist Charon? Der Hund ihrer Tochter?“
„…“
„Sind sie sicher? Haben sie ihn mal kräftig geschüttelt? Seinen Namen gerufen?“
„…“
„Und sonst ist das Haus leer? Bis auf den Verstorbenen und sie selbst?“
„…“
„Nein, gehen sie nicht in den Keller. Bleiben sie bitte, wo sie sind. In ein paar Minuten ist jemand bei ihnen. Können sie mir nochmal die Adresse ihrer Tochter geben, und am besten die Telephonnummer, die Festnetznummer ihrer Tochter, bitte.“

Wimmle nie einen Anrufer ab, nur weil er dir anfangs zusammenhanglosen Unsinn erzählt. Kleines Leitstellen – Einmaleins. Noch bevor er das Gespräch beendete, begann der Disponent, seinen Computer mit den entsprechenden Daten zu füttern. Das Programm spuckte ihm zwei freie Streifenwägen aus, die beidersamt an einem Baumarkt in der Nähe standen. Offensichtlich ein spätes Frühstück unter Kollegen. Er wies den Einsatz den beiden Fahrzeugen zu, anschließend sendete er die Daten per SMS an die Leitstelle von Feuerwehr und Rettungsdienst.

Fünf Minuten später hielten die zwei Polizeifahrzeuge vor dem Haus der Mommsens. Auf der Treppe ins Obergeschoss sitzend wartete Roland Falk; Sekunden zogen sich zu Minuten in die Länge, bis er die Sirenen auf der Straße hörte. Er sprang auf, taumelte zur Tür, die er aufriss, um die Beamten hineinzulassen. Ein älterer, dicker Polizist in Uniform brachte Claires leichenblassen, zitternden Vater zu einem der Autos, wo er sich auf der Rückbank des T5 neben ihn setzte und ihm eine Zigarette anbot. Währenddessen sicherten die übrigen Drei das Haus. Eine junge Polizistin schüttelte erneut zunächst den leblosen Mann im Wohnzimmer, dann ihren Kopf. Immerhin war hier keine Herzdruckmassage mehr nötig, dachte sie sich.

Um kurz nach elf klingelte Alfons Basstongs Diensthandy. Seine Frau hatte Fieber, sein knapp zweijähriger Sohn hatte Halsschmerzen, hing auf seiner Hüfte und brüllte ihm unerträglich laut ins Ohr. Was zum Teufel war daran so schwer zu kapieren, wenn er sich vom Dienst abmeldete, weil bei ihm zu hause der Notstand herrschte? Gab es keine anderen Komissare mehr? Das schreiende Kind im Arm, durchsuchte er im Flur seine Jacke nach dem wimmernden Diensthandy. Nun hatte er die Wahl, entweder den Anruf anzunehmen, oder das Gerät mit voller Wucht gegen die Wand zu schleudern. Idiotischerweise entschied er sich für die erste Möglichkeit.

Um kurz vor zwölf hatte er seine Nachbarin überredet, sich für ein paar Stunden um seine Frau und seinen Sohn zu kümmern. Duschen fiel dafür aus, blieb zu hoffen, daß er irgendwo am Einsatzort Kaffee auftreiben konnte. Die Nacht hatte er nicht geschlafen. Als er um vier Uhr Morgens zu hause angekommen war, hatte ihn beinahe der Schlag getroffen, als er das Lazarett vorfand. So hatte er den gesamten Morgen und den Vormittag damit verbracht, sich um seine Familie zu kümmern.



© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
41. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 06.07.11 19:35

2.


Alfons Basstong stand vor dem hübschen kleinen Vorstadthäuschen, die Hände in den Hosentaschen. Genau soetwas suchte er für sich und seine Lieben inzwischen schon seit fast zwei Jahren. Als ihm Yildiray Torun mit zwei Pappbechern voll dampfendem Kaffee entgegenkam, hellte sich seine Stimmung auf. Leider nur vorübergehend.

Im Vorbeigehen kam ihm zunächst der Name auf dem Klingelschild vage bekannt vor. Als er dann zusammen mit Torun die Einsatzstelle in Augenschein nahm, verstärkte sich das Unbehagen, das ihn in letzter Zeit immer öfter beschlich, wenn sich eine ermüdende und lange Ermittlung mit unbefriedigendem Ausgang andeutete. Hier, in diesem schönen kleinen Haus, dessen Einrichtung eine gemütliche, helle Stimmung ausstrahlte, war dieses Gefühl besonders stark. Der offene, ansprechende Wohn – und Kochbereich, Fliesen und Teppiche in warmen Farben, dazu die nicht wirklich teure, aber dezent individuelle Einrichtung kontrastierten brutal mit den Angestellten der Spurensicherung in weißen Overalls mit ihren Plastikbeuteln, den Kameras, dem abgedeckten Körper im Raum.

Basstong bekam von seinem älteren Kollegen zwei Ausweise gereicht. Er warf einen kurzen Blick darauf, starrte erneut die Leiche an, um anschließend einen genaueren Blick auf die Papiere zu werfen. Als er die Namen einordnen konnte, pfiff er leise durch die Zähne.

„Mommsen, Claire und Mike. Das war das Grab, richtig? Die Eltern des Mädchens, das nur ein paar Tage gelebt hat. Wer liegt unterm Tuch, Yildiray?“
„Keiner von den Beiden.“
„Aber es ist ihr Haus.“
„Und der Tote war wohl ihr Gast letzten Abend. Er hatte keinen Ausweis bei sich, aber er heißt Gregorij Fährmann. Höchstwahrscheinlich jedenfalls. Der Vater von Claire Mommsen hat ihn hier gefunden und identifiziert, ist aber ein wenig durch den Wind, wie’s aussieht.“
„Wo sind die Eheleute Mommsen?“
„Unbekannt. Bisher sind sie nicht erreichbar. Bei den jeweiligen Arbeitgebern sind beide heute unentschuldigt nicht erschienen. Und die jeweiligen Handys sind hier im Haus.“
„Riecht ganz schön nach Ärger.“
„Oh, erst in einer halben Stunde.“
„Warum?“
„Dann erscheint hier Frau Staatsanwalt Knirb auf der Bildfläche.“
„Na, besten Dank!“
„Kommt noch besser: Den Brand von letzter Nacht übernimmt sie auch.“
„Du, ich hab‘ noch ein paar Tage Urlaub. Am besten nehme ich den gleich, meine Frau und mein Sohn sind beide krank, dann geht das vielleicht sogar durch…“
„Was? Frau und Kind krank und du hier draußen? Alfons, du bist ein Idiot.“
„Danke. Aber jetzt bin ich hier, und das mit dem Urlaub war ein Scherz, mein Alter.“
„Schon klar. Aber das ist sowas, das werde ich nie verstehen. Die Familie alleine lassen, wenn sie den Hausherrn brauchen, und das wegen einem Beruf? Wird mir immer ein deutsches Rätsel bleiben, dieses Verhalten.“

„Oder einfach nur eine deutsche Dummheit. Jetzt schieß aber mal los: Was hast du bisher an Infos?“
„Nichts.“
„Nichts?“
„Wo sollen die herkommen? Todeszeitpunkt irgendwann letzte Nacht, Todesursache unklar. Ehepaar Mommsen seit heute morgen veschwunden, darum ist ihr Vater hierher gefahren und hat sich mit seinem eigenen Zweitschlüssel Zutritt verschafft. Die Balkontür war offen, das Haus leer, im Wohnzimmer die Leiche eines Freundes der Familie, vier benutzte Gläser, eine leere Flasche Wein und eine obskure Zeichnung.“
„Für nichts ist das recht viel, Yildiray, also weiter: Was für eine Zeichnung? Wieso vier Weingläser? Wo sind die Mommsens?“
„Schau es dir selber an. Die Gläser gehen ins Labor, die Betten sind unbenutzt. Soviel dazu. Aber, Alfons?“
„Hm?“
„Ich finde nach wie vor, daß du nach hause zu deiner Frau gehörst. Aber wenn du das schon nicht machen willst, dann fahr jetzt wenigstens gleich ins Präsidium.“
„Gleich?“
„Ewwet, sofort! Jedenfalls bevor die Knirb auftaucht. In unserem Büro wartet nämlich ein Herr Roland Falk, das ist der Vater von Claire Mommsen. Ich habe bisher nur kurz mit ihm geredet. Darum fährst du jetzt hin, hörst dir alles an, was er zu sagen hat, schreibst ein Protokoll, blablabla, huschdibuschdi, liest eh keine Sau. Und dann machst du Feierabend. Klar?“
„Damit kann ich leben.“

Je länger Alfons Basstong sich mit Claires Vater unterhielt, desto verworrener erschien ihm der Mann. Dreimal ließ er sich von Roland Falk schildern, wie er den Vormittag zugebracht hatte, wie er das Haus der Mommsens vorgefunden hatte, und was er dort bis zum Eintreffen der Polizei getan hatte. Am Ende hatte Basstong drei verschiedene Versionen der Ereignisse zur Auswahl. Als es darum ging, die Beziehung zwischen dem Verstorbenen und den Eheleuten Mommsen zu schildern, wurde es noch zusammenhangloser. Einzig in einem Punkt schien sich der Alte ganz sicher zu sein: Zwischen den Mommsens und Gregorij Fährmann hatte es keinen Streit gegeben.

„Was wollen sie eigentlich noch hören? Die Balkontür stand offen, das habe ich ihnen schon drei Mal erzählt.“
„Nein, zweimal. In ihrer ersten Version…“
„Sie sind zu hektisch. Da muss jemand reingekommen sein, hat Gregorij getötet und Claire und Mike entführt.“
„Da müssen wir die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten, die…“
„Was sie müssen, ist meine Tochter suchen! Sie ist niemals freiwillig verschwunden. Und Mike auch nicht. Keiner von beiden würde einfach nicht zur Arbeit gehen, ohne wenigstens dort anzurufen.“
„Auch dafür kann es Gründe geben, Herr Mommsen…“
„Falk!“
„Tut mir leid. Herr Falk. Nach ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn wird inzwischen gesucht. Aber es kann auch eine völlig undramatische Erklärung geben. Man muss nicht immer gleich vom Schlimmsten ausgehen.“
„Klar, sie haben leicht reden.“
„Vielleicht. Aber ich muss das von einem unbeteiligten Standpunkt aus sehen, Herr Falk. Sonst wäre ich im falschen Beruf. Ihre Tochter und ihr Mann sind für uns zunächst einmal wichtige Zeugen, also werden wir sie auch mit allen Mitteln suchen.“
„Sie werden sie nicht finden!“
„Warum glauben sie das, Herr Falk? Wenn sie noch irgendwas wissen, wenn sie noch irgendeine Idee haben, dann raus damit.“
„Ich weiß nur eins: Sie werden sie nicht finden!“

Staatsanwältin Helena Knirb war ein rotes Tuch für Yildiray Torun. Nicht nur, weil sie bereits einmal gegen ihn ermittelt hatte. Aber ihr hartnäckiges Beharren darauf, ein aussichtsloses Verfahren wegen Körperverletzung gegen ihren eigenen Mitarbeiter zu eröffnen, war ihrem Verhältnis nicht gerade zuträglich gewesen. Die Staatsanwältin war noch relativ jung, neununddreißig Jahre. Dafür wies ihr Körper spitze Ecken und Kanten an den Stellen auf, wo nach Toruns Meinung weiche, volle Rundungen hingehörten. Bis vor zwei Jahren hatte sie eine Brille mit zentimeterdicken Gläsern getragen, inzwischen verwandelten entsprechende Kontaktlinsen ihre unerträglich hellblauen Augen in zwei stechende Bedrohungen. Sie lächelte nie, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Dennoch war es ein offenes Geheimnis, daß beinahe alle ihre Zähne mit goldenen Brücken versorgt waren. Über den Grund gab es viele Spekulationen, die eigentliche Wahrheit aber war Helena Knirbs Geheimnis. Und diese waren niemals öffentlich; hätte sie einen Mann gehabt, so würde sie ihre privaten Geheimnisse auch vor ihm verbergen.

Aber sie hatte keinen Mann, jedenfalls keinen, der es über das Stadium eines Helena Knirbschen Geheimnisses hinaus gebracht hatte. Dafür hatte sie ihre Mitarbeiter, unter anderem gab es dort auch faule und niederträchtige Machos wie Yildiray Torun. Hätte sie noch lächeln können, dann wäre das eine gute Gelegenheit gewesen: Das Lächeln des Jägers, der eine wehrlose Beute wittert. Aber der Pfuscher von einem plastischen Chirurgen hatte bei der letzten Behandlung einen Fehler gemacht. Daß es sein letzter gewesen war, war ihr ein schwacher Trost. Daß der Mann inzwischen Alkoholiker war, von Harz Vier lebte, und seine Frau sich von ihm getrennt hatte, war für Helena Knirb schon deutlich befriedigender. Also lächelte sie nicht, als sie den erbärmlichen Komissar rauchend im Einsatz vorfand, sondern genoß einfach nur den inneren Triumph.

Was Yildiray Torun durchaus bewusst war. Er wusste, daß die Staatsanwältin nach Gelegenheiten suchte, um ihm Ärger zu machen, er wusste, daß er an der Einsatzstelle laut Dienstvorschrift nicht rauchen durfte, und er wusste auch zu gut, was Staatsanwältin Knirb noch mehr auf die Palme brachte, als ein rauchender Torun.




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42. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 09.07.11 13:35

3.

Selbstverständlich blieb Helena Knirb nach außen absolut ruhig. Um genau zu sein: Sie trug demonstrativ Eiseskälte zur Schau. Selbstbeherrschung war das Wichtigste, auch wenn der Zorn in ihr kochte. Sie beherrschte die Situation, ohne Wut und Verachtung zu vergessen, wahrte sie die Fassung, um dann im richtigen Moment vernichtend zuschlagen zu können. Schon die Aussicht darauf verschaffte eine beinahe erregende Genugtuung. Leider gab es keine Regelung, die es ihr erlaubte, diesen impertinenten Komissar dafür büßen zu lassen, daß er sie penetrant duzte. Verweise wegen Rauchens prallte sowieso an Torun ab; mehr als ein Dutzend Mal hatte sie ihn deswegen schon abmahnen lassen, aber leider wurde das immer viel zu lax gehandhabt. Es war frustrierend, wie sich dieser aalglatte Hund jeder Strafe entzog: Beim letzten Mal hatte er eine geradezu lächerliche Lohnkürzung hinnehmen müssen, sowie eine zeitweise Versetzung in den Innendienst. Torun hatte sich zwei Wochen krankschreiben lassen, war danach ganz offiziell wieder seiner regulären Tätigkeit nachgegangen und hatte fünfzig Euro in die Kaffekasse gezahlt.

Er machte sich über sie lustig, was schlimm war. Er leiß sie auflaufen, was noch schlimmer war, und er entzog sich ihr, zollte ihr keinerlei Respekt, was das Allerschlimmste war. Sein erniedrigendes „Du“ war nur der Gipfel des Eisbergs von Insubordination. Als Helena Knirb erfahren hatte, daß Torun nicht nur den Brand der letzten Nacht untersuchte, sondern auch für diesen neuen, wesentlich interessanteren Fall mit den Ermittlungen betreut war, witterte sie eine Gelegenheit. Also delegierte sie zwei Fälle kurzerhand an einen jüngeren Kollegen. Wie ein Schatten würde sie in diesen Ermittlungen hinter Torun stehen, und wenn er nicht von selbst einen gravierenden Fehler beging, dann würde sie ihn ganz diskret und unauffällig dazu verleiten.

Nachdem sie die Einsatzstelle in Augenschein genommen, sowie sich einen Überblick über die Fakten verschafft hatte, war sie sich des Sieges beinahe sicher. Das alles wirkte einigermaßen komplex, außerdem würde die Geschichte auch in den Medien ihre Wellen schlagen. Es sollte ein leichtes sein, Torun in diesen Wellen untergehen zu lassen. Vorfreude ließ ihr Herz höher schlagen.

Es war nicht etwa so, daß Torun Gedanken lesen konnte. Aber er hatte eine feine Nase, sowie ein noch feineres Gespür für Stimmungen. Insbesondere im Umgang mit dieser unangenehmen Staatsanwältin steigerten sich seine Konzentration und seine Wahrnehmung soweit, daß es beinahe schmerzhaft war. Gleichzeitig gab er sich Mühe, besonders schnoddrig und demotiviert zu erscheinen. Die meisten Kollegen hätten sich wohl eifrig Notizen gemacht, wenn Staatsanwältin Helena Knirb auf sie einredete. Turun steckte lieber die Hände in die Hosentaschen und starrte ihr mit leicht gesenkten Augenliedern unverwandt ins Gesicht. Er würde sich später sehr wohl an jedes Wort erinnern, aber das brauchte die nervige Furie nicht zu wissen. Dafür drehte er sich ab und an leicht zur Seite und gähnte.

„Hallo, Herr Turun, hören sie mir eigentlich zu?“
„Doch, doch. Erzähl weiter, bin ganz Ohr.“
„Ich will die Wohnung von diesem Herrn Fährmann noch heute geöffnet haben. Ich will, daß sie dabei sind und alles auf den Kopf stellen. Und mit sie meine ich sie, also sie persönlich, ist das angekommen? Die Wohnung wird anschließend versiegelt. Welche Angehörigen des Opfers haben sie bisher ermittelt?“
„Was frägst du mich? Bin ich das Melderegister?“
„Achten sie bitte ein bisschen auf ihren Ton, Herr Torun. Ich gehe davon aus, daß ich eine vollständige Liste um siebzehn Uhr in ihrem Vorbericht finde. Bis dahin haben sie dann natürlich sämtliche Angehörigen auch kontaktiert.“
„Ich werd‘ sehen, was sich machen lässt.“
„Wie sie das anstellen, interessiert mich gar nicht. Mich interessiert das Ergebnis. Wenn sie nicht einmal eine läppische Vorermittlung auf die Reihe kriegen, sollten sie sich vielleicht ins Archiv oder so versetzen lassen. Und sollten sie versuchen, meine Ermittlungen zu manipulieren, sollten sie dabei an ihre Dienstakte denken. Wenn sie denn soweit denken können.“
„Ich denk‘ gerade an mein Bett. Bin ja nicht mehr so jung und steh nicht mehr so unter Strom, daß ich zwei Tage durcharbeiten kann. Darf ich auch laut TVÖD gar nicht; erstens: Kein Versicherungsschutz. Zweitens: Du willst ja ein ordentliches Ergebnis. Wer übermüdet ist, schlampt.“
„Herr Torun, das ist ihr Problem.“

Nachdem sie ihn stehengelassen hatte, um ihre Zähne in den Hals des Leiters der Spurensicherung zu schlagen, atmete Torun tief durch. Die Kopfschmerzen deuteten sich bereits an. Wenn er nicht bald nach hause kam und sich hinlegen konnte, würde kein Ibuprofen und noch nicht einmal mehr Novalgin helfen.

Egal, das war es wert. Sie hatte angebissen. Während sie davon ausging, ihn in eine Falle locken zu können, würde er sein Spiel mit ihr treiben. Auch wenn das riskant sein mochte, der Reiz des Spiels war stärker, also ließ er sich von seinen eigenen Affekten treiben. Eine Zeit lang hatte er Helena Knirb sogar bemitleidet. Da war diese Aura des Hasses, von der sie ständig umgeben war. Auch wenn sie das in ihrer intriganten Art nach außen trug, hatte Torun recht schnell bemerkt, daß die Basis im Grunde genommen Selbsthass war. Tief sitzende, persönliche Enttäuschungen und Zurückweisungen, die ich in zwanghafter Autoaggresivität manifestiert hatten. Daß sie Zorn und Haß auf ihre Umwelt projizierte, war wohl nichts anderes als ein Selbstschutz, ein Abwehrmechanismus.

Erst als Torun feststellte, wie sich die Staatsanwältin daran weidete, wenn sie ihren Mitmenschen ihr eigenes Unheil der Seele weitergab, verlor er sein Mitleid, und ersetzte es durch intensiv gelebte Abneigung. Was immer dahinter stecken mochte, inzwischen hatte er erleben müssen, wie mehrere seiner Kollegen unter den Schikanen dieser Frau regelrecht zusammen gebrochen waren. Einer war komplett aus dem Polizeidienst ausgeschieden, zwei andere hatten sich versetzen lassen. Das Schlimme dabei war, daß er ganz genau wahrnehmen konnte, was für eine Freude diese Staatsanwältin dabei empfand, was für einen Triumph sie dadurch erlebte.

Das Gleiche hatte Torun bei Helena Knirb während der Sichtung des Wohnhauses der Mommsens gespürt. Unter der schwelenden Glut verbissenen Zorns hatte sie geradezu jubiliert. Wahrscheinlich war sie sich dessen nicht bewusst, was sie für Torun ausstrahlte, aber er nahm es sehr wohl wahr: Kleine Gesten, eine leichte Veränderung ihrer Körperhaltung, ein Zucken der Pupillen. Der feine Geruch sexueller Erregung; ein Hauch von Feromonen, der bei Helena Knirb auf Torun allerdings eher abstoßend als anregend wirkte.

Interessierte sie sich überhaupt für die Ermittlung? Oder war ein Toter und ein verschwundenes Ehepaar für sie nur Mittel zum Zweck, um einen Schlag gegen ihren Erzfeind zu führen?

Torun wollte den Gedanken abschütteln, immerhin waren die Ergebnisse ihrer Arbeit für gewöhnlich tadellos. Außerdem hatte er er noch etwas gespürt, wenn auch nur für einen kleinen Moment, als sie zusammen vor der Leiche des Gregorij Fährmann standen. Vor der Leiche und dem Plakat mit den seltsamen Zeichnungen. Es mochte eine Sekunde gedauert haben, maximal vielleicht zwei, in denen Helena Knirbs Augenlider kurz zuckten, die Pupillen sich minimal weiteten, und die Anspannung ihres Körpers kaum merklich geringer wurde. Zu dem Geruch von fieser Lüsternheit gesellte sich ein flüchtiger Hauch von unbestimmter Angst. Was einigermaßen seltsam war, denn Ängstlichkeit gehörte nun wirklich nicht zu Helena Knirbs vorherrschenden Wesenszügen.

Die Kopfschmerzen wurden stärker, Toruns Gehirn schrie nach Ruhe. Wahrscheinlich hatte sie in dem Moment schlichtweg realisiert, daß dieser Fall auch von ihr selbst eine Menge Arbeit verlangen würde, sowie daß der Ausgang ungewiß war. Eine Untersuchung, bei der sie nicht am Ende einen Angeklagten vor Gericht stellen konnte, war für Helena Knirb eine Art Supergau. Torun trat seine Zigarette auf dem Gehsteig aus und stieg in seinen Dienstwagen. Im Handschuhfach fand er einen Streifen Novalgintabletten und schluckte zwei, die er mit abgestandenem Mineralwasser herunterspülte. Bevor er den Motor startete, zündete er sich eine weitere Zigarette an, und wählte Basstongs Nummer auf seinem Diensthandy.

„Wie weit bist du, Alfons?“
„…“
„War eigentlich klar. Sei so gut und frag diesen Falk, ob er irgendwelche Verwandten oder Bekannten von Gregorij Fährmann kennt. Auch Arbeitgeber und so…“
„…“
„Nö. Die Register checkt schon der Kurti. Der soll sie mir per Mail schicken, ich leite das an dich weiter. Fährst du dann eigentlich nach hause?“
„…“
„Klar. Aber du könntest mir trotzdem einen Gefallen tun.“
„…“
„Doch, doch. Aber ich bekomme grade wieder Kopfweh. Scheyß Wetterwechsel. Wenn du für die nächsten drei Stunden meine Anrufe bearbeiten kannst…“
„…“
„Dann leite ich die Anrufe auf dein Handy um. Aber ich warne dich: Die Knirb hat mich gefressen. Kann gut sein, daß sie dir auf die Nerven geht.“
„…“
„Ja, du mich auch.“

Yildiray Torun stellte die Rufumleitung ein und schaltete sein Diensthandy aus. Eine halbgerauchte Zigarette flog aus dem offenen Fahrerfenster und landete zischend in einer Pfütze, deren Oberfläche sich im Wind kräuselte. Für eine Minute verharrte Torun hinter dem Steuer, die Augen geschlossen, die Finger trommelten langsam auf das Lenkrad. Frische, kühle Luft wehte durch die heruntergekurbelten Fenster; so belebend dieser kalte Hauch eigentlich sein sollte, Torun fühlte nur ein überwältigendes Bedürfnis nach zwei Stunden Tiefschlaf. In einer halben Stunde würde das Novalgin seine Wirkung zeigen. Dann war an Autofahren nicht mehr zu denken, also legte Torun den ersten Gang ein, und machte sich davon.



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43. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 10.07.11 19:42

4.

Wieso machte dieser Torun es ihr so einfach? Seit fast drei Stunden landete sie jedes Mal, wenn sie die Nummer wählte bei diesem Versager Basstong; Torun selbst hatte sich verkrochen, zog es vor, nicht erreichbar zu sein. Daß sie bis zum Abend einen adäquaten Bericht von ihm bekommen würde, war reichlich utopisch. So kam es, daß Helena Knirb um kurz vor fünf keinerlei Gedanken mehr an Toruns Ultimatum verschwendete, vom Versagen ihres ungeliebten Mitarbeiters war sie zutiefst überzeugt. Bereits vor über einer Stunde hatte sie eine schriftliche Rüge verfasst, die sie um viertel nach fünf einfach abschicken würde. Also cum tempore, fast schon zuviel der Milde. Seitdem beschäftigte sie sich mit den Akten zu anderen Fällen, die sie dringend abschließen musste, um sich umso akribischer den aktuellsten Ermittlungen widmen zu können. Als das Faxgerät piepsend zum Leben erwachte, wirkte das zunächst beinahe wie ein Schock. Völlig perplex starrte sie auf die eng bedruckten Seiten, die unter Klicken und Rattern von der klotzigen Maschine ausgeschieden wurden.

Mit beiden Händen griff sie nach den Zetteln, während ihr erstickende Wut den Hals hinaufkroch. Dicht hielt sie Toruns Bericht vor das Gesicht, so dicht, als wollte sie ihn mit ihrer etwas zu langen und viel zu schmalen Nase in Fetzen schneiden. Natürlich war das Protokoll alles andere als gut; eigentlich sogar recht schlampig, voller Fehler und viel zu kurz. Aber die wesentlichen Daten waren aufgeführt, wogegen sie vergeblich nach Formfehlern suchte. Ihr Oberlippe zitterte leicht, während sie den Bericht in ihre Aktentasche stopfte. Für heute hatte sie genug, immerhin hatte sie selbst auch nur zwei Stunden am frühen Morgen geschlafen, zwei weitere Stunden war sie anschließend mit einer außerdienstlichen Vergnügung beschäftigt gewesen. Was sowohl befriedigend und entspannend gewesen war, andererseits aber auch ziemlich anstrengend. Jedenfalls war somit ein verfrühter Feierabend nur gerechtfertigt.

Doch zuvor musste sie immerhin noch einen Versuch unternehmen, Torun zu erreichen, was sie zunächst über seinen privaten Festnetzanschluß probierte. Was sie besser hätte bleiben lassen. Eine Frauenstimme meldete sich am anderen Ende der Leitung, im Hintergrund plärrte ein Kind, wahrscheinlich eines der vier Bälger Toruns. Die Stimme gab in eher leidlichem Deutsch zu verstehen, daß der Hausherr nicht zu sprechen sei. Nein, auch nicht für eine Vorgesetzte, und überhaupt: Wenn es wegen der Arbeit sei, warum Frau Knirb eigentlich die Privatnummer anrufe. Nein, es sei ihr völlig egal, ob die Anruferin die Staatsanwältin, die Bundeskanzlerin oder die Päpstin wäre. Dann wurde aufgelegt; Staatsanwältin Knirb kochte vor Zorn. Sie drückte die Wahlwiederholungstaste, legte sich eine niederschmetternde Rede zurecht, um dieses impertinente Weib in ihre Schranken zu weisen. Wozu sie nie Gelegenheit bekam: Nach einer halben Minute ununterbrochener Schimpftiraden auf Türkisch, verbales Sperrfeuer ohne Unterbrechung, war es Helena Knirb die auflegte, und stattdessen Toruns Diensthandy anwählte.

Eigentlich rechnete sie damit, erneut bei Komissar Basstong zu landen, doch das war nicht der Fall. Dafür fand sie sich auf Toruns Mailbox wieder. Auch nicht gerade das Gelbe vom Ei, aber besser als nichts.
„Einen schönen guten Abend, Herr Torun, Staatsanwältin Knirb hier. Falls sie noch kein Memo erhalten haben: Die Teambesprechung beginnt morgen früh um acht. Bis dahin erwarte ich von ihnen ein paar etwas exaktere Informationen als in diesem reichlich dürftigen Bericht. Erstens: Die Aussagen von Gregorij Fährmanns Arbeitskollegen. Zweitens: Eine genaue Darstellung der Beziehung des Verstorbenen zu den Eheleuten Mommsen. Drittens: Eine Auflistung und Bewertung sämtlicher privater Dateien und Korrespondenz auf Fährmanns Rechner. Viertens: Das Ergebnis der Befragung der Nachbarn der Mommsens, sowie von deren Arbeitgebern, speziell die Protokolle der Befragung der Teilnehmer von dieser Feier, auf der die Beiden gewesen sind. Und sie sollten ihren Mullah, oder was immer sie da genau anbeten, um Gnade bitten, daß mir ihr unverschämtes Weib niemals alleine über den Weg läuft.“

Ein paar Akten steckte sie in ihre Aktentasche, um sie mit nach hause zu nehmen. Dann ab ins Auto und nichts wie weg, die grimmigen Gedanken mit etwas Spaß vertreiben. Mochten die meisten Leute Helena Knirb für frigide halten, sie wusste für sich, daß das keineswegs zutraf. Allerdings brauchte sich auch niemand für ihr Sexualleben zu interessieren. Solange ihre kleinen Ausschweifungen stets geheim und verborgen blieben, entging sie dem Risiko der Kompromittierung. Dafür wählte sie ihre Partner immer mit größter Sorgfalt aus. Zur Not versicherte sie sich, ein Druckmittel zu besitzen, um die nötige Diskretion von ihnen zu erzwingen.

Kurz bevor sie auf die Autobahn abbog, begann das private Mobiltelephon auf dem Beifahrersitz wie eine räudige Katze zu plärren. Im Fahren warf sie einen kurzen Blick auf den Absender der SMS:
Mettfresse.
Mit einem einem belustigten Pfeiffen auf den Lippen fuhr sie rechts ran und schaltete den Warnblinker ein. Der Inhalt der Nachricht bestand aus genau drei Zeichen.

SOS

Niemand konnte sie sehen, also gestattete sie sich ein hämisches Grinsen, zog die Oberlippe hoch und ließ das Gold ihrer Zähne aufleuchten. Der Dreckskerl hatte ziemlich lange ausgehalten, wenn auch nicht lange genug. Zeit für ihn, das Feld zu räumen, damit sie sich ein anderes, besseres Spielzeug zulegen konnte. An diesem Abend hatte sie ohnehin Anderes vor, so sparte sie sich immerhin den Umweg über die spießige Neubauwohnung dieses Versagers. Rasch tippte sie das Codewort in ihr Handy ein – „Agonie“ – und schickte es an eine im Adressbuch eingespeicherte IP – Adresse.

Ein paar Kilometer weiter begann in einer stockdunklen Wohnung im zehnten Stock eines Wohnblocks der Bildschirm eines Laptops zu leuchten. Irgendwo im Dunkeln war ein leises, metallisches Klirren zu hören, gefolgt von einem gedämpften Verzweiflungsschrei, der in ein schnaubendes Wimmern überging. Ein spezielles Programm erfasste automatisch den Text der erhaltenen Nachricht, erkannte die Buchstaben A-G-O-N-I-E als Eingabebefehl und unterbrach einen Stromkreis in einer angeschlossenen Hardware. Drei schnell aufeinanderfolgende Klicklaute hallten durch die Dunkelheit, als die Elektromagnete der Schlösser nicht mehr mit Strom versorgt wurden. Eine Kette glitt ratternd durch eine Öse, und während mehrere Lichter im Raum angingen, stürzte ein massiger Körper imTürrahmen zwischen Korridor und Badezimmer zu Boden. Aus einem verzweifelten wurde ein erleichtertes Wimmern, während sich der Mann in einer Pfütze aus Urin zusammenkrümmte.

Mit Hedja Goldblum war Helena Knirb mittlerweile seit vier Jahren zusammen. Dennoch weigerte sie sich hartnäckig, diese als eine „feste Partnerin“ zu bezeichnen. Solche Verbindlichkeiten konnte sie definitiv nicht gebrauchen, persönliche Bindungen haten in ihrem Leben keinen Platz. Niemals würde sie Hedja etwa sagen, daß sie sie liebe, zumal das eine glatte Lüge wäre, denn Helena Knirb liebte ausschließlich Helena Knirb. Von dieser Überzeugung wich sie kein Jota weit ab, wer daran zu zweifeln wagte, den zerrieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger.

Hedja wusste es besser, dennoch hütete sie sich, das gegenüber ihrer Partnerin jemals anklingen zu lassen. Dafür beteuerte sie stets gerne ihre eigene Liebe und Ergebenheit, sehr zu Staatsanwältin Knirbs Freude und Belustigung. So ließ es sich auskommen, Hedja bekam was sie wollte: Viel Aufmerksamkeit, manchmal ganz normalen Sex und häufiger nicht ganz so normalen Sex. Gelegentlich spielte sie auch die Assistentin bei Helenas Männersessions, aber was das Wichtigste war: Sie war der einzige Mensch, der annähernd so etwas wie ein Vertrauensverhältnis zu Helena Knirb aufrechterhielt. Darauf war sie mehr als stolz; diese Momente, wenn die strenge, harte Staatsanwältin sich bei ihr ausweinte, beinhalteten für sie eine solche Innigkeit und Wärme, daß sie im Gegenzug alles für ihre Herrin zu tun bereit war.

Für den Abend war ausnahmsweise einmal ganz normaler Sex angesagt. Weniger normal war, daß Helena Knirb anschließend im Bademantel auf dem Balkon rauchte. Hedja witterte eine Gelegenheit; hier brauchte jemand Zuwendung und Verständnis. Und natürlich eine besonders pflegende Fußmassage: Mit Öl und Creme bewaffnet machte Hedja sich an die Arbeit.

„Viel Stress heute, Helena?“
„Warum? Weil ich rauche?“
„Auch. Und wegen… Weil du so abgelenkt warst. Nicht bei der Sache, hast mich hart arbeiten lassen.“
„Deine Zunge hat sich eben angefühlt wie ein Stück Kiefernholz, wenn du’s genau wissen willst.“
„Tut mir leid.“
„Ich hatte Stress bei der Arbeit. Es ist dieser Machotyp, der Rambo – Kommissar.“
„Torun, ja?“
„Haargenau. Verdammt, ich will meinen Respekt. Den mir der Saukerl verweigert, und das macht er absichtlich. Weil er mich reizen will!“
„Muss wirklich ein mieses Dreckschwein sein.“
„Diese dauernde Überheblichkeit, das freche „Du“, seine ewige Raucherei. Aber am Allerschlimmsten ist es, daß ich an diesen scheyßglatten Wikser nicht rankomme. Abmahnungen? Beschwerden? Prallt alles von ihm ab!“
„Du musst ihn in die Ecke drängen, ihm eine Falle stellen. Wie soll ich mit dir glücklich sein, wenn dieser Mann es auf dich abgesehen hat? Wenn er dich so belastet und bedrängt?“
„Ich erwische ihn schon noch. Bei dem Fall, den ich heute übernommen habe, kann er nur Fehler machen. Er wird eiskalt auflaufen, und dann sorge ich dafür, daß er fliegt. Oder zumindest mal bis zur Pensionierung wieder Streife fährt.“
„Kann ich dir irgendwie helfen? Wenn du willst, stelle ich ihm eine verruchte kleine Falle, wie bei diesem Richter vor ein paar Monaten, der…“
„Bist du wirklich so dämlich, Hedja? Wenn das funktionieren würde, hätte ich dich schon längst auf ihn angesetzt, glaub mir. Aber das zieht bei ihm nicht. Nein, ich erwische ihn über die Arbeit. Ich habe da schon so eine Idee, wie ich ihn dazu bringe, sich ein richtiges Dienstvergehen zu schulde kommen zu lassen.“

Tatsächlich funktionierte es beim zweiten Mal deutlich besser, Hedjas Zunge erledigte einen hervorragenden Job. Dabei setzte Helena Knirb Hedjas Körper zur Anspornung weiter unten etwas unter Strom, bis sie mit dem Ergebnis vollauf zufrieden war. Diese Zufriedenheit konnte sie sich sogar bis zum nächsten Morgen bewahren, bis sie in der Teamsitzung wieder mit ihrem Erzfeind konfrontiert war.



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44. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 13.07.11 22:23

5.

Es war ein Bild des Jammers, das die Mitglieder der Besprechung abgaben. Augenringe, ungewaschene Haare oder Bartstoppeln fanden sich bei fast allen der Anwesenden. Ein sichtbar übermüdeter Alfons Basstong übergab einen Stapel Papiere an Yildiray Torun, der selbst über die Nacht kaum vier Stunden geschlafen hatte. Die Pathologin döste schier über ihrem Kaffe ein, da sie genau wie Michael Krantz, der Leiter der Spurensicherung, eine unplanmäßige Nachtschicht eingelegt hatte. Lediglich Helena Knirb wirkte frisch und ausgeruht, als sie die Sitzung kurz eröffnete, um dann das Wort an Torun zu übergeben.

„Bevor ich ich näher auf Gregorij Fährmann eingehe, muss ich noch was zu Beat Wasenstein sagen. Falls es bei irgendjemendem gerade wegen Müdigkeit nicht präsent ist: Das ist das Brandopfer aus der Sachsenstraße. Es ist ja leider so, daß solche Sachen nicht nacheinander passieren, sondern immer gleichzeitig. Und jetzt wird’s dann toll, weil diesmal ist das wahrscheinlich kein Zufall. Beat Wasenstein ist jedenfalls keines natürlichen Todes gestorben. Ich geb‘ euch mal eine kurze Zusammenfassung des Obduktionsberichtes. Und Danke an Gundula, daß du das heute nacht noch durchgezogen hast.“
Ein kurzes Nicken von der Pathologin, die anschließend gleich ihren Kopf wieder sinken ließ.

„Nach Gundulas Erkenntnissen wurde Dr. Beat Wasenstein zunächst mit einem Barbiturat betäubt, das ihm wohl oral eingeflößt wurde. Anschließend wurde mit einer Spritze aus der Halsvene Blut entnommen. Die Todesursache ist Strangulation, der Todeszeitpunkt zwischen zehn und elf Uhr vorgestern abend. Eine Tatwaffe konnte noch nicht zugeordnet werden. Anschließend wurde der Brand gelegt, als Brandbeschleuniger wurden mit Reinigungsbenzin getränkte Papiere verwendet. Bücher und Zeitungen, die es in der Wohnung wohl zuhauf gab. Michael ist an der Auswertung des Tatortes dran, aber wegen der Brandschäden wird das noch ein wenig dauern, außerdem erschien die Sicherung der Spuren im Haus der Mommsens zunächst wichtiger. Was wir aber dringend brauchen sind die Fingerabdrücke und DNA – Spuren von den Gläsern in Wasensteins Küche. Wenn du da schon was hast, Michael…“

Der Techniker machte eine abwehrende Handbewegung, wozu er energisch den Kopf schüttelte.
„Sorry, Yildiray, zaubern kann ich nicht. Aber bis Mittag wissen wir bescheid.“
„Das passt doch. Dafür warst du ja mit den anderen Sachen extrem schnell. Michael und Gundula ihr wisst ja schon bescheid. Für die Anderen: Die Verbindung zwischen den Fällen ist das Blut von Beat Wasenstein, von dem sich Spuren in einem der Weingläser im Haus der Mommsens fanden. Gundula hat das gecheckt, es ist frisches Blut, das wohl aus der Entnahme kurz vor der Tötung stammt. Bisher kann man davon ausgehen, daß Gregorij Fährmann das Blut dabei hatte, sofern sich niemand sonst außer diesen drei Leuten im Haus der Mommsens aufgehalten hat. Und dafür gibt es keine Hinweise.“

„Mike und Claire Mommsen hielten sich zwar ganz in der Nähe des Brandes auf, haben die Betriebsfeier aber erst verlassen, als der Notruf deswegen schon bei der Feuerwehr eingegangen war. Das haben wir überprüft. Bleibt also Herr Fährmann, über dessen Tagesablauf wir allerdings kaum Nennenswertes in Erfahrung bringen konnten. Er scheint ein ziemlicher Einzelgänger zu sein, auch seine Wohnung ist unauffällig, beinahe schon unpersönlich. Einen Rechner haben wir dort nicht gefunden, ebensowenig wie in seinem Auto, das bei den Mommsens in der Einfahrt steht. Dafür aber einen angeschlossenen WLAN – Rooter in der Wohnung.“

Hier wurde er kurz von Basstong unterbrochen, der darauf hinwies, daß das Auto der Mommsens mit vier zerstochenen Reifen in der Nähe des Restaurants gefunden worden war. Genauso wie Fährmanns PKW wurde es mittlerweile untersucht. Aus der Frage, wie das Ehepaar Mommsen ohne Auto bei dem Unwetter nach hause gekommen waren, entsprang eine kurze Diskussion, die vom Leiter der technischen Untersuchung beendet wurde.

„Leute, die beiden sind von Fährmann mitgenommen worden. Die Spuren aus seinem Auto sind noch nicht ausgewertet, aber die Rückbank war nass, und wer soll da sonst gesessen haben? Im Haus der Mommsens finden sich keine Spuren einer weiteren Person, außer natürlich von Roland Falk.“

„Ich denke das Gleiche, Michael, aber solange wir keine Ergebnisse haben, wollte ich da auch gar nicht näher drauf eingehen. Wir finden’s schon noch raus. Viel wichtiger: Gregorij Fährmann ist anscheinend eines natürlichen Todes gestorben. Ich weiß zwar nicht, wie du zwei komplette Obduktionen plus Auswertung in so wenig Zeit schaffst, Gundula…“
„Eigentlich vier, Torun. Aber die anderen waren ziemlich simpel. In Wahrheit habe ich in der Pathologie ein paar Klone von mir gezüchtet, die für mich die ganze Laborarbeit übernehmen, während ich nur schnipple und Wagner höre. Ob der Tod wirklich natürlich war, kannst mal zurückstellen. Es kann einen Haufen Gründe für eine ICB geben, die Histologie und Serologie sind noch nicht ausgewertet.“

„Okay, aber da es auch keinerlei Spuren von Giften und keine äußeren Gewaltspuren gibt, entnehme ich mal deinem Bericht, daß er einfach eine spontane Hirnblutung erlitten hat.“
„Wie du auf spontan kommst, ist mir ein Rätsel. Soll ich das geschrieben haben?“
„Ja, steht so in deinem Geschreibsel“
„Ich sollte morgens um fünf keine Berichte mehr tippen. Aber es ist egal, verstorben ist er definitiv an einer Hirnblutung, und zwar ohne Fremdeinwirkung.“
„Das meinte ich doch. Zwischen eins und zwei Uhr.“

An dieser Stelle übernahm Alfons Basstong das Wort.
„Da ist noch eine weitere Sache, die wir in den Ermittlungen im Auge haben sollten. Weil sonst wär’s ja zu einfach, und wir wollen uns ja nicht langweilen, oder?“
Als Antwort bekam er aus der Runde nur genervtes Stöhnen und einen eiskalten Blick von Helena Knirb zurück.
„Yildiray und ich hatten erst kürzlich mit den Eheleuten Mommsen zu tun, dabei ging es um einen Fall von Grabschändung. Ein Täter konnte da bisher nicht ermittelt werden. Die beiden hatten eine Tochter, die allerdings wenige Tage nach der Geburt verstorben ist. Das war vor über vier Jahren. Jetzt wurde der Grabstein mit Schmierereien besudelt, auf dem Grab selbst wurde ein Feuer entzündet. Weil kein anderes Grab angerührt wurde, und es in der letzten Zeit keine einschlägigen Fälle in der Umgebung gab, gehen Yildiray und ich von einem gezielten Anschlag aus.“

In den folgenden Minuten versuchte Basstong, die Beziehung zwischen den Mommsens und Gregorij Fährmann darzustellen, was allerdings recht vage war, da er sich größtenteils auf die Aussagen von Claires Vater stützen musste. Über Fährmann selbst hatten sie nur wenige Informationen. Bei seinen Arbeitskollegen war er nicht unbeliebt gewesen, allerdings pflegte er mit ihnen keine Kontakte jenseits der Arbeit. Er war unverheiratet, hatte keine Verwandten und außer Roland Falk und den Mommsens hatten sie bisher auch keine engeren Freunde ermitteln können.

Was am Ende übrigblieb, war ein Haufen von Fragen und ein noch größerer Haufen von Arbeit. Einer der rätselhaften Punkte war auch die Zeichnung, die sie im Wohnzimmer der Mommsens gefunden hatten. Es stand fest, daß Gregorij Fährmann der Zeichner gewesen war, da sie mehrere ähnliche Skizzen in seiner Wohnung gefunden hatten. Über die Bedeutung aber waren sie sich nicht klar. Alfons Basstong wurde schließlich mit der Mammutaufgabe betraut, sämtliche Schriften und Zeichnungen in Charons Wohnung zu sichten und auszuwerten.

Nach der Sitzung war Helena Knirb mehr denn je überzeugt, daß Yildiray Torun sich mit dieser Ermittlung eine blutige Nase holen würde. Und wenn sie ein bisschen nachhelfen würde, gab es gute Chancen, daß er recht bald von der Bildfläche verschwände. Auf dem Weg ins Gericht wählte sie die Nummer eines Redakteurs, mit dem sie nicht nur dienstlich oft zu tun hatte, sondern dem sie auch in einem ganz anderen Bereich schon begegnet war. Wobei sie natürlich darauf geachtet hatte, daß er sie bei der entsprechenden Session nicht erkannt hatte. Wozu gab es Gesichtsmasken und Augenbinden? Jedenfalls besaß sie von ihm sehr wohl einige Photos, die ihr nun eine sehr diskrete Zusammenarbeit garantierten. Immerhin ging es um Informationen, die keinesfalls im Zusammenhang mit ihrem Namen auftauchen durften. Sehr wohl aber im Zusammenhang mit dem Namen Yildiray Torun.

Roland Falk betrat die Wohnung in Anglerkleidung und Handschuhen. Eine rationale Erklärung für sein Vorgehen hatte er nicht. Aber als er das Präsidiumverlassen hatte, beschlich ihn ein Gefühl, daß sich schnell zu einem inneren Drang steigerte. Eigentlich war es mehr das Fehlen eines Gefühls. Seine Tochter war weit weg, so weit weg, daß er sie kaum mehr spüren konnte. Also irgendwie unbegreiflich weit weg. War er den ganzen Tag schon unruhig und nervös gewesen, langsam steigerte sich dieser Zustand bis zu einer Art Extase.

Die wirren, tanzenden Gedanken in seinem Kopf ähnelten dem kühlen, frischen Wind, der durch die Straßen der Stadt pfiff. Sie glichen dem ständig wechselnden Antlitz des Himmels, strahlendes Blau in schnellem Wechsel mit weißen Wolken, grauen Wolken und dicken Wolken, aus denen kurze aber heftige Schauer auf das Land prasselten. In sicherer Entfernung zu dem Haus, in dem Charon wohnte – gewohnt hatte – parkte er seinen Wagen und setzte einen Anglerhut auf. In der linken Hand hielt er eine Teleskopangel, in der rechten eine leere Sporttasche, während er zielstrebig auf den Eingang des Hauses zuging. Den Leuten auf der Straße nickte freundlich aber unbeeiligt zu. Er fand Charons Namen auf dem Klingelschild, drückte dann aber auf einen Klingelknopf weiter oben. Als sich eine Stimme an der Sprechanlage meldete, rief er „Stadtbrief!“ worauf sich die Haustür mit einem Summen öffnen ließ.

Vor Charons Wohnung zog Roland Falk die Handschuhe an. In der Anglerhose aus Gummi mit integrierten Stiefeln begann er durch die Aufregung zu schwitzen, dennoch brauchte er keine zehn Sekunden um mit einem Dietrich das recht primitive Schloß an Charons Wohnungstür zu knacken. Er schloß die Tür schnell hinter sich und sah sich in der Wohnung um. Einmal erst war er hier gewesen, was allerdings Jahre her war. Verändert hatte sich augenscheinlich kaum etwas. Zielstrebig ging er in Charons Arbeitszimmer. Das Herz schlug ihm dabei bis zum Hals; er wusste, daß er keine Zeit hatte, daß jeden Moment Polizei auftauchen konnte, um die Wohnung auf den Kopf zu stellen. Aber viel Zeit brauchte er auch garnicht. Auf Charons Schreibtisch fand er sofort, wonach er suchte. Hastig rollte er einen Stapel von Zeichnungen zusammen, die er mit einer Mappe voller Photografien in die Sporttasche steckte. Sein Blick fiel auf Charons Klapprechner. Kurzerhand zog er das Netzteil aus der Steckdose und stopfte alles zu den Zeichnungen und Photos. Kurz sah er sich nach weiterer Hardware um, vor allem suchte er nach einem Drucker, fand aber keinen.

Nach kaum fünf Minuten zog er die Wohnungstür wieder hinter sich zu und verließ das Wohnhaus, diesmal mit Angel in der rechten, und einer vollen Sporttasche in der linken Hand. Als er zu seinem PKW zurückging, fuhren zwei Polizeiautos an ihm vorbei. Um einen unbeteiligten Ausdruck bemüht, legte er Angel und Tasche in den Kofferraum und fuhr nach hause.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
45. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 14.07.11 22:43

Sechstes Kapitel:
Hangar C



1.

Die Dunkelheit hatte sich verändert. Noch immer war sie genauso undurchdringlich wie während der Zeitlosigkeit, aber ihre erdrückende Masse und Gestalt war verschwunden. Das Ende des entsetzlichen Schwarzen Breis war endlich erreicht. Mike spürte eine Oberfläche unter sich, also flog er nicht mehr, sondern lag auf festem Boden. Im ersten Moment war er froh, überhaupt wieder irgendetwas zu spüren. Da war vorher nur ein elend langes Nichts gewesen, angefüllt von Übelkeit und Todesangst. Vor dem Schwarzen Brei hatte er mit Claire…

Sein Gehirn wurde von einer Woge aus glühender Lava verschüttet, die alles Übrige auslöschte. Dann explodierte ihm der Kopf. Sein ganzer Körper krümmte sich erst zusammen, streckte sich dann wieder, krampfte erneut zusammen. Schrilles, langgezogenes Gebrüll hallte durch die Finsternis, zerriss grotesk die totale Stille, die hier vorher geherrscht hatte.

Noch nie hatte Mike solche Schmerzen erleiden müssen. Mit achtzehn Jahren war er mit seinem Skateboard beim Grinden über ein Treppengeländer schwer gestürzt. Mit dem Hintern voraus war er damals auf einer Stufe gelandet und hatte sich das Steißbein zertrümmert. Im Vergleich zu dem, was sein Kopf jetzt gerade erlebte, waren die Schmerzen damals ein Witz gewesen. Oder wären es gewesen, wenn Mike etwas hätte denken können. Die brennende Hölle mitten in seinem Kopf überlagerte alles andere. Es spielte keine Rolle mehr, wo er war, was mit ihm passiert war, wie er hierher kam. Agonie und Vernichtungsschmerzen waren alles, was noch von Bedeutung war.

Und es hörte nicht auf. Im ersten Moment hatte Mike gehofft, er würde einfach sterben oder wenigstens das Bewusstsein verlieren. Leider war ihm soviel Glück nicht vergönnt. Nach ein paar Minuten ebbten die hohlen, kreischenden Schreie ab, die ohne daß er es merkte aus seiner Kehle kamen. Es folgte ein gutturales Röcheln und Stöhnen, nicht etwa, weil die Schmerzen nachließen, sondern einfach nur aus dem Grund, daß Mike keine Kraft mehr hatte. Zugleich erschlafften auch seine krampfenden Muskeln. Die Hände hörten auf, mit dumpfen, wiederhallenden Schlägen auf den Boden zu trommeln. Der Hinterkopf schlug nicht mehr unkontrolliert gegen den Grund. Die Beine stellten die hektische Strampelei ein, dafür tränkte sich die Jeans zwischen Mikes Oberschenkeln mit Nässe.

Insgesamt dauerten die Krämpfe etwas mehr als zehn Minuten, anschließend verschwanden die Schmerzen genauso plötzlich, wie sei eingesetzt hatten. Sie hinterließen Mikes Geist völlig leer. Offene Augen starrten in lichtlose Schwärze, Blut floß aus Nase und Augenwinkeln, Speichel aus dem Mund.

Nach und nach fand Mike wieder zu sich, geführt von vergleichsweise leichten Schmerzen. Eine Platzwunde an seinem Hinterkopf pochte und zog. Seine Finger brannten, wo er sich drei Nägel abgerissen hatte, weil sich seine Händen unwillkürlich in den kalten, stahlharten Boden gekrallt hatten. Ergänzt wurden diese kleineren Wunden von einem gewaltigen Muskelkater, der nach und nach jeden Muskel seines Körpers zu erfassen begann. Dazu noch ein paar kleinere Abschürfungen und blaue Flecken, die er sich beim Krampf zugezogen hatte. Und eine ehemals warm – nasse Hose, die allmählich unangenehm kalt wurde. Mike begann zu zittern. Dennoch: All das war beinahe ein Genuß, verglichen mit dem, was er wenige Augenblicke zuvor erlebt hatte. Aber das Schmerzgedächtnis des Menschen ist eine eigenartige Sache: Ab einer bestimmten Intensität können starke Schmerzerlebnisse rasend schnell verdrängt werden; partielle Amnesie.

Mike setzte sich auf. Im ersten Moment war ihm schwindelig, er kämpfte gegen den Brechreiz an, besiegte ihn, und stellte sich auf die Füße. Zuerst verharrte er in der Hocke, eine Hand stützte sich auf den glatten, kalten Boden. War er blind? Er blinzelte mit den Augen, doch die Schwärze um ihn herum blieb undurchdringlich. Die Luft war kalt, es roch leicht ölig und ein wenig nach Rost. Keinerlei Windhauch berührte sein Gesicht, und es war vollkommen still um ihn herum.

Der Untergrund unter seinen nackten Füßen bestand anscheinend aus spiegelglattem Metall, kalt und in der Dunkelheit unendlich weit und eben. Langsam kehrten die Fragen zurück, und mit den Fragen kam die Angst. Wo war er? Wie kam er hierhin? Wo waren Claire und Charon? Träumte er? Sein ganzer Körper schmerzte, an manchen Stellen mehr, an manchen weniger. Wieso empfand er die Schmerzen als angenehm? Weil er kurz zuvor…

Ihm wurde wieder schlecht. Das Alles musste ein Traum sein. Allerdings konnte er sich nicht erinnern, jemals in einem Traum wirklich Schmerzen erlebt zu haben. Schmerzen waren generell ein Signal für den Körper, aus einem Traum augenblicklich zu erwachen, um sicherzustellen, daß der Körper nicht tatsächlich ein Problem hatte. Mike richtete sich auf. Verzweifelt versuchten seine Augen, irgendwas zu sehen, die Dunkelheit irgendwie zu durchdringen. Er drehte sich ein paarmal langsam und vorsichtig um sich selbst, blieb stehen, als er einen Hustenanfall bekam. Die bellenden Hustentöne verschwanden in der Dunkelheit, in weiter Ferne hallten sie wieder. Unwillkürlich musste Mike an eine große Höhle denken. Eine Höhle mit glattem Metallboden.

Obwohl er sich fast sicher war, alleine zu sein, begann Mike in die schwarze Stille zu rufen.

„Hallo?
HALLO!!!!“

In der Ferne hallte die Stimme wieder, Mike begann mit vor sich ausgestreckten Händen in irgendeine beliebige Richtung ins Dunkle zu gehen.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
46. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Jo am 16.07.11 21:37

Hallo Turambar,
ich bin erst beim Zweiten Kapital, aber deine Geschichte nimmt mich gefangen.
Bisher ist sie in puncto Struktur, Handlung und Sprache vorzüglich (und ich bin mir sicher, daß sie es bleiben wird).
Was ich insbesondere daran liebe, hat Bluevelvet bereits viel besser formuliert, aber um ein weiteres Glanzstück deiner Formulierkunst zu zitieren: "Die Nackenhaare waren nicht das Einzige, was sich aufgerichtet hatte."
Du verstehst es, Dinge geistreich und witzig zu umschreiben und es zu vermeiden, in Platitüden abzugleiten.
Viel Erfolg weiterhin. Auf das Ende der Geschichte bin ich sehr gespannt; ebenso auf weitere Beiträge von Dir.
Mit vielem Dank für deine Mühe, die Du Dir gemacht hast,
Jean
47. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 16.07.11 23:59

Hallo, Jean.

Danke für die Blumen! Klar, es ist manchmal schon beinahe Arbeit, es steckt auch einiges an Zeit darin, aber wenn ich keinen Spaß dabei hätte, würde ich nicht schreiben. Umso mehr freut es mich, wenn es Leser gibt, die ihrerseits Spaß an der Geschichte finden.

Auf das Ende wirst du freilich noch eine Weile gespannt warten müssen. Da kommt noch so Einiges. Damit der Titel dann auch irgendwann mal einen Sinn ergibt, geht´s jetzt mal weiter in der fremden Welt mit "Hangar C".

Grüße, Turambar.
48. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 17.07.11 00:00

2.

Wenn Augen über längere Zeit absoluter Dunkelheit ausgesetzt sind, steigert sich deren Lichtempfindlichkeit massiv. Plötzliche, blendende Helligkeit kann in dem Fall ein gewisses Problem darstellen.

Als mit einem mal das Licht anging, und Mike in gleißende Helligkeit gehüllt wurde, kehrte spontan der Vernichtungsschmerz zurück. Mit einem zittrigen Schrei riß er die Hände vors Gesicht und ging in die Knie. Die furchtbaren Schmerzen dauerten zwar nur den Bruchteil einer Sekunde an. Aber von totaler Verwirrung und Überraschung überwältigt krümmte er sich auf dem Boden zusammen, den Kopf in den Händen geborgen. Die plötzliche, unvorstellbare Helligkeit, maximaler Kontrast zur Finsternis vorher, war einfach unerträglich, dazu kam das überlaute Grölen einer blechernen, brutal verstärkten Computertimme.

„BLEIBEN SIE STEHEN. NEHMEN SIE DIE ARME ÜBER DEN KOPF UND BLEIBEN SIE UMGEHEND STEHEN. ERSTE WARNUNG. LEGEN SIE SÄMTLICHE WAFFEN VORSICHTIG AB UND GEHEN SIE FÜNF SCHRITTE ZURÜCK. ZWEITE WARNUNG. DEAKTIVIEREN SIE IHR EXOSKELETT UND BLEIBEN SIE REGUNGSLOS, BIS ZUM EINTREFFEN DER SCHÜTZER. DRITTE WARNUNG. BEI NICHTBEACHTUNG WIRD DER GESAMTE HANGARBODEN UNTER STROM GESETZT, IN SIEBEN – SECHS – FÜNF – VIER – DREI – …“

Dem absurden Inhalt zum Trotz rechnete Mike damit, in den nächsten Momenten wie auf einem Elektrogrill verschmort zu werden. Die Blechstimme in ihrer Lautstärke war nach der vorangegangenen Stille einfach zu überzeugend, zu beängstigend, um Zweifel an ihrer Autorität zuzulassen. Allerdings war er schlichtweg nicht in der Lage, den Aufforderungen zu folgen. Nach dem unvollständigen Countdown jedoch brach die Durchsage einfach ab; es geschah gar nichts. Das Licht jedoch leuchtete weiterhin mit unverminderter, grausamer Härte, drang selbst durch Mikes Finger und Lider. Mike wagte nicht, die Augen zu öffnen, oder die Hände aus seinem Gesicht zu nehmen. Er fürchtete, durch die plötzliche Reizüberflutung erblindet zu sein. Nach einer Weile hörte er trotz des Pfeiffens in seinen Ohren Schritte näherkommen: Rasche, dumpfe Schläge auf dem glänzenden Metallboden. Wiederhall in der abnormalen Weite des Raumes, in dem er sich befand. Eine leichte, unangenehme Vibration der Fläche, auf der er lag.

Jemand blieb direkt vor ihm stehen. Mike versuchte die Augen zu öffnen, versuchte, durch die Finger zu blinzeln, aber sobald er es versuchte, fuhr das grelle Licht wie ein glühendes Messer durch sein Gehirn. Ein derber Stiefel stieß unsanft gegen seine Schulter, und eine Stimme sprach ihn an; diesmal allerdings wenigstens eine durchaus menschliche. Vielleicht ein bisschen zu kratzig und ein bisschen zu tief, aber dennoch in gewisser Weise ein Hoffnungsschimmer nach der Einsamkeit. Verstört versuchte Mike sich zu erinnern, wann er das letzte Mal mit jemandem gesprochen hatte, es schien eine Ewigkeit her zu sein. Kaum konnte er sich überhaupt an menschliche Stimmen erinnern, genausowenig, wie er sich bis vor ein paar Minuten an Licht hatte erinnern können. In seinem eigenen Haus, Claire und Charon. Das schien Jahre her zu sein.

„Heda! Was ist los mit dir? Das hier ist Sperrgebiet, oder war es jedenfalls bis vor ein paar Tagen. Wie bist du reingekommen? Ist doch alles abgeriegelt.“
Mike brachte kein einziges Wort heraus. Aber wenn er die Lider fest geschlossen hielt, konnte er die Hände von den Augen nehmen, ohne das Gefühl zu haben, daß das Licht ihn umbrachte. Der kratzige Bass redete weiter auf ihn ein.
„Was ist? Kannst du aufstehen? Du kannst hier jedenfalls nicht liegen bleiben. Komm einfach mit mir mit fürs erste, dann sehen wir weiter. Wenn sie feststellen daß eine weitere Humankomponente hier ist, und ich nicht reagiere, dann habe ich ein Problem. Und das mache ich ganz sicher auch zu deinem Problem, das sei dir geschworen.“
Mikes Stimme höhrte sich stumpf und hohl an. Gebrochen, so als hätte er sie seit langem nicht benutzt. Was Unfug war, erst vor Kurzem hatte er aus Leibeskräften geschrien.
„Ich kann nichts sehen. Viel zu hell.“
„Jaaaaa, die Hallenbeleuchtung macht schon was her, das stimmt.“
„Wo bin ich?“
„Das hier ist Hangar C. Wie bist du reingekommen, verdammt?“
„Keine Ahnung. Ich war einfach da. Was ist Hangar C? Wo ist das, also welche Stadt, welches Land?“
„Mann, dich hat’s ja bös verrissen. Bist du vielleicht Ausschuß? Aber dann dürftest du ja wohl kaum so rumrennen, erst recht nicht hier. Oder hast Probleme mit deinem Erasor? Soll in letzter Zeit ja öfter vorkommen.“
„Entschuldigung, ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Aber so langsam geht’s wieder einigermaßen mit den Augen. Du hast nicht zufällig eine Sonnenbrille dabei, oder?“
„Ob ich was habe? Verdammich, du brauchst echt Hilfe, Mann.“

Mike nahm die Hand, die ihm gereicht wurde, und stand langsam auf. Er blinzelte, die Helligkeit schmerzte, aber sie brachte ihn nicht um. Er war auch nicht blind, allerdings erkannte er lediglich verschwommenen Schemen, genaugenommen einen einzigen, ziemlich großen, der jetzt vor ihm stand.

„Siehst du mich, ja?“
„So einigermaßen.“
„Ich bin Hauser. Humanunterkomponente für das Sicherungssystem von Hangar C.“
„Ich bin Mike.“
„Dann latsch mir einfach hinterher, Mike. Ich bring‘ dich mal aus dem Licht raus und beschaff‘ dir frische Hosen. Dann sehen wir weiter.“

Mike bemühte sich, den zügig voranschreitenden Schatten nicht aus den Augen zu verlieren. Die Augen hatte er immer noch zu Schlitzen zusammengekniffen. Er versuchte, den Blick auf den Boden zu richten, aber das war genauso fatal. Das glatte Metall strahlte und glänzte, spiegelte das grellweiße Leuchten, das den Raum füllte, mit voller Kraft wieder. Das Licht hatte keinerlei Wärmewirkung, so daß Mike trotz der Bewegung bald am ganzen Körper vor Kälte zu zittern begann. Vor Mund und Nase bildeten sich bei jedem Atemzug kleine Wölkchen.

Auch Hausers Atem kondensierte in der kalten Luft, allerdings hatte dieser mit der Kälte kein Problem. Sein großer, massiger Körper steckte in einem voluminösen, dunkelgrauen Daunenoverall, an den Füßen hatte er schwere Stiefel und auf dem Kopf eine braune Pelzmütze. Darunter hervor quoll langes, graues Haar. Wenn er sich zu Mike umdrehte, zeigte er einen ebenso grauen, langen Bart, eine große, rote Hakennase und zwei kleine, hellgraue Augen unter buschig – grauen Brauen.

Vor Hauser und Mike baute sich eine Wand auf, scheinbar endlos und glatt nach rechts und links verlaufend, ebenso endlos baute sie sich in die Höhe auf. Das Materiel war das selbe, schimmernde Metall wie der Boden, genauso glatt und fugenlos. Erst als Hauser die Hand ausstreckte, und mit zwei Fingern kräftig gegen die makellose Fläche drückte, schoß ein Teil der Wand zischend nach unten, und schuf eine dunkle Öffnung, in die Hauser hineinging. Mike folgte ihm durch die Tür, drehte sich aber auf der Schwelle um, um einen blinzelnden Blick in den Raum hinter ihm zu werfen.

Die Halle hatte groteske Ausmaße; daß sie absolut leer war ließ sie nur noch riesenhafter erscheinen. Alles war von dem ekelhaft grellen, weißen Licht erfüllt, das Boden und Wände leuchten ließ. Was Mike nirgendwo entdecken konnte, war eine Lichtquelle; entweder leuchtete die Luft, oder das Licht wurde von dem Metall ausgestrahlt, aus dem hier alles bestand. Die wahren Ausmaße von Hangar C ließen sich nur erahnen, da Boden und Wände Ton in Ton waren. Nur durch die Winkel dazwischen entstand überhaupt ein Effekt von Räumlichkeit. Als würde man das Innere einer beleuchteten Keksdose aus der Perspektive eines Bakteriums sehen. Mike sah nach oben, die Decke des Hangars befand sich – konservativ geschätzt – zweihundert Meter über seinem Kopf. Durch nichts unterschied sie sich von Boden und Wänden, außer durch die Position. Er hätte genausogut dort oben stehen können, die Füße am Dach, den Kopf nach unten, weil dort die Schwerkraft genau entgegengesetzt wirkte. Ein Alptraumbild, das in Mikes Magen Übelkeit auslöste. Er wandte sich angewidert ab, und folgte Hauser in den Schatten.

Sie gingen einen engen Koridor entlang, der genau wie die große Halle aus Schimmermetall bestand. Auch hier suchte Mike vergeblich nach einer Lichtquelle. Allerdings war das Leuchten hier deutlich schwächer, so daß Mike nun seine Augen endlich ganz öffnen konnte. Am Ende des Ganges befand sich eine Tür, ein Oval aus Metall mit einem Drehkreuz in der Mitte, aber immerhin eine richtige Tür, nicht eine Öffnung, die aus dem Nichts auftauchte. Mit Fugen außen herum, einem Klicken, als Hauser den Schließmachanismus betätigte, und sogar einem leichten Qietschen, als die Pforte kurz danach aufschwang.

„Nun, herzlich willkommen in meinem Humankokon, bemitleidenswerter Mike!“

Hausers „Humankokon“ war tatsächlich so etwas wie ein richtiges Zimmer, und es wirkte noch nicht einmal ungemütlich oder steril, so wie die Welt aus sterilen, kalten Flächen, aus der sie gerade kamen. Die Wände waren mit Tüchern behängt, auf dem Boden lagen Teppiche, einzig die Zimmerdecke war frei, und beleuchtete des Innere von Hausers Refugium. Die Einrichtung war jedoch eher spartanisch; ein Tisch und zwei Stühle, ein paar Schränke, ein Sofa und ein Bett. In einer Ecke befand sich so etwas wie eine Kochstelle, in einer anderen ein weiterer kleiner Tisch mit Stuhl, darauf ein leicht gewölbter, ovaler Monitor. Der Bildschirmschoner zeigte eine wogende, weibliche Brust. Hauser zeigte auf eine weitere Tür an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers.

„Was hältst du von einer Dusche mit Dampftrockner? Neben dem Waschbecken findest du auch einen Konverter, der dir Kleidung in deiner Größe bereitstellt. Alles kein Problem. Wenn du fertig bist, müsste der Kaffe das auch sein.“
„Danke, Hauser. Nur – äh – eine Kleinigkeit: Wie funktioniert dieser Konverter denn genau?“
Der riesenhafte Kerl legte seine Pelzmütze auf den Eßtisch, wobei er Mike mit einem leichten Kopfschütteln betrachtete.
„Irgendwas hat dir wohl komplett das Hirn weggeblasen. Hoffentlich gibt das keinen Ärger. Bei dem Konverter einfach auf die Schalttafel drücken, dann geht die Klappe auf, du nimmst die Sachen raus und ziehst sie an. Bekommst du das hin? Nicht, daß ich dich auch noch waschen muss, oder so. Das würde doch wohl keiner von uns wollen, oder?“
„Wohl kaum.“




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49. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 17.07.11 18:31

3.

Für Mike Mommsens Verstand war das „Badezimmer“ irgendwie eine Abnormität zuviel. Ihm wurde schwindelig, der glänzende Raum begann sich um ihn zu drehen und zu wirbeln. Als blanke Panik in ihm aufstieg, hatte er wieder das Gefühl, sich unmittelbar übergeben zu müssen. Im letzten Moment identifizierte er eine blanke, glänzende Metallkugel als Toilette, die er mit zwei zitternden Fingern antippte. Darauf klappte die obere Hälfte der Kugel lautlos zurück und gab eine trichterförmige Öffnung frei, in der eine durchsichtige, hellblaue Flüssigkeit stand. Ein penetranter Geruch nach Desinfektionsmitteln ging von der Brühe aus. Nachdem Mike sich übergeben hatte, wurden Erbrochenes und blauer Schleim mit einem lauten Zischen abgesaugt. Mike zog den Kopf zurück und setzte sich auf den Boden, bevor seine schwammigen Knie völlig den Geist aufgaben. Im selben Moment klappte der Deckel mit einem hohlen Klicken wieder zu. Mike umklammerte seine Knie; Überwältigt von Verzweiflung begann er hemmungslos zu schluchzen.

Anfangs hatte er versucht, sich damit zu beruhigen, daß er einfach nur einen besonders wirren und intensiven Traum erlebte. Doch gleichzeitig war ihm klar, daß er in dem Fall längst hätte erwachen müssen. Vor allem deswegen, weil trotz all der Wunderlichkeiten, denen er sich gegenüber sah, ein ungebrochener Ablauf von Ereignissen stattfand. Träume waren sprunghaft, Träume ignorierten Zeit und Raum. Das hier war zu vollständig, Details passten mit perverser Perfektion ineinander, die Wahrnehmung blieb lückenlos. Möglichkeit zwei: Das Haus war eingestürzt, er war unter Trümmern begraben worde, von der Feuerwehr ausgebuddelt, von Ärzten in ein künstliches Koma versetzt, künstlich beatmet. Irgendeine Intensivstation, der Kreislauf vollgepumpt mit Narkosemitteln und schmerstillenden Drogen. Die letzten, komatösen Halluzinationen eines zerquetschten Gehirns…

Möglichkeit drei.
Mike hob den Kopf. Die völlig verrückte Wirklichkeit dieses Ortes beharrte penetrant auf ihrer Existenz. Vergebens die irrsinnige Hoffnung, daß wenigstens die einzelnen Komponenten des Raumes ihre Position gewechselt hatten. Auch kleine, rosa Elephanten waren nirgends zu sehen, geschweige denn eine Gruppe tanzender Elfen. Mikes Wahrnehmung beharrte auf der aberwitzigen Idee, die Umgebung tatsächlich für real zu halten. Mikes Denken scheiterte schmerzhaft an der Frage nach dem Warum.

Überall umgab ihn hier das bekannte, undefinierbare Metall. Lichtspendend, ekelhaft unnahbar und steril. Nur, daß hier im „Badezimmer“ auch Wärme abgestrahlt wurde. Mike warf seine Klamotten mitten in der Metallkammer auf den Boden und stellte sich vor ein Konstrukt, das er für die Duschkabine hielt. Die bestand natürlich auch aus dem omnipräsenten Material, war etwas mehr als zwei Meter hoch und maß an der breitesten Stelle mehr als einen Meter im Durchmesser. Dem Raum zugewand befand sich eine ovale Öffnung in dem eiförmigen Metallklotz. Im Inneren des Dusch - Eis war es etwas heller als im Rest des Badezimmers. Als Mike hineinstieg, wurde es zusätzlich auch noch gleich etwas wärmer. Wenig überraschend war das Fehlen jeglicher Armaturen. Keine Wasserhähne, kein Duschkopf, noch nicht einmal Seife oder Shampoo. Gegenüber der Eingangsöffnung bemerkte Mike in der konkaven Innenhülle der Kabine eine leichte Ausbuchtung, etwa handtellergroß, die in entgegengesetzter Richtung zur restlichen Oberfläche gewölbt war. Mike erinnerte sich, wie er die Klokugel geöffnet hatte. Mit einem verzweifelten Seufzer tippte er mit zwei Fingern gegen die Auswölbung. Die Öffnung hinter ihm schloß sich binnen Sekundenbruchteilen, oberhalb der futuristischen Bedienfläche leuchtete eine blaue Schrift auf.

„Bitte die Handfläche auf das Bedienfeld legen!“
Mike presste seine Hand auf den blanken Metallhügel. Nichts passierte. Mit einem ungläubigen Kopfschütteln nahm er die Hand wieder weg. Diesmal erschien ein roter Punkt dort, wo vorher die Schrift gewesen war. Ein hektisches, hochfrequentes Piepsen erklang in der Duschkabine. Nach ein paar Sekunden war Mike überzeugt davon, die Anlage beschädigt zu haben. Eben als er sich darüber freuen wollte, erloschen Licht und Piepsgeräusch, dafür bekam er wieder etwas zu lesen.
„Biocode unbekannt. Geben sie bitte die Registriernummer ihres Exoskeletts ein und wiederholen sie den Vorgang!“

Einen Moment starrte Mike mit offenem Mund die Buchstaben an. Dann tat er das Naheliegendste, ballte seine weitestgehend schmerzfreie linke Hand zur Faust und versetzte der bescheuerten Schaltfläche einen kräftigen Hieb. Damit erreichte er immerhin den Effekt, daß nun beide Hände gleichermaßen weh taten. Dafür verschwand die Schrift, jenseits der Innenwand des Dusch – Eis hörte er zorniges Klicken und Brummeln. Mit einem gewissen Stolz und ängstlicher Befriedigung bildete Mike sich ein, die tolle Maschinerie immerhin aus dem Konzept gebracht zu haben. Zweifelnd las er die nächste Information:
„Bitte Reinigungs – und Wundversorgungsprozedur manuell auswählen!“
Ah, ja. Genau, nichts einfacher als das. Mike tippte ein paarmal schnell hintereinander auf das Bedienfeld.
„Kommando unbekannt. Wiederholen?“
Er hob beide Hände und legte alle zehn Fingerkuppen zugleich auf die Erhebung.
„Reinigungs – und Wellnessprogamm, Standartausführung, Dauer: 10 Minuten. Programm starten?“
Einmaliges Antippen mit dem Zeigefinger. Die Schrift wurde grün und blinkte.
„T -10.00
T -09.59
T -09.58“


Das Innere des Dusch – Eis füllte sich mit wohlriechendem Dampf. Mineralisch, angenehm frisch und pricklend. Mike schloß die Augen, während die Metallschale um ihn herum Unmengen von Flüssigkeit in winzigen Tröpfchen auf seinen Körper sprühte. Ströme von warmer Flüssigkeit liefen belebend über seinen Körper. Nur für einen Moment kehrte die Angst zurück, als sich urplötzlich die gesamte Kapsel mit Wasser füllte. Doch bevor Mike den Fehler machen konnte, vor Schreck einzuatmen und seine Lungen mit der ominösen Flüssigkeit zu füllen, wurde das Vollbad blitzartig wieder abgesaugt. Der Vorgang wiederholte sich mehrmals, angenehme Wärme, beinahe schon erregende Zufriedenhait breitete sich in Mikes Körper aus. Bei „T -1.01“ begann das Ei rasch zu vibrieren. Genau in dem Moment, als Mike sich der erektilen Wirkung dieser Stimulation gewahr wurde, war sein Körper trocken, hinter seinem Rücken öffnete sich die ovale Eingangstür der Kabine. Er warf noch einen kurzen Blick auf das Schriftfeld,
„T -0.00
Vielen Dank, daß sie Somatica – Duscheinheiten vertrauen!“

dann machte er sich in Hausers Badezimmer, daß durch die Annehmlichkeit des Duschvorgangs einen großen Teil seines Schreckens eingebüßt hatte, auf die Suche nach dem Bekleidungskonverter.

Eine weitere Halbkugel, die stark an den Toilettenglobus erinnerte, identifizierte Mike als Waschbecken. Immerhin schwebte das Teil etwa in Bauchhöhe vor ihm an der Wand. Rein interessenhalber tippte er die Auswölbung der Wand oberhalb des Beckens an. Sofort füllte sich die Halbkugel mit klarer Flüssigkeit. Einen halben Meter neben dem Waschbecken befand sich eine weitere Bedientafel. Diesmal drückte Mike sofort mit der gazen Handfläche auf die Wölbung. Die blaue Schrift erschien in diesem Fall unter der Schalttafel.
„Biocode unbekannt. Geben sie bitte die Registriernummer ihres Exoskeletts ein und wiederholen sie den Vorgang!“
Mike stöhnte auf; alles klar machen zur Bedienung mittels Faustschlag!

Hauser warf seinen Kälteschutzanzug auf das Bett und ging in Unterwäsche und Exoskelett zum kleinen Tisch mit dem konvex gewölbten Monitor. Er tippte mit zwei Fingern gegen die wogende Brust, die daraufhin verschwand. Dafür gingen mehrere Bildfenster auf, die hochaufgelöste Splatterfilme mit widerlichen, eindeutig pornographischen Szenen zeigten. Hauser stieß einen leisen Fluch aus. Mit ein paar gezielten Fingerstrichen schloß er sämtliches illegales Material auf seinem Mediocom. Dafür öffnete er ein Kommunikationsfenster, wählte in der Liste „Militärschutz“ aus und setzte eine Rückmeldung ab. Mit schnellen Fingerbewegungen füllte er die Auswahlfelder des Standardformulars. Der Typ, der sich so unvermittelt im Hangar materialisiert hatte, gab ihm Rätsel auf. Bei diversen Punkten blieb Hauser nichts anderes übrig, als die Auswahlmöglichkeit „unbekannt“, beziehungsweise „nicht definiert“ einzutragen. Dafür setzte er das Feld für „Dringlichkeit NRK“ auf „maximal“.

Nachdem er nun seine vordringlichste Pflicht erledigt hatte, machte er sich daran, das lästige Exoskelett abzulegen. Es mochte ja sein, daß Somatica in letzter Zeit Fortschritte gemacht hatte, was Bequemlichkeit, Gewicht und Sicherheit betraf. Aber Hausers Ausrüstung war schon ein paar Jahre älter, und außerdem gab es da so ein paar Kleinigkeiten, an die er sich niemals gewöhnen würde. Nachdem er die Komponenten für Arme, Beine und Torso abgebaut und im entsprechenden Schrank vertstaut hatte, entledigte er sich des lächerlichen Beckenschutzes. Immerhin gehörte er zu den Privilegierten, die zumindest im privaten Bereich auch diese Komponenten ablegen konnten. Verdammt, das war ihm einfach wichtig. Er kratzte sich nun mal gerne am Sack, und ebenso gerne befummelte er ausgiebig seinen aufgeblähten, labberigen Schwantz. Nicht, daß sich dabei irgendwas dort unten regte. Das Teil blieb immer aufgedunsen und schlaff, egal was er damit anstellte. Aber weil es in den letzten Monaten doch deutlich dicker geworden war, entstand bei längerem Tragen des Genitalschutzes doch immer ein unangenehmer Druck in der Dödelhülse. Das einzige was dagegen half, war eine ausgiebige, wenn auch lustfreie Massage. Was sollte da auch passieren? Selbst das verbotene, pornographische Material auf seinem Mediocom löste keinerlei sexuellen Reiz bei ihm aus. Eigentlich wusste Hauser gar nicht, wie sich soetwas wie sexuelle Erregung überhaupt anfühlte. Deher vermisste er in dem Zusammenhang auch nichts. Trotzdem fühlte es sich irgendwie richtig an, sich am Mediocom ver botene, sexuelle Brutalitäten reinzuziehen, während man die lästige Schwellung am Schwantz wegmassierte.

Als Mike aus der Dusche kam, saß Hauser am Eßtisch, wo er dampfendes, dunkles Gebräu aus einer ziemlich normal wirkenden Thermoskanne in zwei Blechbecher kippte. Die Flüssigkeit roch tatsächlich nach Kaffe. Mike spürte, wie dieser vertraute Geruch ihn ruhiger werden ließ.

Gekleidet in lange Unterwäsche aus einem undefinierbaren, aber sehr angenehm zu tragenden Material setzte sich Mike zu Hauser an den Tisch und testete den Kaffee. Besonders gut war das Zeug nicht, es erinnerte ihn an die erbärmliche Instant – Brühe, die der Automat in Claires Firma ausspuckte. Gemessen an all den Verrücktheiten, die Mike in der letzten Stunde hatte erleben müssen, war selbst diese Plörre ein erhabenes Zeichen von Normalität und von Wahrhaftigkeit. Gleichzeitig mißfiel ihm aber der durchdringende Blick, mit dem Hauser ihn über den Tisch hinweg anstarrte. Mike starrte zurück, ohne dadurch eine Reaktion zu provozieren.

„Und? Was ist los, Hauser?“
„Deine Kleidung ist unspezifisch generiert, richtig?“
„Was weiß ich? Hauptsache, die Maschine hat überhaupt etwas für mich ausgespuckt. Ein bisschen renitent, das Teil.“
„Biocode unbekannt?“
„Ja, genau das musste ich ein paar Mal lesen.“
„Was stimmt nicht mit dir Mike? Ich hoffe, du wirst mir kein Problem machen.“
„Ehrlich gesagt, ich habe noch nicht mal eine Ahnung, was denn ein Problem für dich wäre. Vielmehr hab‘ ich den Eindruck, für mich selbst das größte Problem zu haben.“
„Das kann ich kaum bezweifeln. Wie gesagt, ich bin schon bereit, dir zu helfen. Aber ich weiß wirklich nicht wie. Da wirst du Spezialisten brauchen.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Spezialisten wirklich begegnen will.“
„Kommt drauf an. Ich hoffe mal, du bist keiner von diesen Postapokalyptikern, stehst auch nicht mit denen in Verbindung oder so?“
„Ich habe noch nicht mal eine leise Ahnung, wovon du redest.“
„Immerhin. Aber wie gesagt, ich kann dir nicht wirklich helfen. Ich weiß noch nicht mal, wie du hier reingekommen bist.“
„Ich ja auch nicht.“
„Der Hangar ist stillgelegt und abgeriegelt. Nichtmal eine Stachelratte kommt hier rein oder raus.“
„Toll. Und was ist mit dir?“
„Was soll mit mir sein? Ich bin Bestandteil des Sicherungssystems, ich bin schon seit… Keine Ahnung. Jedenfalls ziemlich lange hier drinnen.“
„Du kannst nicht aus?“
„Nee. Selbst wenn ich wollte: Ich wüsste noch nicht mal wie.“
„Was für’ne Scheyße.“
„Wieso?“
„Weil du mich also auch nicht nach draußen bringen kannst.“
„Ich nicht. Aber du wirst kaum hier bleiben können. Ich denke, es wird ein paar Stunden dauern, aber die Schützer wissen bescheid, daß du hier bist. Die werden dich rauslassen. Die können dir auch helfen.“

„Ich wüsste nur gerne, was für Hilfe ich von denen bekommen werde.“
„So wie’s ausieht, hat’s dir irgendwie sämtliche Biosupressoren zerschossen. Du kommst hier ohne auch nur eine Exokomponente an, du hast noch nicht mal einen Erasor. Oder läuft der bei dir als Implantat? Aber auch dann hat das Teil irgendwie seinen Geist aufgegeben.“
„Was bitte ist ein Erasor?“
„Ruheüberwachung? Mann, bei dir ist ja alles weg! Entweder hat’s dir die Erinnerungsspeicher weggeschossen, oder du stammst aus `ner ganz anderen Welt oder so.“
„In dem Fall würd‘ ich selbst eher auf die zweite Möglichkeit tippen.“
„Ja, so siehst du aus. Sehr witzig.“
„Für mich nicht.“

Mike gähnte. Hauser hatte aus einer mikrowellenartigen Apparatur ein dampfendes Päckchen geholt. Den Inhalt quetschte er aus dem prallen Alubeutel auf zwei Blechteller. Die Pampe sah zunächst einfach nur fies aus, aber der Geruch war in Ordnung, und weil Mike plötzlich regelrecht Heißhunger verspürte, aß er den graubraunen Brei mit zunehmendem Genuß. Gut, solange man die Augen schloß, und das unästhetische Zeugs nicht ansah, schmeckte es eigentlich vorzüglich. Nach dem Essen kam die Müdigkeit. Hausers Kaffee half dagegen recht wenig, so daß Mikes Kopf immer schwerer und schwerer wurde. Je öfter er zwinkerte und gähnte, desto unruhiger wurde Hauser.

„Blos nicht einschlafen, Mike!“
„Warum? Schlaf ist genau das, was ich jetzt brauche.“
„Ohne Erasor? Du bist ja wahnsinnig, das ist Selbstmord. Und mich bringst du dabei genauso in Gefahr!“
„Du könntest mir endlich mal erklären, was an diesem beschyssenen Erasor so wichtig ist.“
„So langsam glaube ich, daß vielleicht genau das dein Problem ist.“
„Soso.“
„Man hört ja immer wieder solche Schauermärchen: Die Leute merken es nicht, wenn der Erasor den Geist aufgibt. Ignorieren den amtlichen Warnhinweis. Dann schlafen sie ein, und dann geht das mit dem Träumen los. Das killt dir dann alle Biosupressoren. Die meisten kriegen’s nicht mal mehr mit, drehen einfach durch. Das Üble ist, daß dieser trauminduzierte Wahn zuerst auf die Systeme zur Aggressionsregulierung geht. Und auf den Erogen – Supressor. Kannst dir ja denken, was das bedeutet.“
„Äh – Neulich hab‘ ich im Affekt dem Vater einer Schülerin eine geschallert. Aber das hat nichts mit einem Traum zu tun gehabt.“
„Sicher?“

Für einen kurzen Moment hatte Mike wieder das Bild vor Augen, daß auch in seinem Kopf aufgetaucht war, als er den netten Rassisten von Nebenan geohrfeigt hatte. Was hatte das mit einem Traum zu tun? Hausers Geschwätz hörte sich für ihn nach billiger Sensationspropaganda an. Er fragte sich, ob es in dieser seltsamen Welt wohl ein futuristisches Pendant zur Bild – Zeitung gab, aus dem Hauser seine Märchen bezog. Morgen früh (Wie spät war es eigentlich? Gab es hier denn soetwas wie ein Gestern und ein Morgen?) wollte er zum Frühstück mit Hauser zusammen mal einen Blick in diese Zeitung werfen. Sollte amüsant werden.

Mikes Kopf rutschte aus der Hand und bettete sich auf seinen auf dem Tisch ausgestreckten Arm. Liegen wäre besser, aber so ging es auch. Ein kurzes Flattern der Augenlider zeigte ihm, daß Hauser aufgestanden war und einen seiner Schränke öffnete. Dann blieben Mikes Augen geschlossen; tiefe, ruhige Atemzüge füllten seine Lungen.

Leider nur für zwei Sekunden.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
50. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 21.07.11 21:24

4.

Ein stechender Schmerz fuhr Mike in den Hals, gefolgt von einem ekelhaften Brennen. Er fuhr mit einem Schrei hoch, wobei er seinen Stuhl umstieß, der polternd auf dem Teppich landete. Hellwach war er mit einem Mal; er hörte seinen Puls in den Ohren hämmern, das Herz schlug viel zu schnell und die Haut am ganzen Körper begann zu jucken.

Mit riesigen Pupillen starrte Mike Hauser an, zitternd am ganzen Leib. Der große Mann mit den langen, grauen Haaren und dem Vollbart hatte den Tisch zwischen sich und Mike gebracht, in einer Hand hielt er eine Art Injektor aus Glas mit einer kurzen Nadel am Ende, von deren Spitze ein winziger Tropfen Blut perlte. In der anderen hatte er einen kurzen Gegenstand aus dunklem Metall, der in etwa die Form eines großen Eddings hatte. Am Ende des „Stiftes“ glühte ein rotes Licht, das nun direkt auf Mike gerichtet war.

„Was in aller Welt war das, Hauser? Bist du wahnsinnig?“
„Ob ich wahnsinnig bin? Bist das nicht eher du? Tauchst aus dem Nichts in einem Versiegelten Hangar auf, hast keine Ahnung, wie du reinkommst, wo du herkommst, hast alle Erinnerungen verloren. Mich fragst du, ob ich wahnsinnig bin?“
„Hab‘ ich dir irgendwas getan? Angegriffen? Dich auch nur mit blutgierigen Blicken angeschaut?“
„Du siehst katastrophal aus, Mike. Wenn das überhaupt dein Name ist. Du bist völlig von der Rolle, und ich werde nicht warten, bis du angreifst.“
„Ich habe nicht vor, dir irgendwas zu tun!“
„Ach, wirklich? Sagst du jetzt. Aber wenn du einschläfst, was passiert dann?“
„Wenn ich schlafe, dann doch erst recht nicht! Ich schnarche noch nicht mal!“
„Du hast völlig den Verstand verloren! Du willst schlafen, ohne Erasor? Dann wirst du durchdrehen, und bringst uns beide um! Du wirst nicht schlafen!“

Mike war fassungslos. Was sollte dieser Unfug? Das dauernde Gerede von einem Erasor, diese Angst, die Hauser offensichtlich vor Träumen hatte, noch dazu vor fremden Träumen? Kopfschüttelnd stellte er seinen Stuhl wieder auf, setzte sich, stand wieder auf, weil sein Herz immer noch raste, seine Nerven bis zum Äußersten gespannt waren. Dabei ließ Hauser ihn keinen Moment aus den Augen, aus seinen kleinen, blitzenden Augen. Das rote Licht blieb konsequent auf Mikes Brust gerichtet. Schließlich lehnte Mike Mommsen sich gegen die Spüle, weil seine Beine zu zittern begannen.

„Also gut, ich werde nicht schlafen. Würde mir auch schwerfallen, bin total aufgekratzt. Was zum Teufel hast du mir da reingedrückt? Was willst du von mir, Hauser?“
„Was soll ich von dir wollen? Nichts. Aber dir sollte klar sein, daß du tot wärest, wenn ich dir nicht geholfen hätte.“
„Geschwätz.“
„Mitnichten. Du erinnerst dich an die Durchsage? Als das Licht anging?“
„So vage.“
„Der Boden hätte sich wirklich unter Strom gesetzt, wenn ich den Mechanismus nicht deaktiviert hätte. Genauso wie die Wände und Decken des Hangars.“
„ist ja super.“
„Eigentlich darf ich den Mechanismus nur in besonderen Fällen deaktivieren.“
„Soll ich dir jetzt dafür dankbar sein?“
„Du solltest mir dafür dankbar sein, daß ich dir das Sympathomimetikum gespritzt habe, bevor du einschlafen konntest.“
„Ausgerechnet. Normalerweise schlafe ich nämlich ganz hervorragend, bringe dabei niemanden um, bekomme keine Wahnvorstellungen, oder sonst irgendwas. Und das alles ohne einen Erasor.“
„Ja, man sieht, wie gut dir das bekommt.“
„Ich habe keine Ahnung, wie ich hier herkomme, aber ich gehöre hier nicht hin. Das ist klar. Das meiste, was du mir erzählst, ist echt maximal kryptisch. Ich habe noch nie so eine Dusche gesehen, ich habe noch nie so einen Hangar gesehen. Aber ich weiß ganz gut, woher ich komme. Ich bin mit meiner Frau und einem Freund zuhause im Wohnzimmer gesessen, wir haben Wein getrunken, die Stimmung nach dem Gewitter genossen, und etwas gespielt. Dann ist irgendwas passiert, und jetzt bin ich hier. Wenn du mich vorhin wirklich gerettet hast, dann bin ich dir dafür dankbar. Aber dieser ganze andere Scheyß ist eine Farce.“

„Und jetzt sag‘ ich dir mal, wie das auf mich wirkt: Du bist völlig durchgeknallt, wahrscheinlich weil du unter dem Einfluß von Träumen stehst. Mit deiner Frau? In einem eigenen Wohnzimmer? Wein? Also beim besten Willen, dann müsstest du zu den höchsten Funktionären gehören. Und so siehst du wirklich nicht aus. Was du da von dir gibst, ist nicht mehr als eine wirre Phantasie.“
„Für mich ist das hier gerade eine Phantasie. Wie ein Traum. Oder genauer gesagt: Wie ein Trip. LSD oder Psilos. Sowas in der Art. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, ich bin Lehrer an einem Gymnasium, meine Frau arbeitet für die Forschungsabteilung eines Pharmaunternehmens. Das eigene Haus haben wir gekauft, weil Claire schwanger war, aber das Kind haben wir verloren. Und das Haus behalten. Du willst mir jetzt ernsthaft erzählen, mein ganzes Leben war ein Traum?“
„Was sonst? Du erzählst mir hier Dinge, die gibt es gar nicht. Was für ein Leben du wirklich hattest, wer du wirklich bist, kann ich dir nicht sagen. Aber das, was du da erzählst, ist völlig konfuser Mist. Traumscheyß eben. Alles was ich tun kann, ist mit dir auf die Schützer warten. Mit denen gehst du in ein Zentrum der NRK, und ich hoffe, daß die dich dann irgendwie wieder hinbiegen können.“
„Was ist NRK?“
„Nationale Ruhephasen Kontrolle. Aber da du ja anscheinend nichts mehr weißt, wird dir das auch nichts sagen.“
„Nee, nur, daß ich gerade ganz sicher träume.“
„Tust du nicht.“
„Danke, sehr hilfreiche Bemerkung. Hast du selbst jemals geträumt, Hauser?“
„Zum Glück nicht!“

Er konnte nicht anders. Mike fing an zu lachen. Erst gluckernd, dann zunehmend schrill, wurde er geradezu von einem hysterischen Lachkrampf geschüttelt. Es war unmöglich, das Gelächter zu unterdrücken, obwohl er sich Hausers verblüfftem Blick bewusst war. Hauser, der einfach nur mit offenem Mund dastand, regungslos, das rote Licht nach wie vor auf Mike gerichtet. Aus Hausers Sicht musste Mike jetzt erst recht als armer Irrer gelten. Von Lachsalven geschüttelt, setzte Mike sich nun doch wieder an den Tisch, stützte die Ellenbogen auf und barg sein Gesicht in den Händen. Nach einer Weile wurde aus dem Lachen ein Weinen. Voller Verzweiflung schluchzte er in tränennasse Handflächen. Als Mike sich schließlich beruhigt hatte und aufschaute, hatte Hauser sich ebenfalls wieder gesetzt. Wie zuvor saß er ihm gegenüber, auf dem Tisch die leere Kanne, zwei leere Kaffebecher, sowie der dünne Zylinder aus dunklem Metall, mit dem Hauser Mike bedroht hatte. Das rote Leuchten an der Spitze war verloschen.

„Tut mir leid, Hauser, jetzt musst du mich erst recht für verrückt halten.“
Hauser antwortete mit einem langsamen Nicken.
„Aber wie grotesk ist das eigentlich: Ich rede mit einer Traumfigur, die mir aus dem Brustton der Überzeugung versichert, daß ich wach bin. Daß das hier alles real ist, im Gegensatz zu meinem ganzen Leben. Dann erzählt mir diese Figur, daß sie selbst noch nie geträumt hat. Phantastisch! Es könnte gar nicht besser passen?“
„Soll ich diese Traumfigur sein?“
„In der Tat!“
„Du hast Nerven…“
„Nicht mehr, Hauser. Spätestens, seit du mir die Spritze gegeben hast nicht mehr. Aber: Wenn du wirklich real sein solltest, wenn es diesen Hangar und die abgefahrenen Dusche und alles wirklich gibt, dann habe ich ein richtiges Problem.“
„Ah! Erste Erkenntnis. Immerhin mal soviel Einsicht.“
„Freu dich nicht zu früh. Weil dann komme ich nämlich aus einer ganz anderen Welt, bin für dich sozusagen ein Außerirdischer.“
„Ich mach‘ mal noch mehr Kaffee.“

Die Müdigkeit war völlig verflogen. Mike spürte leichtes Kopfweh, aber immerhin hatte seine Herzfrequenz sich wieder einigermaßen normalisiert. So sinnlos die Vorstellung auch sein mochte, sie hatte einen gewissen Reiz: Er war einfach nur irgendwie in eine fremde Dimension, ein fremdes Paralleluniversum geraten. Oder hatte eine Zeitreise gemacht. Immerhin war er dann nicht verrückt, oder lag unter Drogen in einem Krankenhaus im Koma. Hauser mochte ihn immer noch für verrückt halten, schien aber davor mehr Angst zu haben als vor der Vorstellung, Mike könnte ein „Außerirdischer“ sein.

„Wie wäre es, Mike, wenn du mir einfach mal von „deinem Leben“ erzählst. Spielt ja eigentlich keine Rolle, ob das jetzt irgendwelche Phantasien sind, oder eine ominöse andere Welt. Erzähl einfach, und schlaf dabei nicht ein. Sonst müsste ich dich wirklich außer Gefecht setzen, eine zweite Dosis kann ich dir nämlich nicht geben.“
„Ist das dafür da? Zum außer Gefecht setzen?“
Mike zeigte auf den dunklen Metallzylinder.
„Das hier? In der Tat, ja. Ein Schuß, und du wärest für die nächsten zwanzig Stunden gelähmt. Wäre aber scheyße für mich, weil ich dich dann beatmen müsste.“
„Ist ja herrlich.“
„Erzähl einfach, Mike!“

Mike erzählte. Er redete von seiner Arbeit, von Claire, von Häusern, Autos und Urlaubsreisen. Hauser hörte zu, ohne Fragen zu stellen. Aber nach und nach stieg seine Verwunderung. Ab und zu schüttelte er den Kopf, oder strich sich ungläubig über den Bart. Mike wurde bewusst, daß Vieles von dem, was er berichtete, für Hauser genauso unglaublich war, wie für Mike die Funktionen des Badezimmers. Nach einer Weile begann Mike von Claires Schwangerschaft zu erzählen. Hauser hörte ihm mit offenem Mund zu, als würden die Kinder in seiner Welt vom Storch gebracht. Oder von einem mit Mikroprozessoren vollgestopften, elektronischen Äquivalent dazu.

Über eine Stunde verging, bis Mike wieder schwieg. Anfangs tat Hauser es ihm gleich. Zwischen ihnen auf dem Tisch eine leere Kanne und zwei leere Kaffebecher. Hausers ganze Haltung hatte sich verändert. Er zeigte Interesse, seine Furcht vor Mike schien fast verschwunden zu sein.

„Was ist mit den Träumen?“
„Was meinst du, Hauser?“
„Na, die Träume. Du hast mir so viel erzählt, und es ist unglaublich. Du hast mich gefragt, ob ich jemals geträumt habe. So als würdest du genau wissen, was das ist.“
„Genau weiß ich das nicht. Niemand weiß das genau. Aber für mich – in meiner Welt – sind Träume ganz normal. Ich träume jede Nacht, eigentlich immer wenn ich schlafe. So wie jeder andere Mensch auch.“
„Wie ist es?“
„Träumen?“
„Genau.“
„Kann man schlecht beschreiben. Manchmal schön, manchmal furchtbar. Meistens keins von beidem, aber es ist wichtig. Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, daß Träumen sogar überlebenswichtig sind.“
„Warum denkst du, daß du jetzt gerade träumst?“
„Erwischt. Denke ich nämlich gar nicht. Weil Träume ganz anders sind, als das hier. Aber wie soll ich das beschreiben, wenn du selber nie geträumt hast…“

Mike verstummte, als das Klopfen begann. Langsame, dumpfe Schläge tönten durch das Zimmer. Mike konnte die Vibration des Bodens spüren; der Schall selbst war omnipräsent, ging von den schimmernden Metallstrukturen des Raumes aus. Gerade als Mike Hauser fragen wollte, was der Lärm zu bedeuten habe, erhob sich der Bärtige mit einem Seufzen. Während Hauser zur Eingangstür ging, warf er Mike einen Blick zu, der beinahe gequält wirkte.

„Mike, vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Aber zwei Sachen solltest du wissen: Als der Alarm ausgelöst wurde, musste ich Meldung machen. Du wirst vielleicht bald verstehen, warum. Die Schützer wären so oder so hier angerückt. Und wenn ich dich wirklich falsch eingeschätzt habe, nur für den unwahrscheinlichen Fall, daß deine Welt, von der du erzählt hast, vielleicht doch nicht so falsch ist: Es tut mir leid.“

Hauser öffnete die Tür.



© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
51. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Turambar am 23.07.11 19:27

5.

Die Schützer sahen auf jeden Fall ganz anders aus, als Mike befürchtet hatte. Keine Roboter, keine gehörnte Monster oder Dämonen, noch nicht einmal bewaffnete Finsterlinge in Nazi – Uniformen. Von Hauser eingelassen wurden zwei eher schmächtige Männer, einer mit runder Brille und Glatze, der andere mit kurzen, grauen Haaren und einem hängenden Augenlid. Beide trugen unspektakuläre, graue Anzüge, matt glänzend und einigermaßen schlecht geschnitten. Unter dem Jackett graue Westen und schwarze Hemden mit Stehkragen.

Ihr harmloses Äußeres, ihre Unscheinbarkeit war jedoch trügerisch, was Mike schnell erkannte: Beide trugen in der rechten Hand jeweils einen dieser dunkel glänzenden Gegenstände, mit bedrohlich rot leuchtendem Punkt am Ende. Die beiden seltsamen Waffen wurden prompt auf Mikes Brust gerichtet. Er verspürte kein besonderes Interesse, die Wirkung eines solchen Rotlicht – Eddings kennenzulernen. Mike warf Hauser einen abschätzenden Blick zu, und sah, daß er schwitzte. Während der Kurzhaarige neben der geschlossenen Tür stehen blieb und auf Mike zielte, setzte sich der andere an den Tisch, wo er bedächtig ein zusammengefaltetes Papier und einen Stift aus der Tasche zog. Einen richtigen Stift, einen zum Schreiben, wie Mike anerkennend feststellte.

„Irgendwelche Probleme mit dem Fremdling, Hauser?“
Die Stimme des Schützers klang, als hätte er Kreide gefressen.
„Nichts Ernstes. Als er einzuschlafen drohte, hat er vier Einheiten Lysikat P erhalten. Ansonsten kooperativ, der Mann. Alles Bestens.“
„Schön, Hauser! Sehr schön! Das freut uns doch alle, oder?
Der Schützer lächelte Mike zu, Mike lächelte zurück, worauf das Gesicht des Grauen versteinerte.
„Den Vorfall bitte schriftlich bestätigen, Hauser. Und hier das Narkolytikum eintragen.“
„Wo geht er hin?“
„Hauser, das betrifft sie nicht mehr. Ihr Standort ist Hangar C.“

Hauser überflog das Dokument, füllte einige Zeilen aus, und gab dem Schützer den Wisch zurück. Ohne ein weiteres Wort zu Hauser stand der Graue auf und wandte sich an Mike.
„Sie sind?“
„Und sie?“
Als hätte er einen Schlag erhalten, verzog der Schützer sein Gesicht. Dafür drehte er sich wieder zu Hauser und schüttelte den Kopf. Dessen Angst war beinahe greifbar. Für einen Moment rechnete Mike damit, daß der Schützer den graubärtigen Riesen auf der Stelle töten würde. Stattdessen zeigte er einfach auf Mike, dann auf einen von Hausers Schränken. Hauser riss die Tür auf und kramte einen Daunenoverall und Stiefel hervor, die er Mike reichte.

„Draußen ist es arschkalt, Mike. Das solltest du lieber anziehen.“
„Ehrlich? Diese beiden Graumänner sehen in dem Zwirn nicht aus, als kämen sie aus dem sibirischen Winter.“
„Hä?“
„Vergiss es, Hauser. Und danke für den Kaffee.“

Die Schützer wirkten ungeduldig. Kaum, daß Mike fertig angezogen war, winkte der mit der Kreidestimme hektisch mit seinem Rotlicht – Edding.
„Wenn sie uns dann bitte folgen würden!“

Rot.
Farben und Weite waren wie ein Schock für Mike. Verschwunden war der enge Tunnel aus glänzendem Metall, durch den er mit Hauser zu dessen Zimmer gegangen war. Das Licht nicht mehr schummerig weiß, sondern ein grelles Spiel aus satten Rottönen. Lange, leicht gewellte Hänge von beinahe neongrellem Pink zogen sich zu einem weiten Tal hinab, dahinter reihten sich karge Höhenzüge aneinander; alle Flächen schienen makellos, schimmerten und glänzten rot und rosa. Über den gewaltigen Bergketten waberte eine riesige, orangerote Scheibe. Es hätte eine Sonne sein können, aber das Licht war kalt, viel zu kalt. Diese Sonne strahlte keinerlei Wärme ab. Genau wie das Innere des Hangars wirkten auch hier draußen die Dimensionen gewaltiger als alles, was Mike bisher gesehen hatte. Und genau wie der Hangar erschien auch die Außenwelt viel zu leer, viel zu verlassen.

Unter Mikes schweren Stiefeln knirschte es. Er bückte sich, seine Hnad fuhr über den von Fußspuren zertrampelten Boden. Verblüfft zerdrückte er die Masse die er aufgenommen hatte, und zwar zu einem Schneeball. Die eintönigen, rosanen und roten Flächen, die sich makellos in die Ferne erstreckten, ergaben einen Sinn: Die ganze Welt war tief verschneit.

Mike blinzelte, erstaunt betrachtete er die beiden Schützer rechts und links neben ihm. Ihre Anzüge waren nicht mehr länger grau, sondern leuchtend grün. Die vormals bleichen Gesichter leuchteten beinahe purpurn. Er drehte sich nach der Tür um; die Außenwand des Hangars erhob sich abartig hoch, sie allein schien das rote Licht nicht zu brechen, stumpf und grau dehnte sie sich leblos und gleichmäßig in alle Richtungen aus.

„Scheyße, wie geht das? Wo ist der Tunnel, durch den ich mit Hauser in seine Wohnung gekommen bin?“
Der glatzköpfige Schützer drehte sich ruckartig herum, sein Gesicht befand sich kaum fünf Zentimeter von Mikes Gesicht entfernt, wenn auch ein bisschen tiefer. Der Rotlicht – Edding bohrte sich in Mikes Bauch.“
„Sagen sie ihren Namen!“
„Mike Mommsen.“

Die Glatze ging wieder auf Distanz, das Purpurgesicht entspante sich. Sogar die seltsame Waffe ließ der Mann sinken.
„Schön, Mommsen, sehr schön! Das freut uns doch alle. Das Wohnareal von Humanunterkomponente Hauser hat rotiert, um uns Zugang zu gewähren.“
„Ach so. Ich hätt’s wissen müssen.“
„Sie wussten’s nicht. Darum sind wir ja hier, um ihnen bei ihrem kleinen Problem zu helfen. Mal sehen, vielleicht werden wir ja noch richtig gute Freunde, Mommsen!“
„Da hab‘ ich meine Zweifel.“
„Und wenn schon. Wenn sie dann bitte zum Cruiser vorangehen würden!“

Mikes Blick folgte dem ausgestreckten Arm. In einiger Entfernung stand nahe der Mauer des Hangars ein Gefährt, das wie eine Mischung aus Pistenraupe und Monstertruck aussah. Neben dem Fahrzeug standen drei weitere Männer in leuchtend grünen Anzügen. Mike nahm an, daß die Anzüge im künstlichen Licht des Hangars grau gewsen wären.

Als sich die Tür hinter Mike und den beiden Schützern geschlossen hatte, stieß Hauser einen langen, zitternden Schrei aus. So ruhig war der Fremde in der Gegenwart der Schützer gewesen. So verdammt ruhig, als würde er es überhaupt nicht spüren. Hausers ganzer Körper fühlte sich wie Wachs an, er konnte nichts anderes mehr tun, als sich auf seine Pritsche zu legen. Zitternd und mit einem unangenehmen Flimmern vor Augen zog er die Knie an und rollte sich auf seinem Bett zusammen. Ein ekelhaftes Kribbeln und Jucken zog sich seinen Nacken hinauf, kroch ihm unter die Schädeldecke, als der Erasor anlief. Hausers rechte Hand zuckte nach der kleinen, fünfeckigen Metallscheibe zwischen den Schulterblättern. Sie befand sich genau an dem Punkt des Rückens, den seine Finger so gerade nicht erreichen konnten.

Kurz vor dem Einschlafen schwamm ein seltsamer, wirrer Gedanke durch seinen Kopf, gefolgt von einem noch unglaublicheren Gefühl. Vor seinem inneren Auge tauchte der mysteriöse, dunkelhäutige Fremdling auf, der so selbstverständlich über Träume redete. Der so unbeeindruckt von den gräßlichen Schützern blieb. Fremdartige Erzählungen von einer andersartigen Welt. Hauser fragte sich zum ersten Mal, wie es wohl wäre, ohne Erasor einzuschlafen.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Hauser das Gefühl, daß ihm etwas ganz Wichtiges fehlte. Ein beinahe schmerzhaftes Gefühl der Unvollständigkeit suchte ihn heim, rumorte in seinen Eingeweiden und zog an seinen nutzlosen Hoden. Es war das Abwegigste, das Absurdeste, was ein Mensch überhaupt denken konnte, aber Hauser wünschte sich einen Traum. Und er wünschte sich eine Frau; nicht wie in den illegalen Filmen, die er sich ansah, sondern eine richtige Frau, mit der er…

Als er einschlief, unterbrach der Erasor sämtliche Denkvorgänge. Weder würde Hauser jemals träumen, noch würde er jemals mit einer Frau zusammen sein. Dafür hatte er immerhin nur noch ein paar wenige Wochen bis zu seinem Tod vor sich, was Hauser aber im Gegensatz zu den Schützern nicht wissen konnte.




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52. RE: Unter fremden Monden

geschrieben von Dark Marvin am 07.01.12 20:02

Hallo Turambar,

Eine wirklich schöne Geschichte, die sehr gut geschrieben ist. Ich hoffe du setzt sie irgendwann mal fort, auch wenn hier zu wenig Feedback kommt. Ich würde mich schon dafür interessieren, wie es ihr ergangen ist und ob die beiden sich wiederfinden. Auch frage ich mich, ob ihr Vater irgendwas verheimlicht und eine Ahnung hat, wo die zwei hinsind. Fragen über Fragen, und nur Fortsetzungen können sie beantworten.


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