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Thema:
eröffnet von Daniela 20 am 23.10.16 18:36
letzter Beitrag von Daniela 20 am 13.11.17 13:38

1. Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 23.10.16 18:36

Liebe Leser!

Ab dem 6. November wird hier Teil 4 meiner ´München´-Geschichte veröffentlicht. Nähere Angaben dazu lest jetzt bitte unter der Rubrik ´Diskussion über Stories´ - ´München Trilogie´.

Eure Daniela 20
2. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von ABDL-Lover am 24.10.16 05:47

Freue mich schon wie ein "Schnitzel" auf die neue Geschichte.
3. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von MarioImLooker am 24.10.16 10:04

Juhuu, es geht weiter...
War vor kurzem für ein Wochenende in München und da kam mir ab und zu die Geschichte in den Sinn und ich fragte mich ab und zu, wo wohl welche Szene genau stattgefunden haben sollte
Auch wenn ich die Details nicht mehr alle im Kopf habe, bin ich gespannt auf die Fortsetzung einer der besten Geschichte, wenn nicht sogar die Beste, hier in diesem Forum.
LG
MarioImLooker
4. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 06.11.16 22:00

Es ist so weit! Gleich wird es losgehen! Man bat mich, die kompletten ersten drei Teile privat zu verschicken, zwecks Konvertierung für ein E-Book, aber das möchte ich aus verschiedenen Gründen lieber nicht machen. Also bleibt bitte bei diesem Forum!
Vielleicht mag der eine oder andere auch mal einen kleinen Betrag spenden? Ich, als Story writer, kann Euch nur Spannung bieten, die Seite selber muss aber unterhalten werden und das kostet bekanntlich Geld.

Nun aber wünsche ich allen Lesern gute Unterhaltung .... und einen langen Atem!




Prolog

Nicola.

Ein neuer Name, an den man sich würde gewöhnen müssen. Man hatte keine Wahl mehr.

%%%

Der weiße Lieferwagen fuhr ohne zu bremsen durch die engen Straßen Roms. Es war früher Morgen, kaum jemand war unterwegs. Er wurde im Inneren des Wagens unsanft hin und her geworfen, hatte kaum eine Chance, den vielen abrupten Richtungswechseln entgegenzuarbeiten. Er lag, wie jedes Mal, halb bewusstlos auf dem dreckigen Boden des Wagens, hatte keine Ahnung, wohin es gehen sollte, hatte nicht einmal den Schimmer einer Ahnung, was mit ihm geschehen sollte. Geschweige denn, was er eigentlich verbrochen hatte, dass er jetzt so bestraft werden sollte. Denn dass es kein gemütlicher Sommerausflug werden sollte war so ziemlich das einzige, was wirklich klar schien.
Der Wagen bremste abrupt, er hörte, wie die klapprige Fahrertür geöffnet wurde, nur einen Moment später glitt die Schiebetür zur Seite - sein letzes Stündlein hatte geschlagen. Rauhe Hände griffen unsanft nach ihm, zerrten ihn hinaus ins diffuse Morgenlicht; es war, wie immer, vollkommen umsonst, sich dagegen zu wehren.

Wie immer schreckte er für einen Moment vor den hochaufragenden Hufen der Pferde zurück, aber er wusste, dass sie ihm nichts tun würden. Anders als das rauschende Wasser zu ihren Füßen. Man würde ihn nicht zu einem nächtlichen Bad einladen, auch das war klar. Dies hier war kein Film, sondern....

"Nun mach hin! Avanti avanti!! Finito la dolce vita!"

Ein hässliches Lachen folgte, dann wurde er unsanft vorwärtsgestoßen, er stolperte, raffte sich noch einmal auf, kippte dann vornüber in die kalten Fluten des Trevi-Brunnens. Hilflos schlug er um sich, aber der stählernen Keuschheitsgürtel, den er trug, zog ihn unerbittlich hinab in die grundlose Tiefe. Hier gab es keine lebensrettenden Luftschläuche, so wie bei Dan Brown, hier gab es nur noch Untergang und Tod.


Er wusste, es war nur ein Traum. Nur ein einziges Mal war es ihm gelungen, zu entkommen, indem er in die andere Richtung davonlief, hinüber zur Spanischen Treppe, deren Stufen er zwei, drei auf einmal nahm, aber egal, wie sehr er sich auch anstrengte, die Treppe wollte und wollte kein Ende nehmen, die Stufen kamen ihm entgegen, so wie wenn man eine Rolltreppe verkehrt herum hinauflief. Und als er sich umgesehen hatte, hatte er den Mönch gesehen, der in seiner schwarzen Kutte hinter ihm herlief und wild gestikulierend etwas schrie, von dem er immer nur das Wort ´femmina´ verstand; immerhin hatte er lange genug Latein gelernt, um wenigstens dieses italienische Wort zu verstehen.



Rom, März

Piove! Es hatte nicht lange gedauert, bis sie verstand, was dieses Wort bedeutete: Regen! Seit Tagen fiel er von einem finsteren Himmel herab, erquickte die Natur, ärgerte aber den Menschen, der lieber einen der vielen Plätze dieser alten, wundervollen Stadt aufgesucht hätte. Hoffentlich bezog sich der Ausdruck ´Ewige Stadt´ nicht auf den Regen; irgendwann musste er doch einmal wieder aufhören.

Nicola ärgerte sich, als sie auf ihr durchnässtes Schuhwerk sah. Man hatte sie, bei ihrer Ankunft vor mehreren Wochen, von Kopf bis Fuß neu eingekleidet, Sachen, die ihr durchaus gefielen, aber was nützten die teuersten italienischen tacchi alti, wenn man sie bei diesem Schmuddelwetter, das Hamburg die Ehre gemacht hätte, gleich ruinierte.

Sie hatte es sich in einem kleinen Straßencafé des Corso Vittorio Emanuele II bequem gemacht, hatte einen Kaffee bestellt und sich wieder einmal darüber geärgert, dass die Italiener immer nur diese halbe Mundvoll Espresso lieferten, etwas, wovon man wohl Herzrasen bekam, der aber keinen deutschen Kaffeedurst zu stillen vermochte. Sie musste es lernen, Capuccino oder etwas ähnliches zu bestellen.

Nicola ärgerte sich noch mehr über die harten, unbequemen Caféstühle, denn sie wusste nicht, wie sie sitzen sollte, ohne dass es irgendwo im Schritt, oder der Hüfte, schmerzhaft drückte. Am liebsten hätte sie ihren langen Rock zu einem weichen Sitzpolster unter ihrem Gesäß zusammengeschoben, aber das hätte Andrea gleich gemerkt, die vielen Falten, und wäre sauer geworden und hätte sie irgendwie bestraft.

Andrea und Nicola, das neue Duo! Sie ließ ein leicht verzweifeltes Lachen hören, musste aber aufpassen, denn hier war es anders, als daheim in München. Hier registrierten alle alle anderen, italienische Männer hatten veritable Stilaugen, die sahen alles, die hörten alles. Und vornehme germanische Zurückhaltung würde man hier nicht finden.
´Nicola´! - "Hier bist du Nicola, capito?" hatte er zu ihr gesagt. Nun ja, warum nicht. Auch wenn ihr der französische Name Nicole besser gefallen hätte, aber hier sprach man es wohl Nicola aus. Auch gut. Irritierend war nur, dass die Leute sie immer so anstarrten, wenn Andrea sie bei ihrem neuen Namen rief.


Sie überlegte, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Was wollte sie eigentlich hier in Rom? Wäre sie nicht besser daheim geblieben? In München? Aber gab es für sie überhaupt noch so etwas wie ´daheim´, hatte sie nicht längst freiwillig alle Brücken hinter sich abgebrochen? Andrea war ihre einzige Alternative gewesen, eine Wahl, die an sich nichts Gutes verhieß, aber immer noch besser als ein paar Jahre in Stadelheim, so hatte sie gedacht, und die Flucht über die Alpen gewagt. Und doch ahnte sie bereits, dass Andrea bei aller Liebe ein sehr konsequenter Mensch war, der auch vor den Dingen nicht zurückschreckte, die ihr bisher immer heftigste Bauchschmerzen bereitet hatten. "Hier, du kannst erst einmal mit diesen Pillen anfangen!", hatte Andrea gesagt und ein undefinierbares braunes Pillenglas vor ihr auf den Tisch gestellt. Als sie wissen wollte, was für Pillen es waren, hatte Andrea nur böse auf den Tisch geschlagen und lamentiert, Deutsche wollten immer alles so verdammt genau wissen, haben keine Vertrauen, is keine amore mehr unter den Menschen. Und sie hatte gemerkt, dass sie keine Wahl mehr hatte, dass ihr ganzes zukünftiges Leben schon verplant war. Seit jenem Tag nahm sie die Pillen, ohne Fragen zu stellen.

Es war früher Abend. Sie verspürte ersten Hunger, wollte sich später mit Andrea in einer Taverna treffen. Fürs erste musste eine Zigarette helfen; ob es hier ein Rauchverbot gab oder nicht, bekümmerte sie wenig.
Sie griff nach einer Packung Camel, steckte sich eine davon in den rotgemalten Mund und entzündete sie. Doch, auf dem Tisch gab es einen kleinen Aschenbecher, sie ließ das Streichholz hineinfallen und blies den Rauch zur Decke.

"Fumo bianco!" Irgendjemand hatte es gesagt, irgendjemand schien mit seiner Qualmerei doch nicht einverstanden zu sein. Schon hörte er es auch von anderen: "Fumo bianco! - Fumo bianco!!! FUMO BIANCO!!"

Was zum Teufel??

Nicola hielt eine Italienerin an, die an ihr vorbeilaufen wollte, und fragte auf Englisch: "What happens? Che succede?"

"Fumo bianco! White smoke!! Habemus papam!!"

Für einen Moment hatte sie das Konklave vergessen. Richtig! Der deutsche Papst war ja zurückgetreten! Eigentlich ging ihr die ganze Kirche am Arsch vorbei, mit diesem Verein wollte sie nichts zu tun haben, äußerst ungern erinnerte sie sich an eine Zeit in seinem Leben, als ein Vertreter dieser Kirche eben nicht an seinem Arsch vorbeigegangen war, sondern....
Sie schüttelte sich. Nein, sie wollte diese Gedanken nicht mehr zulassen. Sie hatte ein neues Leben gewählt. Jetzt war sie Nicola... Trotzdem war sie froh, als Benedikt XVI. seinen Rückzug bekannt gegeben hatte. Nicht, weil sie persönlich etwas gegen diesen Papst gehabt hätte, aber immer, wenn sie ihn hatte reden hören, erinnerte dessen bayrischer Dialekt sie an.... an.... NEIN! Sie wollte nicht mehr erinnert werden! Basta!

Sie legte 2 EURO auf den Tisch, das musste wohl genug sein für einen halben Mundvoll Kaffee, schnappte sich ihren Schirm und ging hinaus auf die Straße. Es dunkelte bereits. Und es gab an diesem Abend keine Frage, in welche Richtung sie sich wenden sollte; sie ließ sich einfach mittreiben vom Schwarm der vielen Menschen, die alle Richtung Peterskirche strömten.
Nicola wurde bereits hier gestoßen und geschubst, nur mit Mühe konnte sie verhindern, mit ihren turmhohen Absätzen umzuknicken. Diese verdammten Schuhe! Seit Wochen hatte sie nichts anderes mehr an den Füßen gehabt, langsam merkte sie bereits, wie weh es tat, wenn sie einmal barfuß lief.

Sie kam an einem alten Zeitungskiosk vorbei, dann erreichte sie die Ponte Vittorio Emanuela II, die hier den Tiber überspannte und das historische Zentrum Roms mit der Vatikanstadt auf dem westlichen Tiberufer verband. Hohe Marmorsockel am Eingang der Brücke trugen kollosale Siegerfiguren aus Bronze, auf den Brückenpfeilern trohnten große Plastiken aus Travertin.
Sie mochte diese Brücke nicht. Und war doch seit ihrem Umzug schon etliche Male hier gewesen. Nicola merkte, wie sie automatisch anfing, schneller zu atmen. Wie sie sich bemühte, bloß nicht in die Nähe der Säulen verzierten Brüstung zu kommen. Dort unten lag sie, dort unten lag sie und wartete immer noch auf Hilfe, jemand, der sie retten würde, solange noch Hoffnung bestand.
Sie begann zu zittern. Schloss für einen Moment die Augen, sagte sich, es ist doch alles nur Einbildung, aber sobald sie die Augen wieder öffnete sah sie all das vor sich, was sie in Wirklichkeit nie gesehen hatte. Weil er gekotzt hatte und dann weggelaufen war. Weiter weiter, immer weiter, zuerst unschlüssig zurück zum Fest, wo sie in der Tür mit Andrea zusammengeprallt war, so, als hätten höhere Mächte bereits über ihr Schicksal entschieden. Dann, zusammen mit Andrea, zu ihrer kleinen Wohnung, und schließlich, nur einige Wochen später, gemeinsam bis nach Rom. Alea iacta est, dachte sie, und atmete erleichtert auf, als sie endlich das andere Ende der Brücke erreicht hatte.

Wenig später befand sie sich auf der Via San Pio X, umrundete bei einer Buchhandlung eine Ecke und kam auf die Via della Conciliazione, deren Hauptachse genau auf das Zentrum der Katholischen Kirche zielte, den Vatikan. Was aber war hier los? Ein Strom eiligst dahinlaufender Männer und Frauen riss sie mit, Polizeiwagen mit lärmenden Sirenen und Blaulicht versuchten, sich Platz im Gedränge zu schaffen, und dort probierte allen Ernstes ein deutscher Reisebus noch irgendwie die wenigen Meter bis zum Petersplatz vorzudringen.
Und über allem ein Dach aus Schirmen jeglicher Größe und Couleur, Schirme, die hier im Gedränge unaufhörlich zusammenstießen, die gemeinsam versuchten, der Regenfluten Herr zu werden, aber auch gemeinsam versagten. Nein, dachte sie, es ist wie im Leben, das Unheil lässt sich auch mit vereinten Kräften nicht abweisen, irgendwie, irgendwo wird es sich immer Bahn brechen, wird es den Einzelnen einholen, ihn ins finsterste Loch schmeißen, oder wie hier - Gott sei Dank! - nur ordentlich nass machen. Sie sah ein, dass ihr Schirm unter diesem Dach keinen Schutz mehr bot, eher hinderlich war, und faltete ihn zusammen. Jetzt ging es schneller vorwärts, schaffte sie es, sich irgendwie durch die Massen hindurchzuschlängeln, Massen, die immer dichter, immer aufgeregter wurden, je näher sie Berlinis Kolonnaden kam.
Aber sie war zäh, trat bei ihrem Vorwärtsdrängen mit ihren spitzen Absätzen dem einen oder anderen etwas unsanft auf den Fuß, verschwand aber jedes Mal im Gedränge, bevor ein italienischer Fluch sie auf diesem heiligen Platz treffen konnte. Warum sie immer weiter nach vorne drang, konnte Nicola sich selbst nicht erklären. Aber vielleicht wollte sie hier mit eigenen Augen sehen, wer jetzt, nach Ratzinger, den Stuhl Petri einnehmen würde.

Weiter vorne, an der Piazza Retta, die sich unmittelbar vor dem Petersdom befand, war abgesperrt; es ging nicht weiter. Nicola sah sich um. Der Regen hatte endlich aufgehört, die Menschen ihre bunten Schirme zusammengefaltet und unter den Arm geklemmt. Es herrschte gespannte Ruhe. Vereinzelt durchbrach ein zögerlicher Ruf die Abendluft, Viva il papa!, und sie zuckte zusammen, denn was hatten die Leute denn da schon wieder zu jubeln, noch bevor überhaupt klar war, wer nun der Nachfolger Petri werden sollte? Oder war es einfach das einzelne Schaf aus der Herde, das hier jubelnd aufschrie, weil die beklemmende Zeit ohne ihren Hirten vorüber war?

Der Mensch - ein Herdentier? Bange Ahnungen überfielen sie, als sie sah, wie sich plötzlich überall um sie herum Hände zum Himmel reckten, um möglichst sofort ein Handyfoto vom neuen Papst machen zu können. Es war noch gar nicht so lange her, dass sich in ihrer deutschen Heimat ebenfalls Hände zum Himmel gestreckt hatten, damals noch ohne Handy, aber in ähnlicher Bedeutung: Ich bin dabei gewesen! Ich! Ich habe teilgenommen am Weltgeschehen! Seht her! Ja, der Mensch schien die Herde zu brauchen, allein war er ein Winzling, Gefangener seiner Angst, der Himmel möge auf ihn hinabstürzen.

Ein lautes Jubeln ging durch die Menge. Was war los? Sie sah, dass im oberen Stockwerk, dem Benediktionssaal, Licht entzündet wurde; wenig später wurden Vorhänge an der Benediktionsloggia zur Seite geschoben: the moment of truth.
Noch einmal wanderten ihre Gedanken zum zurückgetretenen Papst. Ja, Benedikt hatte das ganz gut gemacht. Den Rücktritt. Er hatte erkannt, dass seine Zeit abgelaufen war, er ersparte seiner Herde den Untergang, wie ihn jener andere Herdenführer einst seinem ganzen Volk aufgezwungen hatte.
Sie versuchte nachzurechnen: Ratzinger war 1927 geboren. Jenes Jahr, in dem Hitler den zweiten Band seines Machwerks ´Mein Kampf´ veröffentlicht hatte. Wer hätte damals geahnt, welchen Weg beide nehmen würden? Der eine, der über Leichen ging, bis er nur noch die Wahl hatte, sich der Verantwortung durch Selbstmord zu entziehen, und der andere, der in kompletter Selbstaufgabe den Weg gewählt hatte, als Nachfolger Pertri sein Leben der Kirche zu schenken.

Hirngespinste, dachte sie. Immer diese verrückten Gedanken! Wieder richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Balkon, wo jetzt ein rot gekleideter Kardinal ins Freie trat und in lateinischer Kompliziertheit, einem uralten Brauch folgend, einen Namen von sich gab, der ihr rein gar nichts sagen wollte: Bergoglio. Für einen Moment trat eine nicht näher zu definierende Ruhe ein. Bergoglio? Ein italienisch klingender Name, aber ... welcher italienische Kardinal hieß Bergoglio?? Dann hörte sie lautere Stimmen... es argentino ... he is from South America ... der Erzbischof von Buenos Aires.
Sie sah sich um, blickte in Gesichter voll Vertrauens. Wäre es nicht ganz egal gewesen, wen man hier gewählt hätte? Diese Menschenmasse, hätte sie nicht jedem zugejubelt? Kein Mensch könnte ernsthaft glauben, die hier Anwesenden hätten bei einem ungeliebten Kandidaten die Daumen nach unten gedreht, oder?
Es dauert noch einige Minuten, dann traten weitere Männer auf den Balkon hinaus, ein großes Vortragekreuz wurde sichtbar, dann ein Mann in schlichter, weißer Soutane: Franziskus, der neue Papst!

Nicola begann, sich unwohl zu fühlen. Sie hatte sich einfach von der begeisterten Menge mittreiben lassen, konnte ihre Emotionen aber nicht teilen. Der neue Papst hielt eine kurze Ansprache, gottlob stand neben ihm ein deutsches Paar, die Frau übersetzte fließend für ihren Mann, Nicola bekam fast alles mit. Dann trat ganz überraschend Ruhe ein, es wurde so still, dass ein Blinder geglaubt hätte, allein hier zu sein. Sie sah sich um und war sehr erstaunt zu sehen, dass scheinbar alle im stillen Gebet versammelt waren.
Der Deutsche neben ihr hatte sich in das Display seines Smartphones vertieft. "Bergoglio! Hier steht es. Er ist Jesuit, ein Ordensbruder..."

Nicola blickte wieder hoch zur Bendediktionsloggia. Man hatte dem neuen Papst eine rote Stola für den Segen Urbi et Orbi umgelegt, sie hörte wieder die Worte des Mannes neben ihr ... ein Ordensbruder ... sie sah, wie sich die weiße Soutane vor ihren Augen in eine schwarze Mönchskutte verwandelte, ihr Herz begann zu rasen, kalter Schweiß brach ihr aus, nein, sie musste fort von hier, jetzt, sofort, wollte keinen Segen von diesem Mann dort oben empfangen, sie sah wieder den Mönch in schwarzer Kutte, der hinter ihr die Stufen der Spanischen Treppe hochrannte, wild gestikulierend, diesmal auf deutsch schreiend: Gut, dass du kein Mädchen bist!!
Sie wandte sich um, boxte sich durch die versammelten Gläubigen hindurch, achtete nicht auf erzürnte Ausrufe, stolperte über irgendeinen langen Draht, nein, ein Kabel, ein Mikrofonkabel, riss eine Frau um, die sie verwundert ansah, das Mikrofon von Radio Vatikan noch in der Hand. Sie blickten sich an, bohrten ihre Blicke ineinander - oh nein! Nein nein nein!! Sein Herz blieb stehen, diese Augen, nicht hier, nicht heute!! Sie raffte sich auf, murmelte ein schnelles scusi, tauchte so schnell sie es mit ihren hohen Absätzen schaffen konnte, in der Menschenmenge unter, dann ließ sie es langsamer angehen. Sie musste sehen, dass sie nach Hause kam, ihr Treffen mit Andrea konnte sie vergessen, es galt nur noch, jetzt irgendwie einen Bus oder ein Taxi zu bekommen, denn gleich hätten die Zehntausende denselben Gedanken.


Rom, Mai

Es war warm geworden in der italienischen Hauptstadt. Der Schweiß rann ihr in Strömen herab, lief zwischen ihren Brüsten hindurch, durchtränkte und beschmutzte ihre Wäsche, Wäsche, die hübsch war und für die Andrea viel Geld ausgegeben hatte.
Es war selten, dass es vorkam, aber es kam manchmal vor, besonders an heißen Tagen wie diesem, dass Nicola sich an ein früheres Leben zurücksehnte, eine längst vergessen geglaubte Existenz. Damals, als er im Sommer mit bloßem Oberkörper herumlaufen konnte, wenn er sich gemeinsam mit lachenden Mitschülern, mit Robert, mit Ludger, mit Eberhard, auf einer blühenden Bergwiese tollen konnte, ohne an das Böse zu denken, das scheinbar kein Ende nehmen wollte. Sie alle hatten gemeinsame, leidvolle Erfahrungen gemacht, aber sie sprachen nicht darüber. Nur über Thomas sprachen sie, denn Thomas hatte es geschafft, war davongekommen, hatte seine Haut retten können, seine Vorhaut, wie sie alle in jugendlicher Abgebrühtheit juxten.

Sie hätte eigentlich ihre Brustprothesen ablegen können, aber Andrea hatte es ihr verboten. Lass es, wie es ist, denn deine Zeit als Mann ist vorbei! Finito! Andernfalls werde ich nachhelfen müssen! Und denk dran, mit ´la piccola differenza´, damit ist in einigen Monaten auch schluss! Bei diesen Worten war es ihr eiskalt den Rücken runter gelaufen. Sie wusste nur zu genau, was Andrea unter ´nachhelfen´ verstand, der solide Keuschheits-BH, den Andrea bald schon für sie gekauft hatte, zusammen mit dem eigentlichen Keuschheitsgürtel und den Schenkelbändern.

Sie blickte besorgt in einen Spiegel, der blind zurückstarrte und ihr einfach nicht das zeigen wollte, was sie sich erhofft hatte, damals, als sie ziemlich überstürzt auf Andreas Angebot eingegangen war, zusammen der ganzen Misere zu entfliehen und nach Italien zu gehen.
Du wirst sehen, hatte Andrea gesagt, es wird ein paar Monate dauern, kein Problem, ich kenne einen Arzt, ich besorge dir die Pillen, es ist ganz schmerzlos, gemeinsam werden wir das hässliche Entlein in einen schönen Schwan verwandeln... in eine Schwanenfrau... Heiser hatte Andrea gelacht, hatte hinzugefügt, er brauche dann keine Angst mehr vor der deutschen Polizei zu haben, weil er weggelaufen sei, statt zu helfen, weil er Schuld hatte, Schuld an Danielas furchtbarem Tod. Wirste ganz hübsch aussehen, eine geile Italienerin, va bene! Nicht einmal deine Mutter wird dich wiedererkennen!

Sie hielt die Hitze nicht mehr aus. Wo war das Thermometer? Was, 35°, und das jetzt schon, im Mai? Wieso nur gab es immer mehr von diesen extrem heißen Tagen? War nicht doch der Mensch schuld, der selbst hier, in der Geburtsstadt des Club of Rome, die Grenzen des Wachstums nicht akzeptieren wollte, der hier und weltweit immer mehr und mehr Kolendioxyd in die Atmosphäre freisetzte, weil er immer noch in dem schrecklichen Irrglauben lebte, er könne schalten und walten wie er wolle?

Müde ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. Sie hatte nicht einmal den Schimmer einer Ahnung, wie es hier weitergehen sollte. Im Grunde genommen war sie illegal hier. Nirgendwo gemeldet. Nicola verzog das Gesicht zu einem matten Grinsen. Als wer hätte sie sich auch anmelden sollen? Etwa als Klaus? Oder als Barbara? Namen von gestern, die sie nicht mehr benutzen durfte. Genauso wie Männerkleidung. Sie hatte es einmal versucht, hatte sich im Februar, als auch in Rom kalte Winde über die Hügel der Ewigen Stadt fegten, eine Hose besorgt, aber Andrea hatte ihr diese wutentbrannt vom Leib gerissen, hatte Zeter und Mordio geschrien, no no no, nix pantaloni, isse für Männer, und du bist kein Mann mehr![/i] Es war das erste Mal, dass der hitzige Italiener ihr den Keuschheits-BH angelegt und verschlossen hatte, no no no, nix pantaloni, nix Hose, du trägst nur Rock! Capito??
Ähnliches galt ihrem Schuhwerk. Wann hatte sie das letzte Mal flache Schuhe getragen? Wahrscheinlich auf ihrer Fahrt von München nach Rom. High heels waren eigentlich nicht das große Problem für sie, sie hatte hochhackige Schuhe auch schon als Barbara in München getragen, aber Andrea hatte ihr sofort mehrere Paare besorgt, bestes italienisches Schuhdesign, und kein einziger Schuh hatte Absätze unter fünf Zoll. Schon nach wenigen Stunden taten ihr die Fußballen weh, die Fußgelenke schmerzten, und als sie sich am zweiten Tag weigerte, noch einmal stundenlang mit diesen Folterinstrumenten herumzulaufen, da hatte er lachend eine kleine Kettenkonstruktion aus der Tasche gezogen und ihr die Stelzen an den Füße fest verschlossen. Iss italienische Patent, hatte er gelacht, brauchen viel für junge Frauen, wenn nicht wollen tragen geile Schuhe!

Irgendetwas war irgendwann einmal schiefgelaufen. Er lehnte sich zurück. Überlegte, ob er jetzt nicht vielleicht doch einmal die dämlichen Schuhe ausziehen sollte. Wenigstens hier in der Wohnung? Es wäre vielleicht auch keine schlechte Idee, bei dieser Hitze mit freiem Oberkörper....? Er sah auf die Uhr. Es würde noch einige Stunden dauern, bevor Andrea nach Hause käme. Er konnte ihn auch schlecht rund um die Uhr überwachen. Warum denn auch? Bisher war er froh gewesen, all dem Bösen entfliehen zu können, hier in Italien einen neuen Anfang machen zu dürfen. Anmeldung?? Egal. Hauptsache keine Polizei, die, da war er sich sicher, ihn immer noch suchte. Nein, nicht ihn, korrigierte er sich, sondern sie. Barbara.

Klaus atmete tief durch, als er unter der Dusche stand. Das lauwarme Wasser perlte über seine Haut, hüllte ihn in ein schimmerndes Kokon. Eine Hülle, die sich sehr leicht mit der Hand durchdringen ließ, und noch leichter von jenem Körperteil, das sich immer noch bemerkbar machte, egal, wieviele Tabletten er schon geschluckt hatte.

Sie war verwirrt. Ihre Hände liebkosten ihren nackten Oberkörper, spielten suchend mit empfindlichen Brustwarzen. Sie begann, heftiger zu atmen, ihre Linke blieb an der immer noch so flachen Brust, während ihre Rechte ganz automatisch dorthin griff, wo er sich jahrelang gar nicht mehr berührt hatte. Immer, wenn er es einmal getan hatte, kam die Erinnerung in ihm hoch, brannte es in seinem Hals wie bittere Galle, die Erinnerung, der ´Gute Hirte´, das lachende Gesicht, die zierliche, aber immer so feste Hand, die sein Glied unaufhörlich bearbeitete, dann der Griff an seinen Hinterkopf, das Mönchsgewand, das vorne auseinanderfiel....

Es ist vorbei, dachte er. Aus und vorbei. Er ließ das Wasser auf sich niederprasseln, ließ die schlimme Erinnerung hochkommen, reagierte wie immer, nur dass er diesmal seine eigene Hand an seinem Geschlecht spürte, welches nach Liebe verlangte, aber immer nur schlapp in sich zusammen gesunken war: eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte, zumindest den einen, der an seinem Geschlecht saß. All die anderen Fäden, Seile die sich tief in seiner Seele verankert hatten, wäre er gern losgeworden; nur wie, das hatte er nie gewusst.

Klaus vergaß Zeit und Raum um sich herum. Sein Atem wurde schneller, sein Samen vermischte sich mit römischem Wasser. Er war immer noch da, das wusste er jetzt. Sein Versuch, vor sich selbst, vor der eigenen Vergangenheit wegzulaufen, war gescheitert. Freute er sich?
Leer, er war leer. Während Glückshormone seinen Körper durchfluteten, war seine Seele ein leerer Ort. Frei war er nicht. Schuld. Wieder tauchte dieses Wort in seinem Bewusstsein auf. Irgendjemand musste Schuld haben, dass es so gekommen war, wie es war. Hatte seine Oma Schuld? Weil sie, wider besseren Wissens, jahrelang nichts unternommen hatte? Hatte derjenige Schuld, dessen Namen er immer noch nicht aussprechen konnte, ohne flammenden Hass zu verspüren? Oder lag die Schuld noch ganz wo anders?

Er würde es herausfinden müssen. Nur so würde er den Mantel aus Abscheu und Ekel vor sich selbst abstreifen können. Er stellte das Wasser ab, griff neben der gekachelten Duschkabine nach einem Handtuch und erschrak zu Tode, als er sah, dass Andrea in der Tür zum Bad stand.


5. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 06.11.16 22:30

Wow! Das ist eine Vorlage für spannende Momente. Lang ersehnt, dankbar erwartet!
6. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von MarioImLooker am 07.11.16 16:34

Welch ein Einstieg! Du bist eben doch eine Klasse für sich, hier unter den Geschichtenschreiber/innen. So erfrischend anders, so packend, so detailiert. Danke, dass Du nicht aufgehört hast zu schreiben.
Voller Vorfreude auf die weiteren Kapitel!
Mario
7. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von bd8888 am 11.11.16 13:23

Hallo Daniela
Der Anfang ist schon wieder der reine Wahnsinn!!!
Deinen Schreibstil habe ich sehr vermisst.
Danke für deine Fortsetzung.
Warte schon wieder sehnsüchtig auf den nächsten Sonntag.
bd8888
8. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von folssom am 13.11.16 21:46

Hallo Daniela 20,

den Einstieg in die Fortsetzung der ´München Trilogie´ halte ich ebenfalls für sehr gelungen.

Da werden sicherlich an den nächsten Wintersonntagen noch einige Folgen für spannende Unterhaltung sorgen.

Vielen Dank dafür.

Freundl. Gruß

PS.: In wenigen Minuten geht es weiter mit dem 2. Teil.....
9. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 13.11.16 22:00

Es hat mich gefreut, hier einige gute Leser von früher wiederzufinden. So weiß ich, für wen ich schreibe und dass scheinbar auch diese neue Fortsetzung Anklang findet.

Noch einmal möchte ich betonen, wie wichtig es ist, die in den ersten drei Teilen beschriebene Vorgeschichte zu kennen.

Heute muss ich Euch leider enttäuschen, denn wir verlassen vorerst den Schauplatz Rom und kehren nach München zurück, denn auch dort geht es weiter. (Manchmal muss man halt eine Woche mehr warten, so wie mit der Bundesliga!)

Jetzt wünsche ich allen einen schönen Abend und spannendes Lesevergnügen! (Vergesst nicht, die Geschichte wird noch bis zum Frühjahr fortgesetzt! Also, da kommt noch einiges mehr!!)

Eure Daniela 20

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München, Juni

Ihr Blick in den Badezimmerspiegel, den sie vorher mit einem Handtuch abgewischt hatte, zeigte ihr ein Gesicht, das sich seit Weihnachten sehr verändert hatte. Wann, so fragte dieses Gesicht sie, wann hast du zum letzten Mal Spaß gehabt?
Sie trocknete sich ab, so gut es ging. Spaß? Spaß war nicht das Problem. Nein, nicht Spaß, sondern Sex! Wann hast du das letzte Mal Sex gehabt??

Sie fluchte leise vor sich hin, als ein wahrer Sturzbach unter den Schalen ihres stählernen BHs hervorquoll und einen Teil ihres Badetuchs durchnässte. Verdammt! Sie wechselte zum kleineren Handtuch, spreizte ihre Beine, so weit es ging, und bemühte sich, sich irgendwie dort abzutrocknen, wo selbst ein noch kleineres Handtuch nicht hinkäme. Wozu auch? Wann hatte sie sich zuletzt reinigen können, so wie es sich gehört?

Sex? Sie überlegte. Sie überlegte aber nicht lange, denn sie wusste genau, dass es an einem der Osterfeiertage gewesen sein musste. Er hatte sie aufgeschlossen, hatte ihr den verdammten Keuschheitsgürtel und den BH abgenommen und sie war über ihn hergefallen, als hätte sie kurz vor dem Ertrinken gestanden. Sex mit dem Chef, dachte sie. Wenn das rauskäme, würde einer von ihnen seinen Arbeitsplatz räumen müssen. Wer das sein würde, könnte sie sich an zwei Fingern abzählen.
Nach dem Sex hatte sie sich wieder verschließen müssen. ´Bis der Fall gelöst ist...´, so hatte er ihr gesagt, eher würde er sie nicht rauslassen.

Natürlich war es anders gekommen. Ihr Chef war kein Unhold, niemand, der sie bewusst quälen würde. Es hatte immer wieder Perioden ganz ohne stählerne Unterwäsche gegeben, allerdings waren diese Perioden jedes Mal von einer spürbaren Kälte seinerseits begleitet. War er inzwischen zu einem Vertrauten, einem guten Freund und sogar Liebhaber geworden, so kehrte er in diesen Perioden jedesmal den Chef hervor, gab ihr Arbeitsanweisungen, deckte sie mit Aktenarbeit zu. Sein Blick flog an ihr vorbei, er schien sie nicht wahrzunehmen.Sie war Luft, wenn sie mit ihm sprach, Luft, die keine männliche Reaktion auslöste.

Doch immer noch hatten sie ihren Deal. Ihr Chef, Kriminalhauptkommissar Bruno Rick, 46 Jahre alt, von vielen meist nur ´derRick´ genannt, was in jüngster Zeit nicht mehr so gern gehört wurde, und sie, Kriminalkommissarin Ingeborg Wimmer, 29 Jahre alt. Ihr Deal war simpel, seit sie beide an einem höchst seltsamen Fall im letzten Herbst gearbeitet hatten und dabei erste Einblicke in eine Welt voll bizarrer Dinge taten, und auf ein komplettes Keuschheitsgürtel-Set stießen. Teile, die ihren magischen Reiz auf Ingeborg Wimmer ausübten, welche sie unbedingt an ihrem eigenen Körper spüren wollte. Sie wollte wissen, wie sich das Mordopfer, eine junge, aus Köln stammende, Studentin, gefühlt hatte, als sie ermordet wurde. Falls es sich überhaupt um einen Mord gehandelt hatte. Nicht einmal das hatte eindeutig geklärt werden können.
Klar war nur der Deal, den sie seitdem mit ihrem Chef hatte. Er hatte die Schlüssel, sie den Keuschheitsgürtel und -BH. Seltsam war, dass er sie bis jetzt kein einziges Mal verschlossen hatte; immer hatte sie es machen müssen. Und noch seltsamer war, dass er ihr nie sagte, wann sie es tun sollte. All dies überließ er ihr. Sie musste es tun, wenn sie so weit war. Und er würde sie aufschließen, wenn er so weit war.

Ingeborg Wimmer atmete tief durch. Sie öffnete ihr Badezimmerfenster, ließ frische Sommerluft in den zugedampften Raum, stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn Bruno sie endlich wieder einmal aufschließen würde. Dann ging sie in ihr Schlafzimmer, öffnete ihren Schrank, sah und überlegte, was sie anziehen konnte, und was nicht. Wann hatte sie zuletzt eine Hose getragen? Das war bestimmt schon einige Wochen her. Sie mochte Hosen, irgendwie war das Leben mit Hose einfacher, als mit Rock: man musste nicht lange nach einer Strumpfhose ohne Laufmasche suchen, man konnte im Grunde genommen alle die Schuhe anziehen, die der Schuhschrank einer Kommissarin hergab.
Aber für sie gab es keine Hosen mehr, seit Rick ihr zu ihrem Geburtstag diese komischen Stahlbänder geschenkt hatte, die sie jetzt um ihre Oberschenkel trug. Abgeschlossen waren diese, sie ließen sich nicht von ihrer Position oberhalb der Knie weiter hochschieben, das verhinderten ihre Schenkel, und abstreifen ließen sie sich ebensowenig, dies verhinderten lange Ketten, die seitlich an ihrem Keuschheitsgürtel befestigt waren. Und beide Stahlbänder waren mit einem kleinen, aber soliden Vorhängeschloss miteinander verschlossen. Ein Schloss, zu dem ebenfalls Rick die Schlüssel besaß.

Festgefahren, dachte sie. Alles war festgefahren. Dieser vertrackte Fall, ihre Beziehung zu Bruno. Irgendwie war es nicht so gekommen, wie sie es erhofft hatte. Was genau sie sich erhofft hatte, hätte sie nicht sagen können, das Spiel von Unterwerfung und Dominanz hatte zwar klare Regeln - sie war diejenige, die sich unterwarf, und Rick war derjenige, der über ihren Sex bestimmte - aber niemand hatte jemals genau festgelegt, wer wann was zu tun hatte. Wie immer war auch hier der Wunsch der Vater des Gedankens, allerdings auf die seltsame Art, dass sie, wenn sie den Wunsch auf Sex hatte, sich selber die Möglichkeit nahm, welchen zu haben.
Ihre Hand war unbewusst zu ihren Brüsten gewandert, ihre Finger suchten nach harten Brustwarzen, Nippeln die nach Berührung durch warme Finger und harte Fingernägel förmlich schrien, aber wie immer, wenn sie sich verschlossen hatte, spürte sie nicht das Geringste. Nur den ewigen Druck der mit Silikongummi gefütterten, stählernen Halbschalen auf ihre Brust. Jedes Mal, wenn sie sich selber verschloss, wenn sie sich selber ihre stählernen Gefängnisse anlegte, war das Verschließen des Keuschheits-BHs schlimmer, als das des Keuschheitsgürtels. Ihre Brüste waren in aller Regel das fleischgewordene Zeugnis dafür, dass sie kein Kind mehr war, dass sie sich zur reifen Frau entwickelt hatte, ihre Brüste waren das, was die Blicke der Männer anzog, auch wenn sie, gottlob, keine Monstertitten hatte, sondern nur ganz normal entwickelt war.
Und hatte sie nicht im Laufe der Jahre, die seit ihrer Pubertät vergangen waren, gelernt, mit ihren ´Attributen´ eine ´gute Figur´ zu machen? Wenn sie ganz unbewusst ihre Brust hervorstreckte, kam ein gutaussehender Mann vorbei, oder aber ihre Schultern hängen ließ, wollte sie lieber keine Aufmerksamkeit erregen? Jetzt, mit diesem stählernen Panzer, war alles anders. Jetzt waren ihre Brüste prominenter geworden, beim BH, den sie gern über dem Keuschheits-BH trug, hatte sie ganze zwei Nummern zulegen müssen; verstecken ließ sich da jetzt nichts mehr. Und jedes Mal, wenn sie gierige Männerblicke auf ihren Brüsten vernahm, wenn sie förmlich spürte, wie deren Blicke sie abtasteten, taxierten, auszogen, dann spürte sie den Stich in ihre Weiblichkeit: rien ne va plus! Nichts geht mehr. Niemand kam an ihre Brüste heran, nicht einmal sie selber. Verschlossen, versperrt, nur Rick hatte den Schlüssel, nur er konnte bestimmen, wann die Stahlkugeln unter ihrer Dirndlbluse, oder unter ihrem Pullover, sich wieder zu warmen, weiblichen Brüsten wandeln durften.

Seltsamerweise hatte sie nie ähnliche Probleme, wenn sie sich den Keuschheitsgürtel anlegte. Sicherlich, jedes Mal, wenn sie das kleine Schloss zudrückte, durchzuckte sie ein wahnsinniges Begehren danach, ihre Hand in ihre Spalte zu legen, sich zu verwöhnen, aber das Gefühl des ´Wegsperrens´ war hier nie so dominant, wie bei ihren Brüsten. ´Untenrum´ war die Hygiene das größere Problem, es dauerte meist nicht lang, bevor sie sich ungewaschen und dreckig fühlte, da konnte sie noch so gründlich duschen oder Wasser aus kleinen Spritzen auf ihre verschlossene Scham spritzen; das dreckige Gefühl blieb.

Sie musste sich anziehen. Es half ja alles nichts. Sie warf einen schnellen Blick auf ihr Thermometer, schon 25°, sicherlich würde es noch heißer werden. Rock und Bluse also, viel Auswahl hatte sie nicht. Bei beiden Teilen musste sie etwas aufpassen, die Bluse durfte nicht zu dünn sein, man würde Dinge sehen können, die niemand sehen sollte, auch wenn sie ihren Keuschheits-BH mit einem chicken Seiden-BH kaschierte, und der Rock durfte nicht zu kurz und zu eng sein, man würde die Schenkelbänder sehen können, auch der Verschluss ihres Taillenreifens könnte sich unter einem engen Rock abzeichnen; war der Rock widerum zu weit, dann bestand immer die Gefahr, dass er hochwehte und so ebenfalls ihre stählernen Reifen bloßlegte. Aber ein wirklich langer Rock war beim heutigen Wetter auch nicht gerade angesagt.

Musste sie überhaupt rausgehen? Es war Sonntag, sie hatte frei; kein Polizist konnte jeden Tag auf Verbrecherjagd gehen.Am liebsten hätte sie Rick einfach angerufen, hätte ihm klar gemacht, dass sie es bald nicht aushielte, der ewige Druck, das sich ewig steigernde Verlangen, aber er hatte ihr verboten, über ihre Keuschheits-Unterwäsche zu sprechen. Sie durfte nicht einmal Andeutungen machen, auf der Arbeit, dass sie sich wieder verschlossen hatte. Es war seine Aufgabe, es aus ihrem Gebahren herauszulesen, ihre Körpersprache zu analysieren. Was nicht immer auf Anhieb gelingen wollte.
Manchmal hatte er schon am ersten Tag den Braten gerochen. Hatte sie in sein Büro gebeten, lange angesehen, und dann mit einem wissenden Lächeln wieder weggeschickt. Manchmal aber hatte er sie weiterhin wie Luft behandelt, hatte er ignoriert, dass sie bereits in ihrem eigenen Fett bruzelte, um im Bilde zu bleiben.

Sie wusste, dass sie nicht aufgeben durfte. War es ein Spiel, oder war es mehr als das? Hätte sie überhaupt noch aufgeben können? Aussteigen, einen Rückzieher machen? Zu Rick gehen und ihm einfach sagen, sie habe nun keine Lust mehr? Lust, musste sich denn alles im Leben immer nur um Lust handeln? Und war Lust nicht der reinste Kinderkram? Was sie betraf, so war schon lange keine Rede mehr von Lust. Bei ihr loderte wildes Begehren, bei ihr bestand bereits der ganze Körper aus... aus... Lust?? Oder vielleicht doch eher Frust?
Wieder lag ihre rechte Hand in ihrem Schritt. Wieder spürte sie diese unbeschreibliche Mischung von Lust UND Frust. Man muss es selber erlebt haben, dachte sie, nein, man konnte es nicht beschreiben. Und schon gar nicht anderen verständlich machen, warum man sich freiwillig in diese stählernen Dinge einsperren ließ. Es war ein Zauber, dachte sie. Oder eine Droge.

Sie entschied sich wieder einmal für ihr Dirndl. Ingeborg Wimmer wusste, wie leicht sie ihren Chef um den Finger wickeln konnte, wenn sie es trug. Was allerdings eher nicht so häufig der Fall war. Es musste halt alles zusammenpassen. Ihre eigene Stimmung. Das Wetter. Der Plan.
Heute passte alles. Sie war gut drauf. Eine zaghafte Beschreibung für das Feuer, das schon seit Tagen in ihr loderte. Das Wetter war perfekt. Warm und beständig. Und sie hatte einen Plan. Englischer Garten. Brotzeit mir Bruno am Chinesischen Turm. Man musste früh dort sein, wollte man einen freien Platz bekommen!

Volkstümliche Blaskapellenmusik schlug ihr schon von weitem entgegen. Nicht ganz ihr Musikstil, dachte sie, aber er passt gut zur Örtlichkeit und zu ihrem Outfit. Immer, wenn sie dieses Kleid trug, fühlte sie sich irgendwie verkleidet. Das seltsame Gefühl, von vielen angestarrt zu werden, verstärkte den Eindruck noch. Und steckte sie dann auch noch in ihrem Keuschheits-BH, der ihr größere Brüste verlieh als das, was sie gewohnt war, dann konnte es schnell zu einer rechten Herausforderung werden, so angezogen sich unter die Leute zu wagen.
Richtig begriffen hatte sie sowieso nicht, wieso im Oktober, während der zwei Wochen Wiesn-Zeit, fast jedes Mädel Dirndl trug, wohingegen diese Kleider während der restlichen 50 Wochen des Jahres total verpönt waren. Sie blickte sich um. Der Platz mit den vielen Tischen war bereits recht gut gefüllt, aber es gab nur ein, zwei Frauen, die ebenfalls Dindl trugen. Frauen, bei denen es auch nichts mehr half, so dachte sie.

Sie suchte sich einen sonnigen Platz, wohl berechnend, dass dieser zur verabredeten Zeit bereits im Schatten liegen würde. Nein, die Zukunft ließ sich nicht vorhersagen, wohl aber der Lauf der Sonne.
Die Kriminalkommissarin bestellte einen kühlen Weißwein, halbtrocken mochte sie ihn am liebsten. Es war schön hier, sie mochte es, alles bis auf die primitiven Holzbänke. Bänke, die schnell unangenehm wurden, trug man einen stählernen Keuschheitsgürtel. Leise bewegte sie sich hin und her, versuchte sie, das Zentrum des Drucks, der auf ihrer Scham lastete, irgendwie dort hin zu bekommen, wo der Schmerz nachließ und die Lust einsetzte, aber es wollte nicht richtig gelingen. Hier wagte sie es nicht, sich unter den Rock zu fassen und die Dinge mit einem schnellen Griff zu richten.
Sie hatte sich so gesetzt, dass sie die Leute im Auge hatte. Sie war es gewohnt, zu beobachten. Aber selber beobachtet zu werden, damit hatte sie immer noch einige Schwierigkeiten. Keine zehn Meter von ihr saß ein junger Mann, knielange Lederhose, stramme Waden, kariertes Hemd, muskulöse Arme. Sein Blick brachte sie in Verlegenheit, obwohl sie ihn tunlichst vermied. Leises Kribbeln machte sich in ihr bemerkbar. Ihre Nippel wurden hart. Drängten sich gegen den stählernen Käfig, in dem ihre Brüste seit Tagen steckten. Längst hatte sie erkannt, dass es schmerzhaft sein konnte, wenn ihre Brustwarzen gegen die kleinen Stacheln drückten, die innen in den Schalen angebracht waren. Unbewusst legte sie eine Hand an die rechte Brust, versuchte sie, etwas gegen den Schmerz zu tun, aber da gab es nichts, was sie hätte tun können. Und auf ein Bad im Eiskanal hatte sie keine Lust.

Sie glitt in den Tunnel. Schloss die Augen, stellte sich vor, wie es wohl sei, würde der junge Mann sie jetzt zum Tanz auffordern. Er würde sie an sich drücken wollen, sie wäre seinem Druck hilflos ausgeliefert, die muskulösen Arme würden sie umklammern und gleich würde er es merken, ihre harten, stählernen Brüste würden sich gegen seinen Oberkörper drücken....
Zwei Hände legten sich fest auf ihre Oberarme. Die eine Hand auf den gerüschten Ärmel ihrer Bluse, die andere Hand tiefer, direkt auf ihren Arm. Ein Finger dieser Hand drang forschend unter den kurzen Ärmel ein. "Auch schon da, Frau Kollegin?" Bruno. Er lachte sie an, bückte sich zu ihr herab, gab ihr, etwas mühselig, einen Kuss auf die Wange, erst links, dann rechts.

Ingeborg Wimmer hatte sich einen kurzen Augenblick nicht im Griff. Ein wenig zu sehr hatte sie über den jungen Mann phantasiert, der längst wieder verschwunden war. "Oh... Bruno! Schön, dass du schon da bist! War heute wohl nicht viel Verkehr?"

Er grinste sie an. Nahm Platz ihr gegenüber, winkte der Bedienung, sah sie an. Wie schaffen es Männer nur, Frauen mit den Augen auszuziehen, fragte Ingeborg sich.
"Der Verkehr kann ja noch später kommen!" Kurz ließ er seine Zungenspitze sehen.

"Keine schlechte Idee! Aber erst nach der Brotzeit!"

Beide lachten. "Genau. Bloß nicht auf leeren Magen!" Beide bestellten ihr Essen. Lauschten der Musik, genossen den schönen Sommertag. Redeten über belanglose Dinge. Das Wetter. Das Sommerloch. Andere Frauen. Andere Männer.
Dann aber verdunkelten sich Brunos Züge. "Es wird Veränderungen geben..."

Ingeborg hatte sich einen zweiten Schoppen Wein bestellt. "Veränderungen??" Das klang gar nicht gut. Ein Heiratsantrag was das mal auf jeden Fall nicht.

"Passau hat erheblichen Personalmangel aufgrund Krankheit. Ich werde dort kommissarisch die Leitung der Mordkommission übernehmen..."

"In Passau? Dort wird doch nie jemand ermordet!"

"Früher mag es so gewesen sein; heute stimmt das so leider nicht mehr. Vergiss nicht, Passau hat ein weites Umland, fast der gesamt südliche Bayrische Wald gehört dazu. Außerdem hat es gerade in letzter Zeit Fälle mit osteuropäischem Hintergrund gegeben."

Ingeborg Wimmer überlegte. Für sie war der Bayrische Wald gleichbedeutend mit einer Forsthaus-Falkenau-Idylle, die aus lauter Gutmenschen bestand. Aber dass die Kriminalitätsrate seit der überstürzten Erweiterung der EU und der Abschaffung aller Grenzkontrollen zugenommen hatte, das hatte sie auch gehört. "Passau..." flüsterte sie. "Das liegt weit weg. Da wirst du jeden Tag viel fahren müssen."

"Man hat mir eine Dienstwohnung angeboten..." Er blickte weg, sah sie nicht an.

Sie musste schlucken. Hatte er gerade gesagt, dass er wegziehen würde? "Du meinst.... Aber am Wochenende? Du wirst doch am Wochenende nach Hause kommen?" Sie hatte es nicht geschafft, ´zu mir´ zu sagen. ´Nach Hause´ klang unverfänglicher.

Bruno antwortete nicht. Er nahm einen Schluck von seinem Bier, die ganze Mass würde er sowieso nicht austrinken, immerhin war er mit dem Wagen da.

Sie merkte, wie sie eine Hand an ihre Brust gelegt hatte. Sie spürte das harte Metall unter ihren Fingern. Sie versuchte, ihre Schenkel zu öffnen, aber die Schenkelbänder, die sie unter ihrem Dirndlrock trug, verhinderten dies sehr effektiv. Eine Welle der Geilheit durchfuhr sie; sie hatte Mühe, ihre Hände nicht im Schoß zu vergraben. Es hätte sowieso nichts gebracht.
Bruno wollte wegziehen. Bruno wollte von ihr wegziehen! Und es war alles schon entschieden. Sie liebte ihn. Und sie liebte dieses Spiel, das sie seit Monaten mit ihm hatte. Ihre Keuschheit war immer ihr Einsatz, aber sein Verlangen war immer auch ihr Gewinn gewesen. Es würde jetzt vorbei sein, dieses Spiel.

"Sicherlich. Sicherlich komme ich am Wochenende auch mal nach Hause. Es kommt ganz darauf an, wie sich alles entwickelt." Er machte eine Pause, setzte ihr gegenüber ein falsches Lächeln auf, fuhr dann fort: "Ich werde viel Arbeit haben.... man hat mich gewarnt."

Ingeborg schwieg. Sollte er doch sehen, was er davon hätte! "Aber unsere Zusammenarbeit...."

"Ja, genau! Darüber müssen wir sprechen! Du musst ins Fernsehen! So..." Bei diesem letzten Wort ließ er seine Augen über ihren Körper streifen; es war klar, was er mit so gemeint hatte. "Wir hatten einmal darüber gesprochen, den Fall mit der Toten aus der Isar ins Fernsehen zu bringen. Ich habe meinerseits mit dem Chef darüber nachgedacht und wir haben beim Bayrischen Fernsehen nachgefragt. Es gibt da eine Möglichkeit... die Sendung soll in zwei Wochen aufgezeichnet werden. Dann bin ich aber schon weg. Du wirst das übernehmen!"

Sie hatte an etwas anderes gedacht. Eine andere Art der Zusammenarbeit. Genauer gesagt, eine Zusammenarbeit, die sie am ganzen Körper spürte. Sie legte ihre rechte Hand in ihren Schritt, drückte den weichen Stoff von Schürze und Dirndlrock zusammen, aber es gab kein erregendes Gefühl; sie wusste, sie war im Augenblick meilenweit von einer erlösenden Welle entfernt.
Sie hatte nur halb hingehört. Was hatte Bruno gesagt? Fernsehen? Wer kam ins Fernsehen?

Hauptkommissar Rick, ihr Vorgesetzter und Freund, vielleicht sogar ihr ´Herr´, hatte bemerkt, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Er hatte sich eine Zigarette angezündet, blies den grauen Rauch in den weißblauen bayrischen Himmel; es war gut, dass man wenigstens draußen noch rauchen durfte, und sah seine Kollegin an. "Schon gut. Ich sehe, du dachtest an was anderes? Möchtest du nach Hause? Wir können nachher genauer darüber reden, wann du ins Fernsehen sollst."

SIE sollte ins Fernsehen! Die Erkenntnis traf sie mit voller Wucht. Und sie hatte sofort verstanden, es war kein Wunsch eines netten Mitarbeiters, es war eine Dienstanweisung ihres Vorgesetzten. Aber hatte er vorher nicht noch etwas anderes gesagt?
Sie blickte auf ihre Uhr. Es war noch früher Nachmittag. Eigentlich zu früh, um bereits den Heimweg anzutreten. Aber auf keinen Fall, um endlich aus diesen Sachen herauszukommen... sie hatte immer noch Probleme, in aller Öffentlichkeit im Dirndl herumzulaufen. Auch wenn es hier in München kaum einem Mann den Kopf verdrehte... aber SIE hatte trotzdem immer das Gefühl, von allen angestarrt zu werden. Also ab nach Hause! Und dann endlich raus aus Dirndl und Metallunterwäsche!



"WAS Du.... du hast sie nicht dabei?" Sie erstarrte für einen Moment. "Du meinst, du hast sie vergessen??" Kommissarin Wimmer konnte nicht glauben, was ´derRick´ ihr gerade gesagt hatte. "Wie konntest du nur??"

"Nein, ich habe sie nicht vergessen. Ich hab sie absichtlich nicht mitgenommen." Er lächelte teils entschuldigend, teils maliziös. "Es ist besser so."

"Du hast sie... du hast sie absichtlich nicht mitgenommen? Es ist ´besser....´? Nein... nicht....." Sie konnte nicht weitersprechen. Bruno hatte sich beeilt, sie mit einem großen Knebelball zu knebeln. Das war auf jeden Fall besser so. Sie wand sich, aber gegen solide Polizeihandschellen war sie machtlos. Insbesondere, wenn diese vorn an ihr Bett gefesselt waren. Immerhin, so dachte sie, immerhin hätte er sich ja um sein eigenes Vergnügen gebracht. Scheiß Schlüssel!!

Bruno schloss für einen Moment die Augen, versuchte, zur Ruhe zu kommen, aber diese wollte sich nicht einstellen. Was nun, Herr Kommissar? Er hatte die Hose fallen lassen, hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, seine Schuhe auszuziehen. Wimmer streckte ihm nur allzu einladend ihr wohlgeformtes Hinterteil entgegen. Sie war verschlossen, ja, aber nicht überall. Sollte er?

Er hatte es noch nie vorher gemacht. Es wäre besser, er würde sich jetzt beherrschen. Er sah sein steil aufragendes Glied, sah, dass dieses nicht im Traum daran dachte, sich zu beherrschen. Vom Nachttisch nahm er eine Tube mit Handcreme, wer sagte denn, dass diese nur für die Hände taugte?

Vorsichtig drang er in sie ein. Er wollte ihr nicht wehtun. Aber gleichzeitig wollte er ihr zeigen, wer hier der Herr im Haus war. ´Im Haus´??

Zu gern hätte er von hinten ihre Brüste umfasst. Aber heute kamen auch seine Hände nicht am stählernen BH vorbei, der jegliche Stimulation verhinderte. So ein Mist!, dachte er, während seine Erregung noch wuchs.


Ingeborg Wimmer jammerte in ihren Knebel. Oh nein, er würde doch nicht....?? Sie fühlte, wie er Creme auftrug. Eine Salbung, dachte sie. Ich werde gesalbt. Das hatte sie sich immer anders vorgestellt... und bestimmt nicht dort.
Der Ballknebel störte sie am atmen. Aber schlimmer war, sie konnte kein einziges vernünftiges Wort von sich geben. Zu gern hätte sie gewusst, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Hätte sie - hätte sie richtig reden können - laut ´jaaaa!!´ geschrien? Oder doch eher ´neiiiiin.... niiiiicht!!´?
Sie spürte seinen harten Stoß, hörte sein leises Jammern - haha, selber Schuld! - fühlte seine Hände an den Schalen ihres Keuschheits-BHs; tja, Pech gehabt, heute waren ihre Nippel gut geschützt, da konnte er noch so viel drücken.

Dann hörte sie auf zu denken.




Sie stand unter der Dusche. Warmes Wasser floss über ihren nackten Körper. Nackt bis auf ihre stählerne Unterwäsche. Dieser Mistkerl. Er war ohne die Schlüssel gekommen... aber e r hatte sein Vergnügen gehabt. Sie konnte höchstens davon träumen. Er würde sich erklären müssen, warum es so besser sein sollte.

Sie hatte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank gezaubert. Rotwein, den sie gern kalt trank. Nicht diese warme Plörre, die die meisten Deutschen für die ideale Rotweintemperatur hielten.
"Also, was jetzt? Was soll ich wann, wie und wo tun? Und wieso hast du die verdammten Schlüssel nicht dabei? Glaubst du wirklich, es macht mir Spaß in diesen engen Dingern zu stecken? Und ich kann nicht mal eine Hose anziehen, seitdem ich auch diese blöden Schenkelbänder tragen muss."

"Wer hat jemals gesagt, dass du sie tragen musst? Habe ich dich jemals in eines der Teile eingeschlossen, Ingeborg? Vergiss nicht, du machst das alles selber."

"Ja, aber auch nur so lange du mich da auch wieder raus lässt. Vergiss nicht, wir haben einen deal!"

"Einen deal? Ja, aber der war ja ganz einfach. Du hast den KG, ich die Schlüssel. Mehr besagte unser deal nicht. Was kann ich dafür, wenn du selber dich ständig einschließt? Und nur, weil du Sex haben willst? Ist das nicht eigentlich total bescheuert? Was nun, wenn mir etwas geschieht? Oder wenn ich einfach keine Lust habe, dich aufzuschließen...?"

"So wie jetzt!" warf sie ein. Aber es stimmte ja. Sie wusste selber nicht, was diese Teile, die sie ursprünglich an eben jenem Mädchen entdeckt hatte, welches bei einem Sturz in die Isar ums Leben gekommen war, mit ihr angestellt hatten. Sie hatte diese Teile, also den Keuschheitsgürtel und den stählernen BH, höchstpersönlich von der Gerichtsmedizin abgeholt und hätte sie eigentlich an die Asservatenkammer weiterleiten sollen. Aber dann war alles ganz anders gekommen. Und Rick hatte, als ihr Vorgesetzter, dafür gesorgt, dass in keiner einzigen Akte die stählerne Unterwäsche erwähnt wurde.
"Aber du kannst mich doch nicht einfach so... so verschlossen halten? Ich bin schon ganz wuschig..." Sie versuchte es auf die mitleidige Tour.

"Siehst du, genau deswegen habe ich die Schlüssel nicht mitgenommen. Diesem Blick von dir hätte ich ja niemals widerstehen können! Nein, ich habe mir etwas anderes überlegt. Und es wird für mich ein schöner Abschluss sein, für unsere... - er stutzte - für unser kleines Abenteuer. Es kann ja nicht ewig so weitergehen!"

Hatte er ´Beziehung´ sagen wollen? Und plötzlich war alles nur noch ein Abenteuer? Die Karriere, dachte sie, immer die verdammte Karriere! Wie alt war Rick jetzt? Sechsundvierzig? Sie selber war neunundzwanzig, auch nicht mehr ganz jung. Rick wäre eine gute Partie gewesen, das zumindest hatte sie lange geglaubt. Jetzt würde er nach Passau gehen, dort kommissarisch eine ganze Abteilung übernehmen. Wahrscheinlich mit der Option, dort früher oder später den bisherigen Leiter abzulösen. Konnte sie es ihm verübeln?

Nein. Aber sie konnte ihm verübeln, dass es auf einmal für ihn nur noch ein Abenteuer war, das man, mir nichts dir nichts, beenden konnte. Was würde nun werden? Einen neuen Keyholder würde sie nicht so schnell wieder aufgabeln.
Doch erst einmal musste sie erfahren, was es mit dieser Fernsehsendung auf sich hatte. "Was ist nun mit dieser Sendung? Ehrlich gesagt, ich habe keine große Lust dazu. Kann das nicht jemand anders übernehmen?"

Rick lächelte sie an. "Klar, kein Problem. Mir ist es ja vollkommen egal, wie lange du noch in diesen Dingern stecken möchtest!"

"Bruno! Was hat das nun damit zu tun? Du kannst mir doch morgen im Büro die Schlüssel geben! Oder??" Sie hatte ein leises ´oder?´ angefügt, denn so langsam spürte sie so etwas wie leichten Gegenwind.

"Also gut. Hör zu! Du machst diese Sendung, und zwar genau so, wie du vorhin angezogen warst, also im Dirndl. Ja ja, ich weiß, du trägst es nicht so wirklich gern. Und es nervt dich, wenn du die breite Kette vom BH nicht unter etwas verstecken kannst. Aber damit musst du leben. Der Sender meinte, du wirst höchstens fünf bis zehn Minuten zu sehen sein. Du stellst den Fall und die bisherigen Ermittlungen vor, dann kommt ein Einspieler vom Tatort, anschließend machst Du ein Schlusswort, in dem du um eventuelle Zeugenaussagen bittest und das war es dann auch schon. Telefonnummer unserer Dienststelle wird eingeblendet, zusammen mit deinem Namen. Und ich sitze zu Hause in Passau und sehe mir das ganze von der Festplatte an, wenn ich abends nach Hause komme. Am Tag danach werde ich dir deine Schlüssel zusenden!"

Das also war es! Eine schlichte Erpressung! Wann sollte es sein? In zwei Wochen? Das bedeutete, also noch mindestens zwei weitere Wochen eingeschlossen in KG und BH und Schenkelbänder!! Sie begann zu zittern, versuchte, es zu unterdrücken. Also drei bis vier Wochen am Stück! Und wenn dann noch die Post streikte... dann Gute Nacht! Nein, sie hatte absolut keine Lust, diese Fernsehsache zu machen. Aber hatte sie denn eine Wahl? Nicht wirklich. Sie hatte ihre Wahl gehabt, vor Monaten schon, und sie hatte falsch gewählt. Und jetzt bestrafte sie das Leben.


10. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Stoeckelfranz am 18.11.16 14:31

juhu super Anfag
Ich freue mich schon auf Sontag Abend.
Ich bin Schon sehr gespannt ob es in Rom oder München weitergeht.

Schöne Grüße
Stöckelfranz
11. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 20.11.16 22:00

Hoffentlich langweile ich meine Leser noch nicht! Ich weiß, man wird viel Geduld brauchen. Aber die Geschichte wird noch viel Fahrt aufnehmen!

Ein Dankeschön dem Leser, der geschrieben hatte!

Eure Daniela 20

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Rom, Ende Juni

Es war alles schiefgelaufen. Er hatte sich total vergallopiert! Klaus warf einen Blick in den großen, halbblinden Spiegel, ohnmächtig wie immer, bekümmert und erniedrigt wie immer. Alles hatte sich zum Schlechten geändert.

Andrea, jener einst so nette, hilfsbereite Italiener hatte sich in letzter Zeit immer mehr zu einer Art Folterknecht entwickelt. Zu seinem Foterknecht, dachte er bitter. Vor über einem Jahr hatte er ihm angeboten, ihn mit nach Italien zu nehmen, dafür zu sorgen, dass er für einige Zeit vom Bildschirm verschwinden könnte. Omicidio, hatte dieser gesagt, ist keine schöne Sache. Mord. Man wird dich finden, Klaus Behrend, egal wo du dich versteckst. Aber ich könnte dir helfen... Nicola wird keiner suchen... s i e wird man bestimmt nicht finden. Er hatte scheinheilig gelächelt und hinzugefügt: und bei mir in Rom ganz bestimmt nicht!

Monika, dachte er, wenn wenigstens Monika noch da gewesen wäre! Aber Monika war bereits weit weg, in Australien, wohin sie sich auf die Suche nach ihrem Vater begeben hatte. Und sein eigener Vater? Er hatte seit der Scheidung der Eltern keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Aufgewachsen war er in München in der Obhut der Großmutter, gelebt hatte er einen Großteil seines Lebens im Internat. Es ist das Beste für dich, glaube mir, hatte die Mutter ihm gesagt. Es stimmte, ja, aber nur bis zu dem Zeitpunkt, als der schwarze Mönch zu ihnen an die Schule kam. Ab da lebten er und seine Mitschüler in der Hölle.

Das Beste für ihn sei, so hatte er geantwortet, wenn die Eltern wieder zusammenzögen und er wieder in eine ganz normale Schule gehen könnte. Doch er hatte nur ein schwaches Kopfnicken als Reaktion bekommen; die Mutter hatte sich als Journalistin beim deutschsprachigen Dienst von Radio Vatikan beworben, ein lukrativer Job, wie man ihm sagte, und weit genug weg von allem.
Weit genug weg von was? Jahrelang hatte er darüber spekuliert, aber so sehr er auch fragte, nie hatte er eine zufriedenstellende Antwort bekommen. Also bezog er es auf sich, begann, sich als eine Last zu fühlen, mit der die Mutter nichts zu tun haben wollte.Unklar blieb auch, warum seine Eltern auseinander gegangen waren; eine Mauer des Schweigens und der leeren Ausflüchte traf ihn, sobald er Fragen stellte.

Und jetzt war er hier. In ihrer Stadt. Er hatte sie gesehen, war am Tage der Papstwahl ausgerechnet über ihr Mikrofonkabel gestolpert, so verrückt das auch alles war. Aber sie hatte ihn nicht erkannt. Es gab ihn nicht mehr. Es gab nur noch Nicola. Jetzt musste er lachen. Dieser blöde Kerl! Hatte ihr einen italienischen Namen gegeben, von dem alle wussten, dass es ein Männername war! Alle, bis auf ihn natürlich! Er hatte nur an Nicole gedacht, ein bisschen Frieden, ein bisschen Freiheit im Sinn.

Lägst war ihm klar geworden, dass Andrea anderes mit ihm im Sinn hatte, als bloße Hilfsbereitschaft. Er hatte ihn mit zu sich nach Hause genommen, bereits unterwegs, auf der langen Nachtfahrt nach Rom, hatte er alle seine Sachen wegwerfen müssen, seitdem trug er nur noch Frauenkleider. Andrea lebte allein, in einem heruntergekommenen Haus irgendwo außerhalb von Rom. Es gab Nachbarn, aber man verkehrte nicht mit ihnen. Für diese musste es aussehen, als habe Andrea sich eine deutsche Frau ins Haus geholt.... va bene...
Wohin die Reise gehen sollte war bereits nach einigen Wochen erkennbar. Alles lief auf eine totale Feminisierung hinaus, von Klaus sollte nach einigen Monaten nicht mehr viel übrig bleiben. Und er selber war ja begeistert gewesen! Hatte alles mitgemacht, hatte sein äußeres Erscheinungsbild wieder einmal auf Frau getrimmt, es fiel ihm nicht schwer, nach den Erfahrungen, die er bereits mit Monika gemacht hatte.
Anfangs, in den ersten Monaten des neuen Jahres, hatte es sogar noch Spaß gemacht. Schnell hatte er sich an seine neue, alte Rolle gewöhnt. Und Andrea hatte die Zügel schleifen lassen. Freiwillig sei er da, das wurde immer wieder betont. Volontario. Er könne natürlich jederzeit gehen... tornare a Monaco... Es hatte einige Zeit gedauert, bis er verstand, dass nicht der kleine Zwergstaat Monaco gemeint war, sondern München. Nach München zurückkehren?? Nein, niemals.

Andrea hatte ihm gegeben, was er brauchte. Ein eigenes Zimmer. All die Kleidung, die er sich wünschen konnte. Aber immer nur weibliche Kleidung, figurbetonte Sachen. Vieles davon passte ihm nur, wenn er sich vorher von Andrea in enge Korsetts schnüren ließ. Und natürlich Schuhe. Schuhe, für die man in Deutschland einen Waffenschein benötigt hätte! Es war vertrackt, erst konnte er gar nicht auf den hohen Hacken laufen, später dann taten ihm die Füße weh, wenn er barfuß durch das Haus laufen wollte.

Und dann war da noch etwas. Fotos. Andrea hatte ständig Fotos von ihm gemacht. Genauer gesagt, von seiner Transformation. Es war ihm nicht sonderlich aufgefallen, warum sollte er Einwände haben, schließlich wohnte und lebte er hier, ohne nur einen einzigen Cent zu bezahlen. Warum also dem Freund nicht einen kleinen Gefallen tun?
Auch hatte er seine Freiheiten. Konnte Rom erobern, wenn auch auf hohen Hacken und mit schmerzenden Füßen. In der Regel zusammen mit Andrea, aber es kam auch vor, dass er allein war. Unterwegs als Nicola. Bis ihm der kleine Unterschied aufgefallen war und er sich Nicole nannte. Entfernt erinnerte es ihn noch an seinen ursprünglichen Namen Klaus.
Hatte es nicht auch einmal eine Barbara gegeben? Ja, aber das war gefühlte zehn Jahre her. Die Monate, in denen Monika ihn dafür hatte leiden lassen, was er mit ihrer Freundin Daniela gemacht hatte. Daniela, die jetzt tot war, weil er...

Wie immer konnte er nicht weiterdenken. Weil er.... was? Er trug die Schuld an ihrem Tod, daran konnte kein Zweifel bestehen. Er hatte falsch gehandelt, hatte nicht auf sie gehört. Und jetzt war er hier... ohne Papiere, ohne Geschlecht, ohne Gesicht. Und angekettet. Eingeschlossen in Eisen. Ohne Aussicht auf Befreiung.



Als Andrea ihn vor einigen Wochen auf frischer Tat ertappt hatte, hatte dieser Zeter und Mordio geschrien. Sein Vertrauen habe er missbraucht, abusare della fiducia, jawohl. Vor die Tür jagen müsse er ihn, solle er doch sehen, wo er bliebe, und Klaus hatte ihn auf Knien gebeten, ihn bei sich zu behalten. Col cavalo che lo faccio!, war seine Antwort gewesen - einen Scheißdreck werde er tun, dann war er wortlos aus dem Zimmer gegangen und hatte die Tür hinter sich abgeschlossen.
Einsam, sehr einsam hatte er sich gefühlt. Was würde nun geschehen? Klaus hatte nicht mehr gewusst, wie es weitergehen sollte. Es gab keine anderen Optionen. Es sah ganz danach aus, als würde sein bisschen Leben hier, in dieser miesen italienischen Absteige, vor eine weitere Prüfung gestellt. Er dachte zurück, an die Jahre im Internat, an Pater Ruprecht, es würgte ihn in der Kehle, wenn er daran dachte, es brannte in seinem Anus; nie würde es aufhören. Gedanken, die wie Gift an ihm klebten. Einzig die Flucht vor sich selber hatte es gegeben, sein ganz persönlicher Trick: die Erschaffung eines Menschen, den es nicht gab, der aber auch keine schlimmen Dinge hatte erleiden müssen: Barbara. Barbara in München. Und jetzt Nicole...
Andrea war zurückgekommen. Mit Ketten und Schlössern. Und diesen abschließbaren high heels aus Aluminium. Nicht einmal zum Duschen wurden sie ausgezogen. Wochenlang wurde er in diesem Loch gefangen gehalten, Kontakt zur Außenwelt hatte er gar keinen mehr. Aber Andrea machte weiterhin Bilder von ihm. Ihm war längst klar geworden, dass Andrea diese Bilder für viel Geld im Internet anbot.
Er zog sich zurück. Nahm nur noch das Nötigste an Nahrung zu sich. Sprach nicht mehr. War kurz davor, aufzugeben. Es würde nicht mehr lange so weitergehen, das wusste er. Und er wusste, dass es bald nur noch einen einzigen Ausweg geben würde.


München, Juli

Sie war mehr als nervös. Ingeborg Wimmer mochte es gar nicht, im Licht der Öffentlichkeit zu stehen. Brunos Schreibtisch im Kommissariat war bereits verweist, es war komisch, so ganz ohne ihn. Noch trug sie die stählernen Dinge an ihrem Körper, noch war ihr der Zugang zu ihrer eigenen Lust verwehrt. Eine Aufgabe noch, dann würde sie die Schlüssel bekommen. Und dann? Dann wäre alles vorbei.

"Frau Wimmer! Sind sie dann soweit??" Der Aufnahmeleiter wirkte fast nervöser, als sie selber. Aber wahrscheinlich musste es hier so sein. Die Sendung sollte direkt sein, so wollte man dem Zuschauer die Möglichkeit geben, eventuell noch während der Ausstrahlung anrufen zu können. Man hatte sie bestens instruiert, ihr genau gesagt, was sie wie tun sollte. Ein kleiner Einspieler war vorbereitet worden; sie selber würde es dann noch einmal zusammenfassen und um eventuelle Zeugenaussagen bitten. Immer noch war unklar, ob es sich um einen tragischen Unglücksfall handelte, oder um Mord. Der ominöse Handabdruck, den man im Gesicht der Leiche gefunden hatte, deutete nach wie vor auf Letzteres hin.

Hätte sie nur ihre eigenen Sachen tragen können! Ihre modische Jeans, einen Pullover. Sie fühlte sich unwohl in ihrem Dirndl. Aber Bruno hatte es so von ihr verlangt. In ihrem Ausschnitt glitzerten, für jedermann sichtbar, die breiten Panzerketten des Keuschheits-BHs. Heute Abend würde ganz Bayern wissen, dass sie so ein Ding trug. Sie blickte noch einmal in einen Spiegel, nachdem sie in der Maske für das Fernsehen etwas geschminkt worden war. Aber nein, man konnte von den stählernen Halbkugeln über ihren Brüsten nichts sehen. Sie hatte bewusst einen hübschen Dirndl-BH darüber angezogen, dieser verdeckte nun alles. Alles bis auf die Ketten...
Sie posierte sich neben der Journalistin, ihr wurde schnell heiß unter den grellen Scheinwerfern. Sie sah, wie die Kamera auf sie zufuhr. Beleuchtungsprobe, kein Problem, so sagte man.
Sie konnte eine gewisse Unruhe wahrnehmen. Der Kameramann drückte auf Knöpfe, der Beleuchter veränderte die Helligkeit seiner Lampen. Leises Tuscheln.

"Äh... wir haben ein Problem. Frau Wimmer, ihre breite Kette reflektiert zu sehr. Wäre es möglich, dass Sie diese eventuell abnehmen?"
Sie erschrak. Abnehmen? Sie sollte ihre Kette abnehmen? Sie konnte ihre Kette doch gar nicht abnehmen...
"Nein, äh, nein, das geht nicht," stammelte sie unbeholfen. Dann, energischer: "Nein, das geht nicht. Ich kann meine Kette nicht abnehmen!"
Die Programmchefin neben ihr runzelte erstaunt die Stirn. Hatte sie recht gehört? "Frau Wimmer??"
"Es tut mir leid. Aber ich möchte meine schöne Kette nicht abnehmen. Ich... ich fühle mich irgendwie... irgendwie nackt, wenn ich sie nicht trage.... es geht nicht..."
Sie erntete einen etwas verwunderten, ratlosen Blick. "Maske!!" rief die Frau, und schon eilte jemand herbei mit einer Lotion. "Geben Sie her! Lassen Sie mich das machen!" Die Journalistin nahm der Maskenbildnerin die Tube aus der Hand, schmierte sich etwas davon auf Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. "Halten Sie still, Frau Wimmer! Ich werde eine dünne Schicht von dieser Lotion auftragen, das beseitigt die Reflektionen, dann können wir gleich loslegen." Sagte es und begann, vorsichtig die Kette mit der Linken anzuheben.

Ingeborg Wimmer spürte es, ein leichter Zug, der sich automatisch auf ihre Brüste übertrug. Wenn diese Frau jetzt bloß noch etwas tiefer griffe.... Sie versuchte den Blick der Frau aufzufangen, aber es gelang ihr nicht. Hatte sie etwas gemerkt, etwas, was nicht normal war?
Sie hatte keine Zeit mehr, ihren Gedanken nachzugehen. Scheinbar hatte die dünne Cremeschicht geholfen, der Kameramann schien zufrieden. Noch einmal wurden die Scheinwerfer etwas justiert, dann zählte jemand die Sekunden herunter, eine rote Lampe auf der Kamera deutete an, dass die Sendung lief.
Mit gekonnter Routine spulte die Redakteurin ihre Sendung ab. Wimmer stellte sich kurz vor, dann gab es den Einspieler. Man hatte den Tatablauf an der Brücke nachgestellt, was schwierig gewesen war, denn man wusste so wenig. Einige Szenen tanzender junger Leute, viele davon in Tracht, dann eine einsame Frau, die durch das nächtliche München streift. Man hatte es geschickt gemacht, hatte es aus der Perspektive einer ihr folgenden Person gedreht, aber wie und warum die junge Frau schließlich zum Opfer wurde, das konnte der Film nicht belegen.
"Frau Kommissarin Wimmer? Können Sie den Zuschauern noch irgendwelche Besonderheiten berichten?"
Wimmer erstarrte für den Moment. "Ja, sicher.... Besonderheiten... die junge Frau trug...." Sie fasste sich an eine der beiden Ketten ihres stählernen BHs. Ihre Finger wurden ölig, was war das? Wieso... Beinahe hätte sie es verraten. Was niemand wissen durfte. Sie fühlte sich elend. Hier war sie im Fernsehen, und sie selber trug den Keuschheitsgürtel und den nervigen BH, den das junge Mädchen vor nicht einmal einem Jahr getragen hatte. Sie hatte den Gürtel entwendet, er hätte in die Asservatenkammer gehört, nicht an ihren Körper. Und Rick, ihr Vorgesetzter, hatte alle Aufzeichnungen darüber gelöscht. Und er hatte die Schlüssel für die kleinen Schlösser...
"Ja? Sie trug.... was?" Die Journalistin hatte ihren kurzen Hänger bemerkt und versuchte, sie wieder auf die Spur zu bringen.
".... äh, ja, sie trug keine sichtbaren, äußeren Verletzungen. Also etwas, das auf einen Kampf hingedeutet hätte." Sie und ihr Chef hatten lange überlegt, ob sie von dem Handabdruck im Gesicht der Toten sprechen sollten, hatten es aber vorgezogen, dies aus ermittlungstechnischen Gründen vorerst für sich zu behalten.
"Es ist also gut möglich, dass es ein Unfall war? Eine junge Frau, sicherlich betrunken und übermüdet, lehnt sich an das Geländer, alles dreht sich, sich stürzt..."
"Ja, das können wir nicht ausschließen. Es gab aber auch Spuren am Tatort, die wir aus ermittlungstechnischen Gründen nicht bekanntgeben können und durchaus auf äußere Gewalteinwirkung schließen lassen. Deshalb ist es wichtig, Zeugen zu finden. Hat jemand gesehen, wo sich die junge Frau zur angegebenen Zeit aufhielt? War sie zusamen mit jemandem? Hatte sie auf dem Fest eventuell einen festen Tanzpartner? War ihr jemand gefolgt? Es gibt Hinweise darauf, dass ihr möglicherweise eine andere Frau gefolgt war. Zeugen an der Garderobe sprachen von einer verbalen Auseinandersetzung. Was auch immer Sie beobachtet haben, es könnte uns helfen, endlich Licht in diese Sache zu bringen!"

Es war vorbei. "Das haben Sie gut gemacht!" lobte die Journalistin sie. "Warten Sie, ich helfen Ihnen schnell mit der Kette, die ist ja immer noch so ölig..." Schon hatte sie Papier zur Hand, drängte sie Wimmer etwas zur Seite, begann sie, die breiten Ketten sorgfältig abzuwischen. "Eine hübsche Kette haben Sie da! Sehr solide! Sagen Sie, Silber ist das aber nicht, oder?" Wieder gab es diesen leichten Zug, der sich unmittelbar auf ihre stählernen Cups übertrug.
Wimmer versuchte, es abzuwehren. "Nein, lassen Sie. Es geht schon. Kein Problem... das bisschen Creme. Nein, nein, es ist kein Silber...."
Sie beeilte sich, ihre Jacke anzuziehen. Nahm ihre Tasche, verabschiedete sich und ging hinaus in den warmen Sommerabend. Ihr Handy piepste... eine SMS. Sie blickte auf das Display, Bruno hatte etwas geschickt: ein grinsender Smiley.
Wo auch immer sie von nun an hingehen würde, es würde ohne Bruno sein. Sie versuchte tief durchzuatmen, noch einmal verspürte sie das enge Stahlband um ihre Brust, ihre Hand glitt an ihren Rock, tastete sich vorwärts bis sie auf harten Stahl traf. Es wäre jetzt vorbei. Aber sie wollte nicht, dass es vorbei sein sollte.


Rom, Juli

Klaus erwachte aus seiner Stumpfsinnigkeit. Er hatte den Schlüssel im Schloss drehen hören, knirschend wie immer. Ein altmodisches Türschloss. Mit einem selbstgebasteltem Dietrich hätte er es aufbekommen. Aber da war nichts, so sehr er anfangs auch danach gesucht hatte, voller Verzweiflung, wenigstens irgendwo ein Stück stabilen Draht zu finden. "Draht, Männer, der Leitende braucht Draht!!", hörte er im Geiste die Stimme des Bootsmanns, als das leckgeschlagene U-Boot mit kaputten Batterien auf dem Grund der Straße von Gibraltar lag. Aber hier in diesem Loch, in diesem immer dreckiger werdenen Zimmer, hier gab es keinen Draht.
Selbst wenn... Was hätte er denn anfangen sollen, hätte er die Tür aufbekommen? Seit Wochen steckte er in eisernen Schellen, hüsche Dinge, auf jeder Fetisch-Party wäre er der Hit gewesen, aber hier, in dieser Gruft, hier war das alles nicht mehr wirklich angenehm, der sexuelle Reiz war längst verflogen, die Phantasie beschäftigte sich mit langen, ungefesselten Waldspaziergängen...
Die Tür wurde geöffnet. Schwaches Licht drang in den Raum. "Televisione, pronto!!" Klaus erhob sich, ja, das kam vor, gemeinsames fernsehen, meist waren es öde Pornofilmchen auf Youtube. Lange schon hatten sie ihren Reiz auf ihn verloren.
Mühsam stöckelte er hinaus. Er hasste diese Aluminium high heels. Sie gaben seinem Fuß wenig Halt. Zwei Zehen umklammerten einen kleinen Bügel, und es gab diesen abschließbaren Metallreifen über seinen Fuß. Er trug sie immer, und er hasste jede Minute. Erträglich waren einzig die Momente, wenn er liegen konnte.
Klaus sah Andreas geöffnetes notebook. Daneben die übliche Unordnung auf dem Tisch, der kleine Drucker mit blinkenden Lämpchen. Er setzte sich auf einen Stuhl, betrachtete den Bildschirm, nein, diesmal war es nicht Youtube, das Bild war auf Pause geschaltet, also doch wieder irgendein Video. Andrea nannte es televisione, Fernsehen; bei Andrea hatten viele Dinge andere Namen.
Klaus erkannte eine dunkle Straße, mehr nicht. Er wartete geduldig, bis Andrea Platz genommen hatte. "Una sorpresa!", eine Überraschung, lachte dieser, als er eine Taste drückte und das Video begann.
Irgendjemand rannte. Eine junge Frau rannte durch dunkle Straßen. Ein weiter Rock flatterte um ihre Beine. Ab und zu sah sie ängstlich zurück. Klaus atmete tief durch. Er wollte die Augen schließen, wollte es nicht mehr sehen, aber selbst durch seine geschlossenen Lider lief der Film immer weiter. Er sah wieder hin, sah nur noch, wie die junge Frau über die Brüstung einer Brücke in die Tiefe stürzte. Die Kamera zeigte einen zerschmetterten Körper unten auf der Böschung, dicht am Wasser. Dann wechselte das Bild zurück in ein Fernsehstudio. Eine Frau wurde interviewt.
Er vernahm die Worte nicht. Nur Gesprächsfetzen drangen in sein Hirn... junge Frau... Unfall oder Mord... Volksfest... Geidigaudi.... Zeugen gesucht... Kommisarin Wimmer....

Er blickte genauer hin. Eine noch recht junge Frau, wie ihm schien. Wieso trug sie ein Dirndl? Hatte es indirekt mit dem Fall zu tun? Mit dem Fall?? Er hatte sofort gewusst, wovon es handelte. Es handelte von Danielas Fall, ihrem furchtbaren Sturz hinab zur Isar. Er hatte es gesehen, er war der gesuchte Zeuge. Aber.... Mord hatte die Kommissarin gesagt. Wenn er sich meldete... es würde nicht lange dauern, bis sie ihm wenigstens Totschlag angehängt hätten. Alles sprach gegen ihn. Keiner würde ihm glauben, was er wirklich gesehen hatte.
Die Kamera zoomte groß auf den Oberkörper der Polizistin. Ab und zu blitzte es in ihrem Ausschnitt etwas auf, sie schien eine recht solide Kette zu tragen. Er sah genauer hin. Diese Kette....
"Wo ist der Scheißschlüssel?" hatte Daniela ihn angeschrien. "Wieso hast du den verdammten Schlüssel nicht hier?" Verzweifelt hatte sie gegen ihren stählernen BH gedrückt, aber da war nichts zu machen gewesen. Dann war sie gegangen. Es war der Anfang vom Ende. Wenige Stunden später lag sie unten an der Isar....

"Nun?" fragte Andrea ihn. Wenn er wollte, konnte er fast akzentfrei Deutsch sprechen. "Siehst du es jetzt ein, dass du keine Chance mehr hast, nach München zurückzukehren? Zumindest nicht als Mann? Es ist doch vollkommen klar, was die mit dir machen, wenn sie dich erst mal in der Mangel haben. Und glaube nicht, dass die nicht längst spitzgekriegt haben, dass sie nach einem Kerl suchen müssen... noch dazu nach einem Kerl, der gern diese blöden Dirndl trägt. Also, wenn du mich fragst - er legte eine kleine Kunstpause ein, wenn du mich fragst, dann hast du hier bei mir, hier in Italien, die beste Chance vom Erdboden zu verschwinden. Aus der Klaus!" Er lachte still in sich hinein, sicherlich wegen des schönen Wortspiels.

Klaus reagierte nicht. Sein Hirn arbeitete fieberhaft daran, die verschiedenen Eindrücke zu verarbeiten. Da gab es in München eine Polizeibeamtin, die diesen Fall bearbeitete. Die ganz offensichtlich einen Keuschheits-BH trug. Die nach Zeugen suchte. Also nach ihm. Und die ihn sicherlich festnageln würde, sobald sie auch nur die geringste Chance dazu bekäme. Was war sie? Kriminalkommissarin? Da würde man auf der Karriereleiter schön nach oben klettern können, ließe sich dieser Todesfall lösen. Vorausgesetzt sie präsentierte einen Täter.
Und was hatte Andrea gesagt? Die beste Chance vom Erdboden zu verschwinden? Wenn er was machte? Er zögerte. "Du meinst, ich soll mich....??" Er brachte es nicht hervor.

Andrea sah ihn an. Machte mit seinen Fingern ein Zeichen des Schneidens. "Du sollst dich operieren lassen, stupido! Glaube mir, nur wenn du ganz normal als Frau auftreten kannst, nur dann werden sie dich nicht finden. Und hier in Roma schon mal gar nicht. Hier sind schon ganz andere Leute verschwunden!" Wieder dieses Lachen.
Klaus versuchte, seine Augen zu lesen. Aber der Blick des Italieners schien unergründlich, die dunklen Augen verbargen das Licht wie eine vor eine Kerze gehaltene Hand. Konnte er diesem Blick trauen? Hatte er denn überhaupt eine Wahl? Er hatte bestimmt keine Lust auf Knast, erst recht nicht wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hatte. Gut, man würde ihm auf jeden Fall unterlassene Hilfeleistung nachweisen können und in wieweit es ihm in einem Gerichtsverfahren gelingen könnte, den Staatsanwalt von seiner eigenen prekären Lage, von seinen gefesselten Händen, überzeugen zu können, war fraglich.
Er senkte den Blick, sah ein auf den Fußboden gefallenes Blatt Papier, bückte sich und hob es auf. Er warf einen schnellen Blick darauf, ehe Andrea es ihm aus der Hand nahm. Was war das? Ein Schuh, geformt wie ein Balletstiefel, aber ganz aus Metall? Mit einem kleinen Schloss daran?
"Nun, was sagst du? Oder hast du eine bessere Idee? Du bist doch in Wahrheit eine Frau? Oder täusche ich mich da? Ein Mann bist du auf jeden Fall nicht! È certo!"

Klaus stand auf. Achtete nicht auf die high heels, die er immer noch an seinen Füßen trug und die ihm Schmerzen bereiteten. Er erinnerte sich an die ersten Wochen hier in Rom, als er relativ frei en femme durch die Ewige Stadt streifen konnte. Vielleicht gab es Einzelne, die noch den Transvestiten erkennen konnten, aber wer scherte ich hier darum? Hatte ihm diese Freiheit nicht gefallen? Die Freiheit vor seinem männlichen Ich? Und er dachte an jene Wochen in München, in denen er bereits als Frau gelebt hatte. Es hatte ihm gefallen. Auch wenn es höchst unfreiwillig gewesen war. Oft schon hatte er sich die Frage gestellt, wieso es ihm überhaupt gefallen hatte. Aber einer Antwort war er nicht näher gekommen. Ein Kleid anzuziehen, es erschien ihm wie die natürlichste Sache der Welt. Auch wenn Monika ihn dazu gezwungen hatte. Aber er hatte sich ja zwingen lassen, das war der feine Unterschied.
Was aber hatte Andrea mit ihm vor? Wenn er dann tatsächlich vom Erdboden verschwände? Wie buchstäblich war das zu verstehen? Es war ihm längst klar, dass er, so wie es jetzt war, für Andrea eine nicht geringe Einnahmequelle darstellte. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser so mir nichts dir nichts auf dieses lukrative Geschäft verzichten würde. Hier in Italien war es wohl auch nicht weit zu jenen obskuren Sklavenmärkten des Nahen Ostens? Ein fremdländisches Fischerboot, das ihn bei Nacht und Nebel an Bord nähme, und schon wäre er in irgendeinem Harem verschwunden... in den Golfstaaten, oder in Saudi Arabien. Frauen hatten dort nichts zu lachen; Sklavinnen sicherlich noch weniger. Lachen würde am Ende wohl nur einer: Andrea.

Er wagte es nicht, diesen anzusehen. Aber er wusste, dass er jetzt nur noch eine winzige Chance hatte. "Wann.... wann denkst du, Andrea, ließe sich das machen?" Und er machte selber dieselbe Geste, welche der Italiener kurz zuvor gemacht hatte.
"Presto... ben presto!" antwortete dieser. Und Klaus konnte hören, wie Andrea dabei die Luft einzog.


München, Ende Juli

Unerträgliche Hitze lastete auf der Stadt. Aber es war weniger die Hitze draußen, als die alles verzehrende innere Hitze, die ihr zu schaffen machte. Und die immer öfter auftretenden Schmerzen. Lange schon hatte sie mit Creme und Babypuder versucht, Hautirritationen zu bekämpfen, aber sie hatte sich im Schrittbereich bereits wund gescheuert, einzig das Ablegen des stählernen Keuschheitsgürtels würde weiter helfen. Ähnlich ging es Ingeborg Wimmer mit ihrem Keuschheits-BH; sie hasste das Teil aus tiefster Seele, nie konnte sie auch nur einen Augenblick vergessen, dass sie ihn trug, ihn tragen musste, weil sie keine Wahl hatte. Wie lange war es her, dass sie einmal frei atmen konnte, ohne den konstanten Druck auf ihren Brustkorb? Und wann hatte sie das letzte Mal ihre Brüste gespürt? Brüste, die normalerweise wie das Gewicht eines Seismometers kleinste Erschütterungen registrierten? Sie vermisste das Glück gebende Wohlgefühl, wenn sie normalerweise ihre Brüste berührte. Nicht die sexuelle Stimulation ihrer Brustwarzen war wichtig, nein, das komplette Empfinden ihrer Weiblichkeit, das war wichtig. Sie seufzte, ein Mann würde es nie verstehen können.

Ihre immer noch eng zusammengeschlossenen Schenkelbänder hatten sich als das Schlimmste herausgestellt. Menschliche Gliedmaßen sind für die Bewegung geschaffen, nimmt man ihnen diese Möglichkeit, beginnen sie bald Schmerzsignale auszusenden. Ganz neu war das Gefühl nicht für sie, vor Jahren hatte sie einmal lange, enge Schlauchröcke gemocht, hatte aber bald festgestellt, dass sie von diesen manchmal heftige Hüftschmerzen bekam. Irgendetwas stimmte dann im normalen Bewegungsablauf nicht, es mochten die vielen kleinen Schritte sein, die solch ein Rock ihr aufzwang.

Wenn sie doch bloß bald wieder Hosen trägen könnte! Oder wenigstens eine Shorts! Aber mit diesen Ketten an ihren Oberschenkeln war rein gar nichts mehr möglich. Rad fahren nicht und Schwimmen erst recht nicht. Wo aber blieben die Schlüssel??

Ingeborg Wimmer hatte nach ihrer geglückten TV-Premiere noch kurzen SMS-Kontakt mit Bruno gehabt, ihrem ehemaligen Vorgesetzten und bisherigem Keyholder. Er hatte ihr geschrieben, er würde die Schlüssel noch am nächsten Tag abschicken. Eigentlich hätte der Brief schon längst da sein müssen. War er verlorengegangen? Oder hatte Bruno ihn doch nicht abgeschickt? Wollte er sie eventuell einfach noch etwas schmoren lassen? Wie aber sollte das gehen?

Ein leichtes Frösteln lief ihr den Rücken hinab. Allein die Vorstellung, er würde sie weiterhin eingeschlossen halten, sorgte für erneutes Ziehen und Kribbeln an Stellen, die leider unerreichbar waren. Trotzdem langte sie ganz automatisch mit der Hand in ihren verschlossenen Schritt, fühlte die andere Hand die harte Wölbung der Stahlschalen, unter der ihre Brüste lagen, sicher wie das Gold in Fort Knox. Schmerzhaft empfand sie das Aufrichten ihrer Nippel, die gegen die innenliegende Stacheleinlage andrückten. Ein Gefühl, das sie jedes Mal um den Verstand brachte.
Welche Vorstellung war eigentlich schlimmer... oder schöner? Der verlorengegangene Schlüssel, oder der immer noch zurückgehaltene? Sie musste nicht lange überlegen. Lag der Schlüssel irgendwo auf dem Boden eines Postverteilzentrums, dann war das einfach nur dumm. In letzter Konsequenz müsste sie den Gürtel und die anderen Teile wohl zerstören, um ihre Freiheit wiederzuerlangen.
Ganz anders aber war die Vorstellung, Bruno ließe sie nicht heraus. Die unerwartete Dominanz eines anderen Menschen war viel erregender, als das andere Szenario. Aber hatte Bruno nicht von sich aus gesagt, eine SM-Beziehung brauche Nähe? Und dass es eigentlich sehr unpraktisch sei, mit einem Keuschheitsgürtel, wenn man sich nur noch am Wochenende sah? Wenn überhaupt...

Wimmer musste Gewissheit haben. Also anrufen. Aber sie scheute sich vor dem Gespräch. Sie telefonierte nicht gern, zumindest nicht, wenn es um private Dinge ging. Aber sie musste endlich wissen, wo der verdammte Schlüssel blieb. Genauer gesagt, die Schlüssel, denn es waren mehrere für die verschiedenen Schlösser.
Sie suchte Brunos Nummer auf ihrem Display, drückte die Anruf-Taste und wartete. Er würde antworten. Die Zeiten, wo jemand nicht zu erreichen war, waren gottlob vorbei. Und die Zeiten, wo man nie genau wusste, wer gerade anrief.
Warum antwortete er nicht? Er sah doch, dass sie es war! Ihr Handy klingelte mehrmals, viermal, fünfmal, sechsmal, dann gab sie es auf. Sie sah auf die Uhr, er musste doch zu erreichen sein! Oder war er heute im Dienst? Oder.... Sie verdrängte den Gedanken, den sie gerade hatte, schnell, denn er war doch zu unbequem. Was war denn bloß los? Noch einmal wählte sie seine Nummer und wartete.

"Ja? Hallo Ingeborg!!" Diesmal musste sie nicht warten. Diesmal war er sofort da.
"Bruno!!" Ihre Stimme schlug fast einen Salto vor Erleichterung. Sie musste sich etwas zügeln. "Was war denn los? Warum gehst du denn nicht ran?" Direkte Vorwürfe waren sicherlich keine gute Wahl, das Gespräch zu beginnen. Es war einfach so herausgerutscht.
"Ich wollte mal sehen, wie wichtig es ist! Wenn du gleich noch einmal anrufst, dann muss es wohl wichtig sein! Und wo drückt der Schuh?"
Sie unterdrückte eine patzige Antwort. "Der Schuh drückt nirgendwo. Aber das andere..."
"Das andere...?", wiederholte er. "Wovon redest du denn eigentlich. Hast du Kummer? Bist du krank?"
Verstellte er sich? Als Kriminalbeamtin war sie es gewohnt, Lügen an der Stimme erkennen zu können. Aber Bruno schien wirklich nicht zu wissen, was sie meinte.
"Der Keuschheitsgürtel drückt. Die Schenkelbänder drücken. Und der verdammte BH treibt mich noch in den Wahnsinn!"
"Und warum ziehst du dir die Dinger nicht einfach aus? Du solltest es nicht übertreiben, Ingeborg!"
Sie musste schlucken. Verloren gegangen, dachte sie. Der Schlüssel ist weg. "Ich... ich kann nicht. Es ist kein Schlüssel bei mir angekommen!" Ihre Stimme zitterte jetzt. Nur mit Mühe konnte sie ein Schluchzen unterdrücken.
"Ach du Scheiße! Verdammt verdammt... also ehrlich, ich habe den Brief an dich gleich am Tag nach der Sendung abgeschickt! Das war so ein gepolsterter Umschlag mit reichlich Porto drauf.... Dass der noch nicht da ist....??" Er klang bestürtzt.
Wimmer holte tief Luft. "Glaubst du... glaubst du, der ist verloren gegangen? Ich meine, muss ich jetzt....?"
"....bis ans Ende deiner Tage verschlossen bleiben?" Jetzt hörte sie die Ironie ganz deutlich heraus. "Möchtest du das denn??"
Sie antwortete nicht sofort. Er hatte ihren wunden Punkt getroffen. Sie hasste die Metalldinger an ihrem Körper. Aber wenn sie sie nicht trug, dann hasste sie ihren Körper. Konnte es so einfach sein? "Natürlich nicht. Ich will endlich aus diesen Dingern raus." Überzeugend klang sie nicht gerade. "Ehrlich, Bruno, ich bin schon ganz wuschig, ich...." Sie verstummte.
Diesmal machte Bruno eine Pause. Wartete darauf, bis sie weitersprach.
Sie versuchte, tief Luft zu holen. Wieder berhinderte sie der stählerne Reifen ihres BHs. Dass solch ein Teil nicht nur hinderte, die eigenen Brüste zu berühren, sondern auch das Atmen, das hätte sie sich nicht gedacht. Aber Denken allein schafft keine Erfahrenswerte.
Bruno räusperte sich. "Ehrlich, Ingeborg, ich hab die Schlüssel sofort an dich abgeschickt! Wir hatten doch eine Vereinbarung. Und an die habe ich mich gehalten. Hab da übrigens ein geiles Video von dir aufgenommen, als du im Fernsehen warst. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich vermisse!"
"Mich? Vermisst du mich? Oder unsere geile Zeit zusammen?" Vor wenigen Wochen hätte sie sich nicht getraut, diese Frage zu stellen.
"Beides, Ingeborg. Das lässt sich nicht voneinander trennen. Du hast es ermöglicht, dass meine sexuelle Phantasie real werden konnte. Aber das muss nicht heißen, dass ich nichts für dich empfinde. Dass du nur so eine Art Kleiderpuppe darstellst. Nein, so ist es wahrlich nicht. Ich habe mich immer glücklich gefühlt, wenn wir zusammen waren. Aber ich fühlte mich halt fast noch glücklicher, wenn wir nicht zusammen waren, ich aber wusste, dass du fest verschlossen warst. Ganz besonders, weil du es ja jedes Mal selber gemacht hattest. I c h habe dich ja nie verschlossen, ich habe dich immer nur wieder aufgeschlossen!"
Sie biss sich auf die Zunge. Gut dass er die Tränen nicht sehen konnte, die ihre Wangen herabflossen. Er liebte sie, kein Zweifel. Aber die Liebe war nicht stark genug gewesen, auf jeden Fall nicht stärker als sein beruflicher Ehrgeiz. Oder war er aus ganz anderen Gründen aus München weggegangen? War es vielleicht, weil er das Spiel zwischen ihnen nicht mehr hatte beenden können? Ein Spiel, welches s i e jedes Mal von neuem begann, wenn sie sich wieder verschloss?
"Wart mal, ich muss mal eben was checken!" Sie hörte, wie er nach einer Zeitung griff und blätterte. "Weißt du, ich bin seit Tagen nicht mehr dazu gekommen, Nachrichten zu hören. Hier, in der neuen Dienststelle, geht es drunter und drüber. Chaos hoch zehn. Seit Wochen nur noch Arbeit, Essen, Schlafen. Und im Auto höre ich meine eigene Musik. Vielleicht hab ich was übersehen?"
Was konnte er denn übersehen haben? Wimmer stellte überrascht fest, dass es ihr nicht viel anders gegangen war. Ihr ehemaliger Chef fehlte jetzt in der Münchner Abteilung, noch war seine Stelle unbesetzt. Gut war einzig und allein, dass die Bürger im Moment noch friedlich waren. Spätestens zum Oktoberfest müsste man wieder mit dem Schlimmsten rechnen.

"Du? Ich glaube, ich hab´s!" Seine Stimme klang erleichtert. "Die Post hatte gestreikt. Genau in der Zeit nach deiner Sendung im Fernsehen! Und hier steht, man müsse damit rechnen, dass auch nach Ende des Streiks Tage vergehen werden, bevor der Berg an liegengebliebener Post abgearbeitet wird. Das wird der Grund sein! Haben wir beide wohl nicht mitbekommen? Nun ja, was haben wir noch groß mit der Post zu tun? Und wenn bei uns mal was verschickt werden muss, dann machen wir es doch meist mit eigenen Kurieren. Also: der Schlüssel ist unterwegs!! Kann sich nur noch um Tage handeln...."
...oder Wochen, fügte sie im Stillen hinzu.
"Sag mal, hat die Sendung mit dir im Fernsehen schon irgendetwas erbracht? Also etwas Konkretes?"
"Nein. Eigentlich nicht. Ein Zeuge hat aus der Entfernung gesehen, wie zwei Frauen im Dirndl zur angegeben Uhrzeit durch die Straßen rannten. Hatte aber keine Einzelheiten erkannt. Die erste Frau könnte unser Opfer gewesen sein, die zweite sei größer gewesen. Und eine andere Frau glaubt, eine weiter Frau im Dirndl gesehen zu haben, zur Tatzeit und unweit des Tatorts. Diese sei aber eher klein gewesen, eher noch ein Mädchen. Das ist bisher alles, mehr haben wir noch nicht."
"Nun ja, viel ist das ja nicht gerade. Und mal sehen, vielleicht kommt es ja wirklich noch so, wie ich es bereits Ende letzten Jahres gesagt hatte: du bleibst so lange im Keuschheitsgürtel, bis der Fall gelöst ist!!" Er lachte kurz auf, sein warmes Lachen, das sie so sehr vermisste, dann redeten beide noch über Belangloses, bevor er sich von ihr verabschiedete.



12. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von ev_1 am 21.11.16 13:45

Liebe Daniela,

jetzt muss ich auch als heimliche Mitleserin Deiner Fast-Tetralogie outen und Dir sagen, dass Deine harte Arbeit und Deine Ausdauer wirklich unvergleichlich sind.

Mit Deiner ausführlichen Exposition bringst Du jeden der Charaktere richtig zur Geltung, schaffst Neugierde auf die nächsten Folgen, z.B. ob und wann Monika wieder in die Handlung kommt und wie Du sie darstellst. Und mit Deinem Spiel der Pronomen bei Nicola (Bernd) schaffst Du es wirklich, den Zwiespalt ihrer (seiner) Persönlichkeit gut darzustellen.

LG! ev_1
13. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 21.11.16 22:02

Liebe Daniela!
Einmal mehr danke ich Dir dafür, dass Du uns an Deinen Fantasien teilhaben lässt. Besonders angetan bin ich davon, dass Du Deine Schilderungen nicht auf vordergründige, häufig spannende Ereignisse beschränkst sondern sehr fundierte Hintergründe und Motive aufnimmst.
Wenn ich dann an Passagen komme, in denen Du Ereignisse aufgreifst, die schon zwei Generationen zurück liegen, frage ich mich immer wieder, wie viel davon in Deinem eigenen Leben vorgekommen ist. Ich habe selbst die Kriegs- und Nachkriegsjahre noch erlebt und habe mich auch schon oft gefragt, was alles verschwiegen und nie ausgesprochen wurde! Nicht umsonst ist in der Bibel die Rede davon, was alles bis ins siebte Glied, bis in die siebte Generation noch nach wirkt. Sollte ein Leser den Bezug zum aktuellen Text vermissen, so empfehle ich ihm "Agonie" nochmals durch zu lesen.
Liebe Daniela, ich sehe schon, Deine Tetralogie wächst sich zu einem Generationenroman aus, der die Realität vieler älterer Zeitgenossen darstellt. Danke dafür.
Maximilian
14. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 27.11.16 22:00

Liebe Leser in nah und fern!

Es freut mich, dass meine Geschichte - meine seeehr lange Geschichte! - dem einen oder anderen zu gefallen scheint. Danke für Eure Zuschriften.

Aber ich will auch betonen, dass negative Kritik gern unter der Rubrik ´Diskussion über Stories´ --> Die München-Trilogie angebracht werden kann.

Leider habe ich ein technisches Problem. Ich schreibe meinen Text, ob der besseren Lesbarkeit, mit vielen Leerzeilen. Den fertigen Text kopiere ich dann auf diese Seite; leider fallen diese Leerzeilen dann fast immer weg. Bis jetzt habe ich nicht herausgefunden, woran es liegt.

Aber ich hoffe auch so, dass Ihr den heutigen spannenden Begebenheiten gut folgen könnt.

Euch alle grüßt Eure Daniela 20



Rom, Ende Juli
Klaus erstarrte, als er das Knirschen des Schlüssels vernahm. Heute also! Heute würde sich sein Schicksal entscheiden. Er hatte einen Entschlüss gefasst, es gab jetzt kein Zurück mehr.
Aber würde seine Rechnung aufgehen? Wieder und wieder hatte er alles durchgeplant, sofern von Planen überhaupt die Rede sein konnte. Für einen gescheiten Plan brauchte man Information, man musste Abläufe kennen, genau über den Ort des Geschehens im Bilde sein. Er aber wusste nichts, überhaupt nichts. Im Grunde genommen hatte er alle Odds gegen sich. Verlor er, dann würde es ihn heute Abend nicht mehr geben. Nur so viel schien wirklich sicher.
Andrea befreite ihn von der Kette. "Bereit, Nicole?" Auch er war dazu übergegangen, ihn so zu nennen. Immerhin brauchte er bald einen richtigen Frauennamen. Wenn es schief lief.
Seit Andrea ihm am Computer die Aufzeichnung aus München gezeigt hatte, war eine ernsthafte Veränderung in ihm vorgegangen. Diese Kommissarin.... wie hieß sie gleich? Ach ja, Wimmer. Sie hatte nicht aufgegeben, sie suchte weiterhin nach der Person, die seine kleine Freundin Daniela auf dem Gewissen hatte. Und sie hatte in der Sendung Zeugen aufgefordert, sich zu melden. Zeugen, die Licht in den mysteriösen Todesfall der jungen Kölner Abiturientin bringen würden, die man am Ufer der Isar gefunden hatte. Was ihm aufgefallen war, die Beamtin hatte eher vage von einem Mord gesprochen. Es schien, als suche sie gar nicht nach einem Mörder, eher nach einer Erklärung. Er würde sie ihr geben können, fall sie ihm glaubte.
Und Klaus hatte noch viel weiter gedacht. Eine Hand wäscht die andere. So dachte er. Würde er ihr helfen, dann könnte sie ihm vielleicht helfen, jemand zu finden, der sein ganzes Leben vermurkst hatte. Eine Person, die er lange gefürchtet hatte. Eine Person, die er abgrundtief hasste. Es gab bei der ganzen Sache nur ein Problem: München war weit weg; es war mehr als fraglich, dass er es jemals dort hin schaffen würde.
Er erhob sich langsam. Die metallenen Schuhe mit den Mörderabsätzen machten ihm immer noch zu schaffen. Vielleicht hätte er längst das Laufen in ihnen gelernt, hätte er irgendwo laufen können. Aber in der Enge seines Zimmers hatte er immer nur wenige Schritte machen können, meist hatte er sowieso lieber auf einem Stuhl oder seinem Bett gesessen. Doch vielleicht sollte sich gerade dieser Umstand heute für ihn günstig erweisen. Wenn es ihm gelang, Andrea davon zu überzeugen, dass er andere heels tragen wollte.
Aus seinem Schrank hatte er ein Paar Schuhe hervorgeholt, das er bisher kaum getragen hatte. Rote high heels mit Absätzen, die mindestens 6 Zoll betrugen! Versehen waren sie mit kleinen, aber festen, Lederriemen, die um die Fußgelenke geschnallt werden konnten. Abschließbare Lederriemen, dachte er. Er setzte eine Mine auf, die, wie er meinte, durchaus zu seinen Gedanken passte. "Andrea, hm.... also, heut ist doch der Tag, auf den wir beide so lange gewartet haben. Ich dachte mir... also, ich dachte mir, heute möchte ich gern die hier anziehen. Prego..."
Er nahm einen der Pumps in die Hand, befühlte mit seinen Fingern den unendlich langen Absatz, untersuchte scheinbar die Schnalle des Riemens, blickte dann Andrea etwas von der Seite und von unten an. Er wusste, wie sehr der Italiener auf ultrahohe Hacken stand.
Würde es gelingen? Er wusste, dass er mit diesen Schuhen kaum sicher laufen konnte. Aber das war jetzt egal. Jetzt war es wichtig, die stählernen Fessel-heels von den Füßen zu bekommen. Denn mit den Schuhen hätte er gar keine Chance.
Andrea sah ihn etwas skeptisch an. Flunkerte dieser Deutsche ihm etwas vor? Nein, er würde ihn nicht hier aus den Stahlschuhen herauslassen. Zumindest nicht so, wie dieser es sich wohl vorgestellt hatte. Er zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche, bückte sich und öffnete erst einmal nur das kleine Schloss des einen Schuhs. Sicher war sicher. "Bitte. Jetzt kannst du anderen Schuh anziehen! Und Schloss dranmachen!"
Klaus stöhnte. Immer dieses Misstrauen! Aber ja, als Sklave war er für Andrea viel Geld wert. Langsam befreite er sich vom Stahlschuh, dann nahm er einen der roten Pumps, zwang seinen Fuß hinein, legte sich das Riemchen um sein Fußgelenk und schloss es mit einem kleinen Schloss ab. Dann wiederholte er die Prozedur mit dem anderen Schuh. Mühsam richtete er sich auf. Er bemühte sich, die Balance zu halten; diese Schuhe waren wirklich untragbar. Jetzt aber musste er hier durch.
Andrea hatte einige lose Kleider für ihn bereitgelegt. Er würde sich ausziehen müssen, hatte man ihm gesagt. Ganz ausziehen. Immerhin sei es eine große Operation, da musste alles steril sein. Und natürlich würde er dazu in Vollnarkose gelegt.
Die Abendluft fühlte sich wie weicher Samt an. Er atmete tief durch, als sie Andreas Wagen bestiegen. Nur mit größter Konzentration konnte er sich auf den Beinen halten. Er hatte Angst. Angst vor dem, was kommen sollte. Vor dem Unbekannten.

Als sie die kleine Privatklinik erreicht hatten, hatte die Sonne sich bereits dem Horizont genähert. Das ebenerdige Gebäude machte einen sauberen Eindruck auf ihn. Es schien in einem sauberen Vorort der italienischen Hauptstadt zu liegen, irgendwo meinte er, einmal die mächtige Kuppel von Sankt Peter gesehen zu haben. Aber der Petersdom mochte doch noch etliche Kilometer entfernt sein.
Eine adrett gekleidete Krankenschwester empfing sie. Sie begrüßte ihn sogar auf Deutsch, es freute ihn, so mochte die Zusammenarbeit leichter sein. "Kommen Sie," sagte sie lächelnd. "Wir haben Sie bereits erwartet. Ihre Papiere sind alle von uns geprüft und für in Ordnung befunden worden."
Klaus drehte sich zu Andrea um. Dieser lachte ihn an und machte eine verstohlene Geste mit den Fingern. Da war sicherlich ein wenig nachgeholfen worden.
"Sie wundern sich sicher, warum ich so gut Deutsch spreche? Mein Mann ist Deutscher. Er arbeitet hier für ein deutsches Unternehmen. Und Sie - sie wandte sich an Andrea - Sie müssen jetzt draußen bleiben. Hier ist der OP-Bereich! Oder sollen wir Ihnen auch was abschneiden??" Sie lächelte maliziös. "Kommen Sie, Nicole. Ich muss Sie für die Operation vorbereiten."
Klaus räusperte sich. "Schwester... ich glaube, wir brauchen noch einen Schlüssel..."
"Einen Schlüssel? Wofür einen Schlüssel?"
Klaus hob sein dünnes Sommerkleid empor. "Hierfür, Schwester."
"Oh, wie niedlich! Ja, da werden wir einen Schlüssel brauchen! Sonst Skalpell kaputt!" Sie lachte. Sie hatte bei den letzen Worten bewusst eine Art Gastarbeiter-Deutsch angeschlagen. "Und wie lange schon nicht mehr können in Hand nehmen, Signore? Iss nix mit....?" Sie machte eine Bewegung mit der Hand, die wohl jeder verstand, der die Pubertät erreicht hatte.
Dann aber langte sie mit der anderen Hand in Andreas Richtung. "The key, please!" Und sie ließ es klingen wie bei der Oscar-Verleihung, ´the envelope, please´.
Andrea nestelte die entsprechenden Schlüssel von seinem Schlüsselbund und gab ihn der Schwester.
"Gehn wir?" Sie ging voraus, führte ihn durch einen langen Gang, das Vorbereitungszimmer schien im hinteren Teil des Gebäudes zu liegen. Dort angekommen, kam die Krankenschwester schnell zur Sache. Sie half ihm aus dem Kleid, staunte nicht schlecht, auch einen stählernen BH an ihm zu entdecken, dann suchte sie die passenden Schlüssel und befreite ihn von all seiner stählernen Unterwäsche. Was dann folgte war eine Überraschung. Sie hatte sich dünne Gummihandschuhe übergezogen und befühlte nun sein schlaffes Glied.
"Sind Sie sich ganz sicher?", fragte sie ihn. Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten begann sie mit einer leichten Penismassage. "Nur eine kleine Abschiedsvorstellung," murmelte sie, als sie begann, ihn mit der Zunge zu verwöhnen.
Er versuchte, sachlich zu bleiben. "Bitte, Schwester, die Schuhe."

Sie blickte ihn etwas hilflos an. "Tut mir leid, aber dafür habe ich keinen Schlüssel. Aber das ist nicht so schlimm. Ich glaube, Ihre Schuhe werden den dottore nicht wirklich stören. Männer stehen ja auf so etwas. Aber wir Frauen wissen ja, dass es eine Qual ist, solche Schuhe zu tragen. Scheinbar will Ihr Freund nicht, dass Sie ihm davonlaufen!" Sie lachte leise. Bestimmt hatte sie ins Schwarze getroffen. "So, kommen Sie, ziehen Sie dieses OP-Hemd über. Und dann werde ich Sie der Narkoseschwester übergeben.
Es war so weit. Der Moment der Entscheidung war gekommen. Klaus schloss die Augen und bat ein kleines Stoßgebet. Bitte, lieber Gott. Rette mich! Lass mich nicht fallen! Halte mich fest! Hilf mir!!

München Ende Juli
Ihre Finger zitterten. Nein, nicht nur ihre Finger. Ihr ganzer Körper bebte. Sie musste sich konzentrieren. Was war denn bloß los mit ihr? Ihre rechte Hand schien gefühllos, es fiel ihr sichtlich schwer, den kleinen Gegenstand zu greifen.
Was war denn bloß los mit ihr? Wimmer legte den kleinen Schlüssel zur Seite. Sie hatte den Brief in ihrem Briefkasten gefunden, als sie nachmittags von der Arbeit nach Hause kam. Der Umschlag war ganz geblieben, wie sie sah hatte Bruno einen gefütterten Umschlag benutzt, vorsichtshalber aber die Schlüssel auch noch einmal dick mit Klebeband umwickelt. Nicht mit einem Stück, sondern mit vielen kleinen Stücken. Immer wieder hatte sie einen neuen Anfang suchen müssen, es hatte ewig gedauert, und ihr Zittern war die ganze Zeit schlimmer geworden.
Lange hatte sie nur dagesessen und den ungeöffneten Umschlag angestarrt. Ihre Nerven spielten verrückt. Einen Moment überlegte sie, ihre Anschrift einfach durchzustreichen und ´Zurück an Absender´ auf das braune Papier zu schreiben. Bruno würde sich freuen, dachte sie. Aber sie musste erkennen, dass ihr Spiel zu Ende war. Ein geiles Spiel, das beide seit dem letzten Winter miteinander gespielt hatten. Oder hatte nur sie es gespielt? Hatte Bruno ihr vielleicht nur einen Gefallen getan? Als Keyholder? Hatte er auch nur ein einziges Mal Forderungen an sie gestellt?
Sie war es gewesen, nur sie hatte dieses Spiel gespielt. Ein Spiel, in dem es normalerweise um Dominanz und Unterwerfung geht. Sie hatte sich unterworfen. Aber Bruno hatte eigentlich immer nur ihre Schlüssel verwahrt. Sie war sich sicher, hätte sie auch nur ein einziges Mal über Schmerzen oder Unpässlichkeit geklagt, er hätte sie sofort aufgeschlossen.
Hatte sie mehr erwartet? Ingeborg Wimmer wusste es nicht. Es war von Anfang an nur ein kleiner Deal gewesen, sicherlich einer, an dem beide ihren Spaß gehabt hatten. Warum sonst hätte ihr Chef den ganzen Keuschheitskram unterschlagen sollen? Er hätte von Rechts wegen in die Asservatenkammer gehört, später hätte man ihn der Familie der Verstorbenen aushändigen müssen. Was hatte ihn dazu bewogen, es nicht zu tun? Wollte er gar die Familie der jungen Frau in Schutz nehmen, indem er sie vor der Erkenntnis bewahrte, ihre Tochter sei.... nun, pervers?? So hieß das ja wohl, wenn man stählerne Spielsachen am Körper trug.
Sie zündete sich eine Mentholzigarette an, inhalierte so tief es ging. Letzte Woche erst hatte sie wieder damit angefangen. Schokolade fressen oder Rauchen, das war hier die simple Frage. Leider steckte sie im Keuschheitsgürtel, der Schokolade nicht wirklich zuließ. Anders herum hinderte der enge Keuschheits-BH sie am tiefen Inhalieren, was sicherlich ganz gut war. Egal, sie hatte etwas für die Nerven gebraucht, als sie tagelang auf Brunos Brief wartete.
Immer noch zitterte ihre Hand, als sie vorsichtig das Schloss zu ihrem BH öffnete. Sie legte es auf den Tisch, drückte den Sicherungsstift, welcher den BH zwischen ihren Brüsten zusammenhielt, heraus, legte ihn neben das Schloss und spürte dann, wie der unbarmherzige Druck auf ihren Oberkörper nachließ. Sie musste die glänzenden Cups abziehen, fast schien als so, als wollten sie ihre Brüste nicht freigeben. Oder.... oder war es gar anders? Wollten ihre Brüste den stählernen Schutz nicht loslassen?
Sie sahen schlimm aus. Malträtiert. An der Basis der Brüste hatten die Cups tief eingeschnitten und eine heftige Druckspur hinterlassen; so bald würde sie damit nicht in die Sauna gehen können. Aber Sauna war eh mehr etwas für den Winter, dachte sie erleichtert. Auch die scharfen Spikes der Einlagen hatten für ein bizarres Muster auf der Haut gesorgt, im unteren Brustbereich gab es einige leichte Hämatome. Ihre Brustwarzen sahen nicht viel besser aus, die Nippel waren zusammengesunken, kein Wunder, wurden sie doch in ganz besonderem Maße wochenlang von den langen Stacheln gequält.
Vorsichtig zog sie die breite Panzerkette über ihren Kopf, bloß nicht die Haare einklemmen! Mit leicht rasselndem Geräusch landete auch der BH vor ihr auf dem Tisch. Ihres Halts beraubt empfanden ihre Brüste zum ersten Mal seit langem wieder die natürliche Macht der Schwerkraft. Sie taten weh. Sie ging in ihr Schlafzimmer, suchte im Wäscheschrank nach einem passenden BH. Zog ihn an, legte ihre Brüste in die weichen Cups. Es war ungewohnt. Gut fühlte es sich nicht an.
Erst jetzt wagte sie es, sie anzufassen. Sie erschrak. Sie hatte sich daran gewöhnt, nichts außer hartem Stahl zu spüren. Die weiche Masse, die sie jetzt umfasste, sie wirkte in erster Linie schutzlos auf sie. Das Gefühl behagte ihr nicht.
Die Schenkelbänder fielen als nächstes. Oh, das würde eine Wohltat sein, wieder frei laufen zu können! Hosen tragen! Rad fahren! Schwimmen gehen oder Joggen!

Sie atmete tief durch. So viel Luft, das war ungewohnt! Und sie nahm den letzten Schlüssel vom Tisch. Jetzt also.... Auch hier kam es ihr vor, als klammere sich ihre Scham krampfhaft an den stählernen Tugendwächter. Dann fiel die letzte Barriere. Sie sah, was sie nicht sehen wollte. Druckspuren und gerötete Haut. Es war ein Wunder, dass sie sich nicht entzündet hatte.
Sie fühlte sich schmutzig. Sie musste in die Wanne. Versinken im Wasser und nie mehr auftauchen.
Zum ersten Mal seit Wochen machte sie wieder ein Schaumbad. Sie wollte es nicht sehen. Ihre Nacktheit. Ihre Schutzlosigkeit. Eine Decke aus Schaum hatte sie, solange sie Gürtel und BH trug, nicht benötigt. Das warme Wasser, das das Bild der glänzenden Teile immer etwas verzerrte, ihre Hände, die sich auf den soliden Stahl legten, das hatte sie immer gemocht. Unantastbar. Unantastbar und frei.
Sie tauchte ein, spürte, wie ihre Brüste, befreit vom Stahl, Auftrieb bekamen. Als wollten sie ihren Körper verlassen. Sie musste sich waschen. Berührte ihre Scham mit dem Waschlappen; durch den Stoff hindurch spürte sie, es fehlte etwas.
Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte. So wie es jetzt war war sie totunglücklich. Ingeborg Wimmer holte tief Luft und ließ den Kopf unter Wasser gleiten.

Rom, Ende Juli
Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er stand sicherlich unmittelbar vor einem Herzkasper. Wie würde die nette Schwester reagieren, wenn er die Frage stellte?
Er holte tief Luft, wollte seine Worte möglichst normal klingen lassen. Doch sie kam ihm zuvor.
"Sie müssen vor der Operation unbedingt noch einmal auf die Toilette! Sehen Sie, auch wenn Sie in Vollnarkose sind, bei einer geschlechtsangleichenden Operation ist es nicht gerade steril, wenn sie dann Wasser lassen. Ganz abgesehen davon, dass es für den Chirurgen eine ziemliche Sauerei bedeutet. Also, erst mal aufs stille Örtchen. Und lassen Sie sich ruhig Zeit, wenn es nicht sofort kommt. Sie sind etwas zu früh gekommen. Der OP ist eh noch nicht fertig. Also bitte, draußen im Gang, ganz hinten, die letzte Tür. Aber brechen Sie sich nicht die Hacksen!" Die Schwester lachte still in sich hinein. Dann schüttelte sie den Kopf. Sicherlich besaß sie kein einziges Paar hochhackiger Schuhe.
Klaus stöckelte hinaus auf den Gang. Man hatte ihm noch ein weites Gewand gegeben, es umwehte seinen Körper bis zu den Knien. Optimal war es nicht, aber besser als gar nichts. Wenn nur die verfluchten Schuhe nicht wären! Wie sollte er damit sein Vorhaben in die Tat umsetzen? Wie sollte er sie jemals von den Füßen bekommen?
Die Toilette hatte alles was er brauchte. Ein Fenster. Ein Fenster in die Freiheit! Er atmete tief durch, es ließ sich problemlos öffnen.
Er brauchte nicht einmal tief zu springen. Ein kleiner Schritt für einen Menschen..., dachte er. Es war an der Zeit, in seinem Leben aufzuräumen! Er achtete darauf, nicht mit seinen Mörderschuhen umzuknicken. Grüner Rasen erwartete ihn, seine dünnen Absätze versanken im Boden, er konnte kaum laufen. Erst als er richtig losrannte, als er den Boden nur noch mit dem vorderen Fußteil berührte, wurde es besser. In einer Ecke sah er eine Anlage zur Rasenwässerung. Sicherlich war dies ein feines Viertel, wo man auf gepflegte Gärten Wert legte. Er versuchte sich zu orientieren. Ein bellender Hund nahm ihm die Entscheidung ab, er lief in die andere Richtung, dort wartete hoffentlich kein Hund auf ihn. Ein niedriger Zaun bot kein Hindernis, er durchquerte einen Garten, dann einen weiteren. Wie lange hatte er bis jetzt gebraucht? Sicherlich keine fünf Minuten.
Wann aber würde die Schwester an die Toilettentür klopfen? Erfreut hatte Klaus festgestellt, dass die Tür keine Möglichkeit bot, sie von außen zu öffnen. Und draußen hatte er gesehen, dass es keine direkten Fenster neben dem Toilettenfenster gab. Es würde einige Zeit dauern, bis man seine Flucht bemerkte. Man würde die Schwester bitten, auf die Rückseite des Gebäudes zu gehen und durch das Fenster zu schauen. Erst dann brannte die Lunte!
Ein weiterer Garten war anders angelegt. Hier hatte man auf Terracottafliesen gesetzt, einige große Töpfe stellten das einzige Grün dar. Seine Absätze machten mörderischen Krach; ein Hund schlug im Haus an. Er konnte nur beten, dass niemand zu Hause war. Und schon hatte er es auf das nächste Grundstück geschafft.
Er musste die Schuhe loswerden! So konnte er unmöglich weiterlaufen. Im hinteren Teil dieses Gartens lag ein Schuppen. Die Tür war nicht verschlossen. Klaus öffnete, gedämpftes Licht fiel durch die Tür; er sah sich um.
Wie viel Glück konnte ein Mensch haben? An der Rückseite der Tür hing ein brauner Overall. Auf dem Tisch lag ein scharfes Messer neben diversen Gegenständen für die Gartenarbeit. Mit zwei schnellen Schnitten hatte die Riemchen durchtrennt; er atmete auf, als er die Schuhe endlich ausziehen konnte. Seine Füße schmerzten etwas, als er mit flachem Fuß auftrat, aber es war auszuhalten. Und jetzt dankte er dem Schicksal, dass er wochenlang eingeschlossen war und kaum laufen musste. Andernfalls hätte er jetzt große Probleme gehabt.
Der Overall passte. Klaus griff in die Tasche und erschrak fast, als er einen 20-Euro Schein hervorzog. Was war das hier? Ein Schauer lief ihm den Rücken hinab. Bloß nicht weiterdenken, dachte er.
Und fand noch ein paar alter, ausgetretener Schuhe in seiner Größe. Perfekt. Es konnte einfach nicht wahr sein. Er hielt kurz inne, schloss die Augen, murmelte eine leises ´danke´, dann nahm er sein OP-Hemd und die high heels, lugte vorsichtig nach draußen und nahm seine Flucht wieder auf.
Vorsichtshalber lief er durch weitere Gärten, er hatte immer Glück, hier hielt man nichts davon, den eigenen Besitz einzumauern. Dann nahm er sein kleines Bündel, warf es in eine halbvolle Mülltonne, und begab sich nach vorn auf die Straße. Links oder rechts? Auf jeden Fall weiter weg von der Klinik. Also links. Die Straße ging einen Hügel hinab, herrliche Pinien auch hier, dann sah er schon von weitem eine Bushaltestelle. Und einen Bus, der sich die Straße langsam emporkämpfte. Ein Bus? Sollte er einen Bus nehmen? Und plötzlich erkannte er, dieser Bus war nur für ihn hier! Auch wenn er es nicht verstand. Aber so musste es sein.
Mi klopfendem Herzen bestieg er den Bus, als die Tür sich geöffnet hatte. Der Schaffner fluchte leise, als er mit dem 20-Euro Schein eine Fahrkarte kaufen wollte. Scheinbar konnte er nicht rausgeben, er winkte ihn durch, kein Problem, va bene.
Sie fuhren dicht an der Klinik vorbei. Er verbarg sein Gesicht in der Armbeuge, konnte aber doch sehen, wie die Krankenschwester gerade vorn aus dem Haus kam und zur Seite des Hauses lief. Gleich würde sie Alarm schlagen.
Klaus hatte keine Ahnung, wo der Bus hinfuhr. Aber es ging bald wieder hinab. Hinunter in das Häusermeer der Ewigen Stadt. Es war gelungen. Jetzt müsste er die einzige Person treffen, die ihm hier weiterhelfen könnte!

Rom, Ende Juli
"Pronto?"
"Signora Behrend, per favore!"
Er hatte die lauwarme Nacht auf Monte Antenne, einem der sieben Hügel der Ewigen Stadt verbracht. Hier oben hatte er die Reste eines ehemaligen Campingplatzes vorgefunden, es gab kleine Hügelchen, auf denen wohl einmal Zelte gestanden haben mochten, Ruheplätze für Reisende, die es endlich nach Rom geschafft hatten. Er hatte nur noch ein Ziel, es möglichst schnell wieder von hier weg zu schaffen.
Einige verfallene Gebäude ließen nette Gespräche unter InterRailern vermuten, jetzt aber stöhnte ein halb heruntergefallenes ´Birra-Peroni´ Schild leise vor sich hin. Klaus fragte sich, ob es sich bei diesem Namen wohl um einen antiken Namen handelte. ´Antennenberg´? Hatten die alten Römer denn schon Antennen gekannt??
Er hatte etwas gewartet, bevor er sich in die Stadt traute. Er brauchte noch den Schutz der Menge, wäre er gleich frühmorgens losgerannt, wäre er vermutlich den Häschern aufgefallen. Falls es überhaupt welche gab. Ein großes, kriminelles Netzwerk traute er Andrea eigentlich nicht zu. Er war wohl eher ein kleiner Gelegenheitsgangster, jemand, der es verstand, die Situation auszunutzen, die Kuh zu melken, so lange sie bei ihm im Stall stand; mehr war es wohl nicht.
Er verstand es, sparsam mit seinen 20 Euro umzugehen. Kaufte etwas Brot und Käse in einem Supermarkt, genehmigte sich einen Kaffee im Pappbecher, dann sollte es fürs erste wohl genügen. Jetzt war es wichtiger, seine Mutter ausfindig zu machen. Oder wenigstens eine Telefonnummer.
Mehr durch Zufall kam er an einer Bücherei vorbei. Er versuchte sein Glück, und siehe da, es gab einen Computer mit Internetanschluss; bald schon hatte er die Nummer von Radio Vatican gefunden.
Etwas schwieriger gestaltete sich die Suche nach einem Telefon. Es gab nur noch wenige Telefonzellen, und dies waren entweder Kartentelefone oder der Hörer war herausgerissen, so kam er nicht weiter. Schließlich fand er in einem Café, was er suchte, und wählte die Nummer.
Die Dame an der Vermittlung hatte ihn weitervermittelt, er hörte es knacken, dann weitere Geräusche, schließlich eine Frauenstimme. "Pronto?"
Mit einem Mal fühlte er sich wie gelähmt. Brachte kein Wort hervor. Sie würde Fragen stellen, Fragen die er nicht beantworten könnte.
"Mutter?"
Es folgte eine Pause, die ihm unendlich lang vorkam. Dann, zögerlich: "Hallo?"
"Mutter? Bist du das? Hier ist Klaus. Ich bin in Rom, ich...." Er kam nicht weiter.
"Klaus? Oh mein Gott! Wieso bist du nicht in München? Ist irgendetwas....?"
"Ich brauche Hilfe, Mutter. Ich bin.... ich bin ausgeraubt worden. Ich muss zurück nach München. So schnell wie möglich." Es sprudelte so aus ihm heraus.
"Oh Gott, Kind! Was ist denn bloß los? Ist dir etwas zugestoßen? Wo bist du denn jetzt?"
Er konnte nicht einmal genau sagen, wo er war. "Ich bin in der Stadt. Irgendwo im Zentrum, in einem Café. Und ich habe nur noch ca. 10 Euro. Ja, ich bin ausgeraubt worden, aber es geht mir gut. Können wir uns irgendwo treffen? Ich brauchte auch etwas zum Anziehen..."
"Bist du nackt.... in einem öffentlichem Café??" Er hörte einen leichten Vorwurf heraus, eine Stimmlage, die ihm wohlbekannt war.
"Nein, keine Sorge. Ich bin nicht nackt. Aber ich habe nichts zum wechseln. Mir wurde mein Koffer gestohlen, bevor ich überhaupt ins Hotel kam.. Wann hast du Zeit, dass wir uns treffen können?" Er wartete angespannt. Er hörte etwas rascheln, wahrscheinlich schaute sie in ihren Tagesplan.
"Klaus? Sagen wir 14 Uhr? Oben an der Spanischen Treppe. Ich muss jetzt leider noch etwas fürs Radio fertig machen. Also pass gut auf dich auf. Wir sehen uns nachher!!"

% % %

Klaus blieb im Café. Auch wenn er nicht glaubte, dass Andrea wirklich nach ihm suchte, hier fühlte er sich einfach sicherer. Der eine oder andere Gast beäugte ihn sichtlich neugierig, aber er ließ sich nichts anmerken. Er konnte in seinem Overall irgendein Arbeiter sein, der hier seine Siesta etwas eher begonnen hatte.
Es kam ihm vor, als zöge sich die Zeit ewig in die Länge. Nannte man diesen Ort deshalb die ´Ewige Stadt´? Weil alles immer so ewig lang dauerte?
Erfreut stellte er fest, dass an der Wand ein leicht verblichener Stadtplan hing. Ein in den Plan hineingefingertes Loch mochte die Lage des Cafés zeigen; wo aber war jetzt die Spanische Treppe? Er hatte von ihr gehört, sie aber bis jetzt noch kein einziges Mal angesehen. Endlich, mit etwas Hilfe eines anderen Gastes, fand er, was er suchte. Scalinata di Trinità dei Monti, so hieß sie wohl hier in der Stadt. Warum aber hieß sie eigentlich nicht ´Italienische Treppe´? Es kam ihm spanisch vor.
Weit war es Gott sei Dank nicht. Er merkte sich die ungefähre Lage, orientierte sich kurz außerhalb des Cafés und schlug dann die Richtung ein, von der er annahm, dass sie die richtige sei.
Es war wieder brütend heiß geworden in Rom. Je näher er seinem Ziel kam, desto weniger Italiener schienen auf den Straßen zu sein, aber der Zustrom der Touristen nahm stetig zu.
Er bog noch um eine weitere Ecke, dann, auf seiner rechten Seite, lag eine der schönsten Freitreppen der Welt plötzlich vor ihm. Besser gesagt, es musste die Treppe sein, allerdings war sie dicht bevölkert von fotografierenden Touristen und Blumen- und Andenkenverkäufern. Oben an der Treppe, hatte seine Mutter gesagt. Es war kurz vor 14 Uhr, langsam stieg er die breiten Stufen empor.
Er hatte keine Augen für das herrliche Panorama, das sich ihm bot. Seine Aufmerksamkeit galt einzig seiner Mutter. Leider hatte er vergessen, ihr sein Äußeres zu beschreiben, in seiner ungewöhnlichen Kleidung mochte sie ihn schnell übersehen. Dann aber sah er, wie sie ihrerseits suchend durch die Menge ging.
"Hallo Mama!" Er hatte sich eine Stufe über sie gestellt, aus dem simplen Grund, dass sie so nicht gegen die Sonne blicken musste.
"Klaus??" Sie sah ihn an, als glaubte sie ihren Augen nicht. "Mein Gott, wie siehst du denn aus? Was ist denn eigentlich passiert?"
Er hatte sich vorbereitet. Hatte schließlich genug Zeit gehabt, sich eine hübsche Geschichte auszudenken. "Du siehst, ich stecke so ziemlich in der Klemme. Es sollte ja eine Überraschung für dich sein. Aber so...?" Er strich sich mit den Händen in einer hilflosen Geste über den nicht gerade adretten Overall. Dann aber nahm er sich ein Herz. "Mama, ich brauche Geld. Ich muss mir neue Sachen kaufen..."
"...und du musst zurück nach München. Subito! Deine Oma liegt schon seit Wochen im Krankenhaus. Es geht ihr gar nicht gut. Herzschwäche, so heißt es. Das Krankenhaus hat mir Mitteilung davon gemacht. Ich hatte lange versucht, dich zu erreichen. Aber du warst ja schier unauffindbar. Und jetzt stehst du plötzlich hier..." Sie schüttelte den Kopf, als versuchte sie, einen bösen Traum abzuschütteln. Sie öffnete ihre große Schultertasche, langte hinein, kramte etwas in ihr herum und fragte gleichzeitig: "Wieviel wirst du brauchen?"
Das Folgende geschah schneller, als man denken konnte. Ein Jugendlicher rannte schräg von oben die Treppe hinab - Klaus und seine Mutter standen nicht ganz oben, sondern einige Treppenstufen tiefer. Klaus sah von hinten etwas Schnelles auf sich zukommen, er sah die geöffnete Tasche seiner Mutter, ihre Hand, die gerade eben ihr ledernes Portmonee hervorzog, er machte einen schnellen Schritt nach vorn, stellte sich dem Taschendieb in den Weg. Dieser konnte nicht mehr ausweichen, knallte in vollem Lauf gegen Klaus, der nun seinerseits ins Straucheln kam und heftig gegen seine Mutter stieß, die durch den unerwarteten Stoß beinahe rückwärts die Treppe hinabgestürzt wäre.
"Willst du mich auch umbringen?", schrie sie erschrocken auf. "Pass doch auf!"
"Ich hab Daniela nicht umgebracht!!", antwortete dieser im ersten Schock.
"Daniela? Wer ist Daniela? Ich rede von Lenchen! So pass doch auf!" Seine Mutter hatte sich auf die Treppenstufe gesetzt und rieb sich den Arm. "Noch mal Glück gehabt! Diese verdammten Aasgeier hier in der Stadt. Alles dreckige Banditen! Kein Wunder, dass ich so gut wie nie hier herkomme. Also, wo waren wir? Wieviel Geld wirst du brauchen? Und ich habe schon nachgesehen, du kannst heute Abend noch mit einem direkten Nachtzug nach München fahren. Flieger geht zwar schneller, aber ich nehme mal an, deine Ausweispapiere sind auch geklaut worden? Allerdings ist der Zug platzkartenpflichtig. Ich werde nachher noch mitkommen und das am Bahnhof Termini alles für dich erledigen. Jetzt aber müssen wir erst mal neue Sachen für Dich kaufen! Sag mal, warst du schon bei der Polizei und hast den Diebstahl gemeldet?"
Auch Klaus hatte sich wieder gefangen. Einen Moment hatte er überlegt, dem Jungen nachzulaufen, es dann aber für besser befunden, bei seiner Mutter zu bleiben. Immerhin hatte der Kerl ja nichts geklaut. "Ja, hab ich schon heute früh erledigt, die Sache mit der Polizei. Von mir aus können wir sehen, dass wir irgendwo etwas anständigere Reisekleidung für mich ergattern!" Es war besser, allzu neugierigen Fragen auszuweichen. Er wollte jetzt nur noch weg aus dieser verdammten Stadt, einer Stadt, die beinahe sein Grab geworden wäre.
15. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von ev_1 am 28.11.16 21:20

Interessant. Die Episode strebt einem ersten Höhepunkt entgegen. Wenn die Frage erlaubt sein sollte, kommt Monika aus dem fernen Australien auch wieder in die Handlung zurück?
16. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von ev_1 am 28.11.16 21:25

Interessant. Die Episode strebt einem ersten Höhepunkt entgegen. Wenn die Frage erlaubt sein sollte, kommt Monika aus dem fernen Australien auch wieder in die Handlung zurück?
17. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 28.11.16 23:18

Wer ist (oder war) Lenchen? Kommt da noch ein Konflikt dazu?
18. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von ev_1 am 29.11.16 10:45

@Maximilian24: Lenchen ist Wohl die Oma von Nicole und Ihre Geschichte wird im 3(?) Teil geschildert...
19. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 29.11.16 18:37

Ich dachte die Oma heißt Annegret Meisner, irre ich mich da?
20. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 29.11.16 18:38

Ich dachte die Oma heißt Annegret Meisner, irre ich mich da?
21. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 29.11.16 18:39

Wieso kommt mein Posting zweimal, ich habs doch nur einmal geschickt?
22. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von ev_1 am 29.11.16 20:25

Ja. Das stimmt. Ich habe mich da vertan. Sorry...
23. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 04.12.16 22:00

Und schon haben wir wieder ein Woche geschafft! Verrückt, wie die Zeit vergeht.
Manchmal verspüre ich Lust, meine ganze Geschichte an einem Stück zu veröffentlichen, damit man sie, wie einen spannenden Krimi, schnell durchlesen kann. Aber es gibt ja auch andere Geschichten, und Geduld gehört nun halt einmal dazu.

Allen Lesern wünsche ich eine gute Zeit und viel Vergnügen beim Lesen!

Eure Daniela 20

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München, Anfang August

Es war nicht mehr ganz so furchtbar heiß, wie noch vor wenigen Tagen in Rom. Klaus setzte sich auf, blinzelte zum Fenster hinaus, weißblau der Himmel, was denn sonst? Es roch anders hier in München, vertrauter irgendwie. Aber vielleicht bildete er es sich auch nur ein, vielleicht roch es einfach nach seiner Oma. Heute würde er sie endlich besuchen müssen.

Die Rückreise nach München war ohne Probleme verlaufen. Seine Mutter hatte für ihn die Fahrkarte, zusammen mit einer Platzreservierung, besorgt. Dann half sie ihm, sich neu einzukleiden, er konnte ja nicht ewig in diesem gammeligen Overall herumlaufen, den er, dem Himmel sei Dank, in diesem Gartenschuppen gefunden hatte.
Nachdem er nun endlich wieder wie ein normaler Mensch aussah, lud die Mutter ihn noch zum Essen ein, immerhin sollte er nicht hungrig nach Hause fahren. Sie hatten zuerst nur über belangloses Zeug geredet, dann aber war die Rede doch auf die Gesundheit seiner Großmutter gekommen. Wie seine Mutter berichtete, war es in den letzten Monaten mit ihr rapide bergab gegangen. Sie versuchte herauszufinden, ob Klaus eventuell einen Grund für diese Entwicklung geben könnte, aber er hatte es vorgezogen, besser keine Vermutungen anzustellen. Obwohl er sich seinen Teil denken konnte. Immerhin waren er und seine Großmutter im Streit auseinandergegangen, nachdem er erfahren hatte, welches schmutzige Ränkespiel die alte Dame betrieben hatte.

Im Großraumwagen der Bahngesellschaft hatte er einen angenehmen Platz bekommen. Der Zug war nicht gerade überbelegt, wer reiste heutzutage denn noch mit der Bahn, wo es doch die Billigflieger gab. In fast jede Stadt Europas konnte man für wenig Geld reisen, war man gewillt, leichte Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Wie umweltschädlich diese ganze Reiserei letztlich war, das schien wirklich niemanden mehr zu interessieren.
Erleichtert stellte er unterwegs fest, dass niemand von ihm Ausweispapiere verlange. Nie zuvor war das Reisen innerhalb Europas so angenehm gewesen. So passierte er im Laufe der Nacht erst die Grenze nach Österreich, später dann nach Deutschland. Nur über eines wunderte er sich, wann würde diese ´Europäische Union´ sich endlich zu einem echten Bundesstaat zusammenschließen? Es war an der Zeit, so dachte er. Eine Alternative gab es nicht.

Er ließ die letzten Stunden noch einmal Revue passieren. Es war das reinste Wunder, dass seine Flucht so gut geklappt hatte! Hatte da jemand seine Hand im Spiel gehabt? Ach, Quatsch, dachte er, Kinder mögen ja an den lieben Gott und Schutzengel und den ganzen Kram denken, aber er doch nicht! Oder? Er vermisste plötzlich Monika. Die Frau, die mit ihm Dinge gemacht hatte, die er niemandem erzählen mochte. Gezwungenermaßen freiwillig hatte er alles mitgemacht. Jetzt war Monika irgendwo in Australien, sie hatte ihren Vater gesucht und gefunden, und scheinbar auch einen netten Australier, mit dem sie dort unten zusammen leben wollte.

Lenchen! Plötzlich tauchte der Name wieder auf. Seine Mutter hatte ihn genannt, als sie fast auf der Spanischen Treppe gestürzt wäre. Nur mit Mühe hatte er einen Taschendiebstahl verhindern können, war heftig angerempelt worden und ins Straucheln gekommen; fast hätte er seine Mutter hinabgestoßen.
Aber hatte sie nicht noch viel mehr gesagt?? ´Willst du mich auch umbringen?´ Er hatte es sofort auf Danielas Tod bezogen, obwohl die Mutter von der Geschichte gar nichts wissen konnte. Und dann - ´Lenchen´.
Er hatte die ganze Nacht im Zug darüber nachgedacht. Lenchen. Er kannte keine Lenchen. Es musste wohl ein Mädchen sein, sicherlich hieß sie Lena, wurde aber Lenchen gerufen. Und er sollte.... er sollte sie umgebracht haben? Niemals. Aber warum hatte seine Mutter es, wenn auch im Affekt, gesagt? Wusste sie etwas, was er nicht wusste? Aber sie konnte doch nichts wissen, was er nie getan hatte!!

In München führte ihn sein Weg zum Haus der Oma. Eine andere Bleibe gab es für ihn nicht. Die kleine Dachwohnung, die er im Jahr zuvor bewohnt hatte, war längst an jemand anderen vermietet. Gut war, dass er alle seine persönlichen Dinge vor seiner Flucht mit Andrea nach Italien hatte wegpacken können. Viel war es eh nicht, er hatte drei Säcke voll im Keller des Hauses deponiert, er würde sie abholen können, sobald er wieder in München sei, hatte man ihm versichert.
Er wusste, wo es einen Reserveschlüssel für das Haus seiner Oma gab. Muffiger Geruch abgestandener Luft schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Einige Briefe lagen auf dem Fußboden hinter der Tür, er fegte sie mit dem Fuß zur Seite; Post konnte erst einmal warten. Jetzt musste er erst einmal richtig ankommen. Für sein Wohlbefinden sorgen. Einkaufen. Essen machen. Ausschlafen. Dann seine drei Säcke abholen. Die Klinik anrufen, wo seine Oma lag, fragen, wie es um sie stand. Und wann er zu Besuch kommen könnte. Und die Oma nach Lenchen fragen.

Als er im Laufe des Tages das Wichtigste erledigt hatte, war er nicht sonderlich schlauer geworden. Er hatte seine Säcke abgeholt, hatte eingekauft und erst einmal für sein leibliches Wohl gesorgt, hatte schließlich nachgesehen, ob seine Ausweispapiere noch oben in seinem Kabuff lagen. Nach Italien hatte er nichts mitgenommen, von seiner wahren Identität hatte er nichts wissen wollen, Flucht und Davonrennen schienen ihm der einzige Ausweg zu sein. Jetzt war er froh, dass er zu diesem wahren Ich zurückkehren konnte.
Klaus musste sich einen Plan machen. Ordnung ist das halbe Leben, so dachte er. Ganz besonders jetzt. Was war wichtig? Er wollte diese Kriminalkommissarin anrufen, eine Zeugenaussage machen, wenigstens etwas Licht in das Dunkel um Danielas Tod bringen. Aber das konnte noch ein wenig warten. Zuerst müsste er sich um seine Oma kümmern. Er hatte in der Klinik angerufen, es sah gar nicht gut aus. Man sagte ihm, er solle gern am kommenden Tag zu Besuch kommen, aber versprechen könne man ihm nichts. Meist dämmere seine Großmutter so vor sich hin, selten nur habe sie klare Momente. Er solle sich darauf einstellen, dass es jederzeit zu Ende gehen könne.
Sie tat ihm leid. Bei allem, was sie getan hatte, sie tat ihm trotzdem leid. Er wusste, sie hatte es nicht leicht gehabt. Ihr Leben war alles andere als harmonisch verlaufen. Familiäre Geborgenheit hatte sie höchstens als Kind, irgendwo drüben im Bayrischen Wald, erlebt. Hungerjahre mögen es gewesen sein. Den Zusammenbruch hatte sie als junges Mädchen erlebt. Sicherlich war es nicht ihre Schuld, dass sie am Ende so geworden war.

Und seine Schuld?? Er verdrängte die Frage. Welche Schuld hatte er auf sich geladen?
Er untersuchte die Säcke. Fand Kleider, die er lange nicht getragen hatte. Sachen von ihm.... und von Barbara. Wie lange war das alles her? Kein ganzes Jahr, überschlug er schnell. Es war alles noch da. Er stopfte sie zurück in den Sack. Nicht jetzt, dachte er, es war vorbei...
Doch Ruhe wollte sich nicht einstellen. Ordnung schaffen? Aber wo sollte er anfangen? Würde er es denn überhaupt allein schaffen? Ohne Verbündete? Er schmunzelte etwas, der Ausdruck Verbündete kam ihm antiquiert vor, vielleicht sogar konspirativ. Aber genau damit musste es vorbei sein. Einzig totale Offenheit würde ihm aus dem finsteren Tal heraushelfen. So zumindest hätte es seine Oma gesagt.
Beneidete er sie am Ende gar? Um dieses ´Eine feste Burg ist unser Gott´? Er hatte diese Burg kennen gelernt. Eine mächtige Wehranlage, eine wahre Festung, die sich keine Fehler erlauben wollte. Mit Schrecken dachte er an seine Jahre im katholischen Internat, außen hui, innen pfui, das hatte auch auf die dort vermittelten Werte gegolten. Ein guter Schüler war derjenige, der fleißig mitbetete, der keinen Zweifel erkennen ließ, der.....

Es würgte ihn in der Kehle. Der Schwarze Mönch. Nur ganz wenigen Menschen hatte er davon erzählt. Dieser netten Sanitäterin zum Beispiel... wie hieß sie gleich? Lynn. Nicht ´der gute Samariter´, sondern ´der gute Sanitäter´. Und mit einem Mal wusste er, Lynn war die einzig Richtige, ihn festzuhalten, ihm zuzuhören, ihm Rat zu geben.
Ihre Nummer hatte er bald gefunden. Aber konnte er so einfach anrufen?
Sie meldete sich sofort. "Ja bitte?"
Er räusperte sich, die Worte klebten fest in der Kehle. "Lynn? Ich brauche einen Sanitäter..."
Es verstrich eine kurze Pause. "Hallo? Wer ist denn da? .... Klaus? Klaus, bist du das etwa? Endlich meldest du dich mal...!"

Er atmete erleichtert auf. Es war gut zu wissen, dass es Menschen gab, auf die man sich verlassen konnte. Menschen, die einen nicht sofort wieder vergaßen, wenn man den Kontakt einmal abreißen ließ. Jetzt fiel es ihm gleich leichter, sich mitzuteilen. Doch ohne ins Detail zu gehen bat er sie, möglichst bald zu ihm zu kommen. Wenn er ihr gegenüber saß, würde er die richtigen Worte schon finden.

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Lyn saß ihm gegenüber und hörte geduldig zu. Er hatte in Omas Küche ein leckeres Essen gekocht, hatte den Tisch im Esszimmer mit der besten Tischdecke gedeckt, die er finden konnte und angefangen, zu reden. Doch Lyn hatte ihn unterbrochen.

"Nicht! Warte noch ein bisschen. Lass uns erst in Ruhe essen. Solch ein gutes Essen darf nicht zerredet werden. Das ist auch so eine Unsitte. Sieh nur, dieses Brot hier - sie deutete auf ein Kräuterbaguette, überlege einmal, was da alles drinsteckt. An Arbeit. An Sonnenstrahlen aber auch. Und das Kotelett hier, wir wollen doch nicht vergessen, dass hier ein Tier sein Leben für unseren Genuss geopfert hat!"
Klaus verstand nicht wirklich, was sie meinte, aber es klang gut. "Du hast recht. Danke, dass du gekommen bist, Lyn. Ich brauche dich wirklich."
Sie murmelte einen bescheidenen Dank für seine Worte. "Du hast gut gekocht, Klaus. Schade, dass du so lange nicht von dir hast hören lassen"
Es wollte ihm die Kehle zuschnüren. Das Wasser trat ihm in die Augen. Er legte Messer und Gabel beiseite, nahm einen Schluck Wein. Dann begann er, leise und stockend zu erzählen.

Evelyn wagte es nicht, ihn zu unterbrechen. Sie hatte damit gerechnet, dass es noch einmal um die Begebenheiten im Internat und die Rolle seiner Großmutter ginge, aber mit dem, was Klaus ihr jetzt erzählte, hatte sie nicht rechnen können. Auch sie hatte längst aufgehört zu essen, als Klaus endlich am Ende seiner langen Erzählung angelangt war.
"Ja... und jetzt sitze ich hier und weiß nicht weiter. Ich habe dieses blöde Gefühl, egal was ich mache, es wird verkehrt sein."
"Das weiß man erst, wenn man es gemacht hat! Aber sag mal, du hast wirklich keine Ahnung, wer dieses Mädchen sein soll?"
Er schüttelte nur seinen Kopf.
"Warum hast du denn deine Mutter nicht gefragt?"
Er stöhnte leicht auf. "Lyn, ich weiß es nicht. Sie hatte es zwar schon am Nachmittag auf der Spanischen Treppe gesagt, aber so richtig gehört hatte ich es erst, als ich abends im Zug saß. Erst, als ich etwas zur Ruhe gekommen war."
Sie schob ihr Handy zu ihm über den Tisch. "Hier! Ruf sie an! Frage sie einfach, was das sollte!"
Klaus schüttelte den Kopf. "Nein. Nein, so geht das nicht. Sie wird sagen, ich hätte es mir eingebildet."
"Und dein Vater? Glaubst du, dass er etwas weiß?"
"Ich weiß nicht einmal, wo mein Vater jetzt lebt. Ich war ja noch recht klein, als die Eltern sich scheiden ließen. Mama ging dann recht bald nach Italien, und ich blieb bei der Oma."
"Hast du mal gefragt, warum sie sich scheiden ließen? Irgendeinen Grund muss es doch wohl gegeben haben?" Sie sah ihn aufmerksam an.
"Bestimmt habe ich als Kind öfters danach gefragt. Aber ich glaube, weder mein Vater noch meine Mutter haben jemals was dazu gesagt."
"Hm.... Bleibt wohl nur noch eine Person übrig, die dir etwas über diese Lenchen sagen könnte..."
"Meine Oma! Ja...." Glücklich klang Klaus nicht.

Sie nahmen ihre Gläser, wechselten ins Sofa hinüber. "Sag mal, was ist eigentlich mit diesem Pater? Soll der ungestraft davonkommen?"
"Pater Ruprecht?"
"Ja, den meinte ich. Was ist aus dem geworden?"
"Er hatte damals unsere Schule verlassen. Keine Ahnung, wo der hingegangen ist." Klaus´ Gesicht erstarrte.
"Schon gut. Ich wollte dir nicht wehtun. Aber du siehst ja selbst, das hast du noch längst nicht verarbeitet. Meinst du nicht, es wäre an der Zeit....?"
"...ihn umzubringen?? Glaube mir, Lynn, in Gedanken habe ich es schon oft getan. So ein mieses Schwein wie der eins ist.... Aber natürlich würde ich es nicht tun. Was also soll ich machen, wenn ich ihm mal begegne? Ihm eine scheuern? Natürlich könnte ich ihn anzeigen, aber wer weiß, ob das nicht alles schon längst verjährt ist. Übrigens habe ich ja nicht den blassesten Schimmer, wo er sich aufhält."
"Was weißt du denn überhaupt von dem Mann? Pater Ruprecht, war das überhaupt sein richtiger Name? Wohl kaum. Und welchem Orden gehörte er überhaupt an? Das muss sich doch herausfinden lassen! Hast du mal überlegt, eventuell beim Internat...?"
"Die werden den Teufel tun, und mir persönliche Daten ausliefern. Du weißt doch: Datenschutz! Wenn ich denen keine Polizeimarke auf den Tisch legen kann, rücken die bestimmt nichts heraus!"
Evelyn dachte einen Moment nach. Dann huschte ein leichtes Grinsen über ihr Gesicht. "DU kannst es nicht, nein. Aber jemand anders kann es!"
"Wie jetzt? Und wer soll das sein?" Klaus verstand nicht, worauf Evelyn hinauswollte.
Ihr Grinsen wurde größer. Dann teilte sie ihm ihre Gedanken mit.

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"Schön, dass Sie kommen konnten!" Die Dame hatte ihn nett begrüßt. Klaus wusste nicht recht, welche Funktion sie hatte, aber sie sprach Deutsch, allein deswegen musste man heute schon dankbar sein.
"Ja, tut mir leid, dass es nicht eher ging. Ich war verreist und erfuhr erst vor wenigen Tagen von Großmutters Zustand. Wie geht es ihr denn?"
Seine Gesprächspartnerin blickte ihn an. Lag so etwas wie Mitgefühl in ihrem Blick? "Sie können von Glück reden, dass Sie es noch rechtzeitig geschafft haben. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen: ihre Großmutter wird es nicht mehr zurück nach Hause schaffen. Richten Sie sich auf das Schlimmste ein!"
Das Schlimmste?? Klaus schloss die Augen. Was mochte denn das Schlimmste für i h n sein? Widerstrebende Gefühle tobten in seinem Inneren. Jahrelang hatte seine Oma ihm so etwas wie häusliche Geborgenheit geboten, einen Ersatz für die kaputte Familie. Er hatte lange so etwas wie Liebe und Dankbarkeit für sie empfunden. Bis eben zu jenem Abend im vergangenen Jahr, als ihm klar wurde, welche Schuld die alte Frau auf sich geladen hatte. Eine Schuld, die er ihr nicht vergeben konnte, nicht vergeben wollte.

"Kann ich sie sehen? Auf welchem Zimmer liegt sie denn?"
Die Dame nannte ihm die Zimmernummer. "Bitte..., erwarten Sie nicht zuviel. Ihre Großmutter ist sehr schwach. Meist dämmert sie vor sich hin. Oft ist sie gar nicht ansprechbar. Dann aber hat sie auch wieder klare Momente..."
"Was genau fehlt ihr denn? Gibt es eine Diagnose? Wird sie irgendwie medikamentös behandelt?"
Die Dame blickte auf ihre Hände, die vor ihr auf der Tischplatte ruhten. "Was ihr fehlt? Sehen Sie, Sie sind jung, Sie werden es wohl nicht begreifen. Aber vielen Alten geht es so. Es fehlt der Lebenswille. Irgendein Ereignis führt oft dazu, dass die Leute aufgeben. Meist hat es mit der Familie zu tun. Sie spüren es instinktiv, wenn sie zur Last werden. Sie wissen, es wird Zeit, zu gehen..."
Klaus blickte sie etwas verwirrt an. "Zu gehen? Aber wohin denn...?"
Sie hielt seinem Blick stand, deutete dann mit einem leichten Kopfnicken auf ein kleines Kruzifix, das seitlich von ihr an der Wand hing. "Das weiß wohl nur er, wohin die Reise geht..." Sie schob ihren Stuhl zurück, zögerte dann aber aufzustehen. "Vielleicht wissen Sie, ob bei ihrer Großmutter etwas Ähnliches vorkam? Sie sind ja der erste Angehörige, der zu uns kommt. Aber eine Nachbarin sagte, Ihre Großmutter sei bereits seit dem letzten Jahr so hinfällig geworden?"
"Ich war lange im Ausland!", beeilte Klaus sich zu sagen. "Es tut mit leid, da kann ich Ihnen keine Auskunft geben." Konnte er nun endlich zu ihr gehen?
"Nein, wie sollten Sie auch? Nicht immer hat man so engen Kontakt zu seinen Angehörigen, dass man Genaueres weiß." Sie stand auf. "Kommen Sie, ich begleite Sie!"

Es ging in einen Seitenflur. Das Haus wirkte sauber und gepflegt; es war still. Sehr still. Die Dame blieb vor ihm an einer Zimmertür stehen, klopfte leise an und öffnete dann die Tür. "Frau Meisner? Ich habe Besuch für Sie!"
Klaus trat ein. Ein schlichtes, helles Zimmer. Schmucklos gestaltet. Links an der Wand eines dieser typischen Krankenhausbetten. Darauf eine kleine Gestalt. An der Seite ein Tropf, eine Manschette an ihrem Handgelenk. Ein Schlauch führte ihr Sauerstoff aus einem Anschluss an der Wand direkt in die Nase. Die kleine Gestalt rührte sich nicht. "Oma?"
Klaus versuchte es erneut. Mehrere Male. Aber eine Reaktion blieb aus. "Schläft sie?", fragte er die Dame, die noch an seiner Seite stand.
"Ich sagte Ihnen doch, dass Ihre Großmutter meist gar nicht ansprechbar ist!" Es klang vorwurfsvoll. Hätte sie noch ein Haben Sie denn nicht zugehört? hinzugefügt, es hätte ihn nicht gewundert. "Wissen Sie was? Nehmen Sie sich den Stuhl dort, setzen Sie sich einfach etwas zu ihr ans Bett und erzählen ihr etwas. Was Sie so in den letzten Monaten gemacht haben. Irgendetwas halt. Oder etwas von früher. Was Sie mit Ihrer Oma gemacht haben. Nur... - sie zögerte etwas - erwarten Sie keine Wunder! Also, bleiben Sie ein Weilchen bei ihr und unterhalten Sie sich mit ihr. Und kommen Sie morgen wieder!" Sie ließ ihn allein.
Sollte er von Rom erzählen? Oder lieber von früher? Vielleicht von ihrer großen Liebe? Von jenem Australier, der ihr den Kopf verdreht hatte? Von Monikas Vater? Er wusste nicht, was besser wäre. Ein einziger Blick hatte genügt, nein, seine Oma würde nicht mehr nach Hause kommen. Er nahm ihre Hand, klein und dürr war sie geworden, drückte sie, war da überhaupt noch Leben in dieser Hand? Erwiderte sie gar seinen Druck? Nein. Einzig das rasselnde Geräusch der Sauerstoffanlage zerriss die Stille. Es war unheimlich. Morgen würde er wiederkommen.


München, Mitte August

"Wimmer! Guten Tag. Sie möchten eine Aussage machen?"
Ingeborg Wimmer war etwas verspätet zum Dienst erschienen. Sie hatte schlecht geschlafen, hatte sich im Traum hin und her gewälzt, hatte keine Ruhe finden können.
Ihr Leben hatte sich verändert. Seit dem so unerwarteten Wegzug ihres Chefs und Freundes Bruno Rick - früher hatte er sich gern ´derRick´ nennen lassen, aber das war seit einigen völlig überzogenen Enthüllungen über den früheren Fernsehstar ´gleichen´ Namens jetzt nicht mehr so angebracht - fühlte sie sich rastlos, unausgewogen, gelangweilt. Ihr fehlte seine Dominanz. Falls es diese überhaupt jemals gegeben hatte. Im Grunde genommen hatte sie sich ihm unterworfen, hatte sie ihm freiwillig die Schlüssel zu Keuschheitsgürtel und BH ausgeliefert; sie mochte es so.
War sie, mit dieser psychischen Schwäche, überhaupt noch fähig, den Polizeidienst auszuüben? Durchzuckte es sie nicht jedes Mal wie ein Stromschlag, wenn sie Verdächtige vernehmen musste, denen man Handschellen angelegt hatte? Es war normal, dass diese für ein Verhör abgenommen wurden, sofern nicht mit Gewalt zu rechnen war. Sie aber ließ die Frauen gefesselt, sie empfand oft eine eigenartige Mischung aus Mitleid und Neid. Dieser Blick der zu Vernehmenden, wenn sie merkten, dass sie weiterhin gefesselt blieben!
Professionell war das alles nicht. Aber noch hatte sich niemand beschwert. Noch hatte sie keine roten Linien überschritten. Aber sie wusste, zu weit dürfte sie nicht gehen! Außerdem war sie keine Domme, sondern Sub; zwei Begriffe, die sie erst neulich im Internet gelesen hatte.
Eine Kollegin - die pünktlich erschienen war, hatte sie bereits auf die Anruferin aufmerksam gemacht. Eine Frau sei es gewesen, sie hätte eine Aussage zum Todesfall Daniela Krause machen wollen, die letzten Herbst so tragisch ums Leben gekommen war. Nein, einen Namen oder Rufnummer habe sie nicht hinterlassen. Aber sie wolle zurückrufen.

Die Stimme der jungen Frau brachte sie zurück in die Gegenwart. "Sind Sie die Kommissarin, die den Fall Daniela Krause untersucht?" Sie klang etwas unsicher.
"Ja, das bin ich. Und Sie sind...?"
"Mein Name ist Evelyn Kasulke. Ich bin Sanitäterin...."
Ingeborg Wimmer stutze. Dieser Name....?? "Kasulke, sagten Sie? Habe ich den Namen nicht schon einmal gehört?" Sie hörte ein sympathische Lachen am anderen Ende der Leitung.
"Doch, ja, das kann gut sein. Aber keine Angst: mein Vater heißt nicht Heinz, und er arbeitet auch nicht beim Finanzamt!"
"Ach ja, aus der Radiowerbung. Doch sagen Sie: Sie möchten eine Aussage machen? Hatten Sie etwas beobachtet in der Tatnacht? Sind Sie eventuell dabei gewesen?" Wimmer wusste, dass es nie gut war, eine vermeintliche Zeugin gleich mit mehreren Fragen zu ´löchern´. Aber die ganze Sache hatte schon viel zu lange unaufgeklärt auf ihrem Schreibtisch gelegen, und sie hatte kaum noch mit einer Reaktion auf ihren Fernsehauftritt gehofft.
"Nein."
Wimmer legte den Stift wieder ab, den sie in Erwartung einer wichtigen Aussage schon in die Hand genommen hatte. "Dann hat meine Kollegin Sie sicherlich falsch verstanden? Mir wurde mitgeteilt, Sie wollten eine Aussage machen. Ich nahm an, Sie hätten etwas beobachtet. Warum also rufen Sie an?" Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie etwas enttäuscht klang.
"Nein, Frau Wimmer. Sie haben es nicht falsch verstanden. Nur, es verhält sich anders. Ich kenne eine Person, die Ihnen möglicherweise entscheidend weiterhelfen kann. Eine Person, die an jenem Abend dabei war. Allerdings gibt es da ein Problem..."
Ingeborg unterdrückte einen leisen Fluch. Musste es denn immer Probleme geben, wenn die Leute sich bei der Polizei meldeten? Sie verstand einfach nicht, was mit dem früheren Freund-und-Helfer-Image der Polizei geschehen war. Wann hatte man in der deutschen Gesellschaft einmal nicht aufgepasst, wann hatte sich das Bild des guten ´Schutzmannes´ zum bösen ´Prügelbullen´ so wandeln können?? Manchmal haderte sie mit ihrem jungen Alter; wichtige gesellschaftspolitische Entwicklungen der Bundesrepublik hatte sie nicht mitbekommen, von Stundentenaufruhr und RAF-Terror hatte sie nur noch im Gesellschaftskundeunterricht gehört.
"Ein Problem, Frau... äh...?? Wie war doch der Name?"
Sie hörte ein sympathisches Lachen. "Kasulke. Ja, ich weiß, klingt nicht gerade bayrisch. Meine Familie stammt aus Ostpreußen. Ja, sehen Sie, das Problem ist, ich darf Ihnen den Namen jener Person nicht nennen. Sie wissen schon.... Schweigepflicht. Und ich weiß, nur aus reiner Nächstenliebe wird er sich nicht bei Ihnen melden. Die Frage ist, ob Sie eventuell zu einer kleinen Gegenleistung bereit wären? Eine Auskunft...?"
"Sie verlangen viel, Frau Kasulke. Sagen Sie ihrem Freund, so geht das nicht. Wir sind hier kein Detektivbüro..."
Schweigen. Die Frau zog die Nase hoch, das konnte man hören. Ob ärgerlich oder einfach nur verschnupft, das konnte man nicht hören. "Dann tut es mir leid, Sie belästigt zu haben. Auf Wiederhören..."

"Warten Sie!! Bitte legen Sie nicht auf!" Wimmer beeilte sich, einen anderen Ton anzuschlagen. "Bitte... verstehen Sie, ich möchte diese Sache endlich aufklären. Bis heute sind wir im Unklaren darüber, ob es sich um Mord und Totschlag, oder nur um einen furchtbaren Unglücksfall handelt. Es gibt Indizien, die für das Einwirken einer zweiten Person sprechen." Sie machte eine Pause, musste Luft holen. "Bitte glauben Sie mir, ich habe Ihnen jetzt schon mehr gesagt, als ich es hätte tun dürfen. Sie sind die erste Person, die mir etwas Hoffnung macht."
"Frau Wimmer.... Vielleicht hören Sie sich erst einmal an, wobei Sie helfen könnten. Mein Bekannter sucht eine Person, ein ganz mieses, dreckiges Schwein, das sein Leben zerstört hat. Wie und wann, das kann er ihnen einmal selber sagen, wenn sie ihn treffen. Aber glauben Sie mir bitte, wenn Sie dabei helfen wollen, dann werden Sie einem Verbrecher das Handwerk legen, der sicherlich viele Leben zerstört hat! Bitte helfen Sie meinem Bekannten! Dann wird er Ihnen helfen, da bin ich mir sicher!"
Wimmer zögerte mit ihrer Antwort. So etwas wie das hier hatte sie noch nicht gehabt. Wie sollte sie sich verhalten? Sie sah sich um, aber Brunos Schreibtisch war immer noch verwaist. Die Leitung der Abteilung wurde vorübergehend von einer anderen Abteilung übernommen. "Sprechen Sie! Wobei, meinen Sie, dass ich helfen kann?"
"Mein Bekannter sucht einen ehemaligen Lehrer. Es gab da... in seinem früheren Internat.... Er möchte den Herrn gern wiedertreffen."
"Ein Lehrer?" Kommissarin Wimmer wurde ein ungutes Gefühl nicht los. "Hat er denn schon einmal bei seiner Schule nachgefragt? Um welche Schule handelt es sich denn?"
Evelyn nannte ihr den Namen der Schule.
"Ah, ja, ich habe davon gehört. Das Internat hat einen guten Ruf," antwortete die Beamtin.
"Ja, der gute Ruf.... Er wird nicht ewig Bestand haben," murmelte die Sanitäterin.
"Es dreht sich also um einen Lehrer dieser Einrichtung?"
"Ja... aber mehr noch..." Evelyns Stimme zitterte.
"Mehr noch? Wie soll ich das verstehen? Ich nehme an, dieser Lehrer arbeitet jetzt nicht mehr dort? Und weshalb genau...."
"Das kann mein Bekannter Ihnen selbst sagen!" unterbrach Evelyn sie. "Aber Sie haben recht. Der Mann war nicht nur Lehrer. Er war Bruder...."
"Bruder? Bruder von wem? Von Ihrem Bekannten vielleicht? Ist es eine Familienangelegenheit?"
"Nein, Frau Wimmer. Nein, das ist es nicht. Er war Ordensbruder. So etwas wie ein Mönch. Aber nicht genau dasselbe."
Wimmer hatte aufmerksam zugehört. Ihr ungutes Gefühl verstärkte sich augenblicklich, als sie von dem Ordensbruder erfuhr. Energisch nahm sie ihren Stift wieder zur Hand und schrieb erst den Namen des Internats, dann das Wort Bruder auf ihren Block. "Haben Sie einen Namen für mich, Frau Kasulke? Nachfragen kostet ja nichts!"
"Ja. Ja, natürlich gibt es einen Namen. Pater Ruprecht." Die Anruferin nannte auch den ungefähren Zeitraum der Anstellung des Paters.
"Gut. Ich werde sehen, was sich tun lässt. Aber versprechen kann ich Ihnen gar nichts. Auch wir haben mit dem Datenschutz zu kämpfen! Frau Kasulke? Sagen Sie Ihrem Bekannten, es ist nicht gut, diese zwei Dinge miteinander so zu verknüpfen! Es geht mich nichts an, warum Ihr Bekannter seinen ehemaligen Lehrer sucht, aber ich will hoffen, dass es dabei nicht um die Vorbereitung einer Straftat geht. Also, Lehrer-bashing weil man Latein nicht mochte, das geht nicht. Geben Sie mir ein, zwei Tage Zeit und rufen Sie mich dann wieder an. Sicherlich können Sie dann ein Treffen von mir mit Ihrem Bekannten arrangieren."
Evelyn Kasulke atmete auf. Sie hatte nicht geglaubt, dass es funktionieren würde. Ihr Gedanke, die Kommissarin in Klaus´ Suche nach Pater Ruprecht einzubinden, war eigentlich vollkommen hirnrissig. Aber sie hatte es versucht und sicherlich würde es am Ende gut ausgehen. Und Klaus stünde nun in der Schuld der Kriminalbeamtin; er würde bestimmt dazu beitragen, dass Danielas Todesfall aufgeklärt werden konnte. Sie versicherte der Beamtin noch einmal, dass es nicht um Rache an einem Lehrer ging, bald würde sie den Hintergrund der Suchaktion erfahren. Sie bedankte sich für das Gespräch und legte auf.
24. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 08.12.16 22:57

Wenn Frau Wimmer draufkommt, was es mit dem Pater auf sich hat, werden bei ihr ein paar Glöcklein zu klingen beginnen!
25. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von ev_1 am 09.12.16 08:12

Sehr spannend und bewegend ist auch die Darstellung der Zerissenheit von Klaus/Barbara/Nicole. Daniela wird wohl die geneigten Leser bis zuletzt darüber im Unklaren lassen, wie sich da das Pendel neigen wird...
Und wer sich jetzt einmal den bisherigen Verlauf der Geschichte revue passieren läßt, für den tuen sich einige Handlungsstränge auf:
- die Selbstfindung um Klaus/Nicole,
- die Beziehung zwischen den beiden Beamten,
- das Problem um Ordensbruder Ruprecht,
- was ist dem neu gewählten Pabst (1. Kapitel),
- wird Andrea etwas unternehmen und seinen Schützling wieder zu erhaschen...,
- die familiäre Problemtatik von Klaus/Barbara (Lehnchen, Mama)
- und nicht zuletzt die Aufklärung der tragischen Ereignisse um Daniela aus Teil 3...
26. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 11.12.16 22:00

Schon der 3. Advent!! Kann gar nicht glauben, wie schnell mal wieder die Zeit vergeht. Und dass ich bereits vor sechs Jahren den ersten Teil "Herbstferien" veröffentlicht hatte! Übrigens möchte ich meine Leser, die neu hinzugekommen sind, noch einmal auffordern, die drei ersten Teile ´Herbstferien´, ´Frust´ und ´Agonie´ zu lesen, nur so wird man tiefergreifende Zusammenhänge verstehen können.

Vielen Dank denjenigen, die mitfiebern und mir geschrieben haben! Ich freue mich immer zu sehen, dass die lange Geschichte um Klaus und andere Protagonisten gut ankommt und mehr anregt, als nur.... nun, Ihr wisst hoffentlich, was gemeint ist!
Ich muss darauf aufmerksam machen, dass die nächsten beiden Fortsetzungen möglicherweise nicht, wie üblich, am Sonntagabend um 22 Uhr kommen. Ich habe jetzt, über Weihnachten, einige Dinge, die mich eventuell davon abbringen könnten. Ihr müsst einfach mal schauen, ob es klappt, oder nicht! Jetzt aber wünsche ich für den nächsten Abschnitt gute Unterhaltung!

Eure Daniela 20
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"Du hast WAS gemacht, Lyn? Ohne das vorher mit mir zu besprechen?" Klaus war außer sich. "Du kannst doch nicht einfach...!?"
"Irgendwo musste ja mal ein Anfang gemacht werden!" Evelyn verteidigte sich. "Klaus, nun mal ehrlich: Du hattest doch selbst gesagt, es sei wichtig, in deinem Leben aufzuräumen! Und dieser beschissene Pater gehört ja wohl dazu! Was er mit dir, und sicherlich vielen andern Jungen gemacht hat, das ist eine Straftat. Ich persönlich weiß nun wirklich nicht, was schlimmer ist, Mord oder Pädophilie?"
Klaus hatte sich schon wieder beruhigt. "Also, das ist ja wohl keine Frage! Ist doch wohl glockenklar, dass Mord schlimmer ist!"
"Wie man es so sieht, Klaus. Weißt du, der Ermordete hat es ja, zynisch ausgedrückt, nach der Tat hinter sich. Der Mensch aber, der als Kind von einem Erwachsenen missbraucht wurde, der schleppt das sein ganzes Leben mit sich herum. Der wird NIE wirklich glücklich werden können! Und überhaupt, nur weil diese miesen Kerle ihr verdammtes Sexualleben nicht steuern können! Für mich gehörten die alle lebenslang eingelocht...."
"...oder wenigstens in einen soliden Keuschheitsgürtel und dann Schlüssel wegwerfen!", kompletierte Klaus ihren Satz. "Ja, hast ja recht. Ich habe ja Glück, dass ich es mit dir bequatschen kann, was der da damals im Internat mit mir gemacht hat. Möchte bloß mal wissen, was der dazu sagen würde, wenn man den mal zu fassen bekäme?"
Beide blieben eine Weile still sitzen.
"Vielleicht kannst du es ja bald...?", nahm Evelyn den Faden wieder auf.
Klaus zuckte mit den Schultern. "Vielleicht, Lynn. Bin mir gar nicht so sicher, ob ich den Kerl wirklich wiedersehen möchte. Ich wüsste nicht, ob ich mich dann beherrschen kann."
"Ja. Aber ich glaube trotzdem, du solltest ihn ausfindig machen. Bestimmt ist der immer noch aktiv! Einmal ein Pädo-Schwein, immer ein Pädo-Schwein! Wie lange ist das jetzt her? Tot wird er ja wohl noch nicht sein?"
Klaus rechnete schnell nach. "Es muss jetzt zehn, elf Jahre her sein. Wir waren ja in der Sexta, erste Klasse im Gymnasium. Ja, ist schon gut möglich, dass der immer noch kleine Jungs misshandelt!"
"Siehst du! Allein das reicht doch schon, ihn ausfindig zu machen. Wetten, dass es gelingt, den fertigzumachen?" Evelyn war sich selber nicht so sicher, was genau sie unter fertigmachen verstand. Aber es durfte einfach nicht angehen, dass man weiterhin einfach wegsah.

"Und du glaubst wirklich, diese Kommissarin kann da was rausfinden? Und dass ich mich dann mit ihr treffen soll? Und woher soll ich denn wissen, dass sie es überhaupt ist? Da kann ja jeder kommen...."
"Na, du hast sie doch im Fernsehen gesehen? Ist ja wohl erst einen Monat her! Ich kann ihr ja einfach sagen, sie soll genauso kommen, wie du sie im Fernsehen gesehen hattest. Ich hab die Sendung nicht gesehen, aber das dürfte ja wohl zu machen sein. Also ich sehe da kein Problem."
"Meinst du?" Klaus lächelte. Er hatte immer wieder mal das Bild dieser Kommissarin vor seinem geistigen Auge hervorgeholt. Ein Bild, das ihm gut gefallen hatte: das hübsche Dirndl, das ihre Figur so hervorhob.... und dann - diese breite Kette.... Er hatte sofort gewusst, was für eine Kette es war. Er hatte sie an Daniela gesehen, er hatte sie an Monika gesehen. Und nicht zuletzt an ´Barbara´, beziehungsweise ´Nicole´. "Ja, doch, das ist ein guter Vorschlag! Sag es ihr so! Ich werde ein schönes Straßencafé in der Innenstadt vorschlagen, dort soll sie auf mich warten! Ich bin mir auch sicher, dass ich ihr eine ganze Menge über jenen Abend auf der GeiDi-Gaudi berichten kann. Ich möchte ja auch endlich wissen, wer die Kleine war, die das gemacht hatte!!"

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"Schön, dass Sie heute wieder kommen konnten! Und es scheint, dass Sie diesmal mehr Glück haben!" Es war die übliche Begrüßung, fand Klaus. Aber die Aussicht, seine Großmutter diesmal in wachem Zustand vorfinden zu können, war eine erfreuliche Neuigkeit. Er würde Fragen stellen können, und er würde Antworten erhalten.
Er kannte den Weg jetzt, war er doch inzwischen mehrmals hier gewesen. Leise klopfte er an die in hellem Holz gehaltene Tür, aber als kein lautes ´Herein!´ ertönte wurde er etwas unsicher. Vorsichtig öffnete er, steckte zuerst nur den Kopf ins Zimmer, fast so, als erwarte er eine Art Surprise-Party seiner Oma. Diese aber kam nicht lärmend hervorgesprungen, sie saß auch nicht handarbeitend im Sessel, sondern lag, wie immer, wie ein kleines Bündel Mensch zusammengerollt in ihrem Bett. Die dünne Decke war etwas heruntergerutscht; Klaus nahm sie auf und deckte die schwache Gestalt erneut zu.
Sie rührte sich. Ein schwaches Zittern durchlief ihren Körper. Es folgte ein kurzes, heftiges Schnaufen, dann ein hohles Husten.
"Großmutter??"
Nichts. Hatte sie ihn denn überhaupt gehört? Vielleicht sollte er lauter reden? Aber er scheute sich davor, nahm statt dessen ihre knöcherne Hand mit der fast durchsichtigen Haut in seine Hand und drückte sie vorsichtig.
Diesmal drückte sie zurück. Kaum wahrnehmbar, aber doch... ja, da war es noch einmal. Sie hatte reagiert.
"Großmutter? Wie geht es dir? Bist du wach? Ich bin es, Klaus!"
Ihr Kopf bewegte sich, aber sie hielt die Augen geschlossen. "Bub...."
Tränen schossen ihm in die Augen. ´Bub´, so hatte sie ihn immer genannt. Bis er vor einem Jahr alles, aber wirklich auch alles durcheinander gebracht hatte. Diese Geschichte mit ´Barbara´. Er nahm sein Taschentuch hervor, schneuzte sich; er fühlte sich schuldig.
"Ja, Oma. Ich bin heute zu dir gekommen, um..."
Die Gesichtszüge seiner Großmutter entspannten sich. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. "Magst mich heimholen, Bub?" Ihr Kopf fiel wieder zur Seite.
"Sch....! Streng dich nicht an, Oma! Ja, alles wird gut! Wirst bald wieder nach Hause kommen." Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er blieb eine Weile ruhig sitzen, bemerkte die ruhigen Atemzüge seiner Oma; sie war wieder eingeschlafen.
Eine Pflegerin blickte zur Tür hinein. "Sie schläft! Kommen Sie morgen wieder! Heute wollen wir sie lieber schlafen lassen!"
Klaus stand auf. Fühlte sich zerschlagen. Es war seine Schuld, dass alles so gekommen war. Er spürte den Überlebenskampf seiner Oma; er wusste, dass sie ihn diesmal verlieren würde. Bald stünde er ganz allein da.

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"Haben Sie etwas herausgefunden?" Die leicht aggressive Gesprächseröffnung der Anruferin irritierte Kriminalkommissarin Wimmer. Schließlich hatte sie anderes zu tun, als irgendwelchen Lehrern hinterherzutelefonieren. Es war klar, dass es so nicht ging; sie musste mit einer Gegenfrage antworten.
"Haben Sie mit Ihrem Bekannten gesprochen, Frau Kasulke? Und haben Sie ihm klargemacht, dass ich von diesem Geschachere nichts halte?"
"Ja, das habe ich. Ich muss das übrigens auf meine Kappe nehmen, Frau Kommissarin. Es war meine Idee, nicht seine. Aber glauben Sie mir bitte, sobald Sie mehr darüber gehört haben, werden Sie verstehen, dass es nicht verkehrt von Ihnen war, auf dieses ´Geschachere´ einzugehen."
Es war einfacher gewesen, als sie selber geglaubt hätte. Im Grunde genommen hatte sie nur bei dem katholischen Internat angerufen, sich als Münchner Kommissarin Wimmer ausgewiesen und um einen Namen und eine Adresse gebeten. Nichts einfacher als das. Es war schon leicht unheimlich, wie dienstwillig manche Menschen waren, sobald sie glaubten, es mit der Polizei zu tun zu haben. Normal wäre ein telefonischer Rückruf gewesen, andernfalls könne ja jeder behaupten, bei der Polizei zu sein.
Ja, hatte die Schulsekretärin gesagt, da müsse sie wohl einmal in die Akten schauen... wann genau soll das gewesen sein? Und weshalb bitte...? Wimmer hatte sie unterbrochen und gesagt, darüber dürfe sie keine Auskunft geben... ein laufendes Verfahren, Sie wissen schon... Es hatte einige Zeit gedauert, bis die Sekretärin zurück ans Telefon kam. Ja, das stimmt, hier habe sie ihn. Ein Pater, der kurzfristig einen krankgemeldeten Kollegen ersetzt hatte. Latein habe dieser unterrichtet. Das sei 2002 gewesen, also schon ein paar Jahre her. Nein, eine Adresse habe sie leider nicht, wohl aber den Namen.... Pater Ruprecht Monaci, PDF... was auch immer das heißen möge. Wahrscheinlich sein Orden... oder aber auch nicht. Wenn sie wolle, dann würde sie mal bei den damaligen Lehrerkollegen nachfragen, ob jemand wisse, was aus ihm geworden sei? Ja? Kein Problem, hatte sie gesagt, der Polizei helfe man doch gern.

Natürlich hatte Ingeborg Wimmer sogleich in den Unterlagen des Münchner Melderegisters nachgesehen, hatte ihre Suche schließlich auf halb Bayern ausgedehnt, aber nichts gefunden. Auch der Zusatz PDF hatte rein gar nichts ergeben. Eine Anfrage lief noch beim Erzbischof, aber sie hatte wenig Hoffnung auf Erfolg.
"Vielleicht haben Sie recht, Frau Kasulke. Es ist Ihnen hoffentlich klar, dass ich ohne einen begründeten Anfangsverdacht keine Ermittlungen aufnehmen darf. Ich komme in Teufels Küche, wenn wir hier mit polizeilichen Maßnahmen einem unbescholtenen Bürger hinterher..."
Evelyn Kasulke unterbrach sie. "Da können Sie ganz beruhigt sein, Frau Wimmer. Aber von ´unbescholtenem Bürger´ kann hier wirklich keine Rede sein! Sie werden es erfahren, wenn Sie sich mit meinem Bekannten treffen. Also Sie haben etwas herausgefunden?"
Viel war es nicht, aber Wimmer entschied sich, die Sache weiter zu verfolgen. "Ja, das habe ich. Wie geht es nun weiter? "
Evelyn schlug das Straßencafé und einen Zeitpunkt vor, den Klaus ihr genannt hatte. "Das klingt ja reichlich konspirativ, Frau Kasulke. Warum so kompliziert?"
"Ach, nur so. Was soll man denn in einem muffigen Büro sitzen, wenn man es genauso gut draußen machen kann. Verstehen Sie, es werden Dinge zur Sprache kommen, die nicht einfach so genannt werden können. Es bedarf einer gewissen Atmosphäre, einer Möglichkeit, wegzulaufen, wenn es zu schlimm wird. In Ihrem Büro wird das nicht gehen...."
Ingeborg Wimmer hatte so langsam Lust, den Hörer aufzulegen und alles als dummes Getue abzufertigen. Aber sie hatte nur diesen einen Zeugen. "Also gut. Ich werde da sein."
"Danke. Danke für Ihr Vertrauen, Frau Wimmer." Das klang ehrlich. "Aber mein Bekannter hat da noch ein ganz kleines Problem..."
Noch ein Problem!! "Und das wäre?"
"Er kennt Sie ja nur von dieser Fernsehsendung. Und hat irgendwie Angst, er könnte an die falsche Person geraten. Deshalb bittet er Sie, sie möchten bitte genauso kommen, wie er sie im Fernsehen gesehen hat. Dann wird er Ihnen Rede und Antwort stehen. Ich weiß, er wird Licht in den Fall bringen können!"
"Wie bitte? Was soll ich??" Spätestens jetzt glaubte Wimmer an einen derben Scherz. Versteckte Kamera, oder so etwas.
"Ja, bitte! Ist das ein Problem? Ich hoffe, Sie wissen noch, was Sie in der Sendung angehabt hatten! Also, viel Glück, Frau Wimmer. Ich habe nun nichts mehr damit zu tun.... ich bin raus, wie man so schön sagt. Und noch einmal danke, dass sie mitmachen!" Aufgelegt.

Wimmer saß da, den Hörer noch in der Hand. Das laute Tuten schien sie gar nicht zu hören. ´Genauso... wie .... in ... der ... Sendung?´ Oh ja, sie wusste noch, was sie an dem Abend getragen hatte. Nein, nein, das war ja total verrückt. Ohne sie! Da würde sie nie mitmachen! Niemals!

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Der Rückruf der Sekretärin kam völlig unerwartet. "Ja, Wimmer am Apparat. Schön, dass Sie zurückrufen. Ich darf davon ausgehen, dass Sie Neuigkeiten für mich haben?"
"Nun ja, Neuigkeiten. Ich hatte Ihnen ja gesagt, ich wollte mich einmal bei einigen der Lehrer umhören, die damals schon im Kollegium waren."
"Ja, das sagten Sie..." Wimmer hatte schon wieder ihren Bleistift zur Hand genommen. Wenn sie etwas wirklich nervte, dann waren es Leute, die einfach nicht zu Potte kamen, wie man so schön sagte.
"Und stellen Sie sich vor, ich habe tatsächlich Glück gehabt!" Pause.
Erwartete die dumme Kuh jetzt gar ein Lob von ihr?? Oh, bitte, nicht das...! "Was Sie nicht sagen! Also deswegen rufen Sie an. Da bin ich mal gespannt. Haben Sie eine Adresse für mich?"
"Ach, nein, da muss ich Sie jetzt aber doch enttäuschen. Eine Adresse habe ich leider nicht für Sie..."
Gleich würde sie ihr die Augen auskratzen, dachte Wimmer. Leise stöhnte sie auf. Leider nicht leise genug.
"Oh, ist Ihnen nicht gut? Soll ich lieber ein andermal anrufen?" Hörte man so etwas wie Mitgefühl heraus?
Langsam wurde ihr klar, warum sie nie Lust gehabt hatte, Sekretärin zu werden. Dieses Ich-bin-wichtig-Getue. Diese Arroganz. Dennoch zwang sie sich, höflich zu bleiben. "Nein, nein, es geht schon. Kein Problem. Was haben Sie denn nun herausgefunden? Ich bin mir sicher, es wird meine Arbeit merkbar erleichtern!"
Es half. Die Sekretärin war zufriedengestellt. Sie kritzelte die Information nieder, stockte dann aber. Das hier wurde mysteriös. Ein Wortspiel fiel ihr ein... Die Spatzen pfeifen´s von den Dächern! Sie würde ihren Suchradius erweitern müssen. Und sie würde zu diesem Treffen mit dem angeblichen Zeugen gehen müssen. Sicherlich nur ein Trittbrettfahrer, dachte sie. Jemand, der sie im Fernsehen gesehen hatte und nun auf ein date mit ihr hoffte. Irgendso ein verklemmter Typ. Oder doch nicht??

% % %

Nervös sah sie auf ihre Uhr. Hatte sie sich verspätet? Sie hatte einen der Tische vor dem Café genommen, ganz so, wie es gewünscht worden war. Und sie war über ihren eigenen Schatten gesprungen. Wirklich wohl fühlte sie sich nicht. Das Mieder schien seit dem letzten Monat enger geworden zu sein, ihr Rock wurde ab und zu von einem Luftzug angehoben; sie glättete ihn jedes Mal so gut es ging.

Nein, verspätet hatte sie sich nicht. Sie war sogar eine Viertelstunde eher gekommen, und jetzt war bereits eine halbe Stunde vergangen. Der Zeuge, mit dem sie sich hätte treffen sollen, war noch nicht erschienen. Nun ja, konnte ja vorkommen.
Verstohlen sah sie sich um. Der Mann dort hinten, einige Tische weiter, hatte sie immer wieder unverhohlen angesehen. Aber war das mehr als nur der Blick eines notgeilen Mannes gewesen? Würde er gleich aufstehen und sich zu ihr setzen? Nein. Er blieb sitzen.
Wartete sie überhaupt auf einen Mann? Die Sanitäterin, die bisher den Kontakt hergestellt hatte, hatte von einem Bekannten gesprochen. Aber vielleicht hatte sie ein wenig gelogen, um die Identität des Zeugen oder der Zeugin zu schützen??
Sie hatte sich auf das Treffen vorbereitet. Hatte im Präsidium noch einmal die Akten der ersten Zeugenvernehmung durchgelesen. Wovon hatten die Garderobefrauen gesprochen? Richtig! Von einer Auseinandersetzung, die das Opfer noch gehabt habe. Sogar einen Namen wusste man: Barbara. Aber man hatte diese Barbara nie ausfindig machen können. Wie vom Erdboden verschwunden...
Wimmer hatte sich ihre Gedanken gemacht. War diese Barbara eventuell die gesuchte Zeugin? Ihre Theorie war nicht von der Hand zu weisen. Sie sah sich um. Einzelne junge Frauen waren nicht zu sehen. Wohl aber schräg hinter ihr, da saßen zwei Frauen. Vielleicht die Sanitäterin mit dieser Barbara??
Aber nichts geschah. Niemand kam, niemand gesellte sich zu ihr.
Wie lange sollte sie noch warten? Sie fühlte sich unwohl in ihrem Dirndl. Exponiert. Gut, ja, Dirndl waren nun wirklich nichts Ungewöhnliches hier in München. Immer wieder sah man Frauen im Dirndl. In der Regel waren es nicht mehr so ganz junge Frauen, oftmals Bedienungen in den typischen Gaststätten; die Gäste erwarteten einfach das bayrische Ambiente, insbesondere Gäste aus Übersee, Japaner und Chinesen hatten den US-Amerikanern schon längst den Rang abgelaufen. Und spätestens ab September sah man dann verstärkt auch junge Frauen im Dirndl, dann, wenn die Hochsaison von Oktoberfest und GeiDi-Gaudi wieder begann.
Dieses verrückte Sauf-Fest!! Ihre Gedanken wanderten ab. Letztes Jahr hatten sie und ihr Chef geglaubt, der Täter würde sich eventuell auf einem der nachfolgenden Feste noch einmal blicken lassen. Sie war auf Brunos Bitten hin als Under-cover-Agent zur GeiDi-Gaudi gegangen. Hatte sich einen langen Abend um die Ohren geschlagen, an dem nichts passiert war. Außer ein wenig Busen- und Pograpschern. Harmlos war es gewesen. Und dieser teuflische Vibrator, den sie bei dem toten Mädchen gefunden hatten, und den sie bei sich hatte, war nicht ferngesteuert zum Leben erwacht.
Ein Junge näherte sich ihrem Tisch. Sie schenkte ihm keine Beachtung, ein zwölfjähriges Kind würde wohl nicht der erwartete Zeuge sein. Der Junge ging zur Tür des Cafés, sie verlor ihn aus den Augen, dann aber hörte sie schnelle Laufschritte, er schoss an ihr vorbei, legte in aller Eile ein Papier auf den Tisch.... schon war er in der Menge verschwunden.

Was war das? Einen Augenblick hatte sie Angst, er könnte es auf ihr Handy abgesehen haben, dann aber sah sie den Zettel. Er war beschrieben... eine Botschaft für sie?? Sie faltete ihn auseinander. Sie sollten doch genauso kommen, wie in der Fernsehsendung! Sind Sie aber nicht! So wird das nichts! Meine Bekannte wird Sie anrufen....! Was war das jetzt? Es war klar, der Junge hatte nur diese Botschaft überbracht, ihn brauchte sie nicht zu suchen. Wahrscheinlich hatte man ihm fünf Euro in die Hand gedrückt, wenn er mal einen Zettel ablieferte.
Aber jetzt sah sie ein, dass man sie beobachtet hatte. Nur... wieso sollte sie nicht so gekleidet sein, wie bei der Fernsehsendung? Langsam wurde ihr das doch alles zuviel! Sie bezahlte und machte sich auf den Heimweg.


München, Ende August

"Langsam, junger Mann! Geben Sie Ihrer Großmutter Zeit! Sie sehen doch, sie berappelt sich so allmählich! Sie werden sehen, nächstes Mal wird sie mit nach Hause wollen!" Die Pflegerin hatte ihm Mut gemacht. Oder hatte sie ihm doch nur etwas vorgeschwindelt? Wie stand es wirklich um die Gesundheit seiner Großmutter?

Klaus hatte sie in den letzten Tagen immer wieder besucht, hatte wahre Engelsgeduld bewiesen, wohl wissend, dass alles auf der Kippe stand. War sie zu Beginn kaum ansprechbar gewesen, so wurden ihre klaren Momente in den letzten Tagen immer häufiger; die alte Dame gab eindeutig Lebenszeichen von sich. Schließlich begann sie zu sprechen, ein schwaches Flüstern nur, aber, wenn er sich Mühe gab und sich dicht zu ihr hinunterbeugte, doch einigermaßen zu verstehen.
Er konnte es bald nicht länger hinauszögern. Er musste es jetzt wissen, wer diese Lenchen sein sollte. Immer wieder hatte er im Geist die Worte seiner Mutter gehört, dieses Willst-du-mich-auch-umbringen?, hastig hatte sie es hervorgestoßen, es musste wirklich geschehen sein, aber in seiner Erinnerung war nichts außer schwarzer Leere, verborgen hinter einer Mauer, die er beim besten Willen nicht übersteigen konnte.
Er hatte ihr wieder einmal von Italien erzählt, von jenem Bella Italia, welches er selber nie gefunden hatte. Als kleines Kind schon war er mit den Eltern nach Rom gekommen, es war keine glückliche Zeit, er erinnerte sich dunkel an Wortgefechte, Türenschlagen, leere Weinflaschen. Bis der Vater sie verlassen hatte, nach München zurückgezogen war und die Scheidung eingereicht hatte. Danach hatte er den Kontakt zum Vater gänzlich verloren. Und ihn auch nicht wieder aufgenommen, als er selber, um in Deutschland eingeschult zu werden, zu seiner Oma nach München zurückgekehrt war.

Ein Monolog, dachte er. Das ist doch ein ganz verdammter Monolog. Manchmal sah er die Oma lächeln, wenn er von schattigen Parks und blühenden Orangenbäumen erzählte, aber es war ein stilles, ein verborgenes Lächeln. So, als käme es bereits aus einer anderen Welt zu ihm hinüber.
Er wusste, von Italien hatte die Oma immer geschwärmt, aber sie war nie hingekommen. Damals nicht, als die Jahre nach dem verlorenen Krieg wieder gut, die Welt wieder heile wurde, als sie, wie sie erzählt hatte, mit wehendem Petticoat auf ihrem Heinkel Tourist Motorroller ganz Bayern erkundet hatte, und später auch nicht, als sie mit der kleinen Tochter allein saß, weil ihr Verlobter, ein amerikanischer Soldat, abgezogen und versetzt worden war. Vietnam? Klaus wusste es nicht mehr; es war auch egal.

Er nahm sich ein Herz. Jetzt oder nie, dachte er. Seine Großmutter wirkte entspannt und zufrieden, sie würde ihm sagen können, was er wissen wollte.
"Oma? Ich muss dich etwas fragen. Sag mir bitte, was weißt du von Lenchen? Mutter hatte ihren Namen erwähnt, als ich bei ihr war."
Er wartete. Lauschte ihren ruhigen Atemzügen; sie war wieder eingeschlafen.
Es war Zeit, zu gehen. Im Moment lief wohl alles schief.

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"Frau Wimmer? Ja, es tut mir leid. Ich soll Sie grüßen.... mein Bekannter konnte leider nicht zum vereinbarten Treffen mit Ihnen kommen."
"Er ist hoffentlich nicht krank geworden?" Die Kommissarin bemühte sich, ihrer Stimme ruhige Gelassenheit zu geben. Sie wusste, es war eine Lüge. Oder aber die Sanitäterin wusste es wirklich nicht besser.
"Nein. Nein, es war ihm etwas dazwischengekommen. Und er lässt Sie fragen, ob Sie eventuell noch einmal Zeit für ihn hätten?"
Ingeborg Wimmer antwortete nicht. Sie hatte lange darüber nachgedacht, inwiefern sie zum ersten, missglückten, Treffen nicht dasselbe getragen hatte, wie bei der Aufzeichnung fürs Fernsehen. Bis es ihr schließlich eingefallen war. Die Kette!
Die breite, silbern glänzende Kette! Man hatte sie wegen störender Reflexe extra abdecken müssen. Die Kette für ihren Keuschheits-BH.
"Frau Wimmer? Sind Sie noch da?"
"Ja, entschuldigen Sie bitte. Ich war kurz abgelenkt. Ich...., ja...."
"Schon okay!"

Plötzlich fiel ihr etwas ein. "Frau Kasulke? Sagen Sie, sagt Ihnen die Abkürzung PDF etwas? Können Sie damit etwas anfangen?"
"PDF? Pädofil vielleicht?"
"Nein. Nein, ich glaube nicht. Schreibt sich ja auch mit ph, nicht wahr? Sonst wissen Sie also auch nichts?"
"Nein, nicht wirklich. Worum handelt es sich denn? Es gibt so ein Schriftformat für PCs, die pdf-Dokumente. Könnte es das sein?"
"Ja, vielleicht. Vielleicht ist es das. Dankeschön." Sie wollte sich keine Blöße geben. Sie würde schon noch herausfinden, was dieser Zusatz hinterm Namen von Pater Ruprecht Monaci bedeutete.
"Also...?" Die Sanitäterin drängelte etwas.
"Also.... was?"
"Werden Sie meinem Bekannten eine weitere Chance geben? Er ist sehr gespannt zu hören, was Sie herausgefunden haben!"
"Frau Kasulke! Ja, ja ich werde noch einmal zu jenem Café kommen! Aber teilen Sie Ihrem Bekannten doch bitte mit, es geht bei diesem Treffen nicht in erster Linie darum, was ich über einen ehemaligen Lehrer herausgefunden habe, sondern welche Zeugenaussage er bei mir machen kann. Die ganze Sache ist schon verrückt genug und ich bewege mich hier am Rande der Legalität!"
"Legalität?" Evelyn Kasulke lachte heiser auf. "Wer glaubt denn heute noch, dass die Untersuchungsbehörden wirklich legal arbeiten? Oder haben Sie noch nichts von Edward Snowden gehört?"
"Doch, Frau Kasulke, das habe ich. Aber wir sind hier nicht bei der NSA, sondern bei der Münchner Kripo! Vergessen Sie das bitte nicht! Unser Rechtstaat beruht auf demokratischen Prinzipien, was drüben in den Staaten gemacht wird, das vermag ich nicht zu beurteilen. Vergessen Sie nicht, wir leben in einer Welt völlig durchgeknallter Extremisten, ein Menschenleben bedeutet für die rein gar nichts. Und mir persönlich ist es lieber, man greift diese Leute auf, bevor sie ihre mörderischen Pläne in die Tat umsetzen, und von mir aus mittels ungesetzlichen Abhörens! Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte! Teilen Sie ihrem Bekannten mit, ich werde für ihn da sein. Aber ich werde nicht ewig warten! Guten Tag!"

Sie knallte den Hörer ihres Dienstapparates heftiger auf die Gabel, als sie es gewollt hatte. Aber sie hatte sich in Rage geredet, war wütend geworden, wütend auf.... auf..... eigentlich auf alle! Wie alle Polizeibeamten wünschte sie sich, auch nur einmal Unrecht, Mord und Totschlag verhindern zu können. Aber immer rief man sie erst, wenn es zu spät war, wenn Menschen wegen lumpiger Beträge ermordet wurden, wenn Frauen aus sexistischen Gründen erdrosselt wurden, wenn Kinder angebliche Treppen heruntergefallen waren. Ein Verbrechen aufzuklären mochte eine schöne Sache sein, aber es befriedigte sie eigentlich nie. Eines wenigstens einmal verhindern zu können, das wäre etwas, das würde sie glücklich machen. Einmal so einem Wichser die Kanone vor die blutige Fresse halten und Come on, make my day! rufen zu können...

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"Und du glaubst wirklich, dass sie etwas für mich hat?" Klaus und Evelyn hatten es sich im Garten seiner Oma gemütlich gemacht. Ganz in der Nähe jenes Apfelbaums, in dessen Zweigen er sich vor gut zwei Jahren versteckt hatte. Seine unkontrollierte Neugier hatte ihn letzten Endes an den Rand des Abgrundes gebracht. Immer noch sah er die Buchstaben vor sich, geschrieben mit leuchtend rotem Lippenstift, wie er vermutete, auf den Allerwertesten eines so gut wie hilflosen Mädchens: 18.15 St. PP. Das Mädchen war Daniela, die damals ihre Herbstferien bei der Tante in München verbrachte und allzu schnell ein Opfer für Monikas bizarre Spielchen geworden war. Monika, die Nachbarstochter, die auf der Suche nach ihrem Vater nach Australien gereist war, und Daniela, die auf der Flucht vor ihm zu Tode gekommen war.
Alles wäre anders gekommen, wäre er damals nicht in den Apfelbaum geklettert, dachte er. Und es schauderte ihn.
"Ja, ich glaube, sie hat etwas für dich. Aber sie hatte mir auch aufgetragen, dich noch einmal darauf aufmerksam zu machen, dass nicht das, was sie für dich tun kann, wichtig ist, sondern das, was du für sie tun kannst! Vergiss das bitte nicht!"
"Don´t ask what your nation can do for you, but ask what you can do for your nation!", murmelte Klaus.
"Was??" Lynn wirkte irritiert.
"Nichts. Kennedy..."
"Wer...?"
"Nichts", antwortete er nun seinerseits leicht gereizt. Es war kaum zu glauben, dass es jetzt schon Leute gab, die nicht auf Anhieb wussten, wer Kennedy gewesen war. Nun ja, er hatte sich immer für Geschichte interessiert, das war ja nicht jedermanns Sache. "Ja, schon gut. Aber ich darf ja wohl hoffen. Und natürlich werde ich der Beamtin auch dabei helfen, diese schreckliche Sache mit Daniela aufzuklären. Viel gesehen habe ich ja nicht, aber vielleicht gibt es ja andere Zeugenaussagen, und vielleicht kommt so das fehlende Puzzleteil hinzu." Er schwieg. Wenn doch bloß schon alles vorbei wäre! Er wollte alles hinter sich lassen, ein Studium beginnen, Erzieher oder so etwas in der Richtung, irgendetwas Nettes mit Kindern.
"Hauptsache du schaffst es, diesmal rechtzeitig dort zu sein. Ich glaube, die gute Frau zweifelt schon so langsam an dieser ganzen Sache hier. Wenn es wieder nicht klappt, dann kann ich auch nichts mehr tun." Sie trank einen Schluck Cola. "Sie will auf jeden Fall wieder in das Café kommen." Sie wechselte das Thema. "Sag mal, wie sieht es denn mit deiner Oma aus? Geht es ihr langsam besser? Hast du sie schon fragen können?"

Klaus blickte zur Seite. Seine Großmutter. Da hinten im Zaun, das war wohl die Stelle, an der George, oder Schorsch, wie sie ihn immer genannt hatte, immer hindurchgeschlüpft war. Ein unschuldiger Garten, dachte er. Aber gab es überhaupt ´unschuldige´ Orte? In Frankreich, dort an der Kanalküste, konnte man dort jetzt nicht am Strand liegen und die Sonne genießen? Dort, wo am 6. Juni 1944 tausende von Soldaten ums Leben gekommen waren? Und würde es ewig so weitergehen? Würden die Menschen immer wieder friedliche Gegenden in Schlachtfelder verwandeln?
"Klaus??"
"Äh, ja. Entschuldige... ich hatte nachgedacht. Die Oma? Ja, ich habe sie gefragt..." Er wirkte immer noch leicht abwesend.
"Ah, gut. Was hat sie denn geantwortet? Ist sicherlich alles nur ein dummes Missverständnis?" Evelyn hatte sich ein wenig zu ihm hinübergelehnt.
"Nichts, Lyn. Sie hat gar nichts geantwortet. Sie war wieder eingeschlafen.... sicherlich bevor sie meine Frage überhaupt gehört hatte." Er zuckte ratlos mit den Schultern.
Evelyn fiel zurück in ihre vorherige Haltung. "Oh, Mann, das tut mir leid. Du musst halt Geduld mit ihr haben!"

"Geduld! Geduld!" Klaus war aufggesprungen, hatte seinen Stuhl umgeworfen. "Immer soll ich Geduld haben! Aber ich habe keine Geduld mehr! Da behauptet meine Mutter, ich hätte jemanden umgebracht. Aber mehr sagt sie nicht. Sie hätte es nie gesagt, hätte ich sie da auf der Spanischen Treppe nicht so angerempelt! Es war ihr ja so rausgerutscht. Hinterher tat sie dann so, als hätte ich mich verhört!" Er wendete sich ab, wollte ihr nicht sein Gesicht zeigen. "Nein, Lyn, ich habe keine Geduld mehr! Es reicht mir jetzt! Ich werde meine Oma fragen, nächstes Mal, und wenn ich sie aus dem Tiefschlaf wecken müsste! Es reicht jetzt.... ich kann nicht mehr!"

Die junge Frau war unangenehm berührt. Sie überlegte, ob sie aufstehen und ihn trösten sollte, aber sie blieb sitzen. Sie wusste, es war nicht die Zeit für Trost. Jetzt war der dies irae angebrochen, der Tag des Zorns. Er würde all seine Kraft und mentale Energie brauchen, ihn zu bestehen.

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"Na, junger Mann, heute haben Sie aber wirklich Glück! Ihre Großmutter ist wach und scheint einigermaßen bei Kräften zu sein. Trotzdem - sie hob mahnend einen Zeigefinger - trotzdem denken Sie daran: hier heißt es immer Morituri te salutant! Die Totgeweihten..."
"Danke!," gab er unwirsch zurück. "Ich brauche keine Übersetzung. Soviel verstehe ich auch noch! Lassen Sie mich doch in Ruhe mit Ihren dämlichen Sprüchen!" Es tat ihm leid im selben Moment, wo er es gesagt hatte. Er schien wirklich am Ende seiner Kräfte angekommen zu sein. Außerdem irrte er zur Zeit richtungslos durch sein Leben, einige Male hatte er schon an Schlimmes gedacht. Du musst nur einen Schritt tun, oder einen Sprung, es ist so leicht. Aber noch schaffte er es nicht, noch rang er mit sich selbst, noch schien es ihm wichtiger, einen anderen Schritt zuerst zu tun. Heraus aus dem Sumpf, aus dem Dunkel.
Er hatte sich wieder im Griff, klopfte leise an die Zimmertür seiner Großmutter. Diesmal gab es, sehr überraschend, sogar eine schwache Antwort.
Er öffnete, seine Großmutter hatte sich etwas aufgesetzt. "Bub!"
Er setzte sich an ihr Bett. Wusste nicht, wie er anfangen sollte.
"Bist wieder da, ja?" Sie lächelte ihn an. "Wo bist du nur so lange gewesen?"
Er sah sie lange an. Ihre Augen sahen müde aus, schienen seinen Blick nicht aufzufangen. "Aber Oma, ich bin doch fast jeden Tag hier bei dir gewesen, seit ich aus Rom zurückgekommen bin!"
"Rom..." hauchte sie. "Christl.... Was macht meine Christl? Geht es ihr gut? Erzähl doch ein bissl..."
Also erzählte er auf ein Neues. Berichtete von seiner Mutter und von Spaziergängen in römischen Parks, die er nie gemacht hatte, weil er die meiste Zeit bei Andrea wie ein Sklave gehalten wurde. Er sah, dass es seiner Großmutter gut tat. Aber er sah auch, dass die normale Besuchszeit bald wieder zu Ende ging. Er musste es jetzt wissen.
"Großmutter, ich muss dich jetzt etwas fragen. Mutter hatte so komische Andeutungen gemacht...." Die alte Dame lag wieder ruhig da. Aber sie war wach. "Wer ist Lenchen? Oder Lena?"
Er erschrak. Seine Großmutter hatte sich wieder aufgerichtet. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. "Lenchen....," stieß sie mühsam hervor. "Du hast sie....." Sie sank zurück auf ihr Kissen, ein kleines Bündel Mensch nur noch. Sie griff sich ans Herz. "....tot....", murmelte sie noch, dann verlor sie das Bewusstsein. Klaus beeilte sich, einen Arzt zu finden, dann verließ er die Klinik.
27. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 13.12.16 18:47

Der arme Klaus!
Ich wundere mich schon darüber dass er nicht schon früher sein Leben weg geworfen hat! Hoffentlich hilft ihm Frau Wimmer!
28. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von ev_1 am 15.12.16 08:22

Wirklich brisant wird es vermutlich, wenn die Geschichte um Lehnchen (mit der uns Daniela hoffentlich nicht bis zuletzt auf die Folter spannt...)aufgedeckt wird. Vielleicht kommt dann zu seinen unbewältigten Erlebnissen im Internat noch etwas obendrauf, was bei ihm noch mehr Schuldgefühle auslöst. In Klaus´ seiner Haut möchte wohl niemand stecken...
29. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 19.12.16 19:06

Endlich geht es weiter, liebe Leser! Tut mir leid, dass ich es gestern nicht geschafft hatte; eine mehrstündige Shoppingtour mit anschließendem Delirium hatte dem entgegen gestanden. Ich hoffe, das Lesen macht auch heute noch Spaß!!
So will ich nun allen eine schöne letzte Adventswoche wünschen. Ich hoffe, es am kommenden Sonntag zu schaffen, vielleicht aber schon am Heiligabend, da werde ich zumindest vormittags besser Zeit haben. Schaun mer mal!! Es grüßt Euch ganz herzlich Eure Daniela 20. Und danke für Eure Zuschriften!! Freue mich wirklich über jeden Kommentar!!
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München, Anfang September

Ihr war schlecht. Ingeborg Wimmer stand nackt vor ihrem Spiegel, neben ihr lag ein wirrer Haufen metallener Gegenstände. Sie hatte es versucht, hatte alles angezogen, hatte ihre Scham wieder mit dem stählternen Gürtel verschlossen, den Zugang zu ihren Brüsten mit den soliden Halbschalen versperrt, hatte sogar die Schenkelbänder angelegt und die kurze Verbindungskette eingehängt. Und hatte alles wieder ausgezogen.

Angewidert betrachtete sie das Dirndlkleid, welches sie schon am Abend zuvor zum Lüften rausgehängt hatte. Nein, es war einfach nicht ihre Welt. Bisher hatte sie es immer nur unter Protest angezogen, auch wenn es nur ein stiller Protest gewesen war, hatte sie sich nur dem Willen ihres Chefs gebeugt.
Bruno Rick. Der auch ihr Keykolder war.
Gewesen war, korrigierte sie sich.
Jetzt aber war alles anders. Es gab keinen Keyholder mehr. Und es gab niemanden mehr, der - nur weil er ihre Schlüssel besaß - immer die besseren Argumente auf seiner Seite wusste.

Aber es gab jenen ominösen Zeugen, diesen Mann - oder diese Frau?? - der das erste Treffen hatte platzen lassen, weil sie nicht genauso angezogen gekommen war, wie sie es bei der Fernsehsendung gewesen war. Die Kette hatte gefehlt.
Oder war es mehr als nur die Kette? Wusste die Person, dass es sich um eine Kette handelte, die sie nicht abnehmen konnte? Weil es die Haltekette ihres Keuschheits-BHs war, zu dem sie keinen Schlüssel besaß? Wer aber konnte das wissen?

Immer wieder hatte sie sich den Moment im Fernsehstudio in Erinnerung gerufen. Diese Fernsehtussie, die ihre Kette eingecremt hatte? Hatte sie nicht ein wenig an der Kette gezogen, hätte sie nicht merken können, dass es alles andere als eine hübsche Halskette war? Konnte es eventuell diese Frau sein, die ein Treffen mit ihr wünschte?
Nein, Quatsch. Das ergab gar keinen Sinn. Für wen sollte dann die Nachfrage bei der Schule sein? Ein reines Jungeninternat. Oder doch? Konnte es diese Barbara sein, die von Zeugen beschrieben worden war? Nein, das war jetzt reine Spekulation. Sie würde warten müssen bis zum Nachmittag. Bis sie sich mit der Person traf.
Sie würde ein Opfer bringen müssen. Um der Sache willen.

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Klaus hatte sich einen Tisch ausgesucht, von wo aus er einen guten Teil der Fußgängerzone überblicken konnte, in welcher das Café lag. Aber er hatte seine Gedanken nicht unter Kontrolle.

Immer wieder glitten sie ab, immer wieder hörte er die Großmutter mit letzter Kraft tot ausstoßen, bevor sie die Besinnung verloren hatte.
Mehrmals hatte er in den letzten Tagen bei der Klinik angerufen; seine Oma war nicht ansprechbar. Es ginge jetzt wohl langsam zu Ende, so hatte man ihm beschieden. Zu Ende... zu Ende...!! Was bedeutete das? Es durfte nicht einfach so zu Ende gehen! Seine Großmutter konnte die furchtbare Wahrheit doch nicht einfach so mit ins Grab nehmen! Er hatte also tatsächlich jemanden umgebracht! Eine Erkenntnis, die erneut alle Lebensenergie aus ihm herausgesogen hatte. Nein, mit Danielas Tod hatte er nichts zu tun gehabt, so hatte er sich immer wieder getröstet. Vielleicht hätte er sie retten können... Aber jetzt wusste er, er hatte einen anderen Menschen auf dem Gewissen: Lenchen! Aber er wusste nicht, wer diese Lenchen war.

Endlich erwachte er aus seiner trübsinnigen Grübelei. Sie kam, die Kommissarin kam tatsächlich und setzte sich gar nicht weit von ihm entfernt, an einen Tisch. Leider so, dass sie ihm den Rücken zukehrte. War sie diesmal auf seinen Wunsch eingegangen? Er beschloss, ein wenig zu warten. Vielleicht würde sie sich einmal umdrehen.

Ingeborg Wimmer versuchte ihre Nervosität mit einer Zigarette zu unterdrücken. Gierig sog sie den Rauch in ihre Lungen, ließ das Gift seine Wirkung tun; es half. Sie kam sich deplaziert vor. Was komisch war, denn jetzt, Anfang September, war längst wieder die übliche Oktoberfest-Hysterie ausgebrochen. Schon sah man wieder viele junge Frauen im Dirndl. Leider diese grausamen Billigdinger, höchst geschmacklos zusammengenähte Stofffetzen, die an vielen Mädchen eher wie eine billige Karnevalsverkleidung aussahen. Fühlten diese sich wirklich wohl in diesen Dingern?
Ihr eigenes Dirndl hatte immerhin Stil. Es war zwar auch nicht gerade das Teuerste, aber es zeigte eine hübsche, dezente Farbkombination und war nicht mit Bändchen und Froschmaul überladen. Die kleine silberne Kette am Mieder war der einzige Schmuck, es sah hübsch aus.

Würde gleich jemand kommen? Sich auf den freien Stuhl setzen? Und sie dann anstarren und wie mit Röntgenaugen auf ihre stählerne Unterwäsche starren? Und dann? Ihr wurde leicht schwindlig, ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren, aber...
"Darf ich?"
Sie blickte auf. Ein junger Mann stand vor ihr, hatte seine Hand auf die Stuhllehne gelegt. Sie versuchte, ihrer Gefühle Herr zu werden. Wollte tief einatmen, aber der abgeschlossene BH ließ es nicht zu. Unwillkürlich machte sie mit der Hand eine Bewegung zur Brust.
"Ist Ihnen nicht gut, Frau Wimmer?"
Er war es! "Doch... doch, alles ist gut. Es muss die Zigarette gewesen sein! Und Sie sind...??"
Er blickte sie an. Lächelte unbeholfen. Sie bemerkte, wie seine Augen prüfend an ihr herabglitten. "Ist diesmal alles in Ordnung?"
Wieder antwortete er nicht direkt auf ihre Frage. "Danke, dass Sie gekommen sind. Ich hoffe, ich werde Ihnen helfen können bei der Lösung des Falls!"
Sie registrierte dankbar, dass er nicht zuerst von seinen Wünschen an sie sprach. Seine Augen blieben an ihren Brüsten hängen. Konnte er es wissen, was sich unter dem dünnen Stoff der Bluse verbarg? "Ja, das hoffe ich auch. Bis jetzt haben sich leider kaum Zeugen aus jener Nacht gemeldet." Wo hatte sie ihre Gedanken? Plötzlich hörte sie sich sagen: "Gefällt es Ihnen?"
"Wie bitte?" Er wurde rot, sie sah es ganz deutlich.
"Mein Kleid. Mein Dirndlkleid. Sie hatten sich ja ausdrücklich gewünscht, dass ich es wieder anziehe!"
"Ich hatte mir gwünscht, Sie so zu sehen, wie im Fernsehen. Um Sie gleich erkennen zu können!" Seine Antwort kam schnell, etwas zu schnell, dachte Wimmer.
"Letztes Mal hier im Café...."
"... hatten Sie leider die hübsche Kette vergessen," komplettierte Klaus ihren Satz. "Ich war mir nicht mehr sicher, ob Sie es wirklich waren.... Dirndl tragen ja viele Frauen.... Aber diese Kette, die hatte ich mir gemerkt." Er blickte auf den Tisch. "Sie ist ungewöhnlich..."
Wusste er, was für eine Kette es war? Am liebsten hätte sie ihn ganz ohne Umschweife gefragt, aber das verbot sich. Also, Herr...." - sie zögerte einen Moment, hoffte auf einen Namen, aber als er nicht reagierte, redete sie weiter - "erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben. Sie sind dabei gewesen?"
Er wirkte abwesend, fand sie. Sah sie wieder nicht direkt an, starrte auf.... auf ihr Kleid? Oder doch auf den stählernen BH?"
"Nicht direkt," kam es schließlich leise von ihm. "Eine Bekannte von mir...."stieß er mühsam hervor.
Ingeborg setzte sich ein wenig auf, versuchte, seinem Blick auszuweichen. "Eine Bekannte?", fragte sie vorsichtig.
"Barbara," antwortet er leise.

Barbara!! Fast hätte Ingeborg Wimmer sich wie in einem billigen Lustspiel an ihrem Kaffee verschluckt. Also doch! Es war das erste Mal, dass jemand von dieser Person sprach, nach der schon seit bald einem Jahr gesucht wurde. Eigentlich hatte sie schon den Glauben aufgegeben, dass es diese Barbara wirklich gab. Sie erinnerte sich, die Garderobefrauen hatten von einem Streit gesprochen, den es unmittelbar vor dem Weggang des Opfers von jener wüsten Tanzveranstaltung gegeben hatte. Eine Barbara sei ihr wenig später gefolgt, habe noch nach einen Taxistand gefragt. Mehr hatte man nie über diese Frau herausbekommen können.
Sie bemühte sich, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen, sachlich zu bleiben. "Nun, das relativiert die Sache natürlich etwas. Für eine Zeugenaussage bräuchte ich natürlich eine unterschriebene Aussage ihrer ... Freundin." Sie zögerte etwas, bevor sie das letzte Wort aussprach. Irgendetwas war seltsam, sie spürte es, konnte aber nicht den Finger darauflegen. "Aber vielleicht berichten Sie erst einmal, was Sie gehört haben. Alles ist wichtig."

Klaus sah sie einen flüchtigen Moment an, dann blickte er leise wieder weg. Was genau sollte er jetzt berichten? Musste er auch von Andrea berichten? Oder davon, dass er selber feige davongerannt war, anstatt irgendwie Hilfe zu holen? Er hätte jemanden wecken können, hätte notfalls mit der Nase irgendwo Sturm klingeln können. Aber er war davongerannt.
Er beschloss, sich im Moment auf das Wesentliche zu beschränken. Er berichtete, Barbara sei im Augenblick der Tat nicht sehr weit vom Tatort entfernt gewesen, selber auf dem Heimweg, als zwei Frauen kurz nacheinander an ihr vorbeigerannt seien. Und wie sie schließlich gesehen hätte, dass die eine Frau der anderen Frau eine so heftige Ohrfeige gegeben habe, dass diese rückwärts über das Brückengeländer geflogen sei.
Die Beamtin versuchte, seinen Blick festzuhalten; es gelang ihr nicht. Sie hatte der kurzen Erzählung aufmerksam zugehört, hatte erleichtert festgestellt, dass sie wahr sein musste, denn zum ersten Mal erwähnte jemand den Schlag ins Gesicht; sie selber hatte den Handabdruck noch erkennen können. Eine Tatsache, die aus ermittlungstechnischen Gründen bisher immer verschwiegen worden war. Dennoch schien diese Aussage geschönt zu sein. Möglicherweise war es doch diese Barbara selber, die den Schlag ausgeführt hatte. Ein Handabruck würde Gewissheit bringen.
Für einen Moment drifteten ihre Gedanken ab. Sie sah das junge Mädchen, so wie man sie dort unten an der Isar entdeckt hatte. Und wie die Ärztin schließlich sagte, sie können die Körpertemperatur nicht messen, weil es da ein kleines Problem gäbe.
Diese stählerne Unterwäsche! Und sie trug sie jetzt! Augenblicklich fühlte sie sich eingesperrt, hatte sie das Bedürfnis, sich hier und jetzt, oder zumindest auf der Toilette, diese Dinger auszuziehen; die Schlüssel hatte sie ja dabei. Sie tastete nach ihrer Handtasche, öffnete sie, ja, da waren sie, vier kleine Schlüssel an einem kleinen Ring! Sie nahm sie heraus, hielt sie in der Hand, überlegte, wie sie zur Toilette gehen konnte, ohne dass der junge Mann sich wieder davon machte. Noch hatte sie weder Namen noch Adresse von ihm erhalten, und außerdem war er die einzige Möglichkeit, Kontakt zu dieser Barbara zu bekommen.

"Haben Sie etwas für mich herausgefunden? Dieser Lehrer von damals... Pater Ruprecht?"
Er hatte ihre Gedankengänge durchkreuzt. Sie blieb sitzen, hielt die geschlossene Hand mit den Schlüsseln vor sich auf dem Tisch. Die Art, wie er diesen Namen aussprach... Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Was hatte dieser Lehrer damals gemacht? Ein Lehrer an einem Internat? Da war man wohl mehr als nur Lateinlehrer.
"Bevor ich Ihnen damit helfen kann. möchte ich gern wissen, um was es geht. Warum sie ihn suchen. Was hat er getan?" Sie sah seine Reaktion unmittelbar. Plötzlich saß da wieder ein kleiner Junge vor ihr, dem beim Anblick seines Lehrers der kalte Schweiß ausbrach. Aber er reagierte nicht so, wie erwartet.
"Haben Sie? Wissen Sie, wo er jetzt wohnt? Er könnte immer noch....." Er blieb stumm.
"Er könnte immer noch..... WAS?"
"Unterrichten. Latein und Musik unterrichten." Er wich ihr aus; nicht ungeschickt. "Ich möchte ihn halt einmal wiedertreffen... über alte Zeiten reden...."

So kam sie nicht weiter. Er hatte bereits angefangen, Mauern zu errichten. Gleich würde er aufspringen und davonlaufen. "Ja, ich habe etwas herausgefunden. Er heißt Ruprecht Monaci und war wohl nur kurze Zeit an Ihrer Schule..."
"Lange genug...," unterbrach er sie.
"Lange genug... wozu?" versuchte sie es noch einmal. Sie sah, wie er seine Jacke zuknöpfte, als sei ihm kalt. Sie musste schleunigst die Situation ändern.
Ingeborg Wimmer öffnete ihre Hand, begann mit den kleinen Schlüsseln zu spielen, schob sie langsam etwas mehr in die Mitte des Tisches. Er entspannte sich wieder, richtete nun seine Aufmerksamkeit auf die beiden Schlüssel.
"Ruprecht Monaci?" Er lachte leise in sich hinein. Schüttelte den Kopf.
"Was ist? Sagt Ihnen das was? Es gab hinter seinem Namen noch die Buchstaben PDF, womit ich noch gar nichts anfangen kann."
"Ach, wissen Sie, das ist ja so dämlich, dass man es kaum glauben mag. Monaci.... Ruprecht von München! Latein erstes Schuljahr. So langsam entwickelt sich das hier zu einer Münchhausengeschichte!" Er lachte wieder. "Nein, tut mir leid, aber diese Buchstaben sagen mir auch nichts. Aber sie werden wohl für seinen Orden stehen, denke ich mal. So wie SJ für Jesuiten steht, oder OSB für die Benediktiner, die dort die Schule und das Kloster leiten. Ordo Sancti Benedicti!" Wieder dieses Lachen, aber diesmal klang es gequält. "Ja, das ist noch hängengeblieben..... und nicht nur das!" Seine Mine verschloss sich wieder.
Scheinbar spielerisch schob sie die Schlüssel in die Nähe seiner Hand. Dann zog sie ihre Hand zurück, ließ die Schlüssel aber liegen.
"Ich habe herausgefunden, wohin Ihr Lehrer anschließend gegangen ist... dort aber noch nicht nachgefragt."
Seine Hand tastete sich vor. Berührten die Schlüssel. Seine Finger begannen, mit ihnen zu spielen. Sie schob ihre Hand wieder vor; er zog seine zurück. Mit den Schlüsseln.
"Und wohin ist der Drecksack dann?" Jetzt lag unterdrückte Wut in seiner Stimme.
Sie nannte es ihm. Seine Hand schloss sich um die Schlüssel. Er schloss die Augen, sagte erst gar nichts, dann aber brach es aus ihm heraus. "Nach Regensburg? Zu den Domspatzen?? Oh ja, da wird er ja der richtige Mann am richtigen Ort gewesen sein!!" Seine Hand öffnete sich wieder; er schob die Schlüssel zurück. Wimmer legte ihre Hand wieder darüber, behielt sie aber in der Mitte des Tisches. "Wie meinen Sie das jetzt?"
Er räusperte sich. "Nun ja, als Musiklehrer.... wird den Kindern schon die Flötentöne beigebracht haben!"
"War er gewalttätig?" Sie musste es wissen.
Er legte seine Hand auf ihre Hand. "Gewalttätig...??" Er stöhnte leise. "Frau Wimmer, werden Sie mehr für mich herausfinden? Es ist wichtig, dass diesem Mann..." Er schwieg, brachte den Satz nicht fertig. Aber Wimmer begann, ihn auch so zu verstehen.
"Ich muss Barbara treffen! Können Sie das arrangieren?" Er wurde wieder nervös. Sie öffnete ihre Hand, entwand sich seinem leichten Griff, ließ die Schlüssel in seiner Hand liegen. Die Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel, zu ihrem Keuschheits-BH.
"Vielleicht," sagte er und schob seinen Stuhl zurück.
"Werde ich Sie wiedersehen? Sie gab ihm ihre Karte, kritzelte ihre Handynummer auf die Rückseite. Zog ihre Hand zurück und legte sie in ihren verschlossenen Schoß.
Wieder dieser Blick. Seine Augen tasteten ihren Körper ab, sie konnte den Blick spüren, wie er auf das Metall auf ihrer Haut auftraf, Metall, das unter ihrer Kleidung verborgen lag. Aber sein Blick vermochte sie zu durchdringen.
"Ja," sagte er. Nahm die Schlüssel, steckte sie in seine Hosentasche. Dann stand er auf, nickte ihr zu, es gab ein leichtes Zucken seiner Mundwinkel, dann war er verschwunden.


München, Anfang September

Der Schock setzte erst ein, als sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. Großer Gott, was hatte sie getan? War sie denn von allen guten Geistern verlassen? Ingeborg Wimmer hatte es gar nicht erst versucht, dem jungen Mann zu folgen, hatte wie betäubt noch eine Weile auf ihrem Stuhl gesessen, dann bezahlt und die nächste Tram nach Hause genommen. Es war ein Glück, dass sie nicht mit dem Wagen gekommen war, sie wäre gar nicht in der Lage gewesen, jetzt Auto zu fahren. Sie blieb stehen in der Tram, es schien ihr sicherer, jemand hätte mehr sehen können, als erlaubt, hätte er sie von oben betrachtet. Auch wenn ihre Bluse nicht zu denjenigen gehörte, die gern die halbe Brust frei ließen.
Sie schleuderte ihre Pumps von sich, gab ihren misshandelten Zehen und Fußballen die Freiheit, die sie benötigten, lief an ihrem Spiegel vorbei, sah sich selbst in ihrem Dirndl und dachte doch nur an das, was sie darunter trug.
Sie zitterte. Zog sich aus, legte die Teile frei, die sie nun nicht mehr würde ausziehen können. Verschlossen, dachte sie. Sie gab einem unwillkürlichem Reflex ihrer Hände nach, zog an ihrem BH, drückte verzweifelt an ihrem Keuschheitsgürtel, langte mit zitternder Hand in ihren Schritt.... ihre Spalte... nein, nichts, nur dieser Stahl, dieses dünne, gebogene Blech mit den vielen Löchern, oh mein Gott, ihr Verlangen, sich zu berühren stieg ins Unermessliche.
Sie legte sich in ihr Bett, kroch unter die Decke, machte sich klein. Hielt mit der Rechten die Linke und mit der Linken die Rechte, nein, ihre Hände waren nutzlos, mehr als nutzlos, einzig die kleinen Schlüssel würden jetzt helfen. Schlüssel, die irgendwo in München waren, bei jemandem, den sie nicht kannte.
Ihr Zittern wurde schlimmer. Gleich würde sie anfangen zu weinen. Neu war es nicht für sie. Neu war nur, dass weder Bruno noch sie die Schlüssel hatten.
Sie krümmte sich in unbefriedigter Lust, dann kamen die Tränen. Keine Chance, dachte sie. Keine Chance, da irgendwo ranzukommen.

Und es war gut so.

% % %

Was sollte das bloß alles? Klaus war auf dem Weg ins Krankenhaus. Seit seinem Treffen mit der Kriminalbeamtin vor drei Tagen war er völlig durcheinander. Hatte ihm das Treffen überhaupt etwas gebracht? Außer diesen kleinen Schlüsseln? Schlüssel für einen Keuschheitsgürtel und den dazu passenden BH? Was sonst sollte es sein? Er hatte sie untersucht. Es waren jeweils zwei Exemplare vom selben Schlüssel. Klar, dachte er, zwei für den KG und zwei für den BH.
Die Frau musste verrückt sein! Anders konnte er es sich nicht erklären. Man gibt doch nicht einfach so jemandem die Schlüssel zu seinem Keuschheitsgürtel! Es war klar, er müsse sie ihr bei nächster Gelegenheit wiedergeben. Ging ja nicht anders!

Er dachte über die Auskünfte nach, die die Kommissarin ihm hatte geben können. Dieser bescheuerte Name! Kein Mensch hatte den damals gehört! Für ihn und seine Mitschüler war das immer nur Pater Ruprecht gewesen. Der fromme Ordensbruder....
Regensburg? Er kannte niemanden in Regensburg. Zweifelte auch daran, dass der Kerl dort immer noch aktiv war. Domspatzen! dachte er. Dass ich nicht lache. Mit Spatzen würde der sich wohl nicht begnügt haben!
Als er die Klinik vor sich sah wurde ihm unbehaglich zumute. Er scheute eine neue Konfrontation mit einer der Angestellten. Letztes Mal hatte er bereits ziemlich unverschämt reagiert, als die Schwester ihn daran erinnert hatte, dass er es mit sterbenden Menschen zu tun hatte.
Er beschloss, diesmal einen Seiteneingang zu nehmen, er wusste, es gab eine wenig benutzte Treppe hinauf zu der Abteilung, wo seine Oma lag. Und so konnte er das Empfangskomitee übergehen.
Die Treppe war still; er kam sich wie ein Einbrecher vor. Jemand, der in das Leben anderer einbricht. Aber er tat es nicht aus eigenem Antrieb. Seine Mutter hatte ihn gebeten, sich um die Großmutter zu kümmern. Obwohl er mit ihr gebrochen hatte. Aber das hatte seine Mutter nicht gewusst.

Die altmodische Schwingtür lärmte etwas, als sie hinter ihm in ihre Ausgangslage zurückschwang, aber wen störte es hier noch? Der Gang wirkte sauber, es roch nach Desinfektionsmitteln. Seine Schuhe machten quietschende Geräusche auf dem blauen Linoliumfußboden. Das Zimmer seiner Oma.

Er wusste es im selben Moment, wo er die Tür geöffnet hatte.

Die Stille des Raumes begegnete ihm wie eine Mauer. Das Bett war leer.

Klaus ging zum Büro. Klopfte an und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten.
"Herr Behrend! Gut, dass Sie schon kommen konnten.Hat es mit der Post ja doch noch schnell geklappt. Mein herzliches Beileid."
Die Leiterin der Abteilung hatte ihn mitfühlend begrüßt. Sie bot einen Kaffee an; dankend nahm er an. Von einem Brief wusste er nichts. Sicherlich würde er noch kommen. Es war purer Zufall, dass er gerade heute gekommen war.
"Danke. Ich danke Ihnen. Hat sie es also geschafft...."
"Ja. Sie ist gestern Nachmittag friedlich eingeschlafen." Sie ließ ihm Zeit.
Friedlich eingeschlafen.... wohl der Wunschtraum jedes Menschen. Aber hatte sie es verdient? Hätte sie nicht tausend Qualen leiden müssen, bei dem, was sie getan hatte? Monika, dachte er, beinahe wäre sie dabei draufgegangen...
"Möchten Sie sie noch einmal sehen?"
Er schüttelte den Kopf. "Wie geht es nun weiter?"
Seine Gesprächspartnerin wirkte geschäftig. "Keine Sorge, Herr Behrend. Die Leiche Ihrer Großmutter kann erst einmal noch hier bei uns bleiben. Wir sind ja auf solche Fälle vorbereitet. Ich würde sagen, besprechen Sie das mit Ihren Angehörigen. Ihre Mutter wohnt im Ausland? Ihre Oma spach einmal von Italien?"
"Ja, sie wohnt in Rom. Journalistin beim Radio Vatikan." Es war unwichtig, es zu sagen.
"Sicherlich wird sie zur Beerdigung kommen. Informieren Sie Ihre Mutter. Überlegen Sie, welche Art der Bestattung in Frage kommt. Und dann nehmen Sie bald Kontakt zu einem Bestatter auf. Der regelt dann alles weitere. Es ist normalerweise weniger schlimm, als mancher glaubt. Aber dabei wird Ihnen der Bestatter helfen."
Er lächelte zuversichtlich. "Danke, das ist gut zu wissen. Tja...," er rieb seine feuchten Hände an der Hose, "dann....." Was sollte er sagen? Herzlichen Dank?
Sie stand auf. "Schon gut. Wir haben die wenigen Sachen zusammengepackt, die bei Ihrer Großmutter waren. Ein kleines Paket nur. Die Kollegin wird es Ihnen bringen..." Sie brachte ihn zur Tür ihres Büros. Gab ihm die Hand. "Bleiben Sie gesund, junger Mann. Denken Sie daran, sie hat nicht gelitten...."

% % %

"Oh Mann, das tut mir echt leid!" Evelyn wollte ihn trösten, versuchte ihn in den Arm zu nehmen, aber er wehrte ab.
"Schon gut. Sie hat ja nicht leiden müssen..."
"Sie nicht...." Sie ließ es erkennen, dass sie jemand anderen im Sinn hatte. "Ich dachte nur, ist ja jetzt blöd für dich... Sagtest du nicht einmal, nur deine Großmutter könne jetzt noch Licht in diese seltsame Geschichte bringen? Deiner Mutter traust Du wohl nicht so ganz?"
Er sah sie mit einem gequälten Blick an. "Ich traue schon lange niemandem mehr."
"Und? Hast du sie vor ihrem Tod noch fragen können, wer diese Lenchen sein soll? Du bist ja wohl öfters bei ihr gewesen. War sie denn überhaupt noch ansprechbar?"
"Ja, ich war mehrere Male dort. Zu Anfang schlief sie meist. Dann aber hatte sie auch einmal einige klare Momente. Und da konnte ich sie fragen."
"Ah, gut. Immerhin. Und, was hat sie gesagt?" Evelyn Kasulke konnte ihre Neugier nicht länger verbergen.
Er biss sich auf die Lippe. Das hier war nicht leicht. "Sie sagte, ich hätte sie umgebracht... dass sie tot ist."

Auch Evelyn erschrak jetzt. Das hatte sie nicht erwartet. "Ja, aber wer war das Mädchen? Also, ich glaube kein Wort. Du bringst doch nicht einfach so irgendwelche Leute um! Ohne Leiche glaube ich das einfach nicht. Was hat sie denn sonst noch gesagt?"
"Nichts, Lyn. Sie hat gar nichts mehr gesagt. Sie hatte es gesagt, sich dann ans Herz gefasst und war ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich sind es ihre letzten Worte gewesen."
"Und, ... hat sie es genauso gesagt, wie du es jetzt wiedergibst? Versuche mal, dich zu erinnern!" Sie wusste aus ihrer Tätigkeit als Rettungssanitäterin, dass die Menschen manchmal falsche Wahrnehmungen hatten.
Klaus brauchte nicht lange zu überlegen. "Also, sie sagte: ´Du hast sie.... tot´."
"Wie du hast sie tot? Tot... was? Totgeschlagen? Das ergibt doch gar keinen Sinn."
"Muss es unbedingt einen Sinn ergeben? Aber es ist ja wohl klar, dass ich sie umgebracht habe!" Seine Antwort kam gereizt.
"Klar ist mal gar nichts, Klaus. Nach allem, was du mir über deine Oma erzählt hast, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass alles erlogen und erstunken ist. Und wann soll das denn überhaupt gewesen sein? Nein, ich glaube, wenn du deiner Mutter mal näher auf den Zahn fühlst, dann wird sie mit der Wahrheit schon herausrücken." Sie machte eine Gedankenpause. "Hast du mit ihr gesprochen? Sie wird doch wohl zur Beerdigung kommen?"
"Ja, ich habe sie gleich gestern angerufen. Sie wird zur Beerdigung kommen. Aber sie hat klargemacht, dass sie nicht bleiben will. Nicht in dem Haus, hat sie gesagt, und dass sie einfach gar keine Zeit habe, länger zu bleiben. Also, sie wird morgens mit der ersten Maschine kommen, die Beerdigung ist am frühen Nachmittag, und abends fliegt sie wieder zurück nach Rom. Die Beerdigung ist Anfang nächster Woche, eher ging es wohl nicht. Für das Haus müssen wir uns dann etwas überlegen, vielleicht können wir es erst einmal vermieten. Oh Mann, ich werde froh sein, wenn der ganze Mist überstanden ist. So langsam muss ich ja auch mal an mich selber denken!" Klaus wandte sich ab. Es war deutlich, dass das Thema für ihn vorbei war.

"Sag mal, hast du schon die Sachen von deiner Oma durchgesehen?", fragte Evelyn vorsichtig.
"Nicht wirklich. Vom Krankenhaus habe ich nur diesen kleinen Karton mitbekommen. Und ihre ganzen Sachen hier...", er zuckte ratlos mit den Schultern. "Kannst ja mal selber schauen, wenn du magst." Er reichte ihr den kleinen Karton. Er enthielt wirklich nur das Nötigste. Die Sachen, die sie getragen hatte, als sie eingeliefert wurde, ihre Brille, ihr Gotteslob Gebetbuch, das Klaus auf Anraten des Krankenhauses mitgebracht hatte. Evelyn sah es durch, es enhielt mehrere kleine Bildchen mit Heiligen-Motiven, Erinnerungen an die erste Heilige Kommunion, an die Vermählung irgendwelcher Bekannten, an das Ableben von längst vergessenen Freunden. Und ein Bildchen, das ein Neugeborenes in der Krippe zeigte, umringt von Maria und Josef. Sie drehte es um und las: >MAGDA - Unser Christkind ist angekommen! München im Dezember 1989<


30. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von MarioImLooker am 20.12.16 13:45

Bin eher der stille Mitleser. Kann mich nur wiederholen: Deine Geschichte ist die Beste hier im Forum. Erfrischend anders als alles andere.
Freue mich über jede Fortsetzung!
31. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 23.12.16 19:30

Schon seit Tagen versuche ich einen längeren Kommentar abzugeben, was aber aus technischenn Gründen nicht funktioniert. Schade.
32. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von bd8888 am 24.12.16 15:34

Hallo Daniela
Ich kann die Sonntage kaum noch mehr erwarten.
Du schreibst einfach "göttlich".
Frohe Weihnachten
bd8888
33. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 25.12.16 13:25

Eine Sex-Geschichte zu Weihnachten?? Oder wollen wir es lieber ´pornografische Literatur´ nennen? Ist es das überhaupt?? Eigentlich nicht, wie ich meine. Ich möchte lieber sagen, es ist eine Weihnachtsgeschichte der besonderen Art. Leider werden wir noch mehrere Wochen warten müssen, bis sich dies dem geduldigen Leser erschließt.
Aber hätte ich denn nicht wenigstens den heutigen Weihnachtstag pietätsvoll überspringen können? Ich muss gestehen, ein wenig hatte ich darüber nachgedacht. Aber ich glaube, in meiner Geschichte steckt viel mehr Weihnachten, als all das Gebimmel und Glühwein-Gesaufe, mit dem wir angeblich auf dieses schöne Fest eingestimmt werden sollen.

Weihnachten wird immer als DAS Familienfest postuliert. Aber nicht jeder hat Familie. Viele meiner Leser mögen heute allein und einsam zu Hause sitzen. Sie ganz besonders werden sich über die heutige Fortsetzung freuen.

Euch allen wünsche ich eine gute Zeit; frohe und gesegnete Weihnachten. Und ein Dankeschön an die Leser, die mir einen Gruß geschickt haben!
@Maximilian: Bitte gib nicht auf. Deine Gedanken sind mir wichtig!!

Eure Daniela 20



München, Mitte September

Sie hatte einen Fehler gemacht, einen sehr großen Fehler. Ingeborg Wimmer hatte tagelang darauf gewartet, dass der junge Mann sich wieder bei ihr melden würde, aber bis jetzt war nichts geschehen. Hatte sie ihm zu wenig geliefert? Glaubte er, ein weiteres Gespräch mit ihr lohne sich nicht? Aber er hatte die Schlüssel genommen. Er würde sie wiedersehen wollen!
Er musste sie wiedersehen! Wie konnte er denn einfach ihre Schlüssel nehmen, wenn er nicht Macht über sie ausüben wollte? Er wusste doch wohl, wofür diese Schlüssel waren... Oder doch nicht? Die Art, wie er sie angesehen hatte....
Langsam wurde ihr mulmig zumute. Sie musste ja wirklich total von Sinnen gewesen sein! Das war ja keine Zeugenbefragung mehr, das war ja eine Unterwerfungsgeste ihrerseits gewesen! Man würde sie feuern, wenn man auf der Chefetage davon erführe. Zuerst würden sich sicherlich alle auf ihre Kosten amüsieren, würden dumme Witzchen reißen - na, Frau Kollegin, wieder so verschlossen heute? Wo drückt denn der St---uh? Hahahaha... , aber dann würde man sie doch fallen lassen, sie ins Archiv versetzen, oder irgendwo in die Pampa....., Hengaschs gab es auch in Bayern viele. Nur der Gedanke an die lustige Fernsehserie ´Mord mit Aussicht´ ließ sie wieder etwas lachen.
Dann überlegte sie. Hatte sie denn gar keinen Anhaltspunkt, den jungen Mann irgendwie ausfindig zu machen? Wie war es mit der Sanitäterin? Mit Frau Kasulke? Falls es die überhaupt gab. Kasulke, dachte sie, wer denkt sich denn so einen bescheuerten Namen aus? Nein, der musste einfach stimmen. Aber Frau Kasulke würde sicherlich dicht halten, ihr weder Namen noch Adresse ihres Bekannten nennen. Außerdem wollte sie selber diese Frau nicht weiter in die Sache hineinziehen. Was hätte sie ihr auch sagen sollen? Können Sie bitte Ihrem Bekannten sagen, er soll bald mal kommen und mich aufschließen? Lange halte ich es nämlich nicht mehr in meinem KG aus....

Wimmer stellte ihren Wagen in der Tiefgarage der Polizei ab. Es war alles nur Brunos Schuld. Mit ihm hatte alles so gut funktioniert! Was musste er sich denn da versetzen lassen? Wäre er noch da, oben in seinem immer noch verwaisten Büro, sie würde hingehen und ihre Leidensmine aufsetzen, das hatte bis jetzt immer noch funktioniert. Er würde am Abend zu ihr kommen, würde sie aufschließen, weil er Sex mit ihr haben wollte. So hatte es immer funktioniert, bis es dann wieder über sie gekommen war, dieser ewig nagende Drang, etwas Verbotenes zu tun, sich selber die Möglichkeit zu nehmen, sich zu berühren. Manchmal hatte sie sich wenige Stunden, nachdem Bruno gegangen war, wieder verschlossen, manchmal hielt sie es eine knappe Woche ohne ihre stählerne Unterwäsche aus.

Sie betrat ihr Büro, klein aber fein war es, immerhin war ihr das Übel eines Großraumbüros erspart. Missmutig warf sie ihre Handtasche auf den Boden. Schlüssel, dachte sie. Den halben Hausrat schleppte sie in ihrer Tasche mit sich herum, aber wo ihre kleinen Schlüssel waren, davon hatte sie keine Ahnung. Wimmer betrachtete ihren Kalender, viel zu tun war nicht. Zumindest nichts, was für einen Fernsehkrimi gereicht hätte. Die normale Polizeiarbeit war unspektakulär, bis jetzt hatte sie nicht einmal ihre Waffe ziehen müssen, bis jetzt hatte sie an keinen wilden Verfolgungsjagden teilnehmen müssen. Stattdessen Tatorte besichtigen, Zeugen befragen, von Überwachungskameras aufgezeichnete Videos auswerden, Berichte schreiben, oder einfach nur lange im Stau stehen. Reelle Polizeiarbeit halt. Totlangweilig.
Sie dachte nach. Auch etwas, was mit ihrem Beruf zu tun hatte. Wenn sie wenigstens einen Namen hätte. Ein Phantombild hätte sie leicht anfertigen können. Aber was sollte sie damit? Sie lauschte auf die Signale ihres Körpers. Der enge Hüftgürtel drückte. Da half auch das Silikonpolster nichts. Auch ihr Steißbein schmerzte leicht. Sitzen war immer ein Problem. Besonders jetzt, wo sie auch die Schenkelbänder trug. Hatte sie diese an den Beinen, konnte sie ihre Beine nicht gemütlich übereinanderlegen. Was auf Dauer furchtbar störte. An ihren BH mochte sie gar nicht denken. Er hinderte sie ständig am normalen Atmen. So hätte sie nicht einmal ein Kind einfangen können! Aber all dies war noch halbwegs zu ertragen; schlimmer war der anhaltende psychische Schmerz. Dieses Verschlossensein. Das Wissen, dass diesmal kein Bruno nebenan saß.

Eine Zigarette? Nein, sie hatte keine Pause und die Zeiten waren vorbei, wo in Büros gequalmt werden durfte. Gott sei Dank. Selbst als Gelegenheitsraucherin musste sie eingestehen, dass es so besser war. Nur in manchen Szenekneipen fehlten die dicken Rauchschwaden etwas. Schokolade? Sie hatte welche in ihrer Tasche, aber sie hatte keinen Schlüssel für ihren Taillenreifen, und das war eine denkbar schlechte Ausgangslage. Was konnte sie tun? Nichts.
Sie beschloss, noch einmal nachzulesen, was es über diese Schule zu lesen gab. Nicht das Offizielle, auf Lobhudelei hatte sie keine Lust. Aber viel mehr gab es auch nicht.

Plötzlich hatte sie eine Idee. Die Schule! Dass sie nicht gleich darauf gekommen war! Schnell hatte sie die Telefonnummer des Internats hervorgesucht, dann wählte sie die Nummer und bat die Sekretärin, ihr bitte umgehend die Schülerlisten der entsprechenden Jahrgänge zu faxen. Welcher Jahrgänge? Der Jahrgänge, als Pater Ruprecht an der Schule unterrichtete. Diesmal hatte sie sich gewappnet, ließ die Frau nicht lange schwafeln, wiederholte noch einmal, diesmal im besten Kommandoton, ihr Anliegen, dann bedankte sie sich und wartete. Es würde einige Zeit dauern, hatte die Sekretärin mit einem nicht zu überhörenden Seufzen mitgeteilt.

Ingeborg Wimmer musste lange warten. Erst am späten Nachmittag brachte eine Kollegin mehrere Seiten aus dem Faxgerät für sie mit, Namen von einigen hundert Schülern, wie sie auf einen Blick sah. Und jetzt? Einer davon konnte ihr geheimnisvoller Kontakt - ihr keyholder, wie sie sich eingestehen musste - sein. Konnte...., sicher war das nicht.

Die Kollegin war interessiert. "Bist du an irgendwas dran, Ingeborg?"
"Ach, ich weiß nicht. Ja, vielleicht...", anwortete diese, indem sie die Blätter resigniert vor sich auf den Schreibtisch warf. "Ist noch nicht spruchreif, Sabine."
"Schülerlisten? Um was geht es denn? Lehrergewalt? In manchen Internaten herrscht ja wohl immer noch ein etwas antiquierter Stil vor?"
Wimmer schüttelte den Kopf. "Bis jetzt weiß ich es selber noch nicht. Aber da ist etwas geschehen. Ein anonymer Zeuge hat sich bei mir gemeldet, aber zu einer anderen Sache. Erinnerst du dich an den Fall von der jungen kölner Studentin letzten Herbst?"
"Die Isarleiche? Meinst du die? Klar erinnere ich mich. Ich hatte ja auch einige Befragungen gemacht. Hast du eine Spur? Etwas Brauchbares diesmal?"
"Kann sein, kann aber auch nicht sein. Es könnte sein, dass einer dieser Schüler etwas damit zu tun hat!"
Die Kollegin nahm noch einmal die Listen zur Hand. Warf einen Blick darauf, dann stutzte sie. "Oh, ich glaube, diesen Namen hier habe ich schon einmal gehört!" Sie wies mit dem Finger auf einen der Namen gleich auf der ersten Liste.
"Behrend, Klaus. Jahrgang ´92. Schüler der Sexta, steht hier." Ingeborg sah ihre Kollegin fragend an.
"Fünfte Klasse. Also erste Klasse am Gymnasium." Sie rückte etwas näher. "Wart mal, kannst du eben mal die Ermittlungsakten von damals heraussuchen?"
Es war kein Problem. Dank neuer Software war alles elektronisch abgespeichert. "Was genau?"
"Wir hatten doch routinemäßig ihren Bekanntenkreis abgefragt. Weißt du noch, das war doch so eine recht mystische Geschichte... dieses schräge Keuschheitsgürtelzeug. Die war doch am ganzen Körper verschlossen wie Fort Knox!" Ihre Kollegin war auf ihre Seite des Schreibtisches gekommen, um besser den Bildschirm lesen zu können. "Oh, hübscher Rock, Ingeborg! Läufst ja in letzter Zeit nur noch mit Rock rum! Wie kommt´s?"

Ingeborg Wimmer wünschte sich ein Loch im Boden, in dem sie versinken konnte. Es gab keine Antwort, die ihr rettend einfallen wollte. Zumindest keine, die der Wahrheit entsprach. Einer Wahrheit, die hier niemand wissen durfte. "Och", sagte sie, "nur so, ist wohl nur mal wieder so eine Phase. Der Winter kommt schon wieder früh genug."
"Du sagst es. Leider. Also, lass mal eben sehen.... ja, hier... hier Ingeborg! Klaus Behrend, 20 Jahre alt. Wohnte ganz in der Nähe, bei seiner Oma. Das kölner Mädel wohnte in der Nähe, bei ihrer Tante."
"Haben wir ein Bild von ihm?"
"Nein, nicht das ich wüsste. Wir können ja nicht gleich Bilder von jedem machen, der in der Nähe eines Unfall- oder Mordopfers lebt."
"Auch wahr. Aber es könnte was dran sein an der Geschichte. Also, gut, dass Du zufällig hier warst." Sie lachte. "Kommissar Zufall, wieder einmal!" Sie bedankte sich bei ihrer Kollegin, die mit einem zufriedenen Lächeln ihr Büro verließ.
War er das? Plötzlich war ihre Situation eine andere. Jetzt hatte sie einen Namen. Die Teile begannen, sich zusammenzufügen.

% % %

"Da bist du ja endlich!" Klaus umarmte seine Mutter flüchtig; ihr Flieger hatte eine knappe Stunde Verspätung und war endlich in München gelandet.
Endlich!, dachte er. Die Warterei hatte ihn ganz nervös gemacht. Das Beerdigungsintitut hatte ihm die meiste Arbeit abgenommen, dennoch hatte er, auf Wunsch seiner Mutter, für einen angemessenen Sarg sorgen müssen und verschiedenes mit dem Bestatter abzuklären. Wünschte man ein christliches Begräbnis? Er hatte feststellen müssen, dass im Angesicht des Todes viele Fragen anders beantwortet wurden, als normalerweise. Was hätte seine Oma sich selber gewünscht? Sie hatte sich nie dazu geäußert, hatte es versäumt oder verdrängt, einmal über ihr eigenes Ableben nachzudenken, wie so viele andere. War der Gedanke an den eigenen Tod denn so schlimm? An die Aufgabe des eigenen Ich? Konnte man nicht einfach akzeptieren, dass alles, aber auch wirklich ALLES einmal ein Ende finden würde? Er erinnerte sich an die Worte einer Fernsehsendung über das Weltall: In ungefähr 100 Billionen Jahren wird das Rohmaterial für neue Sterne zur Neige gehen. Die letzten Sterne werden ihr Leben aushauchen und ihre Überreste werden langsam erblassen. Bis schließlich die letzte verbleibende Ascheglut erkaltet und das Licht im Universum für immer verlischt.

Es fröstelte ihn. Da half auch die Wärme eines schönen Septembertages nichts. Ewiges Dunkel, dachte er; seine Oma hätte sicherlich einen passenden Bibelspruch zur Hand gehabt. Dieser Jesus, was hatte er von sich selbst gesagt? Er wusste es nicht. Jetzt war es wichtig, die Großmutter unter die Erde zu bringen.
Seine Mutter trug ein schwarzes Kostüm. Sie wirkte gefasst, erwiderte seine Umarmung nicht sondern griff als erstes zu ihrem Handy, keine neuen Nachrichten. "Diesmal kein gammeliger Overall, Klaus?"
Er versuchte es mit einem linkischen Grinsen. "Zum Glück nicht. Ich hoffe, eine schwarze Jeans und ein schwarzes T-shirt tun´s auch?"
"Kein Problem, Klaus. Ist alles für die Beerdigung geregelt? Wie kommen wir zum Friedhof? Und anschließend....?"
Klaus schlug seiner Mutter vor, wie er sich den Tagesablauf gedacht hatte. Ein ruhiger Bummel durch die Innenstadt, gemeinsames Mittagessen, dann die Beerdigung - einige Nachbarn würden eventuell kommen, vielleicht auch Evelyn, eine Rettungssanitäterin, die er kennen gelernt hatte, dann den obligatorischen Beerdigungskaffee mit Streuselkuchen; anschließend würde er sie wieder zum Flughafen bringen.
"Brauchst du nicht!", erklärte sie. "Ich finde schon allein zum Flughafen!" Plötzlich fing sie an zu lachen. Klaus sah seine Mutter fragend an. "Oh, nichts. Ich musste nur gerade an Stoiber denken, wie der mal so herrlich über eine Transrapid-Verbindung vom Bahnhof zum Flughafen sich was zusammenstotterte! Gibt es, glaube ich, immer noch auf Youtube!"
Jetzt konnte auch Klaus nicht mehr an sich halten. Er kannte das Video, oh Mann, ja, das war schon krass, was der da zusammengefaselt hatte. Nun, es würde ein schöner Tag werden, die Stimmung war gut, auch wenn der Anlass kein besonders erfreulicher war.


Sie hatten ein gemütliches Restaurant gefunden, das nicht von Ausländern überlaufen war. Manchmal konnte es einfach zuviel des Guten sein; schon jetzt hatte der Zustrom von Besuchern für das Oktoberfest, das bald eröffnet werden würde, deutlich zugenommen.
Klaus legte Messer und Gabel von sich; er hatte eine Idee bekommen. "Sag mal, Mutter, erinnerst du dich an einen meiner Lehrer, diesen Pater Ruprecht?"
Seine Mutter sah ihn überrascht an. "Nicht wirklich. Wieso? Sollte ich? Hast du ihn wiedergetroffen oder so etwas?"
"Nein, habe ich nicht. Aber ich habe eine ganz andere Frage. Du kennst dich doch in Rom aus..."
Sie lachte kurz auf, schüttelte den Kopf. "Kein Mensch kennt sich in Rom aus... Was glaubst du, warum man sie die ewige Stadt nennt? Weil man ewig nach etwas sucht, ewig auf etwas warten muss! Deshalb!"
Er ließ sich nicht beirren. Schenkte seiner Mutter ein sympathisches Kopfnicken, klar, das musste wohl so sein, mit der Ewigen Stadt, aber jetzt brauchte er andere Information. "Er war mein Lateinlehrer in der Sexta. Ich würde gern mal wissen, was die Buchstaben PDF hinter seinem Namen bedeuten. Benediktinermönch war er auf jeden Fall nicht."
"PDF? Nein, unmittelbar sagt mir das auch nichts. Aber diese Buchstabenkombination ist eher ungewöhnlich. Normalerweise steht ja ein O davor, also für Ordo. Ist ja immer alles auf Latein. Hm... das D könnte für deus stehen, also Gott. Und das F....", sie überlegte, "vielleicht für frater, also Bruder. Aber das ist reine Spekulation!!

Klaus trank sein Bier aus. Es war Zeit, sich auf den Weg zum Friedhof zu machen. Er bat seine Mutter, etwas über diese Sache herauszufinden. Immerhin war Rom das Zentrum der katholischen Welt; sie habe sicherlich gute Verbindungen.


"Asche zu Asche.... Staub zu Staub..." Klaus achtete nicht sonderlich auf die Worte des Geistlichen. Dieser stand, flankiert von zwei Messdienerinnen, neben dem Sarg, und segnete diesen, bevor er noch einige persönliche Worte an die kleine Trauergemeinde richtete.
Diese Mädchen in ihren Gewändern.... Er schloss die Augen, sah sie wieder vor sich, wie sie dort vor ihm kniete, Daniela, und er...
Nichts. Schwarze Leere hatte sich über seine Erinnerung gelegt. Hatte bis jetzt verdrängt, was er damals Schlimmes getan hatte. Dinge, für die Monika ihn hatte büßen lassen! Es war knappe zwei Jahre her, dennoch schien es ihm, als wäre all dies in einem anderen Leben geschehen. War es seine Schuld, dass es so gekommen war, wie es kam?
Er öffnete die Augen, sah die beiden Messdienerinnen auf sich zukommen, ihn links und rechts ergreifen.... Jetzt kommst DU auf unsere Strafbank... jetzt wirst DU für deine Missetaten büßen, glaube nicht, dass du davonkommst... DU hast Schuld.....

"Klaus?" Seine Mutter hatte ihn dezent angestoßen. "Ist alles in Ordnung? Du musst noch deinen Strauß..."
Er wusste, was er zu tun hatte. Warf den kleinen Blumenstrauß auf den Sarg, den einige kräftige Männer mittlerweile in die Grube hinabgelassen hatten. Dann langte er mit bloßer Hand in den kleinen Sandhaufen, der vor dem Grab lag, und warf eine Handvoll davon ebenfalls auf den Sarg. Es war besser so, dachte er. Blumen sollte man doch lieber den Lebenden schenken.
Die Mutter dankte dem Priester; er hatte es natürlich nicht für Gottes Lohn getan, die Gemeinde würde eine Rechnung schicken. Dann nahm man die Trauerbezeugungen der wenigen Anwesenden entgegen und lud schließlich zum Kaffee in eine nahegelegene Gaststätte ein.

Kaffee und Kuchen taten allen gut. Die Stimmung war gedämpft fröhlich; alle wussten, Annegret Meisner hatte ihr Leben gehabt und war immerhin 78 Jahre alt geworden; viele ihrer Generation waren schon als Kinder in jenem furchtbaren Krieg umgekommen, an den sich bald niemand mehr würde erinnern können. Klaus hätte sich eine privatere Situation mit seiner Mutter gewünscht, aber diese verbrachte viel Zeit mit den Nachbarn, sie wollte sich dankbar zeigen, dass sie gekommen waren.

Schließlich wurde die Zeit knapp. Er bemerkte die Blicke seiner Mutter zur Uhr. Es würde vom Hauptbahnhof zum Flughafen eine knappe Dreiviertelstunde dauern, ihr Flieger ging gegen 20 Uhr. Es wurde Zeit, aufzubrechen.
Sie schwiegen sich aus. Der Zug war gut besucht, es gab keine Gelegenheit, sich auszusprechen.
Der Flughafen empfing sie mit dem üblichen Stress. Auch wenn noch Zeit war, seine Mutter drängte darauf, einzuchecken und durch die Sicherheitskontrolle zu gehen.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er musste es jetzt wissen! Er musste jetzt seine Mutter fragen. Er konnte keinen Tag länger in dieser Ungewissheit leben.
Er wartete auf einen günstigen Moment, aber alle Momente waren gleich ungünstig. Sie blieb stehen, dicht vor dem Eingang zum Bereich für Reisende. Drückte ihn flüchtig an sich. "Melde dich, wenn es was gibt. Da wird sicherlich noch Einiges auf dich zukommen!"
Sie umarmte ihn noch einmal. "Mach es gut, Klaus!"
Sein Mund war trocken wie die Sahara. Er brachte kaum einen Laut hervor. Hielt seine Mutter am Ärmel fest. Er würde sie nicht ohne eine Antwort gehen lassen! "Mutter.... wer war Lenchen? Was... was habe ich getan??"

Sie blieb stehen, verharrte in der Bewegung wie jemand, dem man den Stecker herausgezogen hatte. Drehte sich zu ihm um, das Gesicht aschfahl. Sie drängte Klaus in eine etwas ruhigere Ecke, sah auf ihre Uhr, noch war Zeit.
"Lenchen war deine Schwester. Ja, du hattest eine Schwester. Sie war drei Jahre älter als du. Klaus, deine Schwester war behindert.... ein behindertes Kind. Du.... du mochtest sie.... du wolltest ihr wohl nur helfen." Sie schwieg.

Es war still um ihn. Der Lärm des Flughafens ebbte ab, er hörte nur noch das hefige Schlagen seines Herzens. Er blickte nach unten, der Boden schwankte seltsam. "Was... was habe ich denn getan?"
Seine Mutter blickte wieder auf ihre Uhr. Wollte das Gespräch nicht fortsetzen, das spürte er deutlich. Sie griff nach ihrer Handtasche.

Er krallte sich wieder an ihrem Mantel fest. "Sag es mir!! Was habe ich getan? Wieso habe ich sie umgebracht, wenn ich sie gemocht habe? Du musst es mir sagen! Mutter!!"
"Deine Oma hatte sie gebeten, etwas aus dem Keller zu holen. Kompott oder so etwas. Ich weiß es nicht. Sie.... sie war gehbehindert. Aber ein liebes Kind. Sehr hilfsbereit. Die Kellertreppe...."

"Was? Was ist mit der Kellertreppe? Ist sie gestürzt?" Hatte er das gefragt? Es klang nicht, wie seine Stimme.

"Du hast sie hinuntergestoßen!"

Der Fußboden kam immer näher.

Hinuntergestoßen...., dachte er. ICH HABE MEINE BEHINDERTE SCHWESTER UMGEBRACHT!!

"Klaus! Du warst ein kleines Kind. Du wolltest ihr sicherlich nur helfen, diese blöde Treppe runterzukommen. Du wusstest nicht, was du tatst!"
"Sie ist tot?" Er konnte es nicht glauben.
"Klaus, sie ist schon lange tot. Denk nicht mehr darüber nach. Es war ein schlimmes Unglück... es war nicht deine Schuld! Du warst nicht mit zur Beerdigung, wir hatten dich zu Hause gelassen. Es ist alles so lange her... achtzehn Jahre. Es war eine schlimme Zeit... ich möchte nicht mehr daran denken müssen." Sie sah wieder auf ihre Uhr, drückte ihn, diesmal wesentlich herzlicher, an sich. "Kommst du zurecht? Hier, hier hast du 20 Euro. Kauf dir noch was zu essen, bevor du heimfährst. Ich muss jetzt los.... pass gut auf dich auf. Vielleicht kommst du mich mal wieder in Rom besuchen? Oder ruf an! Also, danke, dass du dich hier um alles kümmerst. Mache es gut, Klaus!"
Sie streichelte ihm mit hilfloser Geste über das Haar, dann verschwand sie im Getümmel. Er war allein.

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Sie glaubte zu zerspringen. Ingeborg Wimmer lag in ihrem Bett, es war Samstagmorgen, sie würde das Wochenende frei haben. Frei, alles mögliche zu tun, bis auf.... Nur noch die stählernen Gürtel an ihrem Körper schienen sie zusammenzuhalten. Wie lange musste sie noch in diesen Dingern aushalten? Es war ein Glück, dass sie genau wusste, wie wichtig es war, ihre Haut unter den beiden breiten Gürteln täglich zu kontrollieren. Gab es irgendwo rote Druckstellen? Juckte es irgendwo?
Druckstellen gab es jede Menge, aber sie bekämpfte diese mit einem Puder, dass sie vor Wochen gekauft hatte.
Viel schlimmer waren die geistigen Druckstellen in ihrem Kopf. Dass sie sich nicht ungehindert bewegen konnte, dass sie nicht ihren eigenen Körper berühren konnte. Und dass sie immer mehr zweifelte, den jungen Mann noch einmal wiederzusehen. Hatte sie ihm zu wenig geboten?
Sie hatte ihre Fühler bis nach Regensburg ausgestreckt, hatte erfahren, dass dort tatsächlich ein gewisser Pater Ruprecht tätig gewesen sei, dieser aber gekündigt habe, nachdem es zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Was für Unregelmäßigkeiten, hatte sie nachgehakt, aber keine rechte Antwort bekommen. Es sei lange her, man wisse es nicht, nein, in den Akten stehe nichts. Einen Namen wolle sie haben? Was für einen Namen denn? Sie kannte doch den Namen: Pater Ruprecht. Und um was ginge es denn eigentlich?
Sie durfte nicht auf eigene Faust ermitteln. Und musste deshalb aufpassen, dass niemand misstrauisch wurde, am Ende gar bei ihrer Dienststelle nachfragte. Nein, sie hätte nichts Neues für den jungen Mann, so leid es ihr auch tat.

Klaus Behrend, dachte sie, hast du meine Schlüssel? Und warum meldest du dich nicht endlich bei mir? Merkst du nicht, dass ich am Verrecken bin??
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Klaus hatte keine Ahnung, wie er an jenem Abend vom Flughafen wieder nach Hause gekommen war. Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich so allein, so leer und hilflos gefühlt. Er hatte seine Schwester diese furchtbare Treppe hinuntergestoßen! Er trug die Schuld an ihrem Tod! Ein behindertes Kind....Lenchen....

Es war aus, sein Leben war jetzt auch aus. Tagelang aß er nichts, trank nur ab und zu etwas Wasser. Er wusch sich nicht, putzte sich nicht die Zähne, lag wie erstarrt im Bett und reagierte nicht auf das immer öfter klingelnde Telefon. Er wollte nur noch sterben.
Schließlich weckte ihn heftiges Klopfen an die Haustür aus seinem Delirium. Er wollte es einfach ignorieren, aber er erkannte Lyns Stimme, die immer wieder seinen Namen rief. Fast zu schwach, aufzustehen, kroch er aus dem Bett, ging zur Haustür und öffnete.

"Oh mein Gott... Klaus!? Was ist los? Was ist passiert?" Evelyn erschrak, als sie ihn sah. Mit raschen Schritten drängte sie an ihm vorbei und fing ihn gerade noch rechtzeitig auf, bevor er zu Boden stürzte.
Sie wusste, was zu tun war. Bettete ihn aufs Sofa, legte seine Beine hoch, gab ihm Traubenzucker aus ihrer Handtasche. Dann fühlte sie seinen Puls, schwach, aber regelmäßig. In der Küche kochte sie heißen Tee mit Zucker, vorsichtig gab sie ihm davon zu trinken. Sie fand Toastbrot und Käseecken, machte ihm eine Schnitte, hörte zu, wie er hungrig zubiss.

"War es so schlimm, mit deiner Oma?"
Er schüttelte nur müde den Kopf. "Meine Schwester...", flüsterte er, "ich habe meine Schwester umgebracht, als ich noch ganz klein war. Mutter hat es mir gesagt, kurz vor dem Abflug. Lenchen.... Sie, sie war behindert...." Er blickte sie mit rotgeränderten Augen an.
"Deine Mutter hat es dir gesagt?" Evelyn bemühte sich, ruhig zu bleiben. "Was genau hat sie dir gesagt?"
Klaus erzählte ihr alles. Er begann zu zittern, als er fertig war.
"Sch....!" Sie nahm seine Füße und massierte sie, bis sie warm wurden. Auch seine Gesichtsfarbe besserte sich wieder. "Klaus, nein, du hast sie nicht umgebracht. Es ist nur ein schreckliches Unglück gewesen...."
"nur...." wiederholte er leise.
"Ja, Klaus. Glaube mir, solche Dinge passieren. Ich habe in meinen Berufsleben genug schlimme Dinge erlebt, wo man glauben würde, so etwas könnte nie passieren. Aber sie passieren eben doch. Das ist Schicksal...." Sie machte ihm noch einen Toast, dann überredete sie ihn zu einem Bad. Er solle sich gründlich waschen, mal die Zähne putzen, frisches Zeug anziehen. Sie würde ihm beim Aufräumen helfen.

Er fühlte sich wesentlich besser, als er frischgeduscht und rasiert zu Evelyn in die Küche kam. Der Tee und die Toastbrote hatten geholfen, aber wichtiger war die Unterstützung, die er durch Lyn erfahren hatte.
"Na, geht´s wieder so langsam? Ja, das war bestimmt ein furchtbarer Schreck für dich, das zu erfahren." Sie nahm ihn in den Arm. "Sicherlich haben deine Eltern und die Oma einen Fehler gemacht, wollten es vergessen, die Erinnerung daran verdrängen. Aber so etwas lässt sich nicht verdrängen. Und du bist damals einfach zu klein gewesen, als dass sie es mit dir hätten verarbeiten können. Komm, ich hab in der Zwischenzeit mal eine Suppe gemacht. Ist zwar nur eine Tütensuppe, aber du musst noch mehr in den Magen kriegen; hast ja wahrscheinlich lange nichts gegessen."
"Ich hab gar nichts mehr gegessen, seit ich nach Hause gekommen bin. Mutter hatte mir noch 20 Euro gegeben, aber ich konnte einfach nicht."

"Kein Wunder! Sag mal...", Evelyn lag eine Frage auf der Zunge, wusste aber nicht recht, wie sie es formulieren sollte. "Deine Schwester, wieso...?"
"Wieso sie behindert war? Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts über sie. Mutter sagte nur, sie sei gehbehindert gewesen. Aber ob da mehr war, weiß ich nicht. Also eine geistige Behinderung", fügte er noch hinzu.
"Wahrscheinlich wirst du es nie herausfinden. Mit etwas Glück lässt sich ihr Grab finden. Falls du willst, helfe ich dir dabei. Ich befürchte bloß, man wird bei jeder einzelnen Friedhofsverwaltung nachfragen müssen; ein zentralers Gräberverzeichnis gibt es meines Wissens nicht."
Klaus sah sie dankbar an. "Schon gut, Lyn. Es pressiert ja nicht. Und vielleicht sollten wir sie einfach in Frieden ruhen lassen."
"Ja, vielleicht. Aber wenn du willst... wie gesagt. Sag mal, etwas ganz anderes. Wie lief es denn mit dieser Kommissarin? Hat sie dir weiterhelfen können... oder umgekehrt?"

Er hatte sie vollkommen vergessen! Im Moment schien ihm das Treffen mit dieser Frau Monate her zu sein. Er überlegte. Wann hatte er sie getroffen? Anfang des Monats? Es mochte bald drei Wochen her sein. Höchste Zeit, ein neues Treffen zu verabreden! Gleich abends würde er sie anrufen; sie hatte ihm ja ihre Karte gegeben!
Oh Gott! Die Schlüssel? Sie hatte ihm diese kleinen Schlüssel gegeben! Oder hatte er sie einfach an sich genommen? Warum hatte sie ihn nicht zurückgehalten?

"Nicht wirklich. Nun ja, Pater Ruprecht war wohl nur sein Name als Ordensbruder. Immerhin konnte sie herausfinden, dass er, nachdem er von meinem Internat weggegangen war, nach Regensburg zu den Domspatzen gegangen ist. Aber gemeldet ist er dort längst nicht mehr. Ich habe auch meine Mutter gefragt, ob sie mit diesem PDF etwas anfangen konnte. Aber viel mehr als raten konnte sie auch nicht. Sie hat allerdings versprochen, sich in Rom einmal darum zu kümmern. Wenn überhaupt, dann weiß man dort Bescheid. Wir müssen abwarten, Lyn!"

Die Sanitäterin merkte sehr wohl, dass er sie sprachlich in den Prozess mit hineingezogen hatte. Es war gut so, sie hatte längst beschlossen, ihn bei der Suche nicht allein zu lassen. Es würde sicherlich noch Situationen geben, wo ihre Hilfe benötigt würde. Und sei es nur mit einem Stück Traubenzucker oder einer heißen Suppe.

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Endlich! Ingeborg hatte es kaum glauben können, als sie seine Stimme am Telefon hörte. Ob sie am Sonntag für ihn Zeit hätte? Man könne sich irgendwo treffen? Vielleicht einen gemütlichen Spaziergang an der Isar machen? Sie schlug eine Bar auf der Praterinsel vor, es wäre gut, zuerst etwas zu essen, anschließend könne man dann ja einen kleinen Gang machen.

Der Sonntag hielt wieder strahlend schönes Septemberwetter parat. Leicht nervös schaute Ingeborg in ihren Kleiderschrank; was sollte sie anziehen? Hose ging ja immer noch nicht, die zehnmal verdammten Schenkelbänder verhinderten es leider nach wie vor. Sie überlegte einen Moment; so lange war sie zu Brunos Zeiten nie verschlossen gewesen! Neulich hatte sie sogar ihre Monatsregel bekommen; es war eine gnadenlose Sauerei; sie hatte sich für zwei Tage krank gemeldet; es ging einfach nicht.
Sie entschied sich für einen dünnen, aber doch recht eng anliegenden Pullover, unter einem Jackett sah das bestimmt ganz gut aus. Dazu wählte sie einen dünnen, wadenlangen Faltenrock, den sie seit Jahren aufbewahrt hatte. Irgendwann war er einmal modern gewesen, lange bevor diese langweiligen Miniröcke modern wurden, die heutzutage jede Frau zusammen mit Leggins trug. Vor ihrem Spiegel überprüfte sie noch einmal ihr Aussehen, diesmal war die breite Kette nicht zu sehen, die um ihren Nacken lief; alles war gut versteckt.
Schuhe? Zu diesem Rock konnte sie keine Halbschuhe tragen, und Sportschuhe waren ihr zu leger. Also Absatzschuhe. Wenn schon denn schon, dachte sie.
Sie fand einen Parkplatz ganz in der Nähe der Isar. es war nicht weit bis zur Praterinsel. Das Laufen in ihren Pumps war ungewohnt, in Kombination mit den Schenkelbändern war es eine rechte Herausforderung. Vielleicht hätte sie doch besser ihre Laufschuhe anziehen sollen? Jetzt war es zu spät.

Er war schon da. Der junge Mann hatte sich noch nicht an einen Tisch gesetzt, sondern stand, ihr den Rücken zuwendend, und sah auf den träge dahinfließenden Fluss. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, sie hätte sich gern unbemerkt genähert, aber jetzt drehte er sich um und lächelte sie an. Schüchtern, oder verlegen? Oder vielleicht sogar schuldig?
"Hallo Frau Wimmer! Schön, dass Sie schon kommen!"
Sie beschloss, aufs Ganze zu gehen. Sie musste Schranken überwinden, Abstand abbauen, wollte sie mit diesem Mann weiterkommen. "Ingeborg!", sagte sie und gab ihm die Hand.
"Klaus!, antwortete er. Er blickte wieder auf den Fluss. "Es ist so friedlich hier. Man kann kaum glauben...." Er beendete den Satz nicht.
"So ein Glück wir mit dem Wetter haben!" Eine Floskel, aber man kann nicht immer gleich mit der Tür ins Haus fallen. "Hunger?"
Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. "Oh ja! Ich habe in der letzten Woche nicht richtig gegessen."
Erst jetzt fiel ihr auf, dass er schlecht aussah. "Ich habe Sie vermisst, Klaus." Schmerzlich vermisst, aber das sagte sie lieber nicht. "Ich hatte schon Angst, Sie nie wieder zu sehen..."
Er riskierte einen schnellen Seitenblick auf sie. "War es so schlimm? Ich hatte doch gesagt, dass ich Sie wiedertreffen wollte!"

Sie suchten sich einen schattigen Tisch aus, bestellten Essen. Er richtiges Mittagessen, sie nur eine Kleinigkeit. Sie durfte nicht zunehmen, noch nicht.Während des Essens übten sie sich in harmlosem smalltalk, dann aber fragte er sie ganz ohne Umschweife. "Haben Sie etwas Neues für mich, Ingeborg?"
Es war seltsam, ihren Namen aus seinem Mund zu hören. Sie schüttelte den Kopf. "Nein, leider nicht. Ihr Lehrer hatte einige Zeit in Regensburg bei dem Domspatzen gearbeitet, hat dann aber auch dort gekündigt. Man sagte mir, es soll zu Unregelmäßigkeiten gekommen sein, aber was genau er dort gemacht hat, weiß ich nicht."
Klaus horchte auf. Unregelmäßigkeiten? Nannte man das jetzt so? Er verbarg seinen Blick. "Und, wo steckt er jetzt? Haben Sie das herausgefunden?"
"Nein. Ich habe ihn in halb Bayern gesucht, also in verschiedenen Melderegistern, aber er scheint sich förmlich in Luft aufgelöst zu haben."
"Kein Mensch löst sich in Luft auf! Ich muss ihn finden!" Seine Mine wirkte finster, entschlossen.
"Und haben Sie etwas für mich, Klaus?" Sie erwartete nicht viel.
Er grinste schelmisch. Griff in seine Jackentasche, holte ein kleines, in Papier eingewickeltes Etwas heraus und gab es ihr.
Ihre Schlüssel! Sie griff danach, etwas zu rasch vielleicht, steckte es in die Tasche ihres Jacketts. Das konnte warten. Aber nicht mehr lange. "Sie sehen schlecht aus, Klaus. Was ist passiert?"
"Er sah sie an. Fuhr sich mit schneller Geste über das Gesicht, so, als wolle er etwas wegwischen. "Es gab einen Trauerfall. Meine Großmutter ist gestorben."
"Oh, das tut mir leid." Hatte ihre Kollegin nicht gesagt, dieser Klaus Behrend wohne bei seiner Großmutter. Aber sie vermied es, Fragen zu stellen.

Sie beschlossen, einen kleinen Gang zu machen. Sie nahmen den Weg über die Praterwehrbrücke, bogen dann rechts auf den Uferweg ab.
"Meine Mutter meint, sie könne mir vielleicht helfen, etwas mehr über diesen Pater herauszubekommen." Er würgte das Wort Pater förmlich hervor.
"Ihre Mutter?"
"Ja. Meine Mutter lebt in Rom. Sie ist Redakteurin bei Radio Vatikan, ist für die deutschsprachige Sendung mit verantwortlich. Sie meinte, PDF sei nicht das richtige Kürzel für die Ordensgemeinschaft. Aber um was genau für einen Orden es sich handelt, das wusste sie noch nicht."
Ingeborg Wimmer hatte ihm aufmerksam zugehört und sich auf ihren Begleiter konzentriert. Der Weg war uneben, sie trat in ein kleines Loch und knickte mit ihrem Fuß um, gerade genug um Klaus heftig anzurempeln, der sie erschrocken auffing. Sie hatte sofort gemerkt, dass sie mit den stählernen Cups ihres Keuschheits-BHs gegen seinen Oberkörper gestoßen war, es musste ihm weh getan haben, aber er ließ sich nichts anmerken.
"Haben Sie sich etwas getan? Ihr Fuß...?"
"Nein, danke, es geht schon. Halb so schlimm. Die Schuhe...." Sie rieb sich den Knöchel, es war noch einmal gut gegangen.
"Tragen Sie wohl nicht so häufig?" Er sah sie an. War da was in seinem Blick?
Sie lachte. "Eher nicht. Wann hat man also Polizeibeamtin mal Gelegenheit, sich fraulich anzuziehen?"
"Steht Ihnen aber gut. Auch der Rock... Ich mag Faltenröcke... Sollten Sie öfter anziehen."
"Und Dirndl?" Sie hatte schnell gefragt. "Ist ja jetzt wieder Zeit für Dirndl... Oktoberfest und so." Seine Brust hob und senkte sich schneller.
"Nicht jedem stehen sie so gut..." Wieder dieser Blick. "Bin gespannt, ob meine Mutter etwas herausfindet." Er wechselte das Thema.

Sie gingen weiter, mussten das Flussufer verlassen, zunehmender Verkehrslärm deutete auf eine breite Straße hin, die sie überqueren mussten. "Die Prinzregentenstraße!", sagte sie. Sie waren an der Luitpoldbrücke angekommen. Es gab keinen Weg unter der Brücke hindurch, sie mussten sie oben überqueren.
Wimmer spürte plötzlich sein Unbehagen. Die Art, wie er plötzlich um sich schaute, wie er verstummte. Seine Augen, die schließlich eine bestimmte Stelle der Brücke fixierten. Seine Hände, die er plötzlich nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Sie kannte die Anzeichen. Aber sie stellte keine Fragen. Er würde alles abstreiten. Sie hatte keinen Beweis gegen ihn. Aber spätestens jetzt spürte sie instinktiv, dass sie der Lösung des Falls ganz nahe war. Was auch immer hier, an genau dieser Stelle an der Luitpoldbrücke geschehen war, sie würde es herausfinden. Sie würde nicht mehr locker lassen.
Sie gingen zurück auf den Uferweg. Plauderten harmloses Zeug. "Haben Sie ihre Bekannte gesprochen?"
"Evelyn?"
"Nein. Die andere. Wie hieß sie doch gleich? Barbara? Ich muss sie sprechen. Ich bin mir sicher, Barbara weiß wesentlich mehr. Mit ihrer Hilfe werde ich den Fall aufklären können. Haben Sie sie gefragt?"
Seine Stimme zitterte. "Ich... ich weiß nicht, ob sie Sie sehen möchte. Ich werde sie fragen... ja, ich frage sie. Aber morgen wird das nicht sein!"

Sie gingen noch ein Stück weiter, dann gab sie es auf. Glücklicherweise klingelte ihr Handy gerade, ein unwichtiger Anruf, sie hätte ihn wegdrücken können, aber sie benutzte ihn als Vorwand, sich von ihm zu verabschieden. Sie wollte nach Hause, wollte endlich ihren nackten Körper genießen, sie würde es keine Stunde mehr aushalten können, jetzt, wo sie endlich die Schlüssel wieder hatte.
Sie wünschte Klaus viel Glück bei der weiteren Suche nach seinem Lehrer, versprach, selber dranzubleiben, und bat ihn noch einmal, möglichst bald Barbara zu einem Treffen zu überreden. Dann verabschiedete sie sich an einer günstigen Stelle, nahm ein Taxi zurück zu ihrem Wagen.

Endlich! Sie atmete erleichtert auf, als sie sich hinter das Steuerrad setzte. Sie ordnete ihren Rock, legte ihre Hand zwischen ihre Beine, spürte den seidenen Stoff der Falten und darunter das stählerne Gefängnis, das sie so lange mit sich herumgetragen hatte. Gleich....

Wimmer griff in die Tasche ihres Jacketts, da war es noch, das kleine Päckchen. Eingepackt in einen Zettel. Sie wickelte ihn auseinander, sah, dass er etwas geschrieben hatte, starrte entsetzt auf die Praline in ihrer Hand. Ich weiß, wofür...., las sie. Sie packte die Praline aus, steckte sie in den Mund, aber auch da waren keine Schlüssel.

Ich weiß, wofür....? Wofür die Schlüssel sind?

34. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 26.12.16 16:43

wofür...wofür? Aus technischen Gründen muss mein heutiger Kommentar so kurz bleiben.
35. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 01.01.17 22:00

Zum heutigen Neujahrstag möchte ich allen Lesern ein gutes und gesundes neues Jahr wünschen!!
Unsere Geschichte nimmt heute langsam an Fahrt auf! Aber noch wird man sich einige Wochen gedulden müssen, bis wir verstehen, wieso ich letzte Woche von einer Art Weihnachtsgeschichte sprach.
Ich möchte noch einmal erwähnen, dass das Forum sich sicherlich über die eine oder andere Spende freuen dürfte. (Obwohl es mich etwas stört, dass man nirgendwo genaue Zahlen lesen kann; oder ich habe sie noch nicht gefunden!
Und - da mir das Wohl meiner Leser am Herzen liegt! - schreibt bitte, was Ihr denkt. Entweder in aller Kürze, hier auf dieser Seite, oder gern auch etwas länger unter der Rubrik ´Diskussion zu Stories --> Die München-Trilogie´. Eure Daniela möchte schließlich auch ihren Spaß haben!!
Euch allen einen lieben Gruß aus dem hohen Norden!
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Klaus starrte die Decke an. Was? Was sollte das alles eigentlich noch bringen? Ich habe meine kleine, behinderte Schwester in den Tod gestoßen!, dachte er immer wieder. Gut, seine Mutter hatte recht, Evelyn hatte recht, er war noch zu klein gewesen, um die Tragweite seiner Handlung zu erkennen. Aber an der Tatsache ändere es nichts. Sicherlich war daran auch die Ehe seiner Eltern gescheitert.

In seiner Hand hielt er die kleinen Schlüssel. Die wird blöde geguckt haben, als sie die Praline fand! Nix da mit Rammeln, oder bloß sich einen runterholen. Falls Frauen das auch machten, so ganz sicher war er sich da nicht. Ach, sollte diese Ingeborg doch sehen, wie sie damit klar kam! Sein Problem war es nicht. Sein Problem war, dass er nicht weiter wusste. Er hatte den point of return erreicht, den Umkehrpunkt. Es lohnte sich nicht, weiterzugehen. Er fühlte sich wie ein Gipfelstürmer, der nach langer, mühseliger Kletterei auf einem endlosen Hochplateau angekommen ist, wo sich keine Erhebung mehr für den glorreichen Gipfelsturm erkennen ließ.
Er hatte sich wieder ein wenig gehen lassen, hatte vergeblich auf einen Anruf Evelyns gewartet, oder dass sie wieder heftig an die Tür klopfen würde, aber nichts geschah. Die Decke fiel ihm auf den Kopf, es war Zeit hinauszugehen, um was zu machen?? Er wusste es nicht. Das??

Klaus bemerkte die junge Frau, die aus der Seitenstraße kam, erst, als er sie fast umgerempelt hatte. "Monika??" Er erschrak. Nein, das konnte nicht sein.
Auch Monika stutze. Sie hatte sich gerade von Agnes Jensen, Danielas Tante, verabschiedet. Alles war für ihre Rückreise nach Australien bereit, sie hatte neulich die Papiere zur Familienzusammenführung bekommen. Sie hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass ausgerechnet Klaus ihr noch einmal über den Weg laufen sollte. Aber sie verstand immerhin, dass wohl doch etwas am alten Sprichwort dran sein musste: Der Mensch denkt, und Gott lenkt.

"Klaus!? Ich glaub´s nicht! Ich dachte, du bist in Italien? Ich komme gerade von Danielas Tante, die meinte, so etwas einmal gehört zu haben!"
Er grinste sie an. Wusste im Moment nicht, was er von diesem Treffen halten sollte. "Ich bin zurück... zurück aus der Zukunft!" Ein blöde Antwort, das wusste er sofort. Aber sie sorgte dafür, dass Monika lachen musste.
"Oh Mann, immer noch Zurück-in-die-Zukunft-Fan? Wie geht es dir denn so? Hast du Zeit? Wollen wir uns irgendwo hinsetzen, drüben in die Konditorei vielleicht? Ich muss sehen, dass ich jetzt noch all den deutschen Kuchen zu essen bekomme, den ich kriegen kann. Geht ja bald zurück nach Australien!"

Es war nicht weit zu gehen. Sie schwiegen sich aus, redeten ein wenig über das schöne Wetter, und dass schon wieder Oktoberfestzeit sei. "Und", wollte er wissen, als sie mit ihren Getränken und Kuchen Platz genommen hatten, "hast du deinen Vater in Australien gefunden? Ich hab ja seit Ewigkeiten nichts mehr von dir gehört!"
"Ja", lachte sie fröhlich, "ich habe ihn gefunden. Und eine Familie!"
"Meine habe ich gerade verloren." Es war ihm so rausgerutscht. Er hatte es nicht sagen wollen, aber es wollte wohl gesagt werden.
Monika verstand es nicht. "Wen hast du verloren?"
Er sah sie an. Sein Blick war dunkel, die Augen matt. "Meine Familie. Ja, so könnte man es sagen. Ich habe meine Familie verloren." Und dann brach es aus ihm heraus, die ganze schlimme Geschichte, die erzählt werden wollte, weil sie so untragbar schwer war, viel zu schwer für seine schmalen Schultern.

Sie nahm seine Hand, fragte sich, was wohl gewinnen würde, die Wärme ihrer Hand oder die Kälte seiner. Sie suchte nach tröstenden Worten, fand aber nur das übliche Es-tut-mir-leid. "Auch was ich mit dir gemacht habe", fügte sie hinzu und blickte weg.
"Schon gut." Klaus zog die Nase hoch. "Ich hatte es verdient. Ich bin ja selber schuld nach dem Scheiß, den ich mit Dani gemacht hatte..."
"Nein! Nein, Klaus. Du warst doch von Anfang an Opfer meiner perversen Fantasie. Ich hatte dich doch in eine Falle gelockt. Ich allein trage die Schuld..."

Es war ihm unangenehm. Was geschehen war, war geschehen. Da gab es nichts aufzuarbeiten. Die Wahrheit lag sicherlich irgendwo in der Mitte, ein jeder trug Schuld, man konnte und durfte sie nicht anderen in die Schuhe schieben. "Ist es schön in Australien?"
Sie dachte nach. "Weißt du, das ist schwierig zu beantworten. Die Leute, die ich getroffen habe, waren alle super nett zu mir. Papa hat dort unten eine Familie gegründet, er hat zwei nette Mädchen. Sie haben mich sehr herzlich aufgenommen. In wenigen Tagen fliege ich wieder hin. Offiziell heißt das Familienzusammenführung, aber in Wahrheit ist es eher, weil ich dort einen netten Mann kennen gelernt habe. Wir wollen zusammenziehen." Sie sinnierte einen Moment. "Ja, ja es ist schön dort. Ich fühle mich dort geborgen und frei. Ich werde auch in dem Weingut arbeiten können, wo mein Vater arbeitet. Hab jetzt hier in diesem Sommer ein Praktikum oben in Franken gemacht... ja, ich glaube, das wird richtig für mich sein!"
Er sah etwas glücklicher aus, als er sie jetzt ansah. Wenigstens ein glücklicher Mensch!, konnte man aus seinem Blick lesen. "Das ist echt schön für dich, Moni. Da hat sich der lange Weg also gelohnt!"
"Oh ja, das hat er. Aber er war nicht leicht. Auf der Suche nach meinem Vater war ich kurz davor, aufzugeben. Aber ich wollte nicht. Ich musste weitermachen. Es war wichtig für mich! Verstehst du?" Sie trank einen Schluck. Er nickte, unterbrach sie aber nicht. "Weißt du, wie lang und wie steinig ein Weg ist, das erfährt man erst, wenn man ihn betritt. Und stellt dann vielleicht sogar fest, dass es halb so schlimm ist, dass es da Dinge zu entdecken gibt, dass man nicht allein unterwegs ist. Es sind unendlich viele Menschen auf der Suche, nach irgendetwas, nach irgendjemand, nach sich selbst. Wer einfach aufgibt, ist doch schon halbtot." Sie lachte leise, blickte auf ihre Uhr. "Alle Wege führen nach Rom! Du weißt doch, das alte Sprichwort." Sie blickte wieder auf ihre Uhr. "Du, ich muss leider gehen. Hab noch eine Verabredung. Schreibst du mir mal? Wart mal, hier hast du meine E-Mail Adresse.!" Monika nahm einen Bierdeckel vom Tisch, schrieb ihre Adresse darauf und malte noch ein kleines Herzchen hinzu. "Ja, versprichst du, dass du mir schreibst? Wir bleiben in Kontakt, ja?"
Sie stand auf, zog ihre Jacke an, drückte ihn herzlich an sich. "Hab dich lieb!" rief sie ihm noch über die Schulter zu, dann war sie weg.


München, Ende September

Er hatte sich für einen Moment gefangen. Das völlig unerwartete Treffen mit Monika hatte ihm einen neuen Impuls gegeben. Sie hatte sich verändert, das war ihm bald aufgefallen. Da war nicht mehr dieser Zynismus, diese dominante Ader, die immer nur einen Teil von ihr hatte durchscheinen lassen. Sie war, auch wenn er das komisch fand, ganzer geworden. Nicht zuletzt ihr Ich-hab-dich-lieb hatte ihn verwundert; zur alten Monika hätte es niemals gepasst, so etwas zu sagen! Es war deutlich, mit ihr war eine Veränderung vorgegangen. Ein Wunder, dachte er, das er nie für möglich gehalten hätte.

Dann aber holte ihn das Schicksal wieder ein. Mein Schicksal, dachte er, mein gottverdammtes Schicksal... Er hatte eine E-Mail seiner Mutter erhalten, diese sorgfältig durchgelesen, obwohl sie nur aus wenigen Worten bestand.
>OPD = Ordo Pueri Dei<

Ordo Pueri Dei? Davon hatte er noch nie gehört. Klaus tat, was heutzutage jeder tut, der sich informieren will, öffnete Wikipedia und gab den Suchbegriff ein.
Nichts. Kein Treffer. Seine Mutter musste sich getäuscht haben. Etwas, das nicht wenigstens in der einen oder anderen Sprache auf Wikipedia beschrieben wird, das gab es gar nicht.
Er versuchte es mit der deutschen Übersetzung, Orden der Knaben Gottes, aber auch das ergab keinen Treffen. Nicht einmal eine globale Google-Suche konnte weiterhelfen. Sie hatte sich geirrt.
Er ging zurück in sein Mailprogramm, wählte die Adresse seiner Mutter und schrieb: >Du musst dich geirrt haben! So einen Orden gibt es nicht!<

Erst abends erreichte ihn eine Antwort aus Rom: > Habe mich nicht geirrt. Ist eine geheime Bruderschaft, fast so ähnlich wie die französische Fremdenlegion. Ruf mich gegen Mitternacht an!<
Es wurde immer verrückter. Geheime Bruderschaft.... Fremdenlegion. War er in einem Roman von Dan Brown gelandet? Ihm fiel sein Albtraum wieder ein, den er in Rom, als er bei Andrea gefangen war, oft geträumt hatte. Der Schwarze Mönch, der hinter im her rannte, wild gestikulierend und femmina schrie. Aber das war doch auch nur ein Traum gewesen!
Und Pater Ruprecht? Gut, dass ihr keine Mädchen seid! PDF.... Pueri Dei Frater, ja das musste es sein.

Aber das war doch verrückt.

Bereits gegen halb zwölf abends wählte er die Nummer seiner Mutter. Sie war klar und deutlich zu verstehen, die Tage der schlechten Fernverbindungen ins Ausland waren gezählt; ein Glück. Nur halt, dass man heutzutage nicht mehr sicher sein konnte, wer alles sonst noch mithörte und seine Nase in Dinge steckte, die ihn nichts angingen.
"Mutter? Du hast dich geirrt. Ich kann absolut nichts finden über diesen komischen Orden!" Seine Stimme klang gereizt.
"Nein, Klaus, ich bin mir ziemlich sicher." Man vernahm eine dumpfes PLOPP, scheinbar hatte sie gerade eine Weinflasche aufgemacht. "Also, hör zu. Ich habe natürlich meine Kontakte hier im Vatikan. Und glaube mir bitte, nirgendwo sonst in der Welt ist die Arbeit als Journalistin so kompliziert, wie gerade hier. Du weißt ja, die einzige Frau, die den Leuten hier was gilt, ist die Jungfrau Maria!" Sie gab ein glucksendes Lachen von sich, dann folgte ein leises Scheiße!, Papier wurde von einer Küchenrolle abgerissen, dann war sie wieder da. "Du wirst hier nie jemanden finden, der wirklich etwas weiß. Aber alle glauben etwas zu wissen! Ist halt eine große Glaubensgemeinschaft hier!" Ein zischendes Geräusch war zu hören, sie hatte sich eine Zigarette angezündet; jetzt konnte also der gemütliche Teil des Abends beginnen.

"Du hast jemanden gefunden, der doch etwas wusste?" Er drängelte etwas.
Seine Mutter lachte. "Oh nein, ich sagte doch schon, so geht das hier nicht. Wir sind hier schließlich nicht bei Gericht, wo nach Fakten gesucht wird...."
"Bis zum Jüngsten Gericht wird es aber nicht mehr lange dauern, wenn die Kirche so weitermacht", warf er ein.
Seine Mutter quittierte mit einem weiteren Lachen, diesmal ohne sich zu verschlucken. Sie schien sich prächtig zu amüsieren. "Ja, Klaus, das ist zu befürchten. Blöde ist nur, die Christenheit wartet schon seit Jahrhunderten auf den Weltuntergang und das Jüngste Gericht, ohne dass wirklich etwas passiert! Sitzen alle immer nur da, beten und warten und vertun ihre Zeit, statt was Vernünftiges zu tun. Mal eben die Welt retten, bevor alles den Bach runtergeht...."
"...wie unser scheiß Plastikmüll, der geht ja auch den Bach runter!"
"Genau! Der kommt aber wieder zurück zu uns! Du weißt doch, die Fische fressen unser scheiß Plastik, weil die Meere voll sind damit, und wir essen dann diese Fische! Mahlzeit! Da lobe ich mir italienische Spaghetti!"

"Mutter!! Was denn nun?" Er kannte die Angewohnheit seiner Mutter, unbegrenzt weiterdenken zu können. Aber er wollte jetzt wissen, was sie herausgefunden hatte.
"Ja? Ach so, ja, dieser famose Orden. Also, ich glaube, ich habe eine Spur gefunden!"
"Du glaubst es, oder du weißt es??" Es konnte anstrengend sein, mit ihr zu telefonieren.
"Ich glaube, ich weiß es! Ich hatte bald nach meiner Rückkehr meine Leimruten ausgelegt. Weißt du, wenn man hier viel rumfragt, dann hat man schlechte Karten. Man muss seine Fragen wie ein Gerücht formulieren, das man selber aufgeschnappt hat. Mit etwas Glück bekommt man dann das zu wissen, was man wissen möchte."
"Ja... ein Gerücht." Er war ärgerlich. "Mutter, das ist doch dummes Zeug. Und du hast ja gesehen, wohin die Gerüchteküche führt! Fremdenlegion! Jetzt sage nicht, es gibt da einen Orden, der irgendwo in der Welt seine Truppen einsetzt, sicherlich dann auch noch ad dei gloriam, zum Ruhme Gottes?"
"Sag ich ja gar nicht!" Klang sie beleidigt? "Also hör zu und schwafel hier nicht rum! Es heißt, es gebe hier einen Orden, dem jeder, der katholisch ist, beitreten kann. Jeder Mann natürlich. Ein richtiger, vom Papst anerkannter Orden ist es nicht, sonst wüsste man es hier. Also es ist eher so eine Brüdergemeinschaft. Davon gibt es dutzende."
"Eine Brüdergemeinschaft?"
"Ja. Irgendwelche Leute tun sich zusammen, basteln sich eine mehr oder weniger christliche Satzung, kaufen sich gemeinsam ein Haus, lassen ihre Einkünfte in ein gemeinsames Konto fließen, machen sich dann ein feines Schild mit nichtssagenden Buchstaben an die Haustür, und fertig ist die Brüderschaft."
"So einfach soll das sein?", zweifelte Klaus.
"Im Prinzip ja. Es gibt hier keine deutsche DIN-Norm für so etwas. Erst, wenn sich so eine Gemeinschaft dazu entschließt, offiziell anerkannt zu werden, wird es kompliziert. Aber das machen wohl die wenigsten. Dauert ja viel zu lange... und sie müssten ständig beten!" Sie lachte wieder, dann hörte man im Hintergrund das Erkennungszeichen von Radio Vaticano, es war bereits Mitternacht. "Klaus, ich muss sehen, dass ich ins Bett komme. Morgen schreibe ich dir, wie du erfahren kannst, wo dein Lehrer lebt. Ich bin jetzt echt zu müde. Aber es gibt einen Weg... es gibt immer einen Weg! Gute Nacht!!"


München u. Rom, Anfang Oktober

Klaus fragte sich, ob die Mitreisenden seine Nervosität für Flugangst hielten. Irgenwie war das alles hier Verkehrte Welt. Bereits vor dem Terminal waren ihm hunderte Italiener entgegengekommen, in der Hauptsache Männer, die alle auf dem Weg zum Oktoberfest waren, um sich eine schöne Zeit zu machen, viel Bier zu saufen, vielleicht mal eine hübsche Blondine im Dirndl anzubaggern.
Er aber saß jetzt im Passagierbereich und wartete auf seinen Abflug.... nach Rom. Mit jeder Minute wurde er nervöser. Rom! Dieser furchtbare Albtraum! Er würde Andrea wieder in die Hände laufen, er würde wieder versklavt, auf ein Schiff verfrachtet, nach Arabien verkauft. Und weshalb eigentlich? Wollte er wirklich all diese Gefahren auf sich nehmen, nur um einen Menschen zu finden, der ihm vor Jahren Schlimmes angetan hatte? Eine Sache, über die längst Gras gewachsen war?
Es war Evelyns Idee gewesen. Sie war Schuld, dass er sich jetzt auf den Weg gemacht hatte! Sie hatte ihm den Floh ins Ohr gesetzt, er solle Pater Ruprecht ausfindig machen, ihn zur Rede stellen.... Oh ja, als ob das so einfach wäre! He du altes Schwein, du dreckiges Miststück, weißt du eigentlich, was du mir und vielen anderen Jungs angetan hast?, würde er sagen. Und dieser würde dann auf die Knie fallen und um Vergebung bitten, dass es ihm sooo unendlich leid täte und er selber doch als Kind missbraucht wurde? Sicherlich würde er irgendso einen Quatsch anbringen - und dann eiskalt weitermachen. Nein, dachte Klaus, auf so etwas würde er nicht hereinfallen. Und er wusste, es gab nur eine einzige Möglichkeit, ihn zu stoppen!

Endlich begann das Boarding. Seine Gruppe wurde zuletzt aufgerufen; er bekam einen Platz hinter der rechten Tragfläche. Genau wie seine Mutter hatte auch er auf einen Koffer verzichtet, sein Rucksack ging noch als Handgepäck durch, er hatte genug Kleider für einige Tage hineingestopft; länger würde es nicht dauern. Wenn überhaupt.
Seine Maschine rollte über das Vorfeld, das Wetter war gut, die Luft leicht diesig, da würde es heute keine Probleme geben. Er sah andere Maschinen auf ihre Parkpositionen rollen, wäre er doch bloß vorher ausgestiegen, dachte er, jetzt war es zu spät, niemand kann seinem Schicksal entrinnen; jetzt war er an der Reihe.
Klaus schloss die Augen, hörte das Aufbrüllen der Triebwerke, spürte mit zunehmender Beschleunigung den wachsenden Druck auf den Körper, das unruhige Rollen des Fahrwerks über die Startbahn, dann, ein Augenblick der Stille, er kippte sanft nach hinten, ein Poltern unter seinen Füßen verriet, dass das Fahrwerk eingefahren wurde, dann gab es eine leichte Bewegung nach rechts, seine Maschine hatte ihren Kurs aufgenommen und strebte der Reisehöhe entgegen.
Er hatte die Welt verlassen. Er blickte aus dem Fenster, sah das leichte Zittern der Tragfläche, die würde ewig halten, die würde nie abfallen; aber er? Könnte man doch nur ewig so weiterfliegen, immer höher dem blauen Himmel entgegen, wie ein kleines, sterbendes Kind, das dem Lieben Gott entgegenschwebte. Aber er wusste, weiter oben war der Himmel nicht mehr blau, dort war er schwarz, und seine kleine Schwester musste unten, im dunklen Keller, sterben, weil er sie hinabgestoßen hatte.

Es gab leichte Turbulenzen über den Alpen, majestätisch lagen sie unter ihm. Seltsam, dachte er, normalerweise verbindet man ein Gebirge mit hohen Gipfeln, die sich emporheben, Orte, die so mancher gern erreichen möchte. Aber von hier oben war es anders, hier waren es die Täler, die Bedeutung bekamen. Einschnitte. Lichtlose Orte. Warum fiel ihm jetzt wieder dieser Spruch ein? Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürcht ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Verrückt, dachte er. Die halbe Weltbevölkerung ließ sich mit derartigen Sprüchen lenken!

Er griff in seine Tasche und holte noch einmal die E-Mail seiner Mutter hervor, die er ausgedruckt hatte. >Hallo Klaus! Endlich habe ich Zeit, wollte Dir doch schreiben, wie Du Namen und vielleicht auch Adresse Deines Lehrers herausbekommst. Es ist etwas tricky, könnte aber klappen! Also, diese Bruderschaft hat hier in Rom ihr Mutterhaus. Also ihren Stammsitz, man nennt es Mutterhaus, soll wohl etwas lieber klingen. Ich hatte doch gesagt, dass es da eine gewisse Ähnlichkeit mit der französische Fremdenlegion gibt. Zumindest, was die Aufnahme betrifft. Mir wurde gesagt, man brauche bloß zu dieser Bruderschaft hinzugehen, um Aufnahme bitten, und dann wählt man sich einen Namen aus, unter dem man fortan leben möchte. Sinn dieser Übung ist natürlich, dass man auf diesem Wege sein gesamtes bisheriges Leben hinter sich lassen soll, der neue Name steht sinnbildlich für das neue, christliche, Leben, das zu führen man von nun an entschlossen ist. Man wird nicht nach seinem Vorleben gefragt, angeblich bekommt man sogar neue Dokumente. Allerdings muss die Bruderschaft sichergehen, dass es keinen Namen doppelt gibt. Man sieht also nach, ob der gewünschte Name bereits vergeben ist. Und jetzt kommt´s! Angeblich macht man all das allein, sobald man das Haus betreten hat, in einem Raum mit einem PC. Und hier sind, nach dem was ich so gehört habe, die neuen Namen zusammen mit den alten Namen abgespeichert! Auch in einer Bruderschaft heißt es also: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! So, ich hoffe, ich konnte Dir damit helfen! Brauchst also nur dort hinzugehen und so zu tun, als wolltest Du bei der Truppe mitmachen! Sage Bescheid, wenn Du kommst! Kannst bei mir wohnen! Mama - PS. Bring besser mal Deine Taufurkunde mit, man weiß ja nie!<

Der Schweiß brach ihm wieder aus, als er an die Suche nach seiner Taufurkunde dachte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er suchen sollte. Sicherlich hatte seine Oma dieses Papier besessen, aber was hatte sie damit gemacht? Hatte sie es jemals für irgendetwas gebraucht? Immer verzweifelter hatte er Schränke und Schubladen durchstöbert, hatte alte, fast schon vergilbte Akten aus dem Leben seiner Oma gefunden, Dokumente mit Hakenkreuzstempel, Dokumente mit verschmierten Stempeln amerikanischer Besatzungsbehörden. Ein komplettes Leben hatte sich vor ihm ausgebreitet, säuberlich dokumentiert. Nur von seiner Taufurkunde war nichts zu finden. Wohl aber Belege dafür, dass seine Großmutter Gutes für andere getan hatte, sie hatte für die SOS Kinderdörfer gespendet, sie hatte Lose der Aktion Mensch gekauft, sie hatte scheinbar sogar die Pflegepatenschaft für eine kleine Magda übernommen, von der sie nie erzählt hatte. Fast war es ihm vorgekommen, als hätte seine Oma jahrelang versucht, eine Schuld abzutragen.

Erst der Gedanke daran, wofür sie seine Taufurkunde möglicherweise gebraucht haben könnte, hatte ihn weitergebracht. Vielleicht für das Internat? Mittlerweile klammerte er sich an jeden rettenden Gedanken, die Sache mit dem Internat war nicht ganz unwahrscheinlich. Immerhin wollte man dort ja bestimmt sichergehen, keine falsche Brut aufzupäppeln.
Und tatsächlich, ein Anruf hatte Klarheit gebracht. Das für ihn so wichtige Dokument war abgeheftet worden, man hatte, nach seinem Abgang von der Schule, leider vergessen, es ihm auszuhändigen. Eine Menge Entschuldigungen folgten, verbunden mit der Frage, wofür er es denn jetzt, so gänzlich unerwartet, gebrauche, und er ließ es sich nicht nehmen, der Sekretärin zu stecken, er trage sich mit dem Gedanken, einer Bruderschaft beizutreten... und: Blöde Kuh! Ach, leck mich doch! in Gedanken angefügt. Das hatte gut getan, besonders als er die ihm allzu vertrauten Schwingungen vom anderen Ende der Verbindung wahrnahm, die ihn schon zu Schulzeiten immer so angekotzt hatten, sobald einer der Patres in der Nähe war. Ekelhaft, dachte er, die werden es nie lernen! Immerhin kam das Papier schon einen Tag später mit der Post; die Sekretärin hatte Wort gehalten und er hatte seine Reise planen können.

Rom Fiumicino empfing ihn mit feuchter Schwüle. Er kannte den Flughafen von früheren Reisen, fühlte normalerweise eine gewisse Leichtigkeit, wenn er über die herbeigefahrene Treppe die Maschine verließ und zum ersten Mal wieder diese betörende Mischung aus harzigem Pinienduft, Meeresbrise und Kerosin einatmete, aber heute war es anders.
Er sah sich um, noch bevor er den Beton des Vorplatzes betreten hatte. Er warf seinen Rucksack über die Schulter, trug ihn aber nicht, wie sonst, nur über der einen Schulter, sondern über beiden Schultern, bereit, notfalls davonlaufen zu können. Davonlaufen?, dachte er. Er war sein ganzes Leben lang davongelaufen. Hatte er sich nicht auf diese Reise eingelassen, um endlich einmal nicht mehr davonzulaufen? Um irgendwie den Bann des Bösen zu brechen? Um endlich den Kampf aufzunehmen, jetzt, da er stark genug geworden war?
Seine Mutter holte ihn nicht ab. Es war früher Nachmittag, sie würde genug zu tun haben in der Redaktion von Radio Vatikan. Weise Gedanken und Worte des Papstes mussten in alle Welt hinausgefunkt werden; das Wort Gottes allein genügte schon lange nicht mehr. Aber man wollte sich am frühen Abend in einer Taverne zum Essen treffen; so hatten sie es vereinbart. Zeit genug also, mit dem langsamen, aber günstigeren Bus in die Stadt zu fahren.

"Hattest du einen guten Flug?" Seine Mutter umarmte ihn und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
"Danke. Ja, war ganz gut. Ist ja immer noch ganz schön heiß hier in Rom."
"Oh ja, endlich kann man es wieder aushalten!" Seine Mutter lächelte, sie schien den Unterschied nicht bemerkt zu haben. Sie bestellte Essen, für Klaus gleich mit, was er dankbar zur Kenntnis nahm, denn seine Italienischkenntnisse hielten sich nach wie vor in Grenzen.
"Ich hoffe, du hast einen guten Stadtplan von Rom?", kam er schließlich zur Sache. "Mein altes Handy hat leider Probleme mit dem Internet."
"Einen Stadtplan? Wofür brauchst du denn einen Stadtplan?"
Hatte Klaus sich gerade noch gut gefühlt, war dieses Gefühl mit einem Schlag wieder einer schwarzen Wolke gewichen, die sich auf sein Gemüt legen wollte. Was sollte das? Spielte sie mit ihm? Immer dieses Diffuse bei seiner Mutter. "Ich muss doch diese Adresse von der Bruderschaft finden! Schon vergessen?"
"Natürlich nicht, Klaus. Als ob ich das vergessen könnte!" War da etwas beleidigte Leberwurst in ihrem Blick? "Aber was willst du da mit einem Stadtplan? Glaubst du, deren Mutterhaus ist da irgendwo eingezeichnet?" Sie zog spöttisch einen Mundwinkel nach unten.
"Mensch, Mama! Aber die Adresse, die du mir gibst, die werde ich ohne Stadtplan ja wohl nicht finden, oder?"
Seine Mutter sah ihn erstaunt an. So als wurde ihr gerade gewahr, dass ihr Sohn nicht alle Tassen im Schrank hatte. "Was für eine Adresse denn? Ich habe keine Adresse."
Er ließ Gabel und Messer polternd auf den Teller fallen. Keine theatralische Geste, nur eine natürliche Schreckreaktion. "Was?? Wie.... wie du hast keine Adresse für mich? Du sagtest doch, man brauche nur hinzugehen und um Aufnahme zu bitten, und.... und...."
"Ja, das habe ich gesagt."
"Verarschen kann ich mich selber, Mutter." Er hatte sich längst entschlossen, so schnell wie möglich zurückzufliegen. Das hier hatte keinen Sinn. Er würde die böse Vergangenheit ruhen lassen, wollte nicht mehr in ihr herumstochern und am Ende weitere Leichen zum Vorschein bringen. Aus. Das Spiel war aus.


München, Anfang Oktober

Verloren. Sie hatte das Spiel eindeutig verloren. Ingeborg Wimmer überlegte nicht zum ersten Mal, ob sie sich krank melden sollte. Und dann? Wie war das? Drei Tage ohne Attest? Nein, das war keine Option. Gab es irgendeine Möglichkeit, ihren stählernen BH endlich loszuwerden, den Keuschheitsgürtel ausziehen zu können, sich die verfluchten Schenkelbänder von den Beinen abstreifen zu können? Eigentlich nicht. Doch, aber erst dann, wenn sie sich verloren gab. Es gab Werkzeug, welches dicke Ketten zerschneiden und Schlösser sprengen konnte.
Sie durfte nicht verlieren. Sie musste das Spiel ganz einfach noch nicht verloren geben, das war es. So simpel konnte man es formulieren. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie es angefangen hatte. Hatte es mit den Schlüsseln angefangen, die sie, scheinbar spielerisch, scheinbar achtlos, Klaus an jenem Nachmittag Ende August zugeschoben hatte? Oder hatte es schon viel früher begonnen, sehr viel früher, als sie kleine Schlösser gekauft hatte und dann so lange mit einer Feile bearbeitete, bis sie imstande war, sich selber einzuschließen? Sie erinnerte sich nur zu gut an jenen Moment, als sie die Leiche des jungen Mädchens unten an der Isar untersucht hatte. Die Ärztin, die sagte, sie habe ein Problem, die Körpertemperatur zu nehmen! Als sie dann feststellen musste, dass die Tote unter ihrem Dirndl komplett verschlossen war.... Und wie sie bereits an jenem kalten Oktobermorgen spürte, das hier, dieses Eingeschlossensein, das musste sie auch ausprobieren! Ja, einfach war das gewesen, denn sie hatte gar keine Wahl gehabt. Der Keuschheitsgürtel, der BH und die Schenkelbänder hatten Macht über sie, ließen sie nicht mehr ruhig schlafen, nicht mehr logisch denken; sie übten eine dunkle Magie auf sie aus, fast so wie der goldene Ring in ´Herr der Ringe´.

Die ersten Tage, nachdem sie sich Klaus ausgeliefert hatte, boten eine ständige Steigerung ihres sexuellen Verlangens. Nach gut zwei Wochen rebellierte ihr Körper, schaltete er auf Frigidität um; sie spürte kein Verlangen mehr, nur noch den Kampf des Körpers gegen die ewig spürbare Wand aus Stahl. Sie arrangierte sich, so gut es ging, schraubte ihr Aktivitätsniveau herunter, drückte sich tief in weiche Kinosessel, statt durch die City zu flanieren. Richtig schlimm aber wurde es erst, nachdem sie feststellen musste, dass Klaus ihr die Schlüssel nicht wiedergeben wollte. Dieser Zettel... ich weiß wofür..., wusste er es wirklich? Oder hatte er am Ende etwas ganz anderes gemeint? Nein, ausgeschlossen. Er musste es gewusst haben. Spästens ab diesem Zeitpunkt wuchsen neben den psychischen Qualen auch die physischen Schmerzen; sie glaubte, ihre Beine würden dicker, der enge BH ließ sie nicht mehr richtig atmen, immer wieder hatte sie Attacken von Atemnot, der Taillenreifen schnitt sich in ihr Fleisch und der Reifen, welcher durch ihren Schritt verlief und ihr nach wie vor den Zugang zu ihrer Scham verwehrte, drückte immer heftiger gegen ihr Steißbein; ein Schmerz, den sie immer häufiger mit Schmerzmitteln bekämpfen musste.

Wer war dieser Klaus? Sie hatte einiges herausgefunden, aber viel zu wenig, um ein Psychogramm erstellen zu können. Sie spielte die möglichen Varianten durch: Erstens: Er war selber Opfer. Aber Opfer wovon? Von wem? Von diesem seltsamen Lateinlehrer? Da war er sicherlich nicht allein. Tausende Schüler in der ganzen Republik waren doch mehr oder weniger Opfer ihrer Lateinlehrer. Oder hatte man jemals von einem guten Lateinlehrer gehört?
Die zweite Möglichkeit war, er war Zeuge der Tatnacht. Aber wenn er etwas gesehen hatte, warum kam er nicht damit heraus? Wollte er jemanden decken? Vielleicht gar diese Barbara? Oder war es die allgemeine Scheu vor der Zusammenarbeit mit der Polizei?
Eine dritte Möglichkeit war sicherlich die unwahrscheinlichste. Er hatte bloß durch Zufall Kenntnis von der ganzen Sache bekommen. Wenn dem so war, warum hatte er dann überhaupt Kontakt zur Polizei aufgenommen? Obendrein noch so kompliziert, indem er diese Sanitäterin vorschickte? War er einfach nur ein verklemmter junger Mann, der mal eine Polizeibeamtin anbaggern wollte? Dieser ganze Quatsch mit ihrem Aussehen?
Oder die vierte und letzte Möglichkeit. Er selber war der Täter. Ein Psychopath, ein Mensch, dem man nie etwas würde beweisen können. Jemand, der sich möglicherweise schon sein neues Opfer ausgesucht hatte? Es fröstelte sie. Der Gedanke an ein weiteres, unschuldiges Mädchen, das durch ihn den Tod finden konnte, ließ ihr keine Ruhe.
Sie hatte in den Akten nachgelesen, was zu seiner Zeugenbefragung festgehalten wurde. Es war verschwindend wenig. Er wurde als junger, sehr introvertierter Mann beschrieben. Mann hatte einen Abdruck von seiner Hand gemacht, aber nur festgehalten, dass es keine Übereinstimmung gab. Der Abdruck selber war nicht mehr vorhanden, der Name des Beamten, der die Befragung durchgeführt hatte, war ebenfalls nicht festgehalten.

In der Akte fand sie das Phantombild jener jungen Frau, die Barbara genannt wurde. Nichtssagend, dachte sie. So sehen fünfzig Prozent aller Frauen aus! Würde sie sie jemals treffen? Sie musste sie treffen! Oder war vielleicht gerade diese Barbara schon das nächste Opfer, das er sich ausersehen hatte?
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Bis zum Sankt Nimmerleinstag würde sie nicht warten. Vielleicht noch ein, zwei Wochen. Frühestens dann würde sie ihre Niederlage eingestehen.... und zum nächsten Baumarkt gehen!
36. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von ev_1 am 07.01.17 20:01

Das Unvorsehbare ist geschehen: Monika aus dem fernen Down Under hat doch noch eine Erwähnung bekommen. Das ist schade, das es wahrscheinlich nur bei dem kurzen Intermezzo bleibt. Interessant wäre es halt zu erfahren, wie sie inzwischen mit ihrer dunklen Seite umgeht und damit soll nicht ihre dominante Ader gemeint sein...
37. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 08.01.17 22:00

Und schon wieder Sonntagabend!! Ich freue mich, dass es in meiner Geschichte voran geht und hoffe, dass meine Leser weiterhin gut unterhalten werden. Übrigens steckt da mehr Arbeit drin, als man vermuten mag! Das Schreiben selbst dauert natürlich seine Zeit, aber es geht meist flott von statten. Im Grunde genommen musst ich ja nur die Augen schließen und dann beschreiben, was ich sehe. Blöde nur, dass es sich so, mit geschlossenen Augen, schlecht schreiben lässt!!
Viel Zeit vergeht dann meist sonntags damit, die Codes für fetten und kursiven Text einzubauen! Und dann, wenn ich dies fertig habe und den Text auf die Forumseite hochlade, kommt das Schlimmste! Dann nämlich muss ich, anhand des kleinen Schreibfensters, nachträglich noch einmal den ganzen Text durchgehen und Absätze einbauen, da sich diese leider nicht von meinem Originalmanuskript mitkopieren lassen. Dies ist wirklich sehr nervig und dauert ewig und mit dem Resultat bin ich selten zufrieden.
Es tut mir leid lesen zu müssen, dass scheinbar andere Probleme haben, Kommentare zu schreiben. Traurig, sehr traurig. Vielleicht wissen ja die weisen Admins, woran es liegt??

Heute Nachmittag schrieb ich ein wenig Generelles zu meiner Geschichte. Bitte nachlesen in der Rubrik "Diskussion zu Stories ---> Die München-Trilogie.
Ich danke weiterhin für Euer Interesse und hoffe, bald wieder mehr Kommentare lesen zu können. Und nun gute Spannung!
Eure Daniela 20
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Rom, Mitte Oktober

Er war geblieben. Seine Mutter hatte seine Unruhe, seine Enttäuschung bemerkt und ihn gebeten, wenigstens über Nacht zu bleiben, alles noch einmal zu überdenken. Und genau das hatte er getan. Er hatte sich Monikas Worte in Erinnerung gerufen: Ich war kurz davor, aufzugeben. Aber ich wollte nicht. Ich musste weitermachen. Es war wichtig für mich! Hatte er denn gar keine Chance?
Trotzdem verlief der Abend alles andere als harmonisch. Klaus spürte die Distanz zwischen ihm und seiner Mutter, sobald beide etwas zur Ruhe gekommen waren. Er wusste, es lag immer noch etwas zwischen ihnen, der Name eines Kindes, das er auf seinem Gewissen hatte. Nach einem Glas Wein - in vino veritas - sprach er ihn aus: "Lenchen?"
Seine Mutter musste es erwartet haben. Ein unruhiger, flatternder Blick traf ihn, dann schüttelte sie müde den Kopf. "Ich will nicht darüber sprechen. Nein!"
"Aber du musst doch..."
"Gar nichts muss ich, Klaus. Ich will nicht darüber sprechen und schon gar nicht daran denken. Es war eine schlimme Zeit...." Sie sackte etwas zusammen. "Es ist vorbei. Es war ein Unfall. Sie ist lange tot... Nein! Da gibt es nichts, worüber wir sprechen müssten. Ich will es nicht!" Sie zündete sich eine Zigarette an und ging an das geöffnete Fenster. Es war dunkel geworden in der Ewigen Stadt, nur die mächtige Kuppel des Petersdoms glänzte erhaben über römischen Dächern. Ferner Straßenlärm drang an sein Ohr, der Geruch der Großstadt füllte den Raum.

"Wirst du bleiben?", fragte sie ihn, während sie hinausschaute und weiße Rauchwolken in den dunklen Himmel blies.
´Fumo bianco.... fumo bianco!!´, glaubte er eine Stimme zu hören, die sich vor Begeisterung fast überschlug. Hatte er das erlebt? Nicola.... Die Erinnerung ließ ihn nicht los, die wenigen Wochen, bevor sein wahres Martyrium einsetzte, die Wochen und Monate der Gefangenschaft, der Erniedrigung, der Hilflosigkeit. ´Habemus papam!!´ Dieser ekstatische Freudenruf, der wie ein Lauffeuer durch die Menge hallte, die vielen glücklichen Gesichter, die ihn umgaben. Der Glaube der Vielen an die heilsbringende Botschaft...
"Bleibst du?" Seine Mutter wiederholte ihre Frage. Jetzt sah sie ihn an.
"Habe ich eine Chance?" Er sah zu Boden.
"Eine Chance? Du willst eine Chance? Dann geh ins nächste Spielkasino. Dort hat man Chancen. Hier ist das anders!"
"Aber ich kann doch nicht wochenlang durch die halbe Stadt laufen und Türschilder suchen!"
"Wenn du nur die halbe Stadt absuchst, wirst du nur eine halbe Chance haben! Dann flieg besser morgen wieder nach Hause!"
Er stand auf, stellte sich neben seine Mutter ans Fenster. "Dieses wahnsinnige Häusermeer dort unten..." Er schwieg. Nein, das ging einfach nicht.
"Wart mal! Ich hole mal eben das Buch!" Sie ging in ihr Arbeitszimmer.
Das Buch? Welches Buch sollte das sein? Sie hatten bis jetzt über kein Buch gesprochen. Als sie zurückkam, sah er, welches Buch sie meinte.
"Schlag mal auf! Matthäus, Kapitel 7, Vers 7!" Sie reichte ihm eine deutsche Bibel.
Er zögerte, dann nahm er das Buch, schlug die Textstelle auf und las, was der Evangelist geschrieben hatte. Seine Augen wurden feucht, wieder so ein Spruch... Immer nur Sprüche, dachte er, aber seine Entscheidung war gefallen. Er schwieg, dann nickte er.

Seine Mutter reichte ihm sein Weinglas. "Ich weiß, was du denkst. Aber da steckt doch eine Menge Wahrheit drin. Weißt du, es ist immer leicht an allem zu zweifeln, alles zu verhöhnen, für dummes Zeug zu halten. WIR stehen ja über den Dingen! WIR sind ja aufgeklärt! WIR wissen heutzutage ja alles! WIR brauchen diesen ganzen Scheiß doch nicht.... Aber, wenn ich es boshaft sagen sollte, auch das ist nur Glaube. WAS wissen wir denn wirklich? WAS können wir denn wirklich bis ins kleinste Glied erklären? Du musst zugeben, im Leben gibt es immer wieder Situationen, in denen wir feststecken, wo wir keinen Meter weiterkommen, so sehr wir uns auch mühen. Und was hilft uns dann? Oh ja, diese altmodischen Werte wie Glaube, Liebe, Hoffnung!! Sie mögen in unserer heutigen Zeit für uns alle die größte Herausforderung sein, sie noch in unser Leben zu lassen, ihnen Platz zu geben, Platz und Zeit. Ja, der Glaube braucht Platz im Menschen, denn er möchte wachsen, ganz wie die Liebe. Und die Hoffnung braucht Zeit, unendlich viel Zeit. Sie dürfen wir am allerwenigsten einschränken, wir dürfen nicht sagen, ich hoffe, bis morgen wird alles gut, und danach kommt die Sintflut und alles geht den Bach runter! Nein, wir müssen der Hoffnung Zeit geben, und wenn es morgen nicht klappt, dann wird es übermorgen klappen, oder nächste Woche! Wir besiegen das Schickal, indem wir einen Gedanken fassen, einen guten Gedanken, und ihn der rauen Wirklichkeit gegenüberhalten! ICH gebe nicht auf, ICH weiß, wie es besser sein wird!! So funktioniert das, Klaus!"

Welch eine Rede! Nie zuvor hatte er seine Mutter so reden hören! Klaus stellte sein Glas auf dem schmalen Fenstersims ab, nahm seine Mutter in den Arm, ließ nun seinen Tränen freien Lauf. Doch die Schuld blieb bei ihm; er hatte ihr kleines, behindertes Kind getötet; es würde immer so bleiben....

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"Ordine pueri dei?" - "Casa OPD?" Seit Tagen war er unterwegs. In irgendeiner Straße, in irgendeinem Stadtteil Roms, auf irgendeinem der Sieben Hügel der italienischen Hauptstadt. Einen wirklichen Plan hatte er sich nicht ausgearbeitet, Leute beobachten, Leute fragen, immer dieselben Fragen, immer gab es dieselben Antworten. Irgendwo musste es sein.
Die ewige Suche in der Ewigen Stadt, sie wurde zunehmend zu seiner persönlichen via dolorosa, seiner Straße der Schmerzen. Er spürte das Kreuz, das er mit sich herumtrug, durch enge Gassen oder breite Avenuen, tot, dachte er; Daniela war tot, weil er nicht geholfen hatte, Lenchen war tot, weil er sie hinabgestoßen hatte. Hatte es überhaupt noch einen Sinn?
Die Schönheit der Stadt sah er längst nicht mehr, für ihn bestand sie nur noch aus langen Straßenschluchten, von der Sonne ausgeblichenen Häuserfronten, dreckigen oder prozigen Türschildern, Hunden, die ihn anknurrten, wenn er Eingangstüren zu nahe kam. Und immer wieder dieselbe Frage: ´Sai la casa OPD? - Dove si trova la casa OPD? - La fratellanza OPD?´ Auch die Antworten waren immer gleich: ´Non lo so!´ - ´Non ho idea! - ´Scusate....´ Die Verzweifelung begann an seiner Seele zu nagen. Er konnte nicht ewig so weitermachen.
Er begann, Passanten auszuwählen, die vielleicht etwas wissen könnten. Geistliche im Ordenshabit. Sogar Nonnen hielt er an. Aber immer nur dieses typische Kopfschütteln, der gestresste Blick. Wie, so hatte er sich schon hundert Mal gefragt, wie würde ein Bruder dieser Bruderschaft aussehen?? Gab es besondere Kennzeichen? Trugen sie Habit oder Zivil? Doch, Pater Ruprecht hatte immer ein schwarzes Ordensgewand getragen. Aber galt das allen Patres?
Es ging ihm nicht gut. Er lief, tagein tagaus, tausende von Metern, kam aber keinen Schritt vorwärts. Und bemerkte bei seiner versessenen Suche nicht mehr, dass ihn längst ein steter Schatten begleitete, die kaum mehr zu zügelnde Angst, er könnte Andrea über den Weg laufen. Je länger es dauerte, um so größer wurde seine Furcht, entdeckt zu werden, um so stärker war sein Wunsch, wieder nach Hause fliegen zu können.
Pausen machte er selten und höchst ungern. Pausen waren vertane Zeit, sie würden ihm weder helfen noch Ruhe geben. Aber es kam vor, dass er sich ab und zu einen Espresso leistete, wenn er drohte, vor Müdigkeit umzukippen.

Er nahm seinen Kaffee vom Tresen, bekam ein Glas Wasser dazu und bestellte auch noch einen Pizzaslice, ohne Essen ging es nun mal nicht. Dann suchte er sich einen freien Tisch, schob das dicke Buch zur Seite, das jemand dort liegengelassen hatte. Dann setzte er sich.
Er konnte später nicht mehr sagen, warum er das Telefonbuch aufgeschlagen hatte. Es war nicht das erste Telefonbuch, in dem er nach der Adresse suchte, aber gefunden hatte er nichts. Ihm war aufgefallen, dass dieses Telefonbuch dicker schien, als das seiner Mutter. Edizione 2004, las er auf dem Einband. Es mochte sein, dass viele Telefonkunden mittlerweile auf einen Eintrag verzichteten; sicherlich war es auch eine Kostenfrage. Er schlug die entsprechende Seite auf, dann hieb er mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass er die Hälfte seines sowieso schon minimalistischen Kaffes verschüttete. "Bingo!"


München, Mitte Oktober

Es war so weit. Sie hatte sich ein zeitliches Limit gesetzt, hatte beschlossen, der physischen und psychischen Qual ein Ende zu setzen. "Okay, ich gebe auf!", sagte sie leise zu sich selber. Ingeborg Wimmer hatte aufgegeben, hatte ganz einfach keine Lust mehr, ihre Hoffnung, Klaus noch einmal wiederzusehen war gänzlich geschwunden.
Sie hätte ihn nicht einmal zur Fahndung ausrufen können. Ingeborg wusste längst, wo der junge Mann wohnte, war einige Male an jener alten Villa vorbeigefahren, aber das Haus wirkte dunkel und verlassen. Einmal hatte sie lange davor gestanden, vielleicht würde er ja doch bald kommen, aber er war nicht gekommen, sie hatte ihre Zeit vergeblich verplempert und sie steckte nach wie vor in dem ganzen Stahlzeug.

´Do it yourself!´ dachte sie, als sie den Baumarkt betrat. Was würde sie benötigen? Eine Zange? Etwas ratlos lief sie durch mannshohe Gänge, sah Dinge, die sie noch nie gesehen hatte, deren Zweck sie nicht im Entferntesten erahnen konnte und fragte sich mehr und mehr, ob es hier wohl so etwas wie eine simple Zange gäbe?
"Kann ich Ihnen helfen?" Eine junge Verkäuferin war plötzlich wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht; zuvor hatte sie nur einen jungen Mann an der Kasse gesehen.
"Äh, ja, ich weiß nicht..."
"Was brauchen Sie denn?"
"Eine Zange." Die Verkäuferin führte sie in einen anderen Teil des großen Geschäfts.
"Eine bestimmte Zange? Wofür soll sie denn gut sein?"
"Ich muss... äh, ich muss eine Kette durchschneiden. Und Stahlblech. Kräftiges Stahlblech. Und möglicherweise auch zwei kleine Schlösser knacken!"
"Das klingt kompliziert", lachte die Verkäuferin. "Eine Bank wollen Sie aber nicht ausrauben, oder?" Sie kramte in einem Kasten und drückte Wimmer eine Zange in die Hand. "Wie wäre es mit dieser Kombizange?"
Ingeborg betrachtet die Zange, kurz nur, dann gab sie sie der Verkäuferin zurück. "Nein, die würde schon beim ersten Versuch auseinanderfallen. Haben Sie nichts anderes?"
"Wenn Sie mich fragen, dann brauchen Sie drei Dinge, eine ordentliche Beißzange, eine kräftige Blechschere und für die Schlösser einen Bolzenschneider!"
Ingeborg verzog ihr Gesicht. "Das meinen Sie jetzt aber nicht im Ernst, oder?"
"Nun ja, wenn Sie natürlich wirklich auf Nummer Sicher gehen wollen, dann nehmen Sie lieber gleich einen Schneidbrenner! Kann ich Ihnen auch besorgen. Aber die Gefahr ist groß, dass Sie sich verbrennen, wenn Sie sich mit so etwas nicht auskennen."
"In dem Fall würde das auch nichts helfen", gab Ingeborg schnippig zurück.
"Wie meinen?" Die Frau beäugte sie argwöhnisch.
"Nichts. Aber vielleicht kann ich auf den Bolzenschneider verzichten. Also, vielleicht eine ordentliche Kneifzange und eine gute Blechschere?" Würde es wirklich damit gehen? Die Kette zwischen ihren Beinen bestand aus gehärtetem Stahl, so etwas konnte man nicht einfach durchkneifen. Und wo um Himmels Willen sollte sie denn die Blechschere ansetzen? Der Taillenreifen und der genauso breite Brustreifen des BHs lagen so eng auf ihrer Haut, da käme sie doch nie mit einer Blechschere drunter! Dabei war es noch nicht einmal sicher, ob sich das Stahlblech wirklich einfach so durchschneiden ließ.

Plötzlich wurde ihr übel. Verschlossen und vergessen, fuhr es ihr durch den Sinn. Er musste sie schlichtweg vergessen haben! Oder war ihm gar etwas zugestoßen? Sie entschloss sich, sofort Todes- und Vermisstenanzeigen durchzusehen. Es war schon leicht unheimlich, dass der junge Mann sich seit Wochen nicht mehr gemeldet hatte.
"Ist Ihnen nicht gut? Soll ich ein Glas Wasser holen?" Besorgnis lag in der Stimme der Verkäuferin.
"Nein, danke, es geht schon. Sagen Sie, was würden denn die beiden Dinge kosten?"
Die Verkäuferin nannte ihr den Preis.
"Oh, das ist ja ein stolzer Preis! Gibt es da vielleicht Rabatt?" Fragen konnte man ja immer.
"Klar doch! Ist ja keine Tiernahrung!" Die Dame war beruhigt, dass das Verkaufsgespräch fortgesetzt werden konnte.
"Ja, dann muss ich wohl..." Das Piepsen ihres Handys unterbrach sie. Eine SMS konnte immer wichtig sein, wenn man bei der Polizei arbeitete. "Entschuldigen Sie mich bitte, es könnte wichtig sein!" Wimmer kramte ihr Handy hervor, sah das Symbol für eine eingegangene SMS blinken, drückte die entsprechende Taste ihres Bildschirms und las: >HALLO INGEBORG! MUSSTE LEIDER VERREISEN. HABE NEUE SPUR. RUFE SIE BALD WIEDER AN, WENN ICH IN MÜNCHEN BIN! GRUSS KLAUS<
Ingeborg Wimmer packte ihr Handy zurück in ihre Tasche, nickte der Verkäuferin zu. "Ach, wissen Sie, ich habe es mir doch anders überlegt. Lassen Sie die Zange ruhig liegen. Ich will doch lieber den Schneidbrenner nehmen!" Sagte es, drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Baumarkt, eine ratlose junge Verkäuferin hinter sich zurücklassend!


Rom und München, Mitte Oktober

Klaus nahm auf seinem Sitz Platz und nahm kaum die Sicherheits- und Evakuierungshinweise wahr, die eine Flugbegleiterin vor seinen Augen mit den üblichen Bewegungen erklärte. Dass es so einfach sein konnte!!
Zum ersten Mal seit Wochen fühlte er sich richtig gut. Huber!, dachte er. Er hatte seine Mutter am Abend mit der Bitte überrascht, sie möge ihm jetzt doch den Stadtplan von Rom geben, denn er brauche ihn jetzt. Via Formosa 22, die würde er schnell finden. Seine Mutter erinnerte ihn am nächsten Tag noch daran, seine Taufurkunde mitzunehmen.
Sorgfältig hatte er seine Kleidung überdacht. Nichts jugendlich Flippiges, keine bunten Farben. Eher etwas, das an ein Büßergewand erinnerte. Oder an eine Vogelscheuche, scherzte seine Mutter.Er hatte sich in den letzten Tagen immer mehr über sie gewundert. Wieso stellte sie keine Fragen? Als Journalistin lebte sie doch vom Fragenstellen! Erklären konnte er es sich nicht. Vielleicht hoffte sie, er würde von sich aus erzählen, wenn er Erfolg gehabt hatte? Oder war es einfach ihre Art, ihm seine Menschenwürde zu gewähren, indem sie ihn nicht mit ihrer geballten Fragekunst löcherte?
Während die Boeing zur Startbahn rollte erinnerte er sich wieder seiner grenzenlosen Furcht, als er das langgesuchte Haus endlich fand und vor dem Eingang stand und lange, den brozenen Türhammer in der Hand, überlegte, ob er anklopfen oder Leine ziehen sollte. Dann aber fielen ihm wieder die Worte ein, die er bei Matthäus gelesen hatte: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Und er hatte den Türhammer fallen lassen, einmal, zweimal, dreimal. Schlurfende Schritte waren zu hören, ein bärtiger Mann öffnete und empfing ihn mit italienischem Wortschwall.
Er war sich nicht sicher gewesen, was all dies zu bedeuten hatte, und erst recht nicht, was er selber sagen müsse, aber er versuchte es einmal mit In nomine Jesu Christi! Sein Gegenüber bekreuzigte sich. Accettami, nehmen Sie mich an, fügte er hinzu; sicher war sicher. Der Bärtige musterte ihn einen Augenblick, dann streckte er die Hand aus: "Prego, il certificato di battesima!"
Er hatte ihm seine Taufurkunde überreicht, dabei eine demütige Haltung eingenommen.
"Tedesco? Deutscher?", fragte der Pater. "Kommen Sie. Wir sind nicht leicht zu finden. Nein.... nicht leicht." Er schlurfte voran. "Jemand, der den Weg zu unserer Bruderschaft finden, der kommt zu uns, weil er uns gesucht hat. Sie kennen das Prozedere? Sie müssen Sich einen Namen geben, erst dann können Sie in unserer Bruderschaft Aufnahme finden. Kommen Sie! Ich zeige ihnen alles und erkläre es, dann lasse ich Sie allein!"
Es konnte nicht wahr sein! Sollte es wirklich so ablaufen, wie seine Mutter es beschrieben hatte? Alsbald saß er vor einem eher alterschwachen PC, dessen einzige Funktion hier wohl die Mitgliederkartei darstellte. Er hatte seine Tasche im Eingang neben der Tür abgestellt, vielleicht würde der Bärtige diese jetzt durchsuchen, da war aber nichts, was verdächtig wirken konnte. Er hatte aber vorsorglich eine Zeitschrift gekauft, die auf der Titelseite junge Turner abgebildet hatte; man konnte ja nie wissen!

Die Tür der kleinen, fensterlosen Kammer fiel hinter ihm ins Schloss, einen Moment erwartete er das Drehen eines Schlüssels zu hören, aber es blieb aus. Er setzte sich an den PC, öffnete das Schreibprogramm, sah die lange Liste eingetragener Mitglieder. Verzeichnet waren immer das Datum des Eintritts, das Herkunftsland, der frühere Name und der neue Ordensname.
RUPRECHT MONACI hatte er mit zitternden Fingern geschrieben, und der Name tauchte sofort auf. 7.04.1985, TEDESCO, RUPRECHT HUBER, RUPRECHT MONACI. Er prägte sich die Daten genau ein, dann schloss er das Programm wieder und öffnete leise die Tür. Es war niemand zu sehen. Seine Tasche stand unberührt neben der Eingangspforte, er nahm sie, drückte die Klinke hinunter, die Tür war nicht verschlossen, und schon war er draußen auf der Straße und eilte, möglichst ohne Aufmerksamkeit zu erregen, zur nächsten Bushaltestelle. Es war gelungen!

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Plötzlich sah die Welt wieder anders aus. Rosig geradezu. Für den Moment fühlte Ingeborg Wimmer sich ein wenig wie Marty McFly, just in dem Moment als seine Eltern sich das erste Mal auf der Tanzfläche küssten und alle Lebensenergie in ihn zurückfloss.
Was natürlich immer noch nichts an ihrer mittlerweile prekären Situation änderte. Sie würde Urlaub nehmen müssen, oder sich doch krank melden, oder.... nun ja, der Schweißbrenner! Die Verkäuferin im Baumarkt würde sich sicherlich freuen, sie wiederzusehen.

Er hatte eine neue Spur?? Es konnte sich ja nur um diesen seltsamen Pater handeln. Aber was hatte dieser Mann getan? Als er Lehrer war, erst an einem katholischen Internat, dann bei einem der bekanntesten Knabenchöre Deutschlands? Nur Latein und Musikuntericht gegeben? Wohl kaum. Auch Klaus selbst blieb immer noch eine große Unbekannte. Was hatte er getan? Wer war er wirklich? Sie hatte einiges herausbekommen, hatte dabei aber größte Vorsicht walten lassen müssen. Es gab nicht einmal einen ofiziellen Anfangsverdacht gegen ihn, sie konnte und durfte nicht richtig ermitteln. Sie konnte in Teufels Küche kommen, wenn all dies bekannt würde.
Dennoch sagte ihr kriminalistischer Instinkt ihr, dass die Sache nicht ganz koscher war. Er verbarg etwas. Er hatte Hintergedanken. Er war als Person irgendwie nicht richtig greifbar. Kein offener Blick, dachte sie, er hat keinen offenen Blick. Er war es!
Oder? Hatte sie, abgesehen von seinem seltsamen Verhalten, auch nur irgendeinen Anhaltspunkt, ihm dieses Verbrechen anzulasten? Klaus... ein Triebtäter? Quatsch. Oder doch? War denn nicht gerade das ein auffälliges Verhalten bei Triebtätern, dass sie so normal wirkten? Tagsüber zur Arbeit gingen und sich gut mit den Kollegen standen, und nachts dann....?
Nein. Sie hatte nichts in der Hand. Sie musste auf seinen nächsten Schachzug warten. Aber sie würde auf der Hut sein! Sie würde ihn aus der Reserve locken, würde ihm eine Falle stellen und diese dann, im entscheidenden Moment, zuschnappen lassen. Sie würde bestimmen, wann und wo diese Falle aufgestellt werden müsse, sie würde das Heft nicht mehr aus der Hand geben!
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Klaus fühlte sich müde, aber sehr mit sich selbst zufrieden, als er die Haustür zum Haus seiner Oma aufschloss. Nein, dachte er, das ist jetzt mein Haus. Oma ist tot. Sie hatte ihr Wissen mit ins Grab genommen, hatte nicht über die schlimmen Dinge reden wollen, weil sie ihn nicht mit etwas belasten wollte, das lange her war. Man würde sehen müssen, was jetzt mit dem Haus geschah. Kurz hatte er mit seiner Mutter darüber gesprochen, sie wolle es nicht haben, er müsse selber wissen, was er damit machen wollte.

Er konnte nicht wenig stolz auf seinen Erfolg sein. Er hatte sich in die Höhle des Löwen gewagt und endlich einen Namen bekommen, unter dem er seine Suche jetzt fortsetzen könnte. Sicherlich mit Erfolg. Auf jeden Fall würde diese nette Kommissarin ihm dabei behilflich sein. Er hatte gestern Abend noch eine schnelle SMS abgeschickt; bestimmt wartete sie schon auf seinen Anruf. Und dann?
Er hatte einige Stunden Zeit, darüber nachzudenken. Sollte er es einfach sagen, so wie es war? Und was dann? Sie würde ihm bestimmt Glauben schenken, dann aber bedauernd feststellen, dass sie damit nicht mehr helfen könne. Ein Lehrer, der ihn und möglicherweise einige Klassenkameraden sexuell missbraucht habe? Etwas, das schon Jahre her war? Hatte es damals Anzeigen gegen ihn gegeben? Nicht? Dann ließe sich da nichts mehr machen. Und sie könne ihm leider nicht mehr bei der Suche helfen. Auch wenn er jetzt den richtigen Namen hatte. Keine Chance, würde sie sagen. Und ihn dann ihrerseits mit dieser Barbara-Geschichte löchern. Gut, er hatte etwas gesehen, an jenem Abend, aber er wäre nie in der Lage, eine Personenbeschreibung zu liefern, etwas, um jene Person aufzuspüren, die die Verantwortung für Danielas Tod trug. Wenn sie nach einem wirklich Schuldigen suchte, dann würde er es sein, denn er war feige davongelaufen, statt seiner Freundin zu helfen, die unten am nasskalten Ufer der Isar lag und langsam verblutete.

Er wusste aber auch, dass die Kommissarin keine Ruhe geben würde, bis sie nicht wenigstens etwas Licht in die Sache gebracht hatte! Sie würde suchen, sich auf Barbaras Fährte setzen, bis sie sie endlich gefunden hatte und sie dann in die Mangel nehmen, bis.... Ja, bis was? Nein, dachte er, es müsste einen Ausweg geben, aber er sah keinen mehr und wusste, es würde auf die eine oder andere Art zum Showdown kommen. Ihm blieb einzig die Möglichkeit, für diesen Ort und Zeitpunkt zu bestimmen; alles andere läge dann nicht mehr in seiner Hand!
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Ingeborg Wimmer erschrak zu Tode, als ihr Telefon klingelte. Sie war gerade etwas weggedöst, hatte ihre Mischung aus Sorge und Erregung mit einem Glas Wein zu dämpfen gesucht, was gegen die Sorge half, aber nicht gegen die Erregung. Sie war es gründlich satt, immer nur ihre Hand auf diverse Stahlteile legen zu können, wollte gern mal wieder steife Nippel liebkosen, ihre Hand in der Feuchte ihrer Scham versenken, aber es ging immer noch nicht und sie wusste, sie würde daran sterben, wenn sie nicht bald ihre Freiheit wiedererlangte.

Oftmals hatte sie an das arme Mädchen denken müssen, dass unten an der Isar gestorben war und die gleichen Dinge trug, die auch sie schon seit Wochen am Körper hatte. Nein, nicht die gleichen, sondern dieselben! Und dann wurde ihr ganz anders, dann war es, als sei sie selber jene Daniela, die unten auf den Steinen lag und das gurgelnde Wasser neben sich hörte, die vielleicht auch schon seit Wochen unentrinnbar in diesem Keuschheits-BH, diesem Keuschheitsgürtel und diesen Schenkelbändern gesteckt hatte und im Augenblick des Todes genau wusste, sie würde genauso verschlossen sterben müssen, wie sie vorher gelebt hatte.
Aber wer hatte sie umgebracht? Klaus? Barbara? Sie war sich sicher, es konnte keine andere Person sein.
Sie angelte nach ihrem Handy, das vor ihr auf dem Glastisch lag. "Ja?"
"Ingeborg? Habe ich dich geweckt? Tut mir leid." Sie war mit einem Mal hellwach.
"Nein, schon gut. Habe nur etwas gedöst. Danke für deine SMS!" (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Gut. Alles in Ordnung?"
"Ja, ja natürlich", stotterte sie. "Alles okay." (Und wo sind die fucking Schlüssel??) "Du warst verreist?" (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Ja, ich war bei meiner Mutter."
"Ah, schön für dich! Wo wohnt sie denn?" (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Sie wohnt in Rom. Ich war bei ihr und habe einen Namen!" Seine Stimme klang freudig erregt.
Ingeborg setzte sich auf. "Deine Mutter lebt in Rom? Oh... toll. Und du hast einen Namen..... doch nicht etwa von diesem Pater Robert?" (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Ruprecht! Pater Ruprecht! Ich werde dir mehr darüber erzählen, wenn wir uns treffen!"
"Treffen? Oh...!" (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Ja! Und weißt du was?" Er wartete auf ein weiteres Oh! von ihr.
"Nein. Keine Ahnung." (Und wo sind die fucking Schlüssel??)
"Barbara wird auch kommen!!" Da war eindeutig eine seltsame Mischung aus Triumph und Furcht in seiner Stimme zu hören.

Barbara!! Sie konnte es kaum glauben. Also doch!! Diese Sphinx war endlich wieder aufgetaucht. Also musste es Klaus gelungen sein, sie zu einem Treffen, zu einer Zeugenbefragung zu überreden. Endlich!! "Echt?? Oh, das ist ja wirklich die beste Nachricht seit langem. Danke, dass du das geschafft hast!" Sie fühlte sich erleichtert. Hatte nun endlich die Energie, die Frage zu stellen, die sie am meisten interessierte: "Klaus, wo sind die Schlüssel?" Und sie merkte, dass sie es nicht ganz ein Zittern ihrer Stimme vermeiden konnte.
"Die Schlüsel?" Sie hörte ihn husten. "Die Schlüssel zu deinem Keuschheitsgürtel?" Pause.
"Ja. Die Schlüssel zu meinem Keuschheitsgürtel!" Es war komisch, es so sagen zu müssen.
"Und die Schlüssel zu deinem Keuschheits-BH??" Wieder legte er eine Pause ein.
Sie biss sich fast auf die Lippen. Es war erniedrigend... "Ja. Die Schlüssel zu meinem Keuschheits-BH."
"Und die Schlüssel zu deinen Schenkelbändern?"
Mein Gott! Wusste er denn wirklich alles? "Ja. Und die Schlüssel zu meinen Schenkelbändern." Es tat weh, sie hatte sich selber erniedrigt. Erneut stieg das Feuer in ihr auf. Ich habe einen neuen Keyholder, dachte sie.
"Ich habe sie nicht."
"Was?? Du... du hast die verdammten Schlüssel nicht Wer zum Teufel hat sie dann??" Sie schrie es fast in ihr Handy.
"Barbara hat sie! Sie wird sie mitbringen, wenn wir uns treffen." Klaus nannte ihr Ort und Zeitpunkt für das Treffen. "Und zieh dein Dirndl an! Du wirst nur im Dirndl reingelassen! Also, bis nächste Woche Samstag!!" Und dann hatte er aufgelegt.

Nein! Nein, das konnte nicht wirklich wahr sein. Es hatte nicht sofort klick gemacht bei ihr, aber jetzt war der Groschen gefallen. Ingeborg Wimmer goss sich ein weiteres Glas Wein ein; beim Trinken zitterte sie so sehr, dass die Hälfte davon auf dem Tisch landete.

38. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 13.01.17 20:11

Jetzt war der Groschen gefallen...
Kriminalistischer Lokalaugenschein räumlich und innerlich! Perfekt!
39. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 15.01.17 22:00

Herrje, wie doch die Zeit voran geht! Schon die elfte Fortsetzung heute Abend! Übrigens hoffe ich gerade heute, dass meine Leser die Handlung der ersten drei Teile - "Herbstferien", "Frust" und "Agonie" - so halbwegs in Erinnerung haben; ansonsten dürfte es schwierig werden, der Handlung folgen zu können. Ich hoffe, allen geht es gut und wünsche viel Spannung und gute Unterhaltung!
Eure Daniela 20
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Samstag, 26.Oktober

D-day, dachte Ingeborg Wimmer, als sie aus der Wanne stieg. Heute also... heute würde es geschehen. Wie immer floss Restwasser unter den stählernen Halbschalen ihres Keuschheits-BHs hervor, tropfte es noch ein wenig aus ihrer immer noch verschlossenen Scheide heraus. Sie trocknete sich ab, ließ sich Zeit, denn nur wenn sie sich Zeit ließ, klappte es beim ersten Mal. Aber sie registrierte es schon längst nicht mehr.
´Du wirst nur im Dirndl reingelassen!´, hatte Klaus zu ihr gesagt, als er ihr den Treffpunkt für das Zusammentreffen mit Barbara mitgeteilt hatte. Oh nein, nicht schon wieder das Dirndl!, es war ihr gleich in den Sinn gekommen, als sie es hörte, was war denn bloß mit den Kerlen los, warum wollten sie sie immer in diesem bescheuerten Kleid sehen? Erst Bruno, jetzt Klaus.
Noch hatte sie einige Stunden Zeit; erst eine Stunde vor Mitternacht wollten sie sich dort treffen, vorher lohne es sich nicht, hatte er gesagt, als sie nach dem Grund für den späten Zeitpunkt gefragt hatte.
Sie zog ihre bequemen Joggingklamotten an, weicher Stoff umspannte die Kurven ihrer stählernen Unterwäsche. Heute Abend wird es vorbei sein, dachte sie. Sie war parat. Heute Abend würde sie Klaus ins offene Messer rennen lassen....
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Klaus hatte die Wahl: Magenbitter, oder doch besser gleich eine Tablette? Wie hieß das Zeug noch mal, das angeblich den Magen aufräumte?? Er saß vor dem offenen Medizinkasten seiner Oma und durchforstete eine Unzahl diverser Medikamente. Tabletten gegen etwas, Pillen für etwas. Hatte sie wirklich all das Zeug schlucken müssen? Er kannte sich nicht aus, zweifelte am Mindesthaltbarkeitsdatum von Medizin - wieso sollte eine Tablette ihre Wirkung verlieren? - und las, verwirrt durch medizinische Begriffe, die er nie gehört hatte, bis er schließlich etwas fand, das Linderung bei nervöser Magenreizung versprach.
Tropfen, dachte er, auch das noch! Er überflog den Beipackzettel, aha, 20 Tropfen in Wasser, schraubte den Verschluss ab, hielt die kleine Flasche über ein Glas - nichts, schüttelte sie, jetzt!, dann gluckerten die Tropfen so schnell hervor, dass er mit dem Zählen nicht nachkam. Egal.
Das Medikament half. Half aber nichts gegen die Leere in seinem Magen. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Freitag früh? Es ging einfach nicht. Er bekam keinen Bissen mehr runter, zappelte wie ein Anglerfisch, der seinen eigenen Haken verschluckt hatte.
Warum habe ich ihr ein Treffen mit Barbara versprochen? Und warum ausgerechnet zu jenem Abend?? Sein Inneres hatte seit seinem Telefongespräch mit der Kommissarin keine Ruhe mehr gegeben, hatte ihm den Schlaf geraubt und die Tage verdunkelt.
Barbara!! Er hatte sie verdrängt. Nein, sagte er sich, ich habe sie umgebracht, wie zuvor schon Lenchen und auch Daniela! Barbara ist tot, sie durfte nicht weiterleben!

Dann war er nach oben gestiegen, hinauf auf den Dachboden, in die kleine Kammer, die sich George dereinst dort oben eingerichtet hatte, um mit dem Fernrohr die Sterne seines australischen Heimathimmels erspähen zu können. Ein Trugschluss, wie Klaus wusste. Man kann nicht den Himmel sehen, der sich unter den eigenen Füßen befindet!
Das kleine Zimmerchen roch muffig, als er die Tür öffnete. Auf dem niedrigen Tisch lag ein ganzer Haufen kleiner Schlüssel, sie alle hatte Barbara vor über einem Jahr in ganz München zusammengesucht, weil sie Monikas Spiel nicht mehr mitmachen wollte, weil sie verzweifelt nach Freiheit suchte...

In einer Ecke stand der letzte der Säcke, die er, vor seiner Flucht nach Rom, aus seiner kleinen Dachwohnung mitgenommen hatte. Der Sack sah ihn an....

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Wimmer hatte die Hälfte ihres Abendessen stehen gelassen. Es schmeckte nicht. Ohne ein Glas Wein schmeckte ihr im Moment gar nichts. Aber es galt, heute einen klaren Kopf zu bewahren. Fehler durfte sie sich heute Abend nicht leisten! Fehler konnten fatal sein! Zusammen mit einem Mörder....
Ach, Quatsch! Sie atmete tief durch. Paranoia!, dachte sie. Berufskrankheit. Sie neigte dazu, wie viele ihrer Kollegen, immer und überall das Böse zu sehen, Lug und Trug, den verborgenen Blick. Sie erinnerte sich an den Abend, letztes Jahr, als sie schon einmal auf diesem verrückten Fest gewesen war, damals in der Hoffnung, einen Täter zu finden, aber rein gar nichts war passiert, außer dass sie zuviel laute Musik über sich hatte ergehen lassen müssen und Bruno, draußen im Auto, eingeschlafen war.

Bruno! An jenem Abend hatte es angefangen. Die gezügelte Leidenschaft, wie sie sie vorher nie gekannt hatte. An jenem Abend war sie in dieser Form das erste Mal bei ihr aufgelodert, hatte ihr wochenlange Qualen geschenkt, aber auch das komische Gefühl, wie ein Vogel über einem Abgrund schweben zu können.

Sie entschied sich für ein weißes Hosenkorselett. So etwas hatte sie erst besessen, seitdem die Schenkelbänder das erste Mal zum Einsatz gekommen waren. Es ließ sich im Schritt schließen und verbarg gekonnt ihre stählerne Unterwäsche. Trotzdem fühlte sie sich immer elendig, wenn sie das enge Teil über ihre Hüften zog, die breiten Träger über ihre Arme gleiten ließ, ihre verschlossenen Brüste in die Cups legte und die kleinen Haken im Schritt mit einiger Verrenkung schloss. Gab es wirklich Frauen, die so etwas freiwillig trugen?
Ingeborg nahm ihr Dirndl vom Bügel, schlüpfte in die weiße, kurze Dirndlbluse, stieg von oben in das Kleid, kämpfte etwas mit dem engen Mieder, bis der vordere Reißverschluss sich schließen ließ, dann band sie sich ihre zum Dirndl gehörende Schürze um und knotete eine große Schleife im Rücken. Sie war fertig. Es konnte losgehen!
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Er schaffte es nicht, das Zittern seiner Hände zu unerdrücken, als er die Schleife zu lösen versuchte, die er vor Monaten um den Sack gebunden hatte. Er war schwach geworden, und er spürte seine Schwäche durch den ganzen Körper laufen, wie eine Welle, die eben noch den Strand getroffen hatte, jetzt aber in den Tiefen des Sandes versickerte. Ruhe erfüllte ihn, als er es endlich geschafft hatte und die ersten Sachen hervorholte, die Barbara hineingestopft hatte.
Der schöne Petticoat, den sie unter ihrem gepunkteten Rock getragen hatte, als sie mit ihrem Roller durch Münchens Straßen gefahren war, hatte arg gelitten. Aber er würde ihn heute Abend nicht brauchen, es war schließlich keine 50er-Jahre-Party, sondern Münchens flippigstes Oktoberfest, auf das er wollte.

GeiDi-Gaudi! Allein schon der Name ließ ihn erneut zittern. Bilder drängten sich in seine Erinnerung, Bilder, die er am liebsten nie wieder heraufbeschworen hätte: jener Abend, als er auf dem Fahrrad Monika und Daniela hinterhergefahren war, nachdem er lange vor der kleinen Kirche gelauert hatte. Was genau dort an jenem Abend geschehen war, er hatte es nie herausbekommen. Wohl aber wusste er, was der dortige Geistliche später mit Monika angestellt hatte. Ein Schauer lief ihm den Rücken herunter. Aber er erinnerte sich sehr gut daran, was er selber an jenem Abend gemacht hatte, diese komische Fernbedienung, die er den Mädchen abgenommen hatte und auf deren Knöpfen er herumgedrückt hatte, wie jemand, der mittels Fernbedienung irgendwo eine Tod bringende Drohne steuert, ohne sich ernsthaft Gedanken über sein Tun zu machen. Zwei Jahre war das her; er mochte es kaum glauben! Und letztes Jahr dann, dieser furchtbare Abend, als sein ganzes Leben begann, sich aufzulösen... weil er sich nicht im Griff hatte?? Wie ich es auch drehe und wende, ich bin schuld, dachte er.

Er atmete tief durch, als er in das Kleid schlüpfte. Barbara, dachte er, nicht das Kleid. Ich schlüpfe in Barbara hinein! Es fühlte sich gut an; sein Zittern hörte abrupt auf, er wurde wieder ruhig. Barbara war ruhig.
Im Sack fand sich alles, was er benötigte, um sich wieder in sein alter Ego zu verwandeln. Zuletzt streifte er eine Perücke über, die sicherlich gut zum Dirndl passte, wählte noch einen geeigneten Haarreifen, dann überlegte er, welche Schuhe er anziehen sollte. Pumps oder Ballerinas?
Auch eine passende kleine Handtasche mit dünnem Schulterriemen fand sich, er stopfte die wenigen Dinge hinein, die er unbedingt mitnehmen wollte, zog sich eine wollene Jacke über - die Nacht könnte kalt werden, dann sah er auf die Uhr: Es war Zeit, zu gehen.
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Ingeborg Wimmer bezahlte den Taxifahrer, der sie vor der Veranstaltungsstätte abgesetzt hatte und sah sich suchend um. Klaus war nirgends zu sehen, zwei drei Pärchen standen rauchend auf der großen Freitreppe. Sie hatte von unterwegs Klaus eine SMS geschickt und angefragt, wo sie sich treffen wollten, am Eingang hatte er sofort geantwortet. Aber wo? Draußen, oder drinnen?
Sie beschloss, besser hineinzugehen; es machte keinen Sinn, sich hier draußen einen abzufrieren, wenn Klaus und Barbara möglicherweise innen auf sie warteten. Es war zwar noch keine eisige Winternacht, aber jetzt, Ende Oktober, konnte die Luft die Wärme des Tages nicht mehr lange halten; abends kühlte es sich doch schnell ab.
Wann war sie hier gewesen? Letztes Jahr, aber da war es später gewesen. Immerhin, sie wusste, was sie erwartete. Wimmer zog die schwere Eingangstür auf, schob einen imaginären Vorhang zur Seite, augenblicklich traf sie die volle Wucht lautester Musik, es war wie ein physischer Schlag, wie konnte man das lange aushalten?? Junge Menschen drängten sich, standen in meist kleinen Grüppchen zusammen, lachten oder kontrollierten die Displays ihrer Handys; manche fotografierten sich gegenseitig; Lederhosen und Dirndl, die der Kamera präsentiert wurden, allzu oft Billigklamotten aus dem nächsten Kostümverleih, wie Ingeborg enttäuscht feststellte.
Sie bezahlte, 20 Euro ging ja noch so, bekam ihr blauweißes Bändchen ums Handgelenk. Daniela Krause hatte so eines getragen, letztes Jahr, bevor sie in ihr nasses Grab gestürzt war. Ingeborg schüttelte sich, sie war vorbereitet, sie würde den Täter heute Nacht ergreifen. So manchen Täter zieht es an den Tatort zurück; manchmal genau am Jahrestag ihres Verbrechens! So hatte sie es auf der Polizeischule gelernt. Gut, heute war nicht der Jahrestag, aber es war dieselbe Situation, wieder diese wilde Party, die vielen Frauen im Dirndl; heute würde er schwach werden, sich öffnen, zusammenbrechen. Heute würde sein Kartenhaus in sich zusammenfallen; sie wusste es.

Die Garderobe war kostenlos; immerhin. Sie erkannte niemanden wieder, es waren wohl andere Frauen, als vor einem Jahr. Wo blieb Klaus? Eine junge Frau kam auf sie zu, auch sie im Dirndl, schwarz oder braun, die Schürze blau, aber es konnte sie trügen, buntes Licht zuckte aus der offenen Tür zum Ballsaal; auch die Schürze wechselte zwischen blau und pink.
Sie sah, die junge Frau sagte etwas zu ihr, sie verstand kein Wort. Sie machte eine Bewegung des Tanzens, zog sie sacht an der Hand, sie wollte nicht tanzen, schon gar nicht mit einer anderen Frau, auch wenn sie mit einem schnellen Blick durch die Tür auf die Tanzfläche sehen konnte, Frau mit Frau, das war hier ganz normal; Mann mit Mann seltsamerweise nicht.
Die Frau ließ von ihr ab, lächelte sie enttäuscht an, griff in ihre Tasche, während sie weiter auf die tanzende, wogende Menge zuging. Sie zog etwas hervor, Ingeborg blickte in zwei lachende Augen, sah, was sie in der Hand hielt, ein kleiner Schlüsselring, ihre Schlüssel! Barbara!! durchzuckte es sie. Sie sah, wie Barbara in der Menge zu verschwinden drohte, nein, das durfte nicht passieren, sie machte ein, zwei entschlossene Schritte, nahm die Hand, die sich ihr noch entgegenstreckte, wurde hineingezogen in die bunte, nie stillstehende Menge junger Menschen; sie ließ den Dingen ihren Lauf.

Barbara ließ die kleinen Schlüssel schneller in ihren Ausschnitt fallen, als dass sie es hätte stoppen können. Jetzt musste sie aufpassen, was hineinfällt, kann auch wieder herausfallen. Ingeborg überlegte einen Moment, ob sie auf die Toilette gehen sollte, schnell die Schlüssel aus ihrem Ausschnitt sichern, bevor sie verloren gingen, aber dann würde sie Barbara verlieren; in diesem Tohuwabohu würde sie sie nie wiederfinden. Und wo war Klaus? Warum kam er nicht? Oder wartete er selber am Eingang auf sie??
Sie beugte sich der jungen Frau entgegen, versuchte trotzdem irgendwie ihren Tanzbewegungen auszuweichen. Ingeborg brachte ihren Mund dicht an Barbaras Ohr, dann brüllte sie, so laut sie konnte: "Barbara! Wo ist Klaus?" Kaum, dass sie ihre eigenen Worte verstehen konnte.
Barbara zuckte leicht mit den Schultern. Keine Ahnung, aber auch: Was interessiert mich Klaus? Ich möchte lieber tanzen!, entnahm Wimmer dieser Geste und glaubte, sie von den Lippen ablesen zu können. Die junge Frau umarmte sie, schmiegte sich eng an sie, drückte ihren Oberkörper gegen ihren eigenen, ein Bein suchte seinen Weg zwischen ihre Beine, wurde aber von der Verbindungskette der Schenkelbänder gestoppt. Dann eine Hand, die von unten an ihrem Bein entlang aufwärts wanderte, Gott sei Dank am linken Bein, dachte Wimmer, rechts wäre es unangenehm gewesen! Die Hand ließ sich nicht stoppen, griff nun zwischen ihre Beine, niemand sah es, niemand bemerkte das Unangenehme der Situation, die um sie herum tanzende Meute kümmerte sich nicht um andere, Musik und grelles Licht hatten längst Schranken aufgehoben und Undenkbares möglich werden lassen.

Ingeborg wehrte die Hand ab, als sie suchend, prüfend ihre Brust erreicht hatte. Sie stieß Barbara von sich, hatte aber gleich wieder Angst, sie könne sie verlieren, hier in diesem Gedränge, noch bevor sie sie zur Tatnacht vor einem Jahr hätte befragen können. Sie schwitzte, ihr war unglaublich heiß, am liebsten würde sie hinauslaufen, vielleicht runter zur Brücke an der Isar, dort, wo vor einem Jahr das Unglück - der Mord? - geschehen war.
Irgendwo hatte irgendwer im Raum eine Nebelmaschine angeworfen, dicke Schwaden waberten, von grellen Farben erleuchtet, durch die immer dichter werdende Menge von Tanzenden... sie musste hier raus, das hier war nichts für sie, wenn es so weiterginge, sie würde umfallen, unter die Füße geraten, von derben Männerschuhen zertrampelt und von spitzen Stiletto-Absätzen aufgeschlitzt. Und was, wenn man entdeckte, was sie bei sich trug?
Ingeborg machte ein Zeichen des Trinkens, irgendwo musste es eine Bar geben, sie hatte Leute mit Gläsern gesehen, große Biergläser, schlanke Sektgläser. Barbara nickte, ergriff sie am Arm, zog sie hinter sich her. Sie stolperte, wäre beinahe hingefallen; Barbara fing sie im letzen Moment auf, dann ging es in einen Nebenraum, Barbara machte ihr ein Zeichen, sie solle warten. Minuten später kam sie mit zwei Sektgläsern zurück. Sie trank, obwohl sie keinen Alkohol trinken wollte, aber sie musste jetzt etwas trinken, ihr Kreislauf machte bald schlapp; schon spürte sie ersten Schwindel; sie musste nach draußen; schon stieg ihr der Alkohol zu Kopf; immer reagierte sie so bei Sekt.

Plötzlich brach die Musik ab. Die Band hatte eine Pause eingelegt, für einen Moment war Ruhe, plötzlich hörte sie wieder Stimmen, aber alles summte in ihrem Kopf. Die tanzenden Lichtpunkte einer Discokugel irritierten sie, sie glaubte zu schweben, fürchtete, den Halt zu verlieren. Sie klammerte sich an Barbara, brachte wieder ihren Mund an deren Ohr. "Was hast du gesehen, Barbara? Letztes Jahr.... unten an der Brücke?"
Die junge Frau beugte sich ihr entgegen, Lichtpunkte zuckten über ihr gut geschminktes Gesicht, sie brachte ihren Mund an Ingeborgs Ohr, doch genau in diesem Moment setzte wieder Musik ein, diesmal wohl vom Band, man durfte die Feiernden nicht ohne ihr Rauschmittel lassen, ohne Musik würden sie nicht tanzen, ohne Musik kein Knutschen, kein nichts und gar nichts.
Hatte sie Klaus gesehen geantwortet?? Ingeborg war sich nicht sicher. Sie schloss die Augen, versuchte sich zu konzentrieren, aber ihr Schwindel wurde wieder stärker. Wo war Klaus? Hatte er denn nicht in seiner SMS geschrieben, ´Wir treffen uns am Eingang!´? Es zieht den Täter zurück zum Tatort, überlegte sie. Na klar, das hier war ja nicht der Tatort, der Tatort war unten an der Brücke; wahrscheinlich war er dort. Und er wusste, dass Barbara ihn gesehen hatte und dass sie es ihr sagen würde. An der Brücke! Er würde unten an der Brücke auf sie warten!

Ein Sprecher kündigte eine letzte Spielzeit für die Band an; es ging auf Mitternacht zu. Herrenwahl!, rief der Sprecher; die Männer jubelten, die Frauen kreischten. Sie wehrte einen jungen, halb besoffenen Kerl ab, Barbara zog sie zurück auf die Tanzfläche, jetzt sah sie, was Herrenwahl hier bedeutete; sie hatte die gefesselten Hände und geöffneten Mieder längst vergessen. Gleich würde hier das totale Chaos einsetzen.
Wimmer stemmte sich gegen die Menge, vorbei an zuckenden Leibern, sie machte sich klein, boxte sich hindurch, es gelang. Sie atmete heftig, ließ sich ihre Jacke an der Garderobe aushändigen, zog diese an.
Barbara verperrte ihr den Weg. Ingeborg sah, dass sie sie erstaunt ansah, dann wieder dieses Anschmiegen, Hände, die sie umklammerten, die ihr Gesäß fassten und schmerzhaft drückten. Sie griff hinter sich, wollte die Hände abwehren, merkte kaum, wie sich etwas um ihre Handgelenke legte, sie spürte einen Zug, wie von einem Seil, dann bemerkte sie, wie Barbara die Bänder ihrer Schürze stramm nach vorne zog und vor ihrem Bauch fest zusammenknotete. Es war zu spät, alles war schneller gegangen, als man denken konnte, nun gut, sie würde die Bänder zerreißen, kein Problem, sie musste hinaus, Luft, sie brauchte frische Luft, dann war sie auch schon zur Tür hinaus, die mit sattem Knall hinter ihr ins Schloss fiel.

Es war so still, sie hörte ihren eigenen Herzschlag, langsam nur drangen weitere Laute an ihr Ohr. Wo war jetzt die Brücke? Sie orientierte sich, so gut es ging, dann rannte sie los. Und plötzlich wusste sie, warum Klaus an der Brücke sein musste. Was er tun wollte. Und was sie verhindern musste.
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Klaus sah zur Tür, die hinter Ingeborg Wimmer mit lautem Krachen zugefallen war. Er hatte sie nicht halten können, oder auch nicht halten wollen. Es fiel ihm schwer, Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzuhalten. Wer war da gerade nach draußen in die dunkle Nacht gelaufen? Daniela? Er schüttelte sich. Ihm war speiübel. Die Kombination von Medizin, Sekt und psychischer Anspannung forderte ihren Tribut. Natürlich nicht Daniela, dachte er. Daniela ist tot. Weil ich ihr nicht geholfen habe!
Aber sollte er jetzt Ingeborg hinterherrennen? Klaus verspürte nicht die geringste Lust. Er war froh, dass die Kommissarin ihn nicht erkannt hatte, was sowieso schon einem Wunder glich. Aber bei dieser Beleuchtung hier? Nein, doch kein Wunder. Außerdem hatte er ihr die Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel zurückgegeben; sie würde sicherlich bald nach Hause laufen und sehen, aus den Dingern herauszukommen, die sie nun schon so viele Wochen getragen hatte.
Er musste sich eingestehen, er hatte es durchaus genossen, diesen extrem nahen Kontakt mit einer Frau, die so komplett verschlossen war. Barbara hatte es genossen, sagte er sich. War sie am Ende doch wieder auferstanden?

Er merkte, wie es ihn würgte; musste er sich doch erbrechen? Fast wäre er auf die falsche Toilette gegangen; die Kerle hätten sich bestimmt gefreut, ihn dort zu finden. In letzter Sekunde bemerkte er seinen Fehler, nahm statt dessen die andere Tür und hatte Glück: eine Kabine war frei, das kam bei Frauen doch so gut wie nie vor. Er ließ sich auf den Fußboden nieder, Schmutz hin oder her, seine Beine gaben einfach unter ihm nach, kalter Schweiß brach ihm aus, das Würgen nahm zu, er hielt den Kopf über die Kloschüssel, aber es kam nichts außer einer Reihe ekliger Laute.

Wortfetzen drangen an sein Ohr. Zwei Frauen stritten sich, Worte konnte er nicht wirklich verstehen, aber jetzt begann eine zu heulen, oder waren es beide, wer wusste das schon? "Bleib hier, Lisbeth, bleib hier!!", dann hörte er Türenschlagen, das Heulen nahm zu, dann, endlich, erbrach er sich.
Klaus blieb einige Minuten sitzen; langsam stabilisierte sich sein Kreislauf wieder. Jetzt wäre ein Schluck Wasser gut, einmal den Mund ordentlich ausspülen, dann etwa essen, ja, es war Zeit, etwas in den Magen zu bekommen. Mühsam rappelte er sich auf, schloss die Tür auf, ging zum Waschbecken und nahm dort einen Schluck Wasser und wusch sich die Hände.
Er kontrollierte sein Äußeres. Er hatte Glück gehabt, die Perücke hatte gehalten, eine Katastrophe, wäre sie in die Toilette gefallen! Aber alles war noch, wo es sein sollte. Sein Makeup sah nicht mehr so frisch aus wie noch vor wenigen Stunden; er hatte sich große Mühe gegeben, es richtig zu machen; auch davon war in seinem Kleidersack noch genug zu finden gewesen.

Er wollte hinausgehen ins Vestibül, als ihn erneutes Wimmern aus einer Kabine davon abhielt. Die Tür war angelehnt, es mochte etwas Schlimmes sein, man wusste ja nie, er klopfte vorsichtig und lugte hinein. Eine sehr junge Frau saß zusammengesunken auf der Toilette, ihr Gesicht hatte sie in den Händen vergraben, sie machte keinen guten Eindruck auf ihn.
"Kann ich dir helfen? Ist dir schlecht?" Hier, auf der Toilette, war es längst nicht so laut, wie im übrigen Gebäude.
Die junge Frau schluchzte laut auf, schüttelte aber den Kopf. Klaus sah, dass sie kreidebleich war; einem Gespenst hätte sie alle Ehre gemacht. Er machte einen Schritt in die Kabine hinein, die Tür fiel hinter ihm zu, es wurde halbdunkel. Sollte er einmal ihren Puls fühlen? Immerhin hatte er seinen Zivildienst als Krankenpfleger abgeleistet. Sachte hob er ihren Kopf an, sie war sehr jung, vielleicht gerade erstes Semester, so schätzte er.
In dem Moment wurde die Kabinentür von einer anderen Person geöffnet, für den Moment fiel helles Licht auf das blasse Gesicht, zwei Augen starrten ihn an, ein Blick, den er unter vielen erkannt hätte, es war ihm, als müsse das Blut in seinen Adern gefrieren, so sehr schockierte es ihn. Diese Augen!!! Oh mein Gott, er hatte sie schon gesehen, er würde sie nie vergessen, auch wenn ihn dieser Blick damals nur sehr kurz gestreift hatte und gar nicht einmal ihm gegolten hatte.
"Besetzt!", rief er der Frau über die Schulter zu, die einen Moment hinter ihm in der Tür stehen geblieben war. Dann wandte er sich der jungen Frau zu. "Warte, ich hole etwas Wasser!" Es gab Pappbecher in einem Halter neben dem Waschbecken, er zog einen heraus, füllte ihn mit kaltem Wasser und ging zurück zu dem jungen Mädchen. "Hier, trink! Und erzähl, was los ist! Du hast dich eben mit jemandem gestritten, nicht wahr? Ich hatte es gehört, aber nur ein bisschen. Was ist passiert? Wer ist Lisbeth?"
Sie nahm den Becher, zitterte so stark, dass er ihn ihr wieder abnahm. "Warte, ich helfe dir! So, vorsichtig, jetzt trink mal einen Schluck." Er hielt ihr den Becher an die Lippen. Sie trank, dann blickte sie ihn an. "Danke," flüsterte sie leise. "Lisbeth ist meine Schwester. Sie hat...." Sie schüttelte den Kopf, dann brach sie in neuerliches Weinen aus.

Etwas stimmte nicht. Es waren dieselben Augen, aber es war nicht derselbe Blick. Abgrundtiefer Hass hatte letztes Jahr in diesem Blick gelegen, an jenem Abend, als er sich genau hier mit Daniela gestritten hatte. Er hatte es zufällig beobachtet, hatte dieses Mädchen bemerkt, die dann plötzlich Daniela hinterhergelaufen war, warum auch immer. Aber als er sie kurz darauf aus der Toilette hatte kommen sehen, war er an sich selber und seiner Beobachtungsgabe irritiert; nein, er musste sich getäuscht haben, es musste jemand anders gewesen sein, der nach Daniela das Gebäude verlassen hatte.
Was er jetzt in diesen Augen sah war Furcht und blankes Entsetzen. "Wie heißt du denn? Bist bestimmt das erste Mal auf der GeiDi-Gaudi?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nein, wir waren voriges Jahr schon hier! Ich heiße Paula."
"Da war ich auch hier. Auch an diesem letzten Abend mit Sommerzeit." Er überlegte, wusste nicht recht, was er fragen sollte. "Kann sein, dass ich dich oder deine Schwester schon gesehen habe! Wie sieht sie denn aus?"
Die junge Frau trank einen weiteren Schluck, dann nahm sie etwas Toilettenpapier und putzte sich die Nase. "Wie ich", sagte sie.
"Wie du?" Eine furchtbare Ahnung stieg in ihm auf.
"Ja, wie ich. Wir sind Zwillinge."
Klaus schloss für einen Moment die Augen. Er sah die vielen Puzzleteilchen, die sich plötzlich, wie von Zauberhand, aufeinander zu bewegten. "Deine Schwester, Lisbeth, sie hat an dem Abend etwas getan?"
Tränen quollen der jungen Frau über die Wangen und tropften auf ihre Dirndlbluse. Sie nickte. "Sie hat mir gerade erst davon erzählt. Ich wusste es nicht, ehrlich.... Wir waren ja zu zweit, wollten einfach nur Spaß haben an jenem Abend. Wir hatten uns schon für einen Studienplatz hier in München entschieden. Aber es war so voll hier... ich hatte sie aus den Augen verloren. Ich weiß nicht mehr, ich war auf der Toilette und als ich wieder rauskam, da war sie weg."

"Ein Unfall...", flüsterte er, als sie ins Stocken geriet.
"Ja, ein Unfall. Das hat sie mir auch gesagt." Sie riss ein weiteres Stück Papier von der Klorolle.
"Deine Schwester ist jemandem hinterhergerannt?"
Paula nickte bloß. Sie wurde immer kleiner; lange würde sie es nicht mehr machen.
"Aber warum? Was wollte sie denn von jener anderen Frau?"
"Wir kannten sie flüchtig. Hatten sie vor zwei Jahren kennen gelernt, als wir mit den Eltern hier in München gewesen waren und dieses Mädchen wohl auch nach Hause fuhr. Sie trug so ein Dirndl, mit einem Petticoat drunter...."
Klaus nickte. "Ja, ich weiß. Ich habe sie gekannt. Sie hieß Daniela. Sie hatte ihre Herbstferien hier bei ihrer Tante verbracht." Paula sah ihn an. "Aber erzähl weiter! Was war denn da geschehen? Auf der Bahnfahrt schon?"
"Daniela? Das wusste ich nicht einmal. Sie trug ja wohl noch mehr unter ihrem Dirndl. So Keuschheitsunterwäsche aus Stahl. Unser Vater hatte es irgendwie mitbekommen. Und er hatte Danielas Mail Adresse. Wegen der Fotos."
"Was für Fotos denn?"
"Lisbeth musste Fotos von unserem Vater mit Daniela machen. Und er wollte ihr dann Bilder schicken. Oder war es anders herum? Ich weiß es nicht mehr."
"Aber wegen solcher Fotos....?"
"...bringt man niemand um? Wollten Sie das sagen? Lisbeth hat sie nicht umgebracht. Es war ein Unfall...!"
"Ja, natürlich. Ein schlimmer Unfall." Er musste aufpassen, was er sagte. "Aber es muss doch wohl einen anderen Grund geben?"
"Oh ja, den gab es! Wir bekamen ihn dann zu Weihnachten! Vater hatte auch für uns solche Keuschheitsgürtel und BHs bestellt, weil er meinte, wir hätten zuviele dumme Gedanken im Kopf. Wir sollten uns mehr aufs bevorstehene Abitur konzentrieren, statt auf irgendwelche Jungs. Ab Weihnachten steckten wir in den Dingern, monatelang. Auch noch letztes Jahr, als wir hier auf dem Fest waren. Lisbeth hatte Daniela wiedererkannt... der reinste Zufall. Aber das soll ja wohl vorkommen."
Plötzlich lag das ganze Puzzlebild vor ihm und er konnte alle Details erkennen.
"Paula, wo ist deine Schwester jetzt? Du hattest ihr hinterhergerufen, sie solle hierbleiben. Wo ist sie hin?"
Paula brach in einen neuen Weinkrampf aus. "Sie wollte zurück zu dieser Brücke. Ich habe Angst, ich habe ganz verdammte Angst, dass etwas Schlimmes passiert!"
% % %

Ingeborg Wimmer hastete vorwärts, so schnell ihre Beine sie tragen wollten. Ihr war immer noch übel, hätte sie doch bloß die Finger von diesem blöden Sekt gelassen, sie vertrug das Zeug doch so schlecht. Aber sie hatte kurz vor dem Verdursten gestanden, in dem Moment wäre ihr jede Flüssigkeit recht gewesen, nun ja, dachte sie, vielleicht doch nicht jede...

Klaus, dachte sie, er will sich was antun! Sie musste schneller vorwärts kommen! Mit einem Mal schien alles sonnenklar, jetzt verstand sie endlich, was hier vor einem Jahr geschehen war. Er hatte seine Bekannte getötet, sicherlich im Affekt; man hatte ihn ja von Anfang an in Verdacht gehabt, sie waren Nachbarn, sie kannten sich! Wer weiß, um was es gegangen war? Verschmähte Liebe, wie so oft? Klaus mochte ja diese perversen Spielchen, wie sie jetzt aus eigener Erfahrung wusste. Hatte er Daniela die Keuschheitsdinger angelegt, genau dieselben, die sie jetzt auch trug? Alles schien möglich in dieser bizarren Welt von Dominanz und Unterwerfung, ein Spiel sollte es sein, ein Liebesspiel, aber hier, hier an dieser Brücke, hier war es zum tödlichen Streit gekommen. Hatte sie aussteigen wollen? Nicht mehr mitmachen? Hatte sie eventuell mit einer Anzeige gedroht, sollte er sie nicht bald aufschließen? Und hatte er sie dann geschlagen und über die Brüstung hinabgestoßen? Der Handabdruck, dachte sie, wie aber passt der Handabdruck ins Bild? Irgendjemand musste einen Fehler gemacht haben, es könnte durchaus seine Hand gewesen sein, große Hände hatte er ja nicht.

Ihre Hände hatte sie während des Laufens fast vergessen. Wie konnte sie nur so blöde sein, sich von dieser Barbara fesseln zu lassen? Es war so verdammt schnell gegangen, sie hatte es wirklich erst gemerkt, als es schon zu spät war. Und wie konnte sie dann so nach draußen laufen?
Ingeborg Wimmer blieb einen Moment stehen, verschnaufte etwas, schnell konnte sie wegen der Kette zwischen ihren Beinen sowieso nicht laufen; sie musste ihre Schritte den stählernen Kettengliedern anpassen, durfte nicht jedes Mal so weit ausschreiten, dass es schmerzte, aber der ihr aufgezwungene, kurze Schritt war eine Qual; sie kam kaum vorwärts. Sie versuchte ihre Hände zu befreien, zog unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft, aber die dünnen Stoffbänder der Dirndlschürze, die ihre Handgelenke umspannten, gaben keinen Millimeter nach; es war zum Verrücktwerden.

Ingeborg lief weiter, wo war es nun, welche Richtung, dort, der Friedensengel auf der anderen Seite der Isar, es konnte nicht mehr weit sein, sie sah schon die Brücke, hoffentlich kam sie noch rechtzeitig.
Sie verlangsamte ihren Schritt, sie war total schlapp, am Ende ihrer Kräfte. Es war niemand zu sehen. War es nicht erst wenige Wochen her, dass sie mit Klaus hiergewesen war? Absichtlich hatte sie ihren Treffpunkt so gewählt, hatte sie darauf gehofft, er würde sich eine Blöße geben, wenn sie ihn an den Ort seiner Tat brachte, aber es war nicht geschehen. Der falsche Zeitpunkt, dachte sie, es muss ganz einfach der falsche Zeitpunkt gewesen sein! Ein sonniger, warmer Herbstnachmittag hatte ihn nicht zurückführen können in jene kalte Tatnacht. Eine Nacht, in der es kalt und dunkel gewesen war. So wie heute....

40. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 15.01.17 22:30

Danke Daniela auch für diese gekonnt spannende Fortsetzung.
Und nun wieder eine Woche spannendes und gleichzeitig dankbares Warten bis zum nächsten TATORT!
41. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von MarioImLooker am 16.01.17 17:03

Hammerfolge! Puzzles fügen sich zusammen! Längst vergessene Geschichten kommen wieder in den Vordergrund.
Gratulation, Du übertriffst Dich immer wieder selbst!
Ich bleib dabei, definitiv die beste Geschichte hier im Forum.
42. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von bd8888 am 16.01.17 17:26

Hallo Daniela
Danke für deine wunderbare Geschichten.
Das wöchentliche Warten ist der totale Wahnsinn.
Die Spannung steigt und steigt.
Was wird wohl an der Brücke passieren?
Schöne Woche
bd8888
43. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 22.01.17 22:00

Weiter geht´s! Heute mal eine etwas kürzere Fortsetzung, dafür wird dann der Schluss umso länger!
Ein herzliches Dankeschön meinen treuen Lesern; Ihr habt mich mit Euren netten Kommentaren aus einer leicht depressiven Stimmung herausgeholt! Der Winter mit einigen schönen Frost- und Schneetagen hat sich wieder verzogen, geblieben ist graue Langeweile....

Nun wünsche ich allen Lesern spannende Unterhaltung! Eure Daniela 20

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Klaus hatte sich seine Jacke geben lassen, eine der Frauen an der Garderobe gebeten, sich um Paula zu kümmern, die nun endgültig auf der Toilette zusammengebrochen war, dann rannte er hinaus. Die kalte, frische Luft tat ihm gut, aber der Schock, die Erkenntnis dessen, was genau hier vor einem Jahr passiert war, hielt ihn immer noch gefangen.
Er versuchte zu überlegen, welchen Vorsprung Ingeborg einerseits und Lisbeth andererseits vor ihm hatten? Zehn Minuten? Zwanzig Minuten? Er hatte ja selber einige Minuten über der Kloschüssel gehangen, danach dann einige Zeit gebraucht, Paula zu helfen und sie zu befragen. Ich kann schneller laufen als die Frauen, dachte er, knickte dann aber beinahe mit dem rechten Fuß um. Er hätte doch besser die Ballerinas nehmen sollen, aber er mochte keine Ballerinas, sie sehen an schönen Frauenbeinen einfach blöde aus, und als Transe konnte er es sich erst recht nicht leisten, blöde auszusehen. Trotzdem rannte er weiter, mit wehendem Rock, hinaus in die dunkle Nacht.

Auch sein Hirn arbeitete auf Hochdruck. Konnte es denn wahr sein, was das Mädchen ihm gerade erst auf der Toilette erzählt hatte? Der Vater...? Nein, nein, das konnte nicht sein. Nicht hier, in unserem Land. Nicht in unserer Zeit. Solch eine Räubergeschichte mochte in einem billigen Pornoblättchen zu lesen sein, aber so etwas macht doch kein Mensch! Mit den eigenen Töchtern.... Niemals...

Plötzlich sah er es wieder deutlich vor sich. Daniela, die an der Brückenbrüstung stand, vor sich dieses andere Mädchen - Lisbeth. Wie sie ihren Rock hochhob, wild herumgestikulierte, dann ihre Brust herausstreckte. Daniela dann, die ihre Jacke auszog, auf etwas deutete, scheinbar dem Mädchen Vorwürfe machte... schließlich dieser furchtbare Schlag. Was hatte Lisbeth Daniela gezeigt? Und er hörte wieder die Stimme in der Nacht: Du bist schuld.... bist schuld... schuld....

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Ingeborg hatte sich etwas gefangen. Sie trat, voller Unruhe, an das steinerne Brückengeländer und spähte nach unten in die Finsternis. Wasser plätscherte leicht; es war der einzige Laut. Für den Moment erhellte der Scheinwerfer eines Autos, das am gegenüberliegenden Ufer irgendwo einparkte, die Szenerie... nein, nichts, da lag niemand. Sie war rechtzeitig gekommen.
Ingeborg hörte Schritte hinter sich. Klaus? War er es? Hatte er hier auf sie gewartet? Brauchte er einen Zeugen für seinen Suizid? Hatte er Angst, alleine zu sterben? Die Schritte kamen näher, ein hartes Geräusch. Nein, das waren keine Männerschuhe...

Sie drehte sich um, sah im Gegenlicht eine Straßenlaterne die Silhuette einer Frau. Ein dunkles Dirndl, die Schürze etwas heller. Blitzte da ein weißer Unterrock hervor? Hatte Barbara so etwas getragen? War sie ihr nachgelaufen? Machte sie sich auch Sorgen um Klaus??
"Barbara??" Ihre Stimme war schwach, das Laufen hatte sie angestrengt.
"Wer sind Sie?" Die Frau war stehengeblieben. "Wer ist Barbara?"
Ingeborgs Hirn arbeitete fieberhaft. Wer war diese Frau? War sie zufällig hier? Jetzt, um diese Zeit? Plötzlich hatte sie es gesagt, bevor sie es zurückhalten konnte. "Haben Sie sie getötet? Letztes Jahr? Hier an dieser Stelle? Die junge Frau, die man morgens hier, unten an der Isar, gefunden hatte?"

Die Frau kam näher. Sie schwieg, aber sie kam immer näher. Noch einmal versuchte Ingeborg, ihre Hände freizubekommen, vergeblich. "Sie haben sie umgebracht!! Wer sind Sie? Weshalb haben Sie es getan?" Sie biss sich auf die Zunge. Es wäre besser gewesen, gar nichts zu sagen.
Die Frau stand dicht vor ihr. Eine sehr junge Frau, wie sie trotz der immer noch blendenden Straßenlaterne erkennen konnte. Sie packte sie an den Schultern, griff mit einer Kraft zu, die man den zarten Händen nicht zugetraut hätte, und drückte sie mit aller Macht gegen die Brüstung. "Halten Sie den Mund!! Ich habe niemand umgebracht! Hören Sie, es war ein ganz verdammter Unfall... diese blöde Schlampe!!"

Ingeborg Wimmer lag halb auf der Brüstung. Sie bekam ihre Hände nicht frei, konnte sich nicht dem Griff des Mädchens entwinden. Sie blickte über ihre Schulter; unter ihr rauschte schwarzes Wasser. Sie versuchte nach der Angreiferin zu treten, aber die Kette, die sie zwischen den Beinen hatte, ließ es nicht zu. Lähmende Angst griff nach ihr. "Hören Sie, lassen Sie mich los! So beruhigen Sie sich doch! Oder wollen Sie mich auch da hinunterwerfen?"
Sie bekam einen schrecklichen Schlag ins Gesicht. "Sie sollen Ihr Maul halten! Ich habe doch gesagt, es war ein Unfall! Was machen Sie überhaupt hier? Wer sind Sie denn?" Angst, Wut und Erregung schwangen in der Stimme mit.
"Ich heiße Ingeborg Wimmer! Ich bin...." Sie bekam einen neuen Schlag, bei dem sie sich auf die Zunge biss.
"Habe ich nicht gesagt, Sie sollen Ihr Maul halten? Wenn Sie nicht wären, ich hätte es schon längst hinter mich gebracht! Ja, ich habe es getan. Ich habe sie umgebracht, diese blöde Tussie! Hatte unseren Vater total verrückt gemacht, und wir mussten es dann ausbaden!"

Ihr Gesicht war immer noch nicht deutlich zu sehen, aber ihre Stimme verriet den totalen Kontrollverlust. "Niemand weiß, dass ich es war, die das Mädchen hier umgebracht hat. Niemand, außer meiner Zwillingsschwester und Ihnen!"

Sie spuckte Blut. "Hören Sie, ich bin von der Polizei. Ich werde..." Sie hätte es nicht sagen sollen. Es war wie ein Todesurteil.
Die Hände griffen fester zu, legten sich um ihren Hals. "Gar nichts werden Sie!! Einen Dreck werden Sie! Glauben Sie, ich habe Lust, wegen dem Flittchen in den Knast zu gehen?" Die junge Frau drückte sie weiter zurück; es war erstaunlich, welche Kraft sie dabei entwickelte. Ingeborg versuchte, ihr mit einer halben Seitendrehung zu entkommen, aber es gab kein Entkommen für sie. Etwas fiel polternd zu Boden.
Auch die Frau hatte es gehört. Sie ließ kurz von ihr ab, bückte sich, sah nach, was es war, was da heruntergefallen war. "Ach du scheiße!", entfuhr es ihr. Sie sammelte Ingeborgs Dienstwaffe auf, die diese mitgenommen hatte, gut unter ihrem Rock versteckt. "Eine Knarre? Was wollten Sie denn mit ihrer Knarre? Mich abknallen? Das können Sie gerne haben!" Sie richtete die Waffe auf Ingeborgs Brust.

% % %

Klaus war fast an derselben Stelle angekommen, von wo aus er das Drama vor einem Jahr beobachtet hatte. Er stutzte einen Moment, glaubte eine Fata morgana zu sehen, nein, das hier gab es doch gar nicht, das musste jetzt aber wirklich ein Traum sein, wenn auch ein ganz beschissener. Diese zwei Frauen, die miteinander kämpften. Noch konnte er auf die Entfernung nicht ausmachen, wer wer war, aber er hatte nicht mehr die Zeit zum Überlegen, in wenigen Sekunden würde er zu spät kommen, nein nein nein, er durfte nicht noch einmal zu spät kommen. Er verdoppelte seinen Eifer, warf im Laufen die verdammten Stöckelschuhe von den Füßen, hartes, kaltes Pflaster empfing ihn, heftiger Schmerz durchzuckte ihn, er durfte nicht stehen bleiben.
Er sah, wie die eine Frau sich bückte, wie sie etwas aufhob, einen schwarzen Gegenstand, oh nein, großer Gott, eine Pistole, wo kam jetzt eine Pistole her?? Er hatte keine hundert Meter mehr zu den Frauen, sah, wie sie die Waffe auf die Brust der unter ihr Liegenden richtete. "Nein!!!" Er hörte jemanden schreien, merkte nicht, dass er selber es war, nein, nicht noch ein Toter, er würde es verhindern, sich vor die Kugel werfen, so wie Frank Palmer das Leben von Whitney Houston rettete. "LISBETH!!!! NICHT!!!!!"

% % %

Ingeborg Wimmer wartete nur noch auf den Schuss. Es war vorbei. Sie blickte zur Seite, wollte nicht in das wutverzerrte Gesicht vor ihr schauen, in den drohenden Lauf ihrer eigenen Dienstwaffe.
Sie wollte die Augen schließen, aber sie konnte es nicht. Sie sah einen Schatten heranfliegen, wer war das, es war egal, der Schatten käme zu spät, gleich wäre es vorbei. Eine Frau, noch eine Frau, dachte sie.
Barbara! Es musste Barbara sein, die ihr doch noch gefolgt war. Sie wollte um Hilfe rufen, aber sie bekam keinen Laut heraus. Dann hörte sie einen gellenden Schrei, so laut, als müsse er die Finsternis zerreißen. "Nein!!" Dann, noch viel lauter: "LISBETH!!!! NICHT!!!!" - Klaus

Es hatte gereicht, die junge Frau einen kurzen Moment zu verwirren. Aber es würde nicht reichen, noch war Barbara mindestens dreißig Meter entfernt; die Frau hob die Waffe erneut, dann sah sie voller Entsetzen, wie diese die Waffe auf sich selber richtete.
"Ich wollte es nicht...", jammerte sie tonlos.
"Nicht! Tue es nicht!!" Ingeborg schrie sie verzweifelt an.

% % %

Es passierte alles gleichzeitig. Ingeborg sah das Gesicht der jungen Frau vor sich, gleich würde sie tot sein. Aber nichts geschah, als diese die Waffe auf ihre Brust richtete und abdrückte. Ein verzweifelter, zu allem entschlossener Blick flackerte in ihren Augen, sie ließ die Waffe wieder sinken, dann lud sie die Waffe durch, richtete sie erneut auf ihre Brust, ein kurzes Lächeln umspielte ihre Lippen, dann schloss Ingeborg die Augen, sie hörte den Schuss krachen, sah nicht mehr, wie der schwarze Schatten heranflog, dem Mädchen die Waffe aus der Hand schlug und sie wegkickte. Ihr wurde schwarz vor Augen, Ingeborg kollabierte auf der Stelle und sank auf dem harten Steinboden zusammen.

Klaus stürzte sich auf Lisbeth, der Schuss musste daneben gegangen sein, sie atmete noch, er ergiff ihre Arme, drehte sie auf den Rücken, es gab ein kurzes, heftiges Handgemenge, dann hatte er sie unschädlich gemacht.
Er atmete heftig. Seine Füße brannten wie Feuer, er war seit Jahren nicht mehr barfuß gelaufen. Er beugte sich über Ingeborg, auch sie atmete noch, war aber bewusstlos. Blut tropfte ihr immer noch aus Nase und Mund, aber nicht viel. Er presste ein Tuch gegen die Verletzung, dann löste er mit zitternden Fingern die Schleife an Ingeborgs Schürzenband, mit der er einige Zeit zuvor ihre Hände gefesselt hatte.

Sie lag schlapp in seinen Armen: Es war Zeit, Hilfe herbeizuholen. Er sah sich um, Lisbeth lag hinter ihm und jammerte; sie war für den Moment keine Gefahr mehr, weder für ihn noch für sich selbst.
Er fand ein Handy in Ingeborgs Tasche. Gott sei Dank, es funktionierte. Er wählte die Notrufnummer, die Verbindung klappte sofort. Er schilderte die Situation, bat um einen Rettungswagen. Ja, man habe richtig gehört, Angriff auf eine Polizeibeamtin, und verletzt, ja, wohl nicht lebensgefährlich. Er brach die Verbindung ab, zog seine Jacke aus, legte sie über Ingeborg. Es würde nicht lange dauern, hatte man ihm gesagt, auch die Polizei würde kommen. Er solle das Opfer warm halten, wenn es ging.

Klaus sah sich um. Er sah etwas blinken, was war das, oh, da hatte aber jemand Glück gehabt, dachte er und steckte es ein. Dann brachte er Ingeborg in eine stabile Seitenlage oder zumindest das, was er dafür hielt, er kontrollierte die Luftwege, sie war immer noch bewusstlos, vielleicht war sie doch schlimmer verletzt? Die Waffe? Wo war die Waffe abgeblieben? Er suchte, es war dunkel, er fand sie schließlich unter einem Busch. Er nahm sie mit zwei Fingern auf, sorgfältig darauf achtend, das Teufelsding nicht in eine Richtung zu halten, wo es doch noch Unheil anrichten konnte, dann sah er blinkendes Blaulicht auf der Luitpoldbrücke herankommen.

Polizei und Rettungswagen kamen fast gleichzeitig. Die Beamten waren besorgt, sie wussten, es handelte sich um eine Kollegin. Es fiel ihnen schwer, eine gewisse Aggressivität zu unterdrücken; erst als der begleitende Arzt Entwarnung gab, entspannten sie sich.
Klaus war froh, die Pistole los zu werden; ein lautes Stöhnen zeigte ihm, dass Ingeborg zu sich gekommen war. Er sah, wie Ingeborg im Rettungswagen untergebracht wurde, wollte zu ihr einsteigen, bei ihr bleiben.
Einer der Polizeibeamten trat vor ihn, hinderte ihn am Einsteigen. "Sie fahren mit uns, junge Frau!" Klaus hörte deutlich den spottenden Unterton, sah das maliziöse Grinsen im Gesicht des Polizisten; eine Nacht auf der Wache schien ihm sicher. Ausweisen könne er sich nicht, nein, tat ihm leid. Das Gesicht des Beamten wurde härter.
Er blickte sich um. Sah Ingeborg im Inneren des Wagens verschwinden. "Ingeborg!! Hilf mir!!" Es wirkte lächerlich, theatralisch lächerlich. Eine Schmierenkomödie, dachte er.

"Er fährt mit mir, Kollege! Hören Sie? Er bleibt bei mir! Komm, Klaus. Alles wird gut! Komm...." Ingeborg hatte sich halbwegs aufgerichtet, sie lächelte ihn an, streckte ihm die Hand entgegen, genauso wie Barbara ihr vor kaum mehr als einer Stunde ihre Hand entgegengestreckt hatte. "Du bleibst jetzt bei mir!" Dann sank sie zurück und Klaus beeilte sich, neben ihr Platz zu nehmen.

Sonntag, 27. Oktober

Es war 5 Uhr morgens, als Ingeborg Wimmer zu sich nach Hause kam. Man hatte sie im Krankenhaus ambulant behandelt; die Verletzungen waren nicht so schlimm, wie befürchtet. Und sie hatte es geschafft, jegliche weitere Untersuchungen abzuwehren. Sie hätte schlichtweg nicht gewusst, wie sie ihr kleines Geheimnis hätte erklären sollen. Die Leute mussten nicht alles wissen! Und sie konnte sich sicher sein, sie wäre zum Gespött der ganzen Dienststelle geworden, hätten die Kollegen und Kolleginnen von ihrer Vorliebe für derart bizarre Unterwäsche erfahren.
Ingeborg hatte Klaus gebeten, sie zu begleiten. Sie hatte tausend Fragen, sie suchte nach Antworten, auch wenn sie eigentlich totmüde war; allein der Schock des Erlebten ließ sie noch nicht zur Ruhe kommen.
"Komm mit hoch, ja? Ich brauche dich!" Wimmer sah Klaus bittend an, als sie unten die Haustür aufschloss.
Klaus zögerte. "So?", fragte er und deutete etwas hilflos auf sein Kleid. Er fühlte sich ein wenig wie ein Schauspieler, der nach seinem Stück gern die Rolle ablegen und seine eigenen Kleider wieder anziehen wollte.
"Ja. Warum nicht, Klaus? Siehst doch gut aus. Oder soll ich dich lieber Barbara nennen?" Sie ergriff seinen Arm und zog ihn ins Treppenhaus hinein. Ohne eine Antwort abzuwarten ging sie zum Fahrstuhl voraus; sie hatte einfach nicht mehr die Kraft, zu Fuß bis in ihr Stockwerk hochzulaufen.
Klaus schwieg. Aber Barbara schwieg auch.

Ingeborg schloss ihre Wohnungstür auf, machte Licht, zog ihre Schuhe aus und ließ sie achtlos fallen. "Komm, kannst deine Dinger auch ausziehen. Ist bestimmt nicht bequem für dich mit so hohen Absätzen, Barbara!"
Er musste lachen. "Die hier? Die nennst du hoch?" Beinahe hätte er mehr gesagt, als er sagen wollte. "Nee, kein Problem damit."
"Ist wohl nicht das erste Mal?" Ingeborg sah ihn fragend an. Im Grunde genommen verstand sie es nicht. Warum trug er Frauenkleider?
Klaus ließ den Kopf hängen. Sollte er ihr die ganze lange Geschichte erzählen? Von Anfang an, mit Monika, mit Andrea dann?"
"Trägst du gern Frauenkleider? Warum tust du es?" Ihre Fragen waren sanft ausgesprochen, hatten nicht die Schärfe eines Verhörs.
"Ja... muss ich ja wohl." Er machte eine Pause, schien nachzudenken. "Warum?? Frag mich was Leichteres, Ingeborg."

Ingeborg wusste, sie würde nicht alles hier und jetzt begreifen. Im Moment gab es Wichtigeres. Ihr Sofa zum Beispiel. "Möchtest du was haben? Kaffe, Tee, oder einen Wein?"
"Tee wäre nicht schlecht. Hast du vielleicht was zu essen? Ich habe vorhin gekotzt, da bei der GeiDi-Gaudi, nachdem du weggegangen warst. Könnte ganz gut was vertragen jetzt."
"Kotzen klingt aber gar nicht gut! Ja, ich werde uns einen Toast machen!"
"Ganz im Gegenteil, Ingeborg. Wenn mir nicht so furchtbar schlecht gewesen wäre, würdest du jetzt vielleicht auch da unten an der Isar liegen!" Er erklärte ihr mit wenigen Worten, wie und in welcher Verfassung er Paula vorgefunden hatte, und wieso er es dann mit der Angst zu tun bekam und ihr hinterhergelaufen war.

Ingeborg nickte stumm. Sie reichte Klaus die Hand. "Ja, das war wirklich ungeheueres Glück! Danke!" Sie ging Klaus voran in die Küche, setzte Teewasser auf und steckte einige Scheiben Brot in den Toaster. Sie sah ihn an, schüttelte leicht den Kopf. "Ich verstehe es nicht...."
"Was verstehst du nicht, Ingeborg?"
"Ich verstehe nicht, wie konnte dieses Mädchen, dieses ´Kind´, so genau wissen, wie sie meine Waffe laden sollte? Ich meine....", Ingeborg zögerte, "ich konnte es in ihren Augen sehen. Die wusste genau, was sie zu tun hatte! Fast so, als hätte sie es schon hundertmal gemacht. Da war kein Überlegen mehr, das lief ganz automatisch ab..."
Klaus senkte den Blick, sah die helle Tischplatte an. "Vielleicht hat sie es ja wirklich schon hundertmal oder öfters getan?"
"In einem Schützenverein??"
"Nein, das meine ich nicht. Ich dachte da eher an den Computer. Irgendso ein beschissenes Ego-shooter-Spiel. Wahrscheinlich hat sie selber nie eine Waffe in der Hand gehabt, aber ihr Avatar wusste genau, was er zu tun hatte. Und in dieser enormen Stresssituation schmolzen das sogenannte ´Spiel´ und die Wirklichkeit zusammen."
"Aber es war doch kein Spiel! Sie muss sich doch, verdammt noch mal, was dabei gedacht haben!!"
"Ich glaube nicht, Ingeborg. Diese Spiele konditionieren einen zum schnellen Handeln, nicht zum gründlichen Nachdenken. Leider. Ein ganz gefährliches Zeug, wenn du mich fragst!"
"Ja, furchtbar. Sie kann froh sein, dass du gerade noch rechtzeitig dazwischen gekommen bist!"

Ingeborg stellte Tee und Toastbrote auf den Tisch. " Komm, greif erst einmal zu! Ich bin gleich wieder da. Muss jetzt erst mal aus diesen Sachen raus!"
Sie ließ Klaus allein, ging nach nebenan, wo wohl ihr Schlafzimmer lag. Klaus hörte, wie Vorhänge zugezogen wurden, dann drang matter Lichtschein durch den Türspalt. Für einen Moment war Ruhe, dann gab es einen leichten Aufschrei: "Scheiße!!"
Er sprang auf, wie von der Tarantel gestochen, zwei, drei Schritte, ein Griff an die Tür, er öffnete, vor ihm, ihr Dirndl noch in der Hand, kniete Ingeborg und streckt ihm ihr Hinterteil entgegen. Solider Stahl blitzte ihn an, er sah, wie eng der Taillenreifen an ihr saß; er sah die breiten Ringe der Schenkelbänder, das ebenso breite Brusband ihres Keuschheits-BHs. Ingeborg drehte ihm den Kopf zu, Verzweiflung im Blick. "Die Schlüssel, Klaus! Ich kann die verdammten Schlüssel nicht finden! Du...." - sie korrigierte sich - "Barbara hatte sie mir gestern Abend in den Ausschnitt gesteckt.... ich.... ich muss sie verloren haben! Da, an der Scheißbrücke! Oder vielleicht schon auf dem Weg dorthin?"
"Oh Mann, so ein Mist! Vielleicht liegen sie in dem Rettungswagen?"
"Oh nein, sag so etwas nicht! Da werde ich sie nie wiederfinden! Was glaubst du, wieviele von diesen Wagen es in München gibt??"

Er nahm ihre Hand, zog sie vom Boden hoch. "Jetzt beruhige dich erst einmal. Wir werden die blöden Schlüssel schon noch finden. Ingeborg?? Hör zu, du stehst immer noch unter Schock." Er entdeckte ihren Bademantel, der hinter der Tür an einem Haken hing. "Komm, hier, zieh den erst einmal an, und dann komm wieder ins Wohnzimmer und iss was! Lass uns reden, oder einfach nur so...." Er sagte nicht, was er unter nur so verstand, aber es klang ganz gemütlich.
Ingeborg zog ihren Bademantel an, dann setzte sie sich zu Klaus ins Sofa.
"Du hast mir das Leben gerettet!" Sie hielt ihre Teetasse in beiden Händen. Sie zitterte.
Klaus griff nach einem Toast, ließ seine Hand aber wieder sinken. "Du hattest mehr Glück als Daniela letztes Jahr."
"Ich glaubte, du hättest sie letztes Jahr dort getötet. Und dass du dir was antun wolltest... und mich dabei haben wolltest. Ich hatte Angst um dich!"
Er blickte sie an. "Du hattest Angst um mich?" Er schüttelte müde den Kopf. "Ich... ich will jetzt nicht darüber sprechen..."
"Nein... natürlich nicht." Sie seuftzte, ihr Gesicht schmerzte, trotz des Schmerzmittels, dass sie bekommen hatte. "Nicht jetzt. Später dann. Du musst mir alles sagen.... alles, was du weißt. Und erzähle mir auch von Barbara, ja? Vielleicht weiß sie sogar mehr, als du?"

Sie saßen schweigend zusammen; jeder in die Welt der eigenen Gedanken vertieft. Langsam legte sich der Stress der Nacht, langsam wurde das Adrenalin abgebaut, bleierne Müdigkeit griff nach ihnen.
"Ich muss ins Bett, Klaus." Ingeborg erhob sich vom Sofa. "Kommst du?"
Er sah sie fragend an. "Wohin?"
"Ins Bett, wohin sonst. Es ist groß genug für zwei." Sie zog ihn hoch, zog ihn Richtung Schlafzimmer, ließ im Laufen bereits ihren Bademantel fallen. Mit dem Fuß trat sie die Schlafzimmertür hinter ihnen zu.

44. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 22.01.17 22:19

Nun, das war ja sehr dramatisch. Und jetzt werden die beiden auch wieder vom Streß runterkommen.
Danke Daniela
45. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von ev_1 am 23.01.17 09:25

Wird Klaus noch eine Chance bekommen, seine Gefühle aufzuarbeiten? LG!
46. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 29.01.17 22:01

Ganz langsam nähern wir uns dem Ende dieser Geschichte. Ich weiß, sie ist anders als das, was der Leser hier in diesem Forum erwartet. Aber, sie musste und wollte erzählt werden! Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich nicht ewig fetischistische Spielereien auspinseln konnte, wie noch in den ersten Teilen, "Herbstferien", "Frust" und "Agonie". Der Mensch braucht Entwicklung, das gilt auch und sogar in besonderem Maße meinen Protagonisten.
Dennoch hoffe ich, dass meine Geschichte nach wie vor bei dem einen oder anderen Leser Anklang findet. Bitte habt Geduld mit mir, wir sind noch nicht am Höhepunkt der Erzählung angekommen!
Eure Daniela 20
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München, Mitte November

Der Herbst war spürbar ruppiger geworden. Klaus musste immer häufiger die Heizung anstellen; es gab genug zu tun in dem großen Haus, in dem er nun, seit dem Tod seiner Großmutter, allein lebte.
Allein.... Es war ungewohnt für ihn. Er musste sich nicht mehr einordnen, wie in den Jahren im Internat, er musste sich nicht mehr unterordnen, wie in den Monaten, als er - mehr oder weniger - Monikas Spielzeug war. Und er brauchte den Untergang nicht mehr zu fürchten, wie vor Monaten noch, als er sich in Andreas Gewalt befand.
Er hatte wenig Zeit zur Muße gehabt, seit jenen Ereignissen Ende Oktober. Es hatte Untersuchungen gegeben, mehrere Male war er von der Polizei befragt worden, aber er hatte seinen Kopf endgültig aus der Schlinge ziehen können. Sicherlich hätte man ihm unterlassene Hilfeleistung vorwerfen können, was Danielas Tod anging, aber in Anbetracht der speziellen Situation an jenem Abend hatte die Staatsanwaltschaft auf eine Anklage verzichtet. Man hatte die Umstände ihres todlichen Unfalls - als welchen man ihn jetzt einstufte - restlos geklärt; die Zwillinge aus Frankfurt hatten, einmal begonnen, kaum wieder aufhören können, die Hintergründe zu erhellen. Eine teils skurrile, teils bizarre Geschichte, eher eine Horrorgeschichte, die elterliche Sorge, beziehungsweise väterlichen Übergriff, offenbarte.

Klaus betrachtete das kleine Schlüsselbund, das vor ihm auf dem Tisch lag. Ein Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht, als er an jene erste Nacht mit Ingeborg dachte. Sie hatte ihn mit hineingezogen in ihr Schlafzimmer, hatte die Tür mit einem schnellen Tritt zugestoßen, so als wolle sie neugierige Betrachter ausschließen. Ihr Bett war groß und geräumig; er hatte sich, ohne weitere Aufforderung, hinter sie gelegt. Seine Hände lagen auf ihrer Brust, drängten zwischen ihre Schenkel, aber alles, was seine Finger ertasteten, war solider, unnachgiebiger Stahl, eine künstliche Barriere, die zwischen ihnen lag, die sein Begehren und ihre Wollust nicht zusammenkommen ließen.
Ist es einfacher so?, hatte er sich gefragt. Leichter sogar? Konnte eine Beziehung zwischen Mann und Frau nur dann glücklich sein, wenn man auf das Wesentliche verzichtete? War es nicht so, dass gerade der ungezügelte Sex das Leben kaputt gemacht hatte, zumindest so, wie er es erlebt hatte, in seiner schlimmsten Form? Dieser verdammte Pater, der sich nicht zügeln konnte, dieser verfluchte Ialiener, der seiner bizarren Phantasie alles unterordnete?
Und hatten er und Ingeborg sie nicht trotzdem zusammen genossen, diese ersten gemeinsamen Stunden? Befreit vom natürlichen Drang? Hatte er sie nicht so zärtlich berührt, wie selten zuvor bei einer Frau? Überrascht hatte es ihn, sie zu hören. Schade, dass du nicht auch in so einem Ding steckst, Barbara! Was hatte sie gesagt?
Er grübelte immer noch darüber nach. Was genau hatte Ingeborg da gemeint? Und wieso hatte sie Barbara angeprochen, nicht Klaus?
Sie hatten bis spät in den Vormittag hinein geschlafen, dann hatte er so getan, als hätte er gerade soeben die Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgeschirr auf dem Fußboden entdeckt. Er war ja kein Unmensch. Er hatte die Schlüssel in der Nacht oben an der Brücke gefunden; sicher hatte Ingeborg sie bei ihrem Kampf mit Lisbeth verloren. Und er hatte dann sehen können, welche Erleichterung über Ingeborgs Gesicht huschte, als er ihr die Schlüssel präsentierte. Sie war ins Bad gegangen, hatte geduscht, hatte sich im Bad angezogen; nackt hatte er sie nicht gesehen. Und auch nur kurz in Unterwäsche. Es war anders jetzt als vorher.... komplizierter, nicht etwa einfacher.
Sie hatten zusammen gefrühstückt, sie schwiegen sich aus. Keiner verspürte große Lust, über das zu sprechen, was in der Nacht passiert war. Dann hatte Ingeborg ihm geholfen, sich wieder als Barbara zurechtzumachen; er hatte ja nur seine Kleider des gestrigen Abends; Männerkleidung hatte er hier nicht. Und dann....

Nein, er verstand es nicht. Vielleicht konnte er es nicht verstehen, vielleicht wollte er es nicht verstehen. Er hatte viel Kontakt zu ihr gehabt, leider fast auschließlich dienstlich. Sie hatten einige Male abends miteinander telefoniert, hatten zusammen gelacht, zusammen geschwiegen. Und er hatte seine eigenen Sorgen gänzlich vergessen.

Warum hat sie das getan?, fragte er sich immer wieder. Ihr Blick, der auf Barbara ruhte. Wie sie, ganz sanft, ganz ohne spürbare Gewalt, seine Hände hinter ihrem Rücken mit der Dirndlschürze gefesselt hatte. Genauso, wie er es bei ihr Stunden zuvor getan hatte? Wie sich ihre Augen dabei in seine bohrten, so als wolle sie einem tieferen Geheimnis bis auf den Grund gehen. Trägst du gern Frauenkleider? Warum tust du es? Sie hatte ihm in seine high heels geholfen, aber nie zuvor hatte es jemand so erotisch getan, wie sie. Dann hatte sie ihm seine Jacke über die Schultern gehängt, war mit ihm zum Auto gegangen und hatte ihn nach Hause gefahren.
Sie weiß, wo ich wohne! Er hatte ihr keine Adresse genannt. Erst auf der kleinen Treppe vor Omas Haus hatte sie ihm die Hände gelöst, hatte ihn herzlich an sich gedrückt - ein neues Gefühl diesmal, wie er feststellte, dann hatte sie sich verabschiedet. Bis bald, Barbara!! Wir sehen uns! Ach ja, Klaus wird wohl zu einer Vernehmung kommen müssen, aber das wird schon nicht so schlimm werden! Dann war sie gefahren.
Die Schlüssel! Warum hatte sie ihm die Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel und BH gegeben? Er hatte sie in seiner Jackentasche gefunden, als er nach seinem Hausschlüssel suchte. Warum hatte sie es getan? Er verstand es nicht.

Klaus beschloss, dieser Frage nicht weiter nachzugehen. Er hatte eigene Probleme, die gelöst werden wollten. Nicht umsonst hatte er die abenteuerliche Reise nach Rom auf sich genommen. Es lief ihm kalt den Rücken herunter, wenn er an jenen Mönch dachte, der dort, in der Via Formosa, vielleicht so etwas wie der Hüter des Hauses war. Ihm gruselte bei dem Gedanken an all die finsteren Mönche, die in einschlägigen Werken ihr Unwesen trieben. War das auch so einer? Aber hatte er nicht eigentlich ganz normal ausgesehen? Oder hatte der Mönch aus der Via Formosa sich schon auf seine Fährte gesetzt?
Klaus, du spinnst!, dachte er. Vielleicht sollte er nicht so viele blöde Bücher lesen! Jetzt aber galt es, diesen Ruprecht Huber ausfindig zu machen. Wie machte man das am besten? Vielleicht sollte er im Telefonbuch nachsehen? Ihm grauste bei dem Gedanken an die Hauptpost und den Tisch mit allen deutschen Telefonbüchern, aber dann musste er doch erleichtert aufatmen: Vorbei, aus und vorbei diese Zeiten!
Er schnappte sich sein Notebook - gerade erst hatte er es aus der Hand gelegt! - und öffnete die Internetseite von >Das Telefonbuch<. Warum nicht gleich eine bundesweite Suche? Er tippte den Namen in das Feld der Schablone, drückte auf Enter und wartete. Nichts. Kein Treffer.
Ein kleiner Schock. Er versuchte es erneut, diesmal bei >Das Oertliche<, entschied sich für München und Umgebung, aber auch hier kein Treffer. Regensburg vielleicht? Wieder nichts. In Landshut ein Treffer unter R. Huber. Er wählte die Nummer, eine Frau meldete sich: Renate Huber. Noch einmal versuchte er die bundesweite Suche, diesmal unter R. Huber, das Ergebnis war so groß, knapp 80 Treffer, die konnte er nicht alle anrufen. Und wenn der richtige dabei wäre? Wie sollte er es herausfinden? ´Entschuldigung, sind Sie das Schwein, das vor Jahren...??´ Er konnte wohl nicht damit rechnen, dass der dann fröhlich ´aber sicher doch, womit kann ich dienen?´ antworten würde.
Er gab es auf. Er brauchte Hilfe. Professionelle Hilfe. Einen Privatdetektiv... oder so, dachte er. Oder so war auf jeden Fall besser als Geld für so einen privaten Schnüffler auszugeben. Geld, das er gar nicht hatte.

Er fand Ingeborgs Karte, wählte nach leichtem Zögern ihre Nummer.
Sie meldete sich. "Ja?"
"Ingeborg? Ich brauche Hilfe..."
"Barbara!!" Ihre Stimme klang erleichtert.
Er zögerte. Was sollte das? "Klaus", antwortete er.
"Oh, schade!" Die Enttäuschung war leicht herauszuhören. "Womit?", fragte sie knapp.
"Huber. Ruprecht Huber. Ich habe seinen Namen. Und ich habe ihn gerade in ganz Deutschland gesucht. Also im Telefonbuch. Aber ich finde ihn nicht. Er ist nicht registriert..."
"Ja." Sie zögerte lange, ehe sie fortfuhr. Scheinbar überlegte sie, was sie sagen sollte. "Wo hast du den Namen her?"
Klaus hatte keine Lust, hier und jetzt die ganze Story seiner Recherche darzulegen. "Ist ´ne lange Geschichte.... Kannst du mir damit weiterhelfen?"
"Hm." Sie klang nicht begeistert. "Wie wäre es, wenn Barbara zu mir kommt? Ich bin mir sicher, dass ich Barbara helfen kann. Und sie könnte mir dann erzählen, wo sie den Namen her hat!" Es lag etwas Hoffnung in ihrer Antwort.
Hoffnung worauf?, überlegte Klaus.
"Ich glaube...." Sie sprach nicht weiter. Dann, sehr leise: "Ich glaube, ich mag Barbara!"
Ihm wurde heiß und kalt. Ein Scheideweg, dachte er. Ich stehe wieder einmal am Scheideweg! Er überlegte lange, sehr lange.
"Barbara....?"
Barbara, dachte er. War sie wiederauferstanden?

% % %

Ingeborg Wimmer hatte keine Antwort mehr bekommen. Klaus hatte das Gespräch beendet, hatte sie im Ungewissen gelassen. Würde er kommen? Oder würde sie kommen? Was brachte einen jungen Mann dazu, sich wie eine Frau zu kleiden? Sogar besser, als ich selbst das kann, musste sie sich neidvoll eingestehen. Dass er es mit Sicherheit nicht zum ersten Mal getan hatte, daran durfte kein Zweifel herrschen. Es erfordert eine Menge Übung, sein Makeup so hinzubekommen, wie Barbara das geschafft hatte. Auch sein Dirndl hatte Stil und Geschmack bewiesen. Eine lustige Verkleidung war das sicher nicht.
Ingeborg ging in ihr Schlafzimmer. Es war später Vormittag, sie hatte ein freies Wochenende, endlich mal wieder, sie hatte spät gefrühstückt, was sollte sie anziehen? Sie zog ihre Nachtwäsche aus, stand nackt vor dem Spiegel, zu nackt, wie sie dachte. Sie berührte ihre Brustwarzen, massierte sie leicht, kniff hinein, sie reagierten sofort und wollten mehr. Ihre Hand glitt in die feuchte Tiefe ihrer Scheide, zwei Finger umkreisten ihre Klitoris. Was war das? War es so simpel? War die Wollust vielleicht die größte aller Naturkräfte? Hatte man sie schon eingehend genug erforscht? Wieso hatten alle Lebenwesen auf diesem Planeten, so sie sich nicht wie eine Bakterie teilen konnten, diese unheimliche Kraft in sich, Sex miteinander zu haben? Wieso gab es Mord und Totschlag, wenn es da nicht stimmte? Wenn einer nicht das haben konnte, wonach er verlangte? Sie hatte oft genug mit komplizierten Fällen zu tun gehabt, Beziehungsdramen, die so verworren, so verstrickt waren, dass nur noch ein Mord sie hatte lösen können!
Ihr Blick fiel auf ihren Keuschheitsgürtel und den stählernen BH, die in einer Ecke ihres Bettes lagen. Sie hatte sie gereinigt, hatte sie poliert, überzeugt davon, sie so schnell nicht wieder anlegen zu wollen. Ich will nicht, dachte sie, als sie nach ihnen griff. Es gibt keinen Bruno mehr! Nein, aber Klaus - oder Barbara. Warum hatte sie Klaus ihre kleinen Schlüssel in die Jackentasche gestopft? Ohne, dass er es merkte? Vielleicht hatte er sie immer noch nicht gefunden?
Ihre Finger fühlten über das gelochte Blech, welches sich wochenlang ihren Fingern widersetzt hatte.Sie roch daran, es roch sauber, viel zu sauber, wie sie fand. Ihre Zunge glitt über die kleinen Löcher, sie stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn Barbara sie dort lecken wollte, es aber nicht könnte? Wenn Barbara gleich käme??
Sie hatte es so oft getan, in den vielen Monaten, die sie mit Bruno hatte; es gab kein Überlegen, kein Zaudern, sie legte sich den Keuschheitsgürtel um, wie sie es immer getan hatte, vergewisserte sich, sich nirgendwo einzuklemmen, ließ das kleine Schloss zuschnappen. Der BH, den sie mehr hasste als den stählernen Gürtel, folgte, ihre Brustwarzen protestierten, als sie das erste Mal wieder mit den fiesen Stacheln in Berührung kamen, die sie mehr als einmal an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten. Selbst das Abschließen war nicht mehr so knifflig, wie am Anfang, die beiden Teile glitten problemlos ineinander, sie konnte von hinten den Stift einführen; das kleine Schloss anzubringen und abzuschließen dauerte keinen Augenblick mehr.

Sie atmete heftig durch, spürte wieder die vertraute Enge, die ihren Brustkorb umschloss; ihre Hand, die eben noch liebkosend auf ihrer Scham gelegen hatte, sie verspürte jetzt wieder nur den harten Stahl unter sich, die eiserne Barriere, das Gefängnis, das sie von ihrer Wollust befreite.
Bei den Schenkelbändern zögerte sie, dann ließ sie sie weg. Sie hatte lange genug Röcke getragen; draußen war es definitiv kälter geworden; kein Mensch trägt jetzt noch Röcke, dachte sie, dann entschied sie sich doch noch einmal für ihr Dirndl. Sie suchte die Erinnerung jener Nacht, ihres Zusammenseins mit Barbara, auf der GeiDi-Gaudi, die kurze Zeit, bevor das Unheil fast über ihr zusammengebrochen war.

Kommt er, oder kommt er nicht? Oder kommt Barbara? Immer wieder ertappte Ingeborg sich dabei, wie ein eingesperrter Hund zum Fenster zu laufen, und hinauszuschauen. Sie hatte einen recht guten Blick auf die Straße, konnte gut in die Richtung sehen, von wo er - oder sie - kommen musste, aber niemand kam. Und je länger sie wartete, desto mehr spürte sie wieder das Verschlossensein, die ´Unzugänglichkeitspole´ an ihrem Körper, das in ihr lodernde Feuer, das sich nicht austreten ließ, zumindest nicht hier und jetzt. Aus Erfahrung wusste sie, es würde verlöschen, ein Körper würde übrig bleiben, ein Körper ohne Geschlecht, ohne Wärme, ohne Liebe.

Es war später Nachmittag, als sie es aufgegeben hatte. Sie überlegte, wie sie nun das beste aus der Situation machen könnte, der Tag war kaputt, da gab es nichts mehr zu retten. Sollte sie Klaus anrufen? Oder selber zu ihm hinfahren, um die Schlüssel und dann das war´s dann ja wohl sagen? Sie hörte den tuckernden Laut eines Motorrollers, ein eher ungewohntes Geräusch, besonders jetzt, wo die Jahreszeit Motorräder und Roller in die Garagen verbannt hatte. Das Geräusch schwoll leise an, es mochte eine kleine Maschine sein, dann erstarb es urplötzlich. Sie sah aus dem Fenster; es war niemand zu sehen.
Ingeborg erschrak, als sie ihre Klingel hörte. Ihr Puls beschleunigte auf einhunderfünfzig, schon war sie an der Gegensprechanlage, drückte den Knopf und fragte ihr übliches ja bitte?, diesmal allerdings brachte sie es kaum hervor.
"Barbara." Mehr sagte sie nicht.
Ingeborgs Herz beschleunigte auf einhundertachzig. Gleich falle ich tot um, dachte sie, während sie die Tür öffnete und sich am Türrahmen festhielt. Sie hörte das leise Surren des Aufzugs, aber er fuhr von oben nach unten und hielt nicht auf ihrer Etage. Dann vernahm sie knirschende Schritte auf der Treppe.

Sie erkannte sie im ersten Moment nicht. Da kam nicht das brave Mädel im Dirndl, sondern eine Frau mit bunter Perücke, schwarzer Lederjacke, einem weiten, gepunkteten Rock, der von einem sehr voluminösem Petticoat in Form gehalten wurde, die Beine in schwarzer Leggins, die Füße in schwindelerregend hohen Stöckelschuhen.
Barbara blieb stehen, als sie Ingeborg in der Wohnungstür erblickte. Sie lächelte. "Hallo Ingeborg." Wärme und Angst schwangen in ihrer Stimme mit.
"Barbara! Du siehst wundervoll aus! Komm rein." Ingeborg trat zur Seite, umarmte sie noch in der Tür. Vorsichtig, dieses zarte Geschöpf, sie durfte es nicht zerbrechen. Sie spürte, hier war eine Verwandlung geschehen, ganz anders und viel intensiver als am GeiDi-Gaudi Tag. Was damals wohl eher das erhoffte Ende eines alter ego sein sollte; hier war es dessen Wiedergeburt.
Sie half Barbara aus der Lederjacke. Bewunderte ihr gepunktetes Kleid, die schmale Taille, zusammengehalten von einem breiten Stretchgürtel. Sie musste diese bunte Perücke anfassen, nein, das war kein billiges Faschingsutensil, das hier mochten echte Haare sein, die einen dunklen Rotton zeigten, durchsetzt mir Strähnchen in violett und orange.
"Die ist ja wunderschön!" Sie nahm Barbara bei der Hand, drehte sie vor sich im Kreise, sah wie sich der weite Rock in der Bewegung aufbauschte, gelbe Spitze des steifen Petticoats lugte hervor. Nie zuvor hatte sie mit dieser Mode zu tun gehabt; hatte höchstens mal das eine oder andere Mädchen damit in der Stadt gesehen, aber es hatte ihr nie wirklich gefallen.
Ingeborg legte ihre Hand auf diesen Rock, drückte sachte zu, spürte, wie er sich gleich wieder ausdehnen wollte. Sie legte ihre Hand in Barbaras Taille, wieso nur war sie so schmal, und so hart? Sie zog sie an sich, langsam und vorsichtig, so als könnte sie einen Traum zerstören, wenn sie fester zugriff.
Sie umarmte Barbara, drückte sie fester an sich, was war das, es fühlte sich anders an, als vor drei Wochen. Sie legte ihre Hand auf Barbaras Brüste, nein, das war härter jetzt, sie gaben nicht nach, so wie zuletzt; diese hier waren hart wie ihre eigenen.... verschlossen, dachte sie.
Barbara zog ihre Hand langsam von ihren Brüsten ab, hielt sie fest, drückte sie nach unten, auf den sich sträubenden Rock. Sie drückte fester, Ingeborg spürte, sie sollte etwas fühlen, sie wollte nicht, aber Barbara hielt ihre Hand weiter fest, drückte sie gegen ihren Unterleib. Was war das? Es fühlte sich an, wie bei ihr selber, da war keine männliche Beule, die sie erwartet hatte, nein, es war jetzt wie bei ihr, hart und fest, und sie verstand, was Barbara ihr zeigen wollte.
"Gefalle ich dir?"

Ingeborg wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Dieser Mensch hier war nicht Klaus, ein Mann, der sich Frauenkleider angezogen hatte. Sie küsste sie und hoffte, es möge Antwort genug sein. Dann zog sie sie mit hinüber auf ihr Sofa, stand noch einmal auf, zauberte eine Flasche Weißwein hervor und füllte zwei Gläser.
"Barbara.... ich glaube, du bist die schönste Frau von ganz München!"
Barbara lächelte glücklich. Oder doch nicht? "Das mag fast richtig sein..." Alles an ihr war anders. Die Art, wie sie mit den Augen kommunizierte. Wie sie sprach. Die Ruhe, die über ihr lag. Ganz anders als Klaus, der immer so nervös auf sie gewirkt hatte.
"Nur fast...?"
"Die schönste, ja, das mag stimmen. Aber Frau, das leider nicht." Hörte man da Schmerz heraus?
"Du hast lange gebraucht..."
"Ja... lange. Ich weiß. Es ging nicht schneller.... ich konnte nicht....."
"Was konntest du nicht? Barbara werden?"
Sie senkte den Blick. Ihre Hände verschwanden in den Weiten ihres Petticoatrocks. Sie nickte leicht.
Ingeborg trank einen Schluck. Draußen dämmerte es bereits. Lange und dunkle Tage standen ihnen bevor. Wie sollte sie da etwas ans Licht zerren, was das Licht scheute? Sie nahm Barbaras Hand. Führte sie an ihre eigene Brust, in ihren eigenen Schritt unterm Dirndlrock. "Wie bei dir!"
Barbara lächelte sie an. "Ja, wie bei mir." Sie zögerte.... "Die kleinen Schlüssel...."
"Hast du sie?"
"Ja."
Hatte sie ihre Hand etwas zu schnell, zu fordernd danach ausgestreckt? Barbara sah sie an, ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
"Ich habe sie, ja. Aber ich habe sie nicht dabei. Ich wusste ja nicht...."
Ingeborg schloss für einen Moment die Augen. "Schon gut... nicht so schlimm. Muss ich wohl demnächst mal zu dir kommen...."
"Gern. Ja, das kannst du gern machen." Barbara hatte ihre Hände aus ihrem Schoß gelöst, streichelten sanft über Ingeborgs Arm. "Schön, dass du dein Dirndl noch einmal angezogen hast! Ich mag dich so!"
"Welcher Mann mag keine Frau im Dirndl?" Sie biss sich auf die Zunge, leider zu spät. Barbara zog ihre Hand weg. Sie hielt sie fest. "Bitte, entschulige bitte, ich habe dich nicht verletzen wollen! Es ist mir einfach so blöde rausgerutscht. Ich habe Strafe verdient...."
"Zwei Monate? Was meinst du? Wäre das gerecht?"
"Zwei Monate im Keuschheitsgürtel?" Sie wurde blass. "Das wäre eine sehr harte Strafe..."
Barbara lachte. "Zwei Monate kochen bei mir! Abwaschen kann ich allein. Sagen wir, jedes Wochenende mindestens ein Mal? Natürlich verschlossen, damit ich auf keine dummen Gedanken komme!"

Jetzt musste auch Ingeborg lachen. "Oh Mann! Und ich dachte schon.... Gut! Ja, das können wir so machen! Aber nur, wenn wir zusammen kochen. Damit du auch was lernst! So und jetzt sag mal, was hast du wie über diesen Pater Rufus herausgefunden? Du warst verreist?"
"Ruprecht, Ingeborg. Pater Ruprecht. Eigentlich heißt er Ruprecht Huber. Er ist 1963 geboren. 1985 ist er in Rom dieser Brüderschaft beigetreten."
"Dann ist er jetzt also 50 Jahre alt. Und du hast herausgefunden, wofür diese Buchstaben standen?"

Barbara erzählte ihr die ganze Geschichte von Klaus tagelanger Suche in der italienisichen Hauptstadt. Als sie geendet hatte atmete Ingeborg hörbar auf. "Mensch, das ist ja spannender als bei Dan Brown! Ich sehe diesen riesigen Mönch in seiner schwarzen Kutte direkt vor mir stehen, wie er da das Tor bewacht.!"
"So schlimm was es nun nicht. Eigentlich sah er ja eher aus wie du und ich!"
Der Blick, den Ingeborg ihr nun zuwarf, war köstlich. "Wie du und ich??", prustete sie los? "Er sah aus wie du und ich?? Dirndl oder Petticoatrock??" Sie konnte nicht mehr an sich halten, warf sich auf Barbara, vergrub ihr Gesicht in deren Rock und lachte, was das Zeug hielt. Und auch Barbara wurde angesteckt. Auch sie musste mitlachen, und es war wohl das erste Mal überhaupt, dass sie über so etwas lachen konnte. Es fühlte sich gut an!
"Und jetzt? Wie geht´s weiter?", fragte Ingeborg, nachdem sie sich beruhigt und die Tränen aus den Augen gewischt hatte.
"Ja, das ist ja das Problem. Ich kann ihn nicht finden. Zumindest nicht in den elektronischen Telefonbüchern. Ohne deine Hilfe komme ich nicht weiter!"
Ingeborg zögerte einen Moment. "Barbara.... oder auch Klaus, eine Personensuche ist eine heikle Sache. Du weißt, auf eigene Faust darf ich eigentlich nichts unternehmen. Allein schon meine Anrufe bei deiner alten Schule und in Regensburg können mich in Teufels Küche bringen. Ich muss jetzt wissen, warum du ihn suchst! Doch wohl nicht, weil dir sein Unterricht nicht gefallen hat. Was hatte dieser Lehrer noch für Aufgaben? An einem Internat.... da gibt es wohl auch so Hauslehrer, oder wie auch immer man die nennt? Die für die Schüler dann in der Freizeit da sind, für eine familiäre Atmosphäre sorgen sollen?"
Sie sah, wie Barbara von ihr abrückte. Sie umarmte sie, zog sie stattdessen näher zu sich heran. "Trägst du ein Korsett? Brauchst du es, um dich zusammenzuhalten? Damit du nicht vor lauter Angst und Schreck auseinanderfällst?" Sie hielt sie noch fester. "Und warum trägst du gern Frauenkleider? Hängt das auch mit diesem Mann zusammen? Erzähl es mir! Sag mir, was damals passiert ist; nur dann kann ich dir helfen!"
Barbara begann heftig zu zittern. Sie schluchzte, konnte kaum reden. "Er hat mich missbraucht..... uns alle, glaube ich..... monatelang." Ingeborg reichte ihr ein Taschentuch. Barbara trank einen Schluck, dann erzählte sie die ganze Geschichte, wie sie sich damals zugetragen hatte.
Ingeborg war zutiefst erschüttert. Das hier war komplettes Neuland für sie. Bisher hatte sie in ihrer beruflichen Praxis hauptsächlich mit Opfern zu tun, die nicht mehr reden konnten. Hier aber war alles anders. Hier saß ein Mensch, der Furchtbares erlebt hatte und seitdem darunter litt. Es ist wohl so, wie wenn man einem Baum die Rinde abschält, dachte sie. Er steht immer noch da, aber er lebt nicht mehr. Totes Holz....
"Deshalb trägst du also gern Frauenkleider! Weil er damals immer so betont hatte, wie gut es sei, dass ihr keine Mädchen seid!"
"Vielleicht ist es so, ja. Ich weiß es nicht, Ingeborg. Wenn das der Grund wäre, müsste es von Transvestiten ja nur so wimmeln!", gab Barbara resigniert zurück.
Ingeborg Wimmer verstand es nicht sofort. Hatte Klaus gerade gesagt, dass dieser ekelhafte sexuelle Missbrauch von Kindern nichts Ungewöhnliches sei? "Vielleicht erkennen wir sie einfach nicht.... wenn sie sich alle so gut zurecht machen, wie du?"
"Ja, wir erkennen sie nicht. Weil sie nicht erkannt werden wollen!" Er korrigierte sich: "Weil w i r nicht erkannt werden wollen! Weil wir ein ganz normales Leben leben wollen...."
"...was aber nicht gelingt, nicht wahr? Oder nennst du das hier - sie deutete auf sein Kleid - normal?"
Klaus schüttelte den Kopf. "Nein, es ist nicht normal. Aber das hier - Barbara - hat mir das Überleben gesichert! Verstehst du? Klaus.... Klaus ist doch schon lange tot.... innendrin..."
Mit einer Leiche ist es einfacher, dachte sie. Ingeborg merkte, wie schwer es ihr fiel, das Gespräch weiterzuführen. Sie war Kriminalistin, keine geschulte Psychologin. Sie musste wieder konkret werden. "Ja. Ja, ich glaube, ich verstehe es... zumindest vom Kopf her. Aber sag mir jetzt bitte mal: was hast du denn vor, wenn ich die Adresse für dich herausfinde? Willst du ihn....?"
"... umbringen? Ist es das, was du wissen möchtest?" Barbara blickte sie an. "Nein. Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht will ich ihm eine Fensterscheibe einschmeißen, vielleicht ein Paket Scheiße zuschicken. Oder Pädoschwein an seine Wand pinseln. Nein, Ingeborg, ich weiß es wirklich nicht. Aber ich glaube, es gibt wohl keine andere Möglichkeit mehr, als endlich selber etwas zu machen. Endlich die Angst besiegen. Endlich wieder Luft zum Atmen zu bekommen. Endlich den Makel ablegen zu können... ein normales Leben zu führen!"
47. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von fiasko am 30.01.17 08:13

Vielleicht hat die Vergangenheit auch eine Lösung bereit.

Es wäre durchaus möglich daß der Pater entweder von einem Anderen seiner damaligen Opfer schon ausgiebig ´behandelt´ worden, oder er sitzt wegen einem seiner Vergehen bereits hinter Gittern.

Ist schon sehr interessant den vierten Teil einer Trilogie zu lesen.

48. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 05.02.17 22:00

´... da waren´s nur noch drei!´ Sind wir wirklich schon im Februar und damit bei der 14. Fortsetzung meiner Quadrologie angekommen?? - ´Trilogie´ war gestern, hehe! Erstaunlich, aber wahr. Ein Vierteljahr habe ich nun, Sonntag für Sonntag, neuen Lesestoff geboten; ich hoffe, es ist dem anspruchsvollen Leser nicht langweilig geworden!
Auch heute wird es noch einmal recht aufregend! Und da ein schlimmes Wetter herrscht, kann ich nur sagen: Zieht Euch warm an, liebe Leser!!
Gute Spannung wünscht Eure Daniela 20!
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München, Ende November

Klaus stand am Fenster und sah hinaus. Das ruppige Herbstwetter war einem Hochdruckgebiet gewichen, der Himmel war blau, aber die Luft war eisig; nichts lockte ihn im Moment, nach draußen zu gehen.
Er hatte sich lange mit der Frage herumgequält, was er tun wollte, wenn - falls überhaupt - Ingeborg Wimmer die Adresse für ihn herausfinden könnte. Wilde Szenarien hatten sich in seiner Vorstellung breit gemacht. Er würde sich eine Mönchskutte anziehen und seinen ehemaligen Peiniger zu Kreuze kriechen lassen; dann wiederum sah er das Bild eine Tarotkarte vor sich, auf der ein Mensch von einem hohen Turm herab in den Tod stürzt. Das Bild gefiel ihm, es vermischte sich in seinem Kopf mit dem des Chinesischen Turms im Englischen Garten; das würde bestimmt ein gutes Bild abgeben, wenn das Schwein von dort herabfiel.
Aber all das war Phantasie. Auch der Gedanke an die Pinseleien auf dessen Hauswand. Es ist verdammt schwierig, jemandem die Faust zu zeigen, wenn man es nicht gelernt hat, sie zu ballen, dachte er.

Er hatte lange im Arbeitszimmer seiner Oma gesessen; ihre Bibel war ihm aufgefallen, sie hatte, wie er sah, im Buch der Psalmen mehrere Textstellen angekreuzt; scheinbar waren sie ihr wichtig erschienen. Er nahm einen Stift und Papier und schrieb sie auf, vielleicht sollte er sie auswendig lernen? Er wusste, seine Oma war immer sehr bibelfest gewesen; oft genug hatte sie ihn mit ihren frommen Sprüchen genervt.
Wie legt man einem Menschen das dreckige Handwerk, dem man nicht beikommen kann? Noch dazu, wenn alles schon Jahre vorbei war; verjährt sicherlich schon. Langsam glaubte er, es sei besser, gar nichts mehr zu unternehmen, statt viel Staub aufzuwirbeln und am Ende dann doch wieder den Kürzeren zu ziehen.

Ingeborgs Wagen näherte sich. Sie parkte, wie immer, vor der Haustür; viele Nachbarn hatten eigene Garagen; Parknot gab es hier nicht.
"Hej!", grüßte Ingeborg, als sie eintrat, einen Schwall kalter Luft mit sich bringend. Sie hatten sich in den vergangenen Wochen öfters gesehen, wann immer Ingeborgs Dienstplan und Münchens Leichen es zuließen. "Ich habe Neuigkeiten!"
Er umarmte sie. Fühlte ihre unter der dicken Winterjacke geborgene Wärme, spürte die Lebendigkeit ihres Körpers, der nicht mehr eingeschlossen war. Im Moment nicht, wie er überlegte. Er selber hatte Barbara wieder in die großen Säcke verbannt; im Moment verbannt, wie er dachte.
Sie war ausgehungert. Die Neuigkeiten mussten warten, bis der Magen zu seinem Recht gekommen war. Gemeinsam bereiteten sie das Essen zu: Spaghetti carbonara, dazu etwas Salat, ein wenig Wein. Es war schnell zubereitet und schnell gegessen. Sie blieben am Tisch sitzen.

Ingeborg wischte sich den Mund ab. "Ich glaube, ich habe ihn gefunden! Ruprecht Jäger!"
"Huber, Ingeborg. Nicht Jäger. Aber jetzt hast du ja wenigstens schon mal den Vornamen richtig!" Klaus lachte und schüttelte den Kopf.
"Denkst du!! Was glaubst du denn, warum du ihn nicht finden konntest? Weil es deinen famosen Ruprecht Huber nicht mehr gibt!"
Klaus blickte auf. Sein Blick schärfte sich, so als wolle er es ihr jetzt von den Lippen ablesen.
"Also hör zu. Er muss während seiner Zeit in Regensburg eine Frau kennen gelernt haben. Auf jeden Fall hat er 2003 geheiratet und dann den Namen seiner Frau angenommen."
Klaus unterbrach sie. "Ich dachte, katholische Geistliche...."
"...dürfen nicht heiraten? Stimmt, aber das gilt nur für diejnigen, die die Priesterweihe erhalten haben. Pater Ruprecht aber war ja nur Ordensbruder."
Das war plausibel. Klaus forderte sie auf, weiterzusprechen.
"Also, 2003 hat er geheiratet und dabei den Namen seiner Frau angenommen. Wenig später ist ein Kind, ein Sohn registriert. Aber die Ehe hat nicht gehalten. 2010 hat seine Frau die Scheidung eingereicht. Warum, weshalb und wieso, das konnte ich nicht herausbekommen. Datenschutz, du weißt!"
Klaus sah sie schweigend an. Er war blass geworden.
"Und? Du sagst ja gar nichts!"
"Nichts. Ich möchte lieber gar nicht wissen, warum die Ehe nicht gehalten hat!"
"Du meinst..."
"Ja, natürlich meine ich es. Was denn sonst, Ingborg? Vom Saulus zum Paulus?? Das glaubst du doch selber nicht!" Er lachte heiser auf. "Datenschutz! Ha! Kinderschutz wäre besser! Und, wo wohnt das Schwein? Damit ich ihm die Bude abfackeln kann?"
Die Kommissarin erschrak. "Das wirst du nicht tun, Klaus! Mach dich nicht unglücklich. Wenn du das nicht handhaben kannst, wir können es!"
"Die Justiz? Soll ich ihn etwa vor Gericht zerren? Das ist doch viel zu lange her! Wann verjährt so etwas denn überhaupt?" Er hatte sich in Rage geredet.
"Das kann ich dir genau sagen. Die Verjährung beträgt zehn Jahre...."
"Vergiss es, Ingeborg. Da hat wohl ein mieses Schwein richtig Schwein gehabt! Das alles ist jetzt mindstens elf Jahre her; wir haben keine Chance! Nein, es geht nicht anders... er, oder ich! High noon, falls dir das was sagt!"
Ingeborg ließ sich nicht beirren. "Klaus, wir sind hier nicht in Tombstone am OK Corral! Es wird kein high noon geben. Also, lass mich ausreden! Die Verjährung beträgt zehn Jahre ab dem Zeitpunkt, wo das Opfer, also du, volljährig wird. Diesmal hast du das Recht auf deiner Seite!"
Er horchte auf. Das kam jetzt völlig überraschend. "Du meinst, wir können ihn anzeigen... und wir kämen dann mit einer Klage durch? Und unsere Erfolgsaussichten? Haben wir überhaupt welche? Bekommen wir Recht?"

Er sah ein kaputtes Uboot am Grunde der See vor sich liegen. Bekommen wir Auftrieb, hatte der IWO den Kommandanten gefragt.

Ingeborg wich seinem Blick aus. Sie füllte ihre Gläser nach. Dann zuckte sie mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Du weißt doch: Auf hoher See und vor Gericht sind wir in Gottes Hand!" Sie lächelte schief. "Wir müssen Zeugen finden...."
"Zeugen dafür, was er getan hat? Das ist doch verrückt!"
"Deine damaligen Mitschüler. Oder vielleicht hat es auch in Regenburg Vorfälle gegeben."
"Die Unsichtbaren, von denen wir eben gesprochen haben, Ingeborg? Die wirst du nie finden. Es gibt sie nicht!"
"Oh doch, es gibt sie!" Es klang fast ein wenig zickig, aber sie wurde das schlimme Gefühl nicht los, dass Klaus recht hatte.
"Nein. Wir müssen einen anderen Weg finden. Wo wohnt er denn? Hast du auch seine Adresse?"
"Ja. Die habe ich. Aber du musst mir versprechen, nichts Schlimmes zu tun!"
"Großes Indianerehrenwort!!" Klaus hob wie zum Schwur die rechte Hand.
"Er wohnt hier in München, im Osten der Stadt. Funtenseeweg 13."
"Tuntenseeweg? Hä??"
Jetzt musste sie doch wieder lachen. "Nein, Klaus. Er ist zwar ein Schwein, aber mit Tunten hat er wohl nichts am Hut! Funtenseeweg! So, jetzt komm, machen wir es uns noch ein wenig gemütlich. Ich muss morgen früh raus; Münchens Mörder warten auf mich. Abwaschen kannst du nachher allein, hast ja gesagt, dass du es kannst. Oder hatte Barbara es gesagt? Ach, ich bin verwirrt!"
Klaus grinste. Es tat verdammt gut, so darüber lachen zu können. "Und ich muss mir überlegen, wie aus dem Jäger ein Gejagter werden kann!"


München, 6. Dezember

Klaus suchte Evelyns Hand. Halt mich fest, halt mich bitte ganz fest!, dachte er. Dichtes Schneetreiben umhüllte ihn und seine Bekannte auf dem Weg in den Englischen Garten. Dicke, wässrige Flocken wirbelten umher, ließen die Konturen von Bäumen und Gebäuden verschwimmen, hinderten die klare Sicht auf das, was vor ihnen lag. Ausgerechnet heute, wo ich den Überblick behalten muss!, stöhnte er leise vor sich hin.
Selbst das Sprechen fiel ihm schwer. Die Flocken umtanzten seinen Kopf, schienen wie von fremder Hand gesteuert; drängten in seinen Mund; füllten diesen mit weißer Masse, die sofort schmolz, wenn sie auf seiner Zunge landete. Anders als damals, dachte er und schüttelte sich. Damals musste ich es herunterschlucken.

Würde er kommen?

Klaus ließ die Hand wieder los, schlug etwas von dem Schnee zurück, der auf dem hochgeschlagenen Kragen seiner Jacke gelandet war. Er versuchte sich zu erinnern, die letzten zwei Wochen waren schneller verlaufen, als er es hatte wahrhaben wollen.
Er und Ingeborg. Ingeborg und Barbara. Sie hatten mehrere Abende miteinander verbracht, hatten sich geliebt, Haut auf Haut, aber auch Stahl auf Stahl. Größer schien die Anziehungskraft jedes Mal, wenn sie beide im Keuschheitsgürtel und dem entsprechenden BH steckten, auch wenn es bei Barbara keine Brüste gab, die zu verschließen waren, so wie bei Ingeborg. Aber beide fühlten die enorme Macht, die von den glänzenden Halbschalen auf seiner Brust ausgingen, wenn er sich in Barbara verwandelte hatte, wenn er sich nicht in Klaus zurückverwandeln durfte, weil Ingeborg die Schlüssel besaß.
Es war ein komplizieres Liebesspiel von Dominanz und Unterwerfung; jedoch ein Spiel gänzlich ohne Gewalt. Beide genossen ihre Zeit zusammen, beide vibrierten zusammen, beide ritten gemeinsam auf den Wogen höchster Erregung.
Wie anders waren die Erlebnisse, wenn sie frei aller äußeren Beschränkung waren! Wenn sie ineinander eintauchen konnten, zusammen den Boden des Ozeans erreichten und von dort wieder aufstiegen, manchmal langsam wie eine tänzelnde Luftblase, manchmal eruptiv wie ein unter Wasser losgelassener Ball.

Der Schneefall ließ ganz abrupt nach. Wie als hätte jemand hoch oben die Schneekanone ausgestellt. War es eventuell so? Hatte er nicht oft genug erlebt, dass das Wetter einer unbekannten Kraft untergeben schien?

"Woran denkst du, Klaus?" Lyn suchte seine Hand, hielt sie wieder fest.
"Ach..., nichts", antwortete er ausweichend.
"Denkst du an sie?" Klaus hatte ihr von seiner noch recht neuen Beziehung mit Ingeborg Wimmer erzählt.
"An Ingeborg?" Er schüttelte den Kopf. Weiße Tupfen fielen von seinen Haaren.
"Ich dachte eher an Barbara. Ist sie.... ist sie wieder da, so richtig?" Lyn wusste nicht, ob sie weiterfragen sollte.
"Sie ist wohl wieder auferstanden."
Lyn blieb stehen, hielt ihn zurück und drehte ihn so, dass sie ihn ansehen konnte. "Wieder auferstanden? Nein, Klaus, so etwas gibt es nicht. Glaube mir, ich habe oft erleben müssen, zu spät zu einem Verunglückten gerufen zu werden. Keiner von denen ist je wieder auferstanden! Und ich glaube, mit deiner Barbara verhält es sich genauso. Du musst endlich erkennen, sie war nie tot. Sie lebt, solange du lebst. Sie ist ein Teil von dir, Klaus! Du kannst sie nicht mehr von dir trennen, und wenn du es versuchst, wird es dich auf Dauer kaputt machen. Versöhnung, Klaus, ist das Schlüsselwort!"
Was war das nun für eine Rede! Sie hatte Eindruck auf ihn gemacht, aber er wich aus. "Das hätte meiner Großmutter aber gar nicht gefallen, was du sagst. Dass es keine Auferstehung gibt! Fußt nicht unsere gesamte westliche Welt darauf, dass da mal jemand wieder auferstanden ist? Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie es uns im Internat fast täglich eingetrichtert wurde! Dass er für unsere Sünden am Kreuz gestorben, dann aber am dritten Tag wieder auferstanden ist?" Schaum bildete sich vor seinem Mund, zumindest sah es so aus. "Unsere Sünden!! Verdammt noch mal, wir waren doch Kinder! Was für Sünden konnten wir denn schon begangen haben? Aber von den Sünden von dem verdammten Schwein sprach kein Mensch!!"

Evelyn schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Klaus hatte seine Hand losgerissen und in seiner Jackentasche vergraben. Sie spürte die Schwere der Last, die auf seiner Seele lag. Und heute mehr denn je zuvor.
"Nein, ich glaube es wäre besser, sie würde endlich sterben, mich loslassen. Weißt du, manchmal denke ich, die einzige Sünde, die ich wirklich, ständig begehe, dass ist die Sache mit Barbara. Es ist nicht richtig. Es ist pervers. Und du sagst, ich solle sie einfach mal akzeptieren als einen Teil von mir selbst. Wohl als so eine Art sexueller Neigung? Aber wenn es nur eine Neigung ist, was ist dann mit den Pädophilen? Ist dann ja auch wohl nur so eine Neigung? Wenn du das denkst, dann können wir uns heute die ganze Sache gleich sparen! Soll das Schwein doch einfach weitermachen, seine Neigung ausleben...."
Evelyn hielt ihn wieder zurück. "Nein Klaus, so habe ich das nie gesagt. Da gibt es schon Unterschiede, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Oder sagen wir besser: das Maß. Gewiss, beides kann man als sexuelle Neigung einordnen, aber dann hört das Gemeinsame schon auf. Was du machst, in welchen Klamotten du rumrennst und warum du es tust, das geht niemanden etwas an. Mancher Erzkonservative mag da so seine Probleme haben, aber solange du niemandem wehtust gibt es kein Gesetz, dass es dir verbieten kann. Zumindest kein moralisches Gesetz, was aber in anderen Ländern wohl noch anders gesehen wird. Denk doch nur an den Kampf von Schwulen und Lesben! Die müssen in vielen Ländern der Welt immer noch kämpfen, leider auch bei uns in Deutschland. Nur dass sie hier nicht zu Tode geprügelt oder gar gesteinigt werden. Aber bei Pädophilen ist es anders, wenn sie aktiv werden. Dann haben Unschuldige zu leiden, Kinder, die dann ihr Leben lang damit nicht mehr fertig werden. Das ist der Unterschied. Bei Pädophilen ist das Maß nicht halbvoll, bei denen ist es randvoll! Da kann es einfach keine Entschuldigung geben!"

Bei ihm drehte sich alles. Er war auf diese heftige, völlig unerwartete Diskussion nicht vorbereitet. Erst recht nicht hier und heute. Und plötzlich spürte er etwas, den Anflug eines Gedankens, den er nie zuvor gehabt hatte. Wenn es ihm schon so verdammt schwerfiel, seine Neigung zu kontrollieren, um wie viel schwerer mochte es dann einem Pädophilen fallen? Er selber konnte schon durchdrehen, wenn er irgendwo eine Frau in einem hübschen Rock sah, aber das ließ sich steuern, er konnte nach Hause gehen und sich in Barbara verwandeln. Aber ein Pädophiler? Wenn der irgendwo, am Strand vielleicht oder im Freibad, einen hübschen Jungen sah? Was konnte der dann machen?
"Sind ja eigentlich ganz arme Schweine", murmelte er.
"Ja. Man könnte es so sagen. Ein Pädo ist wohl immer ein armes Schwein, oder ein armer Teufel. Aber wenn wir mal das arme weglassen, dann bleibt nur noch Schwein oder Teufel übrig. Ich nehme mal an, du selber hast nur die erste Kategorie, also das Schwein, erlebt. Du hattest Glück, dass dieser Lehrer nicht jahrelang geblieben ist. Hättest du einen richtigen Teufel erlebt, ich glaube, wir wären heute nicht hier und hätten nicht das vor, was wir vorhaben! Jetzt komm! Wir wollen niemanden von denen in Schutz nehmen, aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Artikel 1 des Grundgesetzes auch solchen Leuten gilt."
"Die Menschenwürde? Ja, vielleicht..."
"Nein, Klaus. Nicht ´vielleicht´. Sie muss allen gelten, es heißt, sie ist unantastbar. Egal, was der Mensch getan hat, wie er denkt, wie er aussieht, oder vor wem er glaubt, für sein Seelenheil auf die Knie fallen zu müssen. Sie muss immer gelten. Dieser erste Artikel des Grundgesetzes ist wahrscheinlich der bedeutendste Satz, den das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat."

Sie gingen langsam weiter; jeder jetzt in seinen eigenen Gedanken versunken. Der Eingang zum Englischen Garten wirkte verlassen und leer; kein Wunder bei diesem Wetter. Würde Ruprecht Jäger, vormals Ruprecht Huber alias Pater Ruprecht überhaupt kommen? Und würde die Falle zuschnappen, die sie sich ausgedacht hatten?

Du kannst und darfst ihm nichts antun, Klaus!, hatte Ingeborg ihm mehrmals gesagt. Mach dich nicht unglücklich! Sie hatten lange die juristischen Möglichkeiten besprochen; Ingeborg hatte sich extra noch einmal bei einem Staatsanwalt kundig gemacht. Einfach sei die Sache nicht. Es reiche nicht aus, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und dann zu behaupten, er hätte einen missbraucht. Es gebe Fälle, wo Kinder dies getan hätten, die Sache sich aber lange später als vorsätzliche Diffamierung eines Unschuldigen herausgestellt habe. Nachdem dieser von Eltern, Kollegen, den eigenen Freunden verstoßen wurde. Sie glauben ja gar nicht, wie schnell es geht, einen Menschen komplett fertig zu machen! Besonders heutzutage, in den Zeiten von Facebook und Twitter!
Die Beweisführung sei das A und O eines Prozesses. Und solange nichts hieb- und stichfest bewiesen sei, gelte auch in diesem Falle die Unschuldsvermutung! Zuerst musste Klaus sich vergewissern, dass es sich tatsächlich um die von ihm gesuchte Person handelte. Er hatte das kleine Haus am Funtenseeweg beobachtet, hatte sich in den Büschen eines nahe gelegenen Spielplatzes versteckt, bis er Ruprecht Huber erblickte; da konnte kein Zweifel mehr herrschen.
Zusammen mit Ingeborg hatte er schließlich die Falle ersonnen, einen Brief mit dem Absender OPD und der dringenden Aufforderung, am 6. Dezember zu einem Treffen auf dem Chinesischen Turm im Englischen Garten zu kommen. Ingeborg hatte ihm die Formulierung des Briefs überlassen; er hatte nur wenige Sätze geschrieben, Sätze von denen er hoffte, sie klängen konspirativ und irgendwie nach dieser Brüdergemeinschaft. Alles andere wiederum hatte er dann Ingeborg überlassen.

D-day, dachte er, als sie die dunkle Holzkonstruktion des Turms erkannten, jetzt in ein hübsches, weißes Tuch gekleidet. Ein Leichentuch, dachte er. Er blickte hinauf, vor seinem geistigen Auge erschien wieder die Tarot-Karte, auf der ein Mann von einem hohen Turm fällt. Es schüttelte ihn. Kontrolle, dachte er, du musst dich unter Kontrolle haben. Du willst das Unheil hier beenden; nicht neues beginnen.
Er sah sich um. Der Platz wirkte menschenleer; niemand schien heute hier gewesen sein. Aber er war auch früh gekommen; bis zum Zeitpunkt der Treffens war noch Zeit. Dann steuerte er die simple Holztür an, durch die man den Turm betreten konnte.
"Sie wird abgeschlossen sein!" Evelyn versuchte, ihn zurückzuhalten.
"Glaube nicht!" Er drückte die Klinke herunter; die Tür ließ sich problemlos öffnen. Gut, dachte er, das hat also geklappt! Dann drehte er sich wieder seiner Begleitung zu. "Also, Lyn. Wir machen es wie besprochen. Du suchst dir dort hinten einen guten Platz, dort ist es überdacht, da ist es auch trocken. Was auch immer geschieht, du bleibst dort! Du kannst versuchen, Bilder zu machen, wenn er kommt. Aber die Hauptsache ist, dass er dich nicht entdeckt. Wenn er überhaupt kommt. Drück mir dir Daumen! Bis nachher!" Er sah sie noch einmal mit einem Blick an, aus dem man alles andere als Zuversicht lesen konnte, dann betrat er das Gebäude.

Es war dunkel im Erdgeschoss des pagodenartigen Turms. Ein einziges Mal zuvor war er hier gewesen, er erinnerte sich an einen warmen Sommertag, es war mit einer Gruppe gewesen, vielleicht ein Schulausflug, genau wusste er es nicht mehr. Normalerweise war der Turm nicht zugängig; manchmal wurde eine Ausnahme für Gruppen gemacht. Damals hatte ihn der starke Holzgeruch erfreut, heute roch es eher muffig und faul.
Klaus zog die Tür wieder zu, ließ sie aber einen Spaltbreit offen. Leise huschte er die Wendeltreppe empor. Auf den oberen Stockwerken wurde es heller, der Ausblick öffnete sich und ließ die Sicht auf eine tiefverschneite Winterlandschaft zu. Als er im obersten Stockwerk angekommen war, sah er sich um. Nichts war zu sehen.
Es fing wieder an zu schneien. Gut, dachte er, denn der nasse, pappige Schnee würde seine und Evelyns Fußspuren in Windeseile überdecken, schlecht allerdings wäre es für sie, wenn sie Fotos machen wollte. Bei diesem Schneefall konnte man kaum die Hand vor Augen sehen.
Klaus schloss die Augen. Warten..... Er wollte sich nicht erinnern. Wenn er in seinem Bett lag und darauf wartete, dass der Hauslehrer seinen Rundgang machte... Wer würde heute kommen? Er merkte, wie er unruhig wurde. Sein Hals war trocken und ausgedörrt, er spürte heftiges Brennen, nicht nur dort. Ruhig bleiben, ermahnte er sich. Es ist vorbei; er hat keine Macht mehr über dich!!
Er sah auf seine Uhr. Wenn er nicht bald käme, er würde es abbrechen, weglaufen, sich irgendwo verkriechen, in den Strudeln der Isar Schutz suchen. Ruhe, nur seine Ruhe war jetzt noch wichtig. Das hier war völlig aus dem Ruder gelaufen, das würde nie funktionieren, oh ja, der schöne Plan, den sie sich ausgesonnen hatten, aber funktionieren müsste er halt, das war das kleine Problem.

Die Tür? Hatte er nicht gerade die Tür gehört? Nein... dann aber, dumpfe Schläge, wie Tritte gegen Holz. Schlug sich da jemand den Schnee von den Schuhen? Klaus ergriff das Geländer, er wollte nur noch weg, war nicht bereit für die Konfrontation, für die Erinnerung. Zitterte das Geländer nicht leicht? So wie Eisenbahnschienen, kurz bevor ein Zug kam?
Angstvolles Zittern ergriff seinen Körper.

Ruhig Männer, ruhig! Das ist noch gar nichts.... Wieder diese Stimme aus seinem Lieblingsfilm. Aber einen Film konnte man abschalten...

Schritte waren auf der Etage unter ihm zu hören. Dann eine Stimme: "Hallo? Ist da wer?" Oh nein, diese Stimme!! Das Brennen wurde heftiger. Wieder spürte er die Hände, die sich um seinen Kopf legten, die seine dürren Hüftknochen hielten. Ihm wurde speiübel, Brechreiz durchflutete ihn.
Er musste antworten. Es gab keine andere Möglichkeit mehr. Du bist stärker, dachte er. Du kannst das personifizierte Übel jetzt besiegen! Hier und jetzt! Trotzdem zitterte seine Stimme. "Hier oben!"
Eine Gestalt kam die Treppe hoch. Ein dunkler Hut, weißer Schnee darauf, beschattete das Gesicht. Eine Hand, die auf dem Handlauf des Geländers lag. Lederhandschuhe. Der Mann blieb stehen, streifte die Handschuhe ab, ....er zog die Gummihandschuhe aus, wenn sie fertig waren, warf sie, so wie immer, in einen metallenen Abfalleimer, dessen Deckel mit lautem Scheppern zufiel.
Die Lederhandschuhe verschwanden in der Tasche seines Mantels. Der Kopf hob sich, ein fragender Blick traf ihn. Augen, die nichts verrieten.
Klaus musste etwas sagen. Sein Kopf war wie leergefegt. Die schönen Gedanken, die er sich gemacht hatte, die Bibelsprüche, die den Mann erschüttern sollten - nichts. Wie weggeblasen....
"In nomine Jesu Christi...." Hatte er das gesagt?
Der Mann lächelte ihn an, ergriff wieder das Geländer, kam die letzten Treppenstufen zu ihm hoch. Er antwortete nicht.
"Pater Ruprecht?"
Eine schnelle Kopfdrehung verriet ihn. "Ja, aber das ist lange her." Seine Augen verrieten Irritation. "Wer bist du? Woher kennst du mich?"
Klaus schloss die Augen. Gleich ist alles vorbei! Ich schaffe es nicht.... er, oder ich.... Eine Textstelle fiel ihm ein, Großmutters Bibel, Ruhe legte sich über seine Angst. "Steh auf, Herr! Greif doch ein, Gott! Vergiss nicht die Schwachen, nimm sie in Schutz! Lass nicht zu, dass die Schurken dich missachten! Warum dürfen sie sagen: >Er straft uns ja nicht
Pater Ruprecht ließ ein höhnisches Lachen hören. "Was wird das hier? Eine Bibelstunde? Was soll der Scheiß, und dieses blöde Schreiben hier?" Er zog den Brief aus der Tasche, den Klaus ihm als Köder geschickt hatte. "Hatte mir doch gleich gedacht, dass es mit der Bruderschaft nichts zu tun haben könnte." Er knüllte das Papier zusammen und warf es zu Boden. "Mit denen habe ich schon lange nichts mehr zu tun! Also, wer bist du, und was willst du?"
"Erkennen Sie mich nicht? Ich bin der Nikolaus..."
"...ja, und ich bin Knecht Ruprecht!" Er lachte heiser. "So ein Blödsinn! Kann ich wieder gehen, Nikolaus?" Er wandte sich wieder der Wendeltreppe zu.
"Genauso hatten Sie es gesagt. Und dass wir beide gut zusammenpassen würden. Wissen Sie es nicht mehr? Damals im Internat in Ettal. Sie hatten mich gefragt, ob ich Ihre Rute sehen wollte!!"
Er blieb stehen. Sah zur Seite, schien zu überlegen. "Mein Gott, da waren so viele... Klaus, ja? Den Nachnamen habe ich leider vergessen."
"Behrend."
"Ja, kann sein. Ich erinnere mich nicht mehr. Namen sind so unwichtig. Doch, ja, jetzt erinnere ich mich! Du und die anderen Jungen...." Er machte eine Pause. "Wie hießen sie doch gleich?"
Klaus nannte ihm die Namen.
"Ach ja, Thomas. Der ist dann ja..." Er schüttelte den Kopf, so als wolle er einen Gedanken verscheuchen. "Er hatte immer Schwierigkeiten gemacht. Immer seine Nase in anderer Leute Dinge gesteckt. Hatte er nicht sogar Briefe geschrieben?" Wieder ein höhnisches Lachen. "Das hätte er wohl besser sein lassen sollen!"
Klaus wurde fast schlecht vor Angst. Thomas, der dann so plötzlich verschwunden war!
"An die anderen Jungen erinnere ich mich nicht mehr."
"Sind Ihnen so viele vor die Rute gekommen?" Er würgte die Frage förmlich hervor.
Es schien ihn zu erheitern. "Ja, ja so könnte man es wohl sagen. Falls du diese Kinder-Terminologie beibehalten möchtest!" Er machte ein erstauntes Gesicht. "Ja, das waren es wohl... Und ihr wart nicht die Ersten...."
"...und sicherlich auch nicht die Letzten!"
"Nein!" Der ehemalige Pater hatte es hart ausgesprochen. "Was willst du von mir? Brauchst du Geld?"
"Ich will Gerechtigkeit! Sie haben mich verletzt, brutal verletzt!"
"Ach!" Ein Ausdruck gespielter Überraschung machte sich auf seinem Gesicht breit. "Soweit ich mich erinnere, und an dich erinnere ich mich sogar gut, hast du nie was gesagt. Ich glaubte immer, es macht dir Spaß!"
Klaus stand kurz davor, seinem ehemaligen Lehrer vor die Füße zu kotzen. "Ich habe nie etwas gesagt, weil ich ganz verdammte Angst hatte, etwas zu sagen. Mir hätte doch nie jemand geglaubt! Aber ein ehrwürdiger Pater, der tut doch so etwas nicht! So denken die Leute doch!"

Pater Ruprecht veränderte seine Haltung. Er streckte seine Hände in scheinbar hilfloser Geste aus, so als wolle er seinen ehemaligen Schüler umarmen und trösten. "Klaus! Das... das tut mir leid. Hättest du doch bloß was gesagt, ich wusste ja nicht....." Sein Gesicht nahm den Ausdruck von Mitgefühl an, seine Stimme wurde weicher. Er senkte seinen Blick. "Es tut mir leid. Es... es ist nicht meine Schuld. Weißt Du, ich ging selber mal auf so ein Internat, das war wo anders, im Odenwald... damals, in den 70ern. Kein Mensch regte sich damals über so etwas auf...." Seine Stimme wurde weinerlich. "Klaus, es ist nicht meine Schuld...."
Eine Axt, dachte Klaus. Herr Gott, gib mir eine Axt! Ich schlage dieses Lügengebäude kurz und klein. "Doch! Es ist Ihre Schuld! Für das, was Sie Kindern angetan haben, kann es keine Entschuldigung geben. Hören Sie doch auf, diese Ich-bin-selber-Opfer-Nummer ist doch erbärmlich. Es ist I h r e Schuld. Ohne wenn und aber! Wenn Sie, als Kind, so etwas selber erlebt haben, da hätten Sie wissen müssen, wie es ist! Dass es bis in die Tiefen der Seele hinein wehtut. Wie oft habe ich mir gewünscht, es könnte zu Ende gehen, ich würde tot zusammenbrechen, alles wäre mir recht gewesen, um es nicht noch einmal erleben zu müssen!"

Die dunkle Gestalt vor ihm änderte wiederum ihre Haltung. Pater Ruprecht trat einen halben Schritt zurück, straffte die Schultern, zog sich seine Lederhandschuhe wieder an. "Was willst du?", fragte er eisig. "Und wenn es dir keinen Spaß gemacht hat, dein Problem! Mir hat es immer Spaß gemacht, jedes Mal. Abends, wenn wir mit dem Lateinlernen fertig waren." Er beschrieb scheinbar genüsslich alles, was er gemacht hatte. "Also, was willst du? Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Brauchst du Geld?"
Klaus stand kurz vor einem Herzinfarkt. "Behalten Sie Ihr Scheißgeld! Sie können es sich in Ihren dreckigen Arsch stecken! Ich sagte doch schon, ich will Gerechtigkeit! Ihre Tage sind gezählt! Es ist aus, verstehen Sie! Sie werden vor Ihrer persönlichen Schuld nicht länger davonlaufen können!!"

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"Verdammter Schnee!" Evelyn hatte sich einen Platz in der Nähe eines wohl nur im Sommer geöffneten Verkaufsstandes gesucht; hier war es trocken und windgeschützt, von hier hatte sie einen guten Blick auf den Turm. Wenn er denn mal zu sehen war.
Sie fröstelte. Von Anfang an war ihr bei der gesamen Unternehmung nicht ganz wohl gewesen. Klaus hatte ihr erzählt, er wolle nun endlich seinen ehemaligen Lehrer treffen, jenen Mann, der ihn vor Jahren vergewaltigt hatte. Er wolle ihn zu Rede stellen, hatte er gesagt. Aber wie genau er das anstellen wollte, hatte er nicht gesagt. Hatte er überhaupt einen Plan? Und was genau versprach er sich eigentlich von solch einem Treffen? Dass der vermaledeite Pater vor ihm auf die Knie ging?
Sie hatte ihren Rucksack abgelegt, hatte ihre Superzoom-Kamera hervorgeholt und vor sich auf einen Holztisch gelegt, nachdem sie diesen vom Schnee befreit hatte. Die schöne Kamera! Hatte man vor gar nicht so vielen Jahren wirklich einen ganzen Koffer voller verschiedener, oft schwerer Objektive mit sich herumschleppen müssen, um das zu bringen, was ihre Kamera konnte? Noch dazu digital? Bilder ohne Entwicklung, die man am eigenen PC selber bearbeiten und dann seinen Freunden in aller Welt auf Facebook mitteilen konnte?
Wieder spähte sie zum Turm hinüber. Die Entfernung war nicht größer, als dass sie auf jeden Fall gute Bilder machen könnte. Wenn man ihn also sah, den Turm! Und wenn Pater Ruprecht überhaupt kam.
War er vielleicht schon längst da? War er schon oben im Turm, oben bei Klaus? Ihr war leicht unheimlich zumute. Der Schnee hatte sich wie eine dichte Decke über alles gelegt, selbst die Geräusche der Großstadt drangen nur gedämpft an ihr Ohr; ungewöhnlich für einen eher hektischen Freitagnachmittag in der Adventszeit.
Hatte sie etwas gehört? Erregte Wortfetzen, die sogleich wieder hinweggeweht wurden? Sie war sich nicht sicher.
Der Schneefall ließ wieder nach. Dafür aber nahte bereits die frühe Dämmerung heran. Bald hätte sie kein gutes Büchsenlicht mehr! Büchsenlicht! Sie musste lachen. Das klang geradezu so, als wollte sie jemanden abschießen. Nun ja, stimmte ja eigentlich auch. Allerdings mit ihrer Kamera.
Sie kontrollierte noch einmal die Einstellungen, wählte einen höheren, aber nicht zu hohen ISO-Wert, stellte die Option ein, die ihr maximal fünf Bilder pro Sekunde erlaubte.

Jetzt glaubte sie doch, Klaus Stimme gehört zu haben! Was hatte er gerufen? Es ist aus!? Galt das ihr? Sollte sie zu ihm kommen? Sie zögerte. Was auch immer geschieht, du bleibst dort!, hatte er ihr eingeschärft. Was war jetzt richtig? Sollte sie, wie früher beim Versteckspielen, bis hundert zählen und dann laut ´ich komme!´ rufen?
Jetzt erkannte sie den Eingang deutlich. Sie richtete ihre Kamera darauf, hielt den Türrahmen im Visier, wie ein Schütze, der seine Zielscheibe anvisiert, dann ging alles sehr schnell. Sie sah den Mann, der die Tür von innen geöffnet hatte, langer Mantel, schwarzer Hut, ein, zwei Sekunden blieb er stehen, wie ein witterndes Wild, er blickte sich um, sie drückte den Auslöser, plötzlich wog ihre Kamera schwer in der Hand, die Gestalt glitt aus dem Fokus der großen Brennweite, dann gab ihre Kamera einen piepsenden Warnton von sich und schaltete sich ab. Evelyn hatte vergessen, den Akku frisch aufzuladen, die wenige Restenergie war bei der Kälte schnell aufgebraucht.
Sie blickte von ihrer Kamera wieder hoch; die Gestalt war verschwunden. War er das gewesen? Und wenn nicht? Wenn es nur ein anderer Besucher war, der zufällig vorbeigekommen war? Sie sah auf ihre Uhr. War er nicht längst überfällig? Sie beschloss zu warten.

Niemand kam. Es dunkelte schon leicht, die ersten Laternen wurden eingeschaltet. Evelyn spürte, irgendetwas war nicht richtig. Wo blieb Klaus? Wie lange wollte er denn dort oben warten? Und wenn der Mann doch Pater Ruprecht gewesen war?
Sie packte ihre Kamera zurück in den Rucksack. Sie konnte nicht länger warten. Die Tür war geschlossen, aber nicht zugesperrt. Es war dunkel im Turm. Evelyn zog ihr Handy hervor, schaltete es ein; das Licht genügte für eine erste Orientierung. Langsam ging sie immer höher. Wo war Klaus?
Als sie im obersten Stockwerk des Turms angekommen war, sah sie ihn am Boden liegen. Er blutete aus einer Wunde am Hinterkopf. Klaus jammerte leise, als sie sich um ihn kümmerte. Sie kramte ihr Notfallpäckchen aus ihrem Rucksack, als Sanitäterin hatte sie immer etwas zur Erstversorgung dabei.
"Klaus? Wach auf, Klaus! Du kannst hier nicht liegenbleiben! Es ist viel zu kalt! Kannst du aufstehen?"
Er setzte sich auf, hielt sich den Kopf. "Dieses miese Schwein!"
"Was ist passiert? Tut mir leid, dass ich weder Rum noch heiße Suppe dabei habe!"
"Er... er wurde etwas ungehalten. Hatte es plötzlich eilig, von hier wegzukommen. Leider stand ich ihm da wohl etwas im Weg..."
"Er hat dich geschlagen?"
Klaus musste grinsen. "Nein, leider nicht. Dann hätte man ihn ja schön wegen Mordversuchs drankriegen können! Nein, er hat mich nur heftig zur Seite geschubst. Ich muss mit dem Kopf gegen den Turm geknallt sein!"
"Keine Sorge! Der ist heile geblieben! Aber dein Kopf sieht nicht so gut aus. Ich möchte mir das noch einmal bei besserem Licht ansehen. Komm! Ich helfe dir! Lass uns sehen, dass wir hier wegkommen!"

Sie gingen langsam zurück Richtung Stadt. Den Mann, der nach ihnen den Turm betrat, bis ganz nach oben ging und wenig später wieder herauskam und die Tür abschloss, sahen sie nicht mehr.

49. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von MarioImLooker am 07.02.17 15:21

WAS? Nur noch 2 Folgen? Dann ist schon wieder Schluss? Die Zeit vergeht viel zu schnell!

Sieht ja ganz danach aus, dass wirklich alle in den alten Folgen offenen Fragen geklärt werden. Also sinkt auch die Hoffnung auf einen 5. Teil. Würde mich natürlich gerne überraschen lassen

Ansonsten wäre auch eine komplett andere Story von Dir sicher sehr unterhaltsam. Du hast das Gefühl für tolle Stories und auch die Gabe die niederzuschreiben.

Aber vorerst freue ich mich auf die letzten zwei Kapitel.
50. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 07.02.17 21:28

Technische Probleme hindern mich weiter am konsturktiven Beitrag zu dieser wunderbaren Geschichte - schade.
Trotzdem nur soviel: spannend und realitätsnah
51. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von ev_1 am 09.02.17 09:56

Das Gespräch zwischen Pater Ruprecht und Klaus ist erschreckend realistisch...
52. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von maximilian24 am 09.02.17 21:16

In dieser Situation erscheint es fast als Trost dass Klaus zwei Frauen an seiner Seite hat, eine die helfen will und eine die hilft.
53. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von m sigi am 10.02.17 05:24

Hallo Daniela,

ich bin ebenso, wie von Deinen anderen Geschichten begeistet. Es ist immer ein Genuß diese zu lesen. Ich habe mit Ungeduld extra gewartet, dass ich hier einen großen Vorlauf an Lesestoff habe und dann leider viel zu zügig alles gelesen. Es hat mich einfach nicht mehr losgelassen, bis ich am jetzigen Ende war.

Vielleicht hängst Du ja noch eine weitere Serie an, z.B wie es mit Barbara oder Klaus mit Ingeborg weiter geht.

Vielen Dank für Deine Arbeit. Ich freue mich auf die nächsten Fortsetzungen.

Sigi
54. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 12.02.17 22:00


Wieder einmal möchte ich mich für nette Zuschriften bedanken! Sie bedeuten mir sehr viel, denn so kann ich sehen, dass meine Geschichte beim Leser gut ankommt und wohl auch verstanden wird.

Ich las erst jetzt, dass viele schlimme technische Probleme haben. Hoffentlich können diese bald gelöst werden. Vergesst bitte nicht, wer mir - heute oder nächste Woche nach dem Schlusskapitel - schreiben möchte, kann dies auch als E-Mail über das Forum machen. Es ist einfach und funktioniert gut.
Ja, nächste Woche ist dann leider Schluss. Sogar ich selber verspüre schon eine Art Abschiedsschmerz. Aber so ist das Leben....

"Irgendwann ist natürlich Schluss," sagte der 2WO an Bord des Ubootes, und quetschte seine Hände zusammen. "Der Wasserdruck...."

Jetzt wünsche ich allen gute Unterhaltung und für die kommenden sieben Tage Geduld.... Geduld.....
Eure Daniela 20
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Sonntag, 8. Dezember

Barbara, oder Klaus? Klaus stand vor seinem Kleiderschrank und überlegte. Er hatte einen Schrank leergeräumt, hatte Kleider seiner Oma sortiert, eine Menge weggeworfen, einiges einer Kleiderspende zugeführt. Wenig hatte er behalten, einige, fast schon antike Stücke, waren zu schade, um sie wegzugeben. Jetzt hatte er seine Kleider links im Schrank eingeordnet, Barbaras Kleider rechts.
Seine Hand griff nach rechts. Ingeborg hatte ihn zum Mittagessen eingeladen; sie würde sich mehr über Barbara freuen, als über Klaus. Er entschied sich für einen kuscheligen Angora-Pullover und einen wadenlangen, engen Bleistiftrock, dazu braune Lederstiefel mit Absätzen. Eine brünette Perücke mit langen Locken passte sicherlich gut dazu; die Lederjacke passte sowieso zu fast allem.
Sorgfältig verstaute er sein Geschlecht in seinem Keuschheitsgürtel, es war immer ein leichter Kampf, seinen Penis in der engen Röhre unterzubringen, aber der alte Trick mit dem dünnen Nylonstrumpf klappte immer. Er schob die einzelnen Teile ineinander, achtete darauf, besser keine Haare irgendwo einzuklemmen, dann zog er die ganze Konstruktion hoch, legte sich das Taillenband um, fummelte dessen Enden zusammen und zum Schluss das des Schrittreifens über den Stift, dann schob er das kleine Schlösschen darüber und schloss es ab. Augenblicklich legte sich seine Hand in seinen Schritt; wie bei einer Frau, dachte er.
Anders war es mit seinem stählernen BH. Er hatte von Anfang an ein sehr ambivalentes Verhältnis zu diesem Keuschheits-BH gehabt. Es gibt nichts zu verschließen, dachte er. Aber bei ihm als Mann sah es anders aus. Hier lag die Herausforderung darin, dass es nichts zu verbergen gab. Er konnte anziehen, was er wollte, aber kein Mann hatte solche ´Dinger´ unter seiner Kleidung. Für ihn waren die glänzenden, an seinem Körper angeschlossenen Halbkugeln wie angewachsene Brüste, die er nicht entfernen konnte. Zumindest nicht ohne den passenden Schlüssel.
Das Anlegen war leichter, es musste nichts verstaut werden. Die breiten Ketten der Schulterträger kamen von hinten über seinen Kopf, gut, dass ich die Perücke noch nicht aufhabe; von hinten legte er sich den Stahl des BHs um, schob vorn, zwischen den ´Körbchen´, die Teile zusammen und schloss sie mit einem weiteren Schloss ab.
Es war immer der Zeitpunkt, wenn Barbara erwachte. Sie legte ihre Hände auf die Schalen des BHs, merkte das wachsende Verlangen in ihrem Schritt. Barbara atmete tief durch. Die Schenkelbänder? Sie zögerte. Sie mochte die Schenkelbänder nicht, sie schienen ihr viel mehr ein böses SM-Utensil, als die anderen Teile. Während Keuschheitsgürtel und Keuschheits-BH sie irgendwie stark machten, so machten Schenkelbänder sie schwach. Hilflos, dachte sie, wie ein Pferd, dem man die Vorderbeine zusammengebunden hatte.
Trotzdem schlüpfte sie in die stählernen Ringe, nachdem sie sich zuvor eine feste Strumpfhose angezogen hatte. Sie zog die Reifen an beiden Schenkeln hoch, kam wie immer eine gute Handbreit über die Knie, dann griff sie nach den Ketten, die links und rechts herabhingen, zog sie hoch und schloss sie links und rechts am Taillenreifen an dafür vorgesehenen D-Ringen an.

Sie wählte hübsche, seidene Unterwäsche; sie würde sie warm halten. Ein normaler BH über dem aus Stahl war eigentlich nicht notwendig, aber so war es irgendwie richtiger; ohne fühlte sie sich nackt. Das Gleiche galt auch für ihren mit vielen Rüschen verzierten Slip. Sie mochte dieses etwas antiquierte Kleidungsstück, keine normale Frau trug so etwas, es sein denn, sie ging zum Square dance. Ihr gab dieser slip oft den letzten Kick; besonder wenn sie ihr Geschlecht darunter verschlossen wusste.
Sie zog sich ihren Pullover an; ein ordentliches, nicht zu übertriebenes Makup folgte. Die Perücke wollte nicht gleich beim ersten Versuch sitzen, irgendwie stimmte es nicht; sie nahm sie noch einmal ab, ordnete die Haare und versuchte es dann ein zweites Mal: Schon besser!
Die Lederstiefel hatte sie seit letztem Winter nicht mehr getragen. Die Absätze waren moderat, aber die Enge der Stiefelschäfte war deutlich zu spüren. Erst jetzt folgte die kurze Verbindungskette für ihre Schenkelbänder, sie würde ihr einmal wieder einen sehr damenhaften Gang aufzwingen. Damenhaft?? Barbara musste lachen. ´Damenhaft´ gab es doch gar nicht mehr. Eine einzige Generation von Frauen hatte gereicht, das Bild der Frau zu zerstören. Nein, mit der Emanzipation hatte er überhaupt keine Schwierigkeiten, ganz im Gegenteil; so manche Frau war in ihrem Beruf besser als ein männlicher Kollege; eine Schande, dass sie immer noch keinen gleichen Lohn für gleiche Arbeit bekamen. Schwierigkeiten hatte er hingegen mit dem immer schlampigeren Erscheinungsbild von Frauen in der Öffentlichkeit. Gut, man konnte nicht gleichzeitig Abendkleid und high heels tragen und an Automotoren herumfummeln, aber mussten Frauen denn so selten mal was aus sich machen? Klaus hatte so gut wie nie einer normal angezogenen Frau hinterhergesehen! Und Barbara? Wie mochte es für Frauen sein, immer nur Kerle in gammeliger Freizeitkleidung zu sehen? Auch Männer konnten sich schick anziehen - und taten es ebenso wenig, wie Frauen.

Der enge Schlauchrock machte Probleme, jetzt, da Barbara bereits Stiefel und Schenkelbänder trug. Sie setzte sich auf einen Stuhl, schaffte es irgendwie, beide Beine gleichzeitig in den Rock zu bekommen, ohne mit einem Absatz am Bund hängenzubleiben. Vorsichtig zog sie das enge Kleidungsstück hoch bis zu ihrer Taille. Dann schloss sie den Reißverschluss in ihrem Rücken und den darüber befindlichen Knopf.
Sie packte alles, was wichtig war, in ihre Handtasche, nahm natürlich auch die Schlüssel zu ihrem tragbaren ´Gefängnis´ mit; man konnte ja nie wissen. Lederjacke und Schal folgten, dann ging sie hinaus in den hellen Sonnenschein. Sie würde wieder ihren Roller nehmen, auf dessen Sitzbank konnte sie auch in diesem engen Rock gut sitzen. Die Straßen waren, nach dem heftigen Schneefall am Freitag, geräumt worden. Der kleine Roller startete ohne Probleme; Barbara setzte ihren Sturzhelm auf, zog sich die Handschuhe an, dann fuhr sie los.

Eine Kerze, dachte sie und war nicht so ganz bei der Sache, ich habe der Großmutter eine Kerze angezündet! Sie wunderte sich ein wenig über sich selbst. War Barbara anders als Klaus? In ihrem Wesen und Denken?
Am Freitag, nach jenem möglicherweise gelungenem, möglicherweise missratenen Zusammentreffen mit seinem ehemaligen Lehrer, hatte Evelyn ihn nach Hause begleitet. Sie hatte sich große Sorgen um seine Kopfverletzung gemacht, hatte zu Hause die Wunder gereinigt und besser versorgt, als sie es oben, auf dem Turm, hatte tun können.
Er habe großes Glück gehabt, sagte sie. Es war nur eine oberflächliche Verletzung der Kopfhaut; nichts war ernstlich in Mitleidenschaft gezogen. Aber sie machte es ihm auch klar, dass er genauso gut hätte Pech haben können; wäre er anders gefallen, hätte er sich das Genick brechen können. Er hatte ihr versprochen in Zukunft vorsichtiger zu sein. Das würde auch nichts helfen, hatte sie lachend geantwortet und ihm ´lustige´ Todesfälle erzählt, etwa von der Touristin, die in Thailand im Liegestuhl eines Hotels starb, weil ein Selbstmörder bei seinem Sprung genau auf ihr landete, oder die Geschichte eines russischen Kampfflugzeugs, dass bei einem Manöver abzustürzen drohte. Der Pilot rettete sich mit dem Schleudersitz, aber ein Mann in Belgien musste sterben. Klaus hatte sie ungläubig angesehen, aber sie erzählte weiter, das Flugzeug sei nicht abgestürzt, ganz im Gegenteil, sondern per Autopilot führerlos bis nach Belgien weitergeflogen, wo ihm der Sprit ausging und es auf ein Haus fiel. Dabei sei der Mann ums Leben gekommen!
Das würde ihm bestimmt nicht passieren, hatte er leicht hochnäsig, wenn auch immer noch mit brummendem Schädel, geantwortet. Oh, es muss gar nicht so dramatisch sein, hatte sie zurückgegeben und von dem jungen Mann in München berichtet, der abends mit dem Bus in die Stadt wollte. Plötzlich habe sich ein riesiges Loch in der Straße aufgetan, das Heck des Busses sei metertief verschwunden, begraben von Erde und Straßenschutt, erst Tage später habe man die Leiche des jungen Mannes entdeckt, tot natürlich. Was Leichen wohl so an sich haben, hatte er flapsig geantwortet, aber sie hatte ihm nur noch einmal gesagt, dass man das Leben halt nicht gepachtet habe; er habe ganz einfach Mordsschwein gehabt, oben auf dem Turm.

Im Laufe des Samstags ging es ihm schon wieder wesentlich besser. Er hatte sich wieder für Barbara entschieden, er brauchte den geistigen Abstand von den heftigen Ereignissen. Barbara gab ihm, wie immer, die Möglichkeit des Eintauchens in ein anderes Ich; ein Ruhepol in seinem Leben.
Sie hatte nur etwas Luft schnappen wollen, hatte sich warm angezogen; eine dicke Wollstrumpfhose sah vielleicht nicht besonders attraktiv aus, aber sie hielt die Beine warm unter dem langen Rock, für den sie sich entschieden hatte. Kalte Winterluft hatte die Sinne klar gemacht, sie genoss die Bewegung, ging etwas weiter als sie es vorgehabt hatte und kam schließlich an jener kleinen Kirche vorbei, wo Klaus´ Großmutter so häufig Kerzen vor dem kleinen Seitenaltar angezündet hatte. Für wen wohl, hatte sie sich gefragt.
Sie war hineingegangen, es war hell und warm, fast gleichzeitig begannen die Glocken zu läuten - ach ja, die Vorabendmesse! Barbara hatte sich in jene Bank der Seitenkapelle gesetzt, wo alles einmal angefangen hatte. Wann war Klaus hier gewesen? Die Strafbank? Die Strafbank für die Messdiener, gab es die noch? Es gab sie noch. Aber man hatte sie unbrauchbar gemacht, lange Schrauben hatten das stachelige Sitzbrett und die Vorrichtungen für Hände und Füße fixiert; sie ließen sich nicht mehr drehen.
Barbara schloss die Augen. Wie hatte Klaus das nur tun können, was er hier mit Daniela getan hatte? Aber wie hatte Monika ihm überhaupt so eine Falle stellen können? Und wieso war er so blöde gewesen, hineinzutappen? Später dann hatte Klaus es bitter bezahlen müssen, als Monika ihn in ihrer Hand hatte.
Barbara hatte nicht auf den Gottesdienst geachtet, war verloren in ihren Gedanken, bis es Zeit war, zu gehen. Sie war aufgestanden, hatte ein Licht angezündet, möge es die Dunkelheit erhellen, dann erschrak sie zutiefst über eine junge Frau, ein Schatten im schwarzweißen Messdienergewand, die ihr den Korb für die Kollekte hinhielt. Daniela!, durchzuckte es sie, dann aber sah sie ein, dass es, trotz aller Ähnlichkeit, nicht die verstorbene Freundin sein konnte.
Das hier ist meine Schuld, dachte Klaus. Ich habe sie zwar nicht getötet, aber ich habe nichts für ihre Rettung getan. Mea culpa, mea maxima culpa...., im Internat hatten sie es noch gelernt.
Barbara hatte einen Euro in das Körbchen gelegt; die Messdienerin hatte es mit einem netten Lächeln quittiert. Dann war ihr Blick auf eine Anzeigetafel der Gemeinde gefallen, Benachrichtigungen über bevorstehende Hochzeiten und Todesfälle in der Gemeinde; beinahe hätte Monikas Name hier auch gestanden. Auch ein Anmeldeformular war hier, die Gemeinde suchte Kinder oder auch Erwachsene, das Alter spiele keine Rolle....
Ein Sühneopfer, dachte sie. Vielleicht müsste sie ein Sühneopfer bringen.... Etwas tun, wozu sie nicht die geringste Lust verspürte.... Monika hatte es getan. Daniela hatte es getan, zu Hause in der Domstadt.
Sie suchte einen Stift in ihrer Handtasche. Fand ihn, suchte irgendwo eine Ecke Papier, um ihn ´anzumullern´, dann schrieb sie ihren Namen und ihr Alter auf das Formular: Barbara Behrend, 21 Jahre. Es war das erste Mal, dass sie ihren Namen so ausgeschrieben sah. Und dann hatte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, noch einen zweiten Namen auf die Liste gesetzt: Ingeborg Wimmer, 29 Jahre.


Barbara hatte, ganz in Gedanken, nicht auf den Verkehr geachtet und wäre beinahe bei rot über eine Ampel gefahren. Es war nicht mehr weit, ein Glück. Langsam hatte die Kälte des Fahrtwindes doch ihren Weg zu ihren Knochen gefunden, ihre Hände waren schon halb taub, auch in den dicken Handschuhen.
Wie gewohnt stellte sie wenig später ihren Roller vor Ingeborg Wimmers Haus ab. Sie klingelte, es knackte kurz in der Gegensprechanlage. "Ja bitte?"
"Ich bin es, Ingeborg!" Es war komisch, aber sie scheute sich immer noch, sich selber Barbara zu nennen. Manchmal kam sie sich vor wie jener Borg, der an Bord des Raumschiffes Enterprise kam und zum ersten Mal so etwas wie eine eigene Identität erlebte, zum ersten Mal "I am Hugh" sagte. Aber ihr war es immer noch nicht richtig gelungen, Ich bin Barbara zu sagen.
Die Tür wurde geöffnet, Barbara trat ein und war froh, den Fahrstuhl gleich unten im Erdgeschoss zu finden.

"Ohne Fahrstuhl wärst du darin aber nicht zu mir hoch gekommen!" Ingeborg hatte einen leicht spöttischen, leicht bewundernden Ton angeschlagen. "Dass du damit überhaupt laufen kannst! Also ich habe enge Röcke immer gehasst" Sie stand, wie immer, in ihrer geöffneten Wohnungstür und gab Barbara einen flüchtigen Wangenkuss.
Barbara lächelte. Sie antwortete nicht sofort, zog sich ihre Jacke aus und überlegte, auch die Stiefel auszuziehen, aber der Gedanke an ihre nervigen Schenkelbänder erinnerte sie daran, wie fummelig es sein konnte, wenn sie ihre Beine nicht richtig bewegen konnte. "Ich finde ihn geil!" Sie strich sich mit der Hand über ihren Rock. Ingeborg hatte hinter ihr die Wohnungstür geschlossen und war im Begriff, an Barbara vorbeizugehen.

Barbara hielt sie fest. Sie zog die Kommissarin, die längst eine Freundin geworden war, an sich, ließ ihre Hände über deren Rücken und die Taille gleiten. Keine Keuschheitssachen heute, stellte sie fest. Ein Gedanke meldete sich, den sie lange nicht gehabt hatte...
Sie spürte Ingeborgs Hände ihrerseits auf ihrem Rücken und in ihrer Taille, Hände, die die stählernen Bänder von BH und Keuschheitsgürtel untersuchten.
"Wieder fest verschlossen? Schade...." Ingeborg enthob Barbara einer Antwort, öffnete die Tür zur Küche, ein Schwall appetitanregender Gerüche kam ihnen entgegen. "Ich muss mich noch etwas ums Essen kümmern. Hoffentlich hast du Hunger mitgebracht? Kein Korsett heute, oder?"
"Keine Angst! Nein, kein Korsett heute. Hab extra wenig gefrühstückt. Was gibt es denn?"
Ingeborg antwortete ihr etwas, das sehr lecker klang, dann widmete sich sich wieder der Zubereitung. Aus dem Kühlschrank nahm sie eine Flasche Wein, gab diese Barbara zusammen mit einem Korkenzieher und bat sie, die Flasche zu öffnen.

Barbara glaubte, selten etwas so Gutes gegessen zu haben. "Sehr lecker, Ingeborg! Ausgezeichnet!"
"Fast wie bei Muttern, nicht wahr?" Ingeborg freute sich über das Lob.
Barbara senkte den Blick. "Ich weiß nicht... Ich bin ja mehr bei der Oma aufgewachsen, und dann die Jahre im Internat...."
Ingeborg merkte sofort den fauxpas, den sie begonnen hatte. "Tut mir leid. Sag mal, wie war dein Treffen mit deinem ehemaligen Lehrer für dich?"
"Durchwachsen. Fast hätte er mich dabei umgebracht. Er hatte es eilig, wegzukommen. Und da stand ich ihm wohl etwas im Weg. Er schubste mich zur Seite, ich flog mit dem Hinterkopf gegen das Geländer." Sie machte eine heitere Mine zum bösen Spiel. "Nun sag schon, haben wir ihn, Ingeborg? Hat es was gebracht?"
Ingeborg schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie hatte noch am Samstagabend eine erste Analyse der Videoaufnahmen bekommen; Aufnahmen einer kleinen Action-cam, die ein Kollege der Technik oben im Turm eingebaut hatte.
"Nicht?" Barbara konnte die Enttäuschung in ihrer zaghaften Frage nicht unterdrücken. Klaus hatte dem Plan zugestimmt, er schien der einzig gangbare Weg zu sein, Pater Ruprecht irgendwie legal beikommen zu können.
"Nun ja, die Tonaufnahmen sollen prima sein, man verstehe jedes Wort, hat man mir gesagt. Aber man sieht nicht wirklich, wer da oben mit dir auf dem Turm ist. Eine Gestalt in einem dunklen Mantel mit einem Hut, der das Gesicht verdeckt. Und alles voller weißer Schneeflecken. Der Kollege sagte, es hätte genauso gut ein Panda aus dem Zoo sein können!" Sie schüttelte wieder den Kopf, heftiger jetzt. "Tut mir leid...."

´Keine Hoffnung, Herr Kaleun?´ Wieder eine Szene aus dem Film Das Boot. Aber gab es nicht immer Hoffnung?

"Keine Chance?"
"Wir können ihn nicht eindeutig identifizieren. Wir müssen hundertprozentig genau wissen, mit wem du da sprichst. Können wir es nicht, ist es so gut wie für den Müll. Jeder Verteidiger zerpflückt uns das in wenigen Minuten. Ich kenne die Typen, glaube mir das!"
Barbara saß da, ein Häufchen Elend. Dann kam ihr eine Idee. "Kann ich mal an dein Notebook? Meine Internetverbindung ist im Moment etwas schwach auf dem Handy."
"Kein Problem! Hatte die Kiste schon angemacht. Fürs Rezept!"
"Danke!" Barbara nahm sich das große Notebook auf den Schoß. Sie bemühte sich, eine halbwegs bequeme Stellung zu finden, der enge Rock und die Schenkelbänder störten gewaltig. Sie loggte sich auf ihrer Facebook Seite ein; ein schneller Blick, ja, Evelyn war online. Prima.

Ingeborg räumte den Tisch ab. Sie beobachtete Barbara, die irgendetwas im Chat schrieb, ab und zu gab das Notebook den leisen Klingelton von sich, der eine neue Nachricht begleitete. Sie beobachtete Barbaras Gesicht. Endlich umspielte ein zufriedenes Lächeln ihre Lippen.

Barbara drückte einige wenige Tasten, ja, so war es gut. Besser als gut! Sie drehte das Notebook so, dass Ingeborg das Foto erkennen konnte, das auf dem Bildschirm zu sehen war. "Jetzt wissen wir es!", sagte sie.
Ein Panda, dachte Ingeborg. Ein Panda, der den Chinesischen Turm verlässt, ein Panda mit Hut! Aber diesmal war das Gesicht des Mannes eindeutig zu erkennen. "Woher hast du das?", fragte sie ungläubig.
"Von Evelyn. Ich dachte mir, doppelt hält besser! Ich hatte sie mitgenommen, für den Fall der Fälle. Sie war unten geblieben und hat Bilder gemacht. Zwar nur ganz wenige, aber das hier ist wohl das beste. Die Frage ist nur: Ist es gut genug?"
Ingeborg sah sie an. "Es ist gut genug. Jetzt haben wir ihn!"

Es war Abend geworden. Beide hatten sich einen gemütlichen Nachmittag gemacht, Ingeborg hatte Stollen und Mohnkuchen zum Kaffee aufgetischt, man hatte sich gut unterhalten.
Das Abendessen hatten sie ausfallen lassen, Ingeborg hatte ein entspannendes Bad genommen und hatte sich danach, nur in ihren weißen Bademantel gehüllt, wieder zu Barbara gesetzt.
"Ist dir nicht warm?" Sie zupfte leise an Barbaras Pullover.
Diese zog sich den Pullover über den Kopf - wie eine Frau macht sie es! - und überraschte Ingeborg mit einer seltsamen Frage, noch während sie den Kopf im Pullover hatte. "Sag mal, bist du eigentlich katholisch?"
"Ob ich katholisch bin??", antwortete Ingeborg, leicht irritiert. "Ja, ich bin katholisch. Wenigstens so getauft. Aber ein großer Kirchgänger bin ich nicht. Warum fragst du?"
Barbara befreite ihren Kopf und sah sie an. "Oh, nichts. Nur so.... Komm, mach mir mal den Rock auf, ich habe immer Schwierigkeiten mit dem Knopf!"
Ingeborg half ihr. ´Nur so´?? Kein Mensch stellte nur so Fragen! Das hatte sie im Laufe ihres Berufslebens selber oft genug erfahren. Aber sie wusste auch, sie würde zumindest jetzt keine befriedigende Antwort von Barbara erhalten. "Wären die Schenkelbänder nicht eigentlich unnötig gewesen, bei dem Rock?"
"Ja, wären sie wohl. Aber..., nun ja, du weißt, wie es manchmal über einen kommen kann. Erst wollte ich einen weiten Rock anziehen, da machten die Schenkelbänder schon Sinn. Dann aber hatte ich mich für diesen engen Bleistiftrock entschieden. Aber ich muss gestehen, die Kombination ist nervig hoch zehn!"
"Ich hasse die blöden Dinger!!" Ingeborg richtete sich etwas auf. Wie um ihre Worte zu unterstützen breitete sie ihre Beine aus. Der Gürtel ihres Bademantels öffnete sich, der weiche Stoff fiel auseinander und gab den Blick auf eine wohlrasierte Scham frei. "Ah, tut das gut!" Ihre Hand legte sich auf ihr Geschlecht.
Barbara lächelte sie an. Was war da in ihrem Blick? Verlegenheit? Verlangen? Oder noch etwas anderes? Neid? "Du, das habe ich sowieso nie begriffen. Wie kann man bei der Kripo arbeiten, als Kommissarin, und dann Schenkelbänder und Röcke? Das geht doch hinten und vorn nicht!"
Ingeborg zog ihre Hand zurück und musste lachen. "Nein, da hast du recht. Aber du darfst dir Polizeiarbeit nicht so vorstellen, wie man sie immer im Fernsehen sieht. Also Verfolgungsjagden und wildes Herumgerenne! Nein, ich mache schon seit langem so etwas wie Innendienst."
"Innendienst?"
"Ja. Mein damaliger Chef, der sich ja nach Passau versetzen ließ, hatte mich beauftrag, alte Akten aufzuarbeiten...."
"So eine Arte ´Cold case? Kein Opfer ist je vergessen?´"
"Wenn du es so nennen willst... bitte! Aber in meinem Fall ist es eher ein Cold arse...., ein kalter Hintern. Nein, im Grunde genommen geht es darum, alte Akten zu digitalisieren. Eine knifflige Arbeit, weil wir manches einscannen, vieles aber auch neu tippen müssen."
"Also, ihr sucht nicht nach eventuell neuen Spuren in ungelösten Fällen? Man hört ja immer, dass die Kriminaltechnik in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht hat." Barbara war eine Idee gekommen. Der ungläubige Thomas!
"Doch. Das kommt schon vor. Aber wir machen es nicht wirklich systematisch."
"Ist diese Arbeit nicht totlangweilig?"
"Ach, wie man es sieht. Nenne mir mal einen Job, der auf Dauer nicht langweilig wird! Ständig alten Leuten neue Hüftgelenke einpflanzen? Oder stundenlang im engen Cockpit einer Passagiermaschine eingeschlossen zu sein und über Sibirien oder das Meer zu fliegen? Womöglich noch mit einem Co-Piloten, der außer Blähungen nicht viel von sich gibt? Nein, ich habe es ganz gemütlich in meinem kleinen Büro. Kann mir meine Arbeit einteilen, wie es mir passt. Muss nicht draußen Besoffenen hinterherrennen, oder mich bei Befragungen anmachen zu lassen. Es ist eine schöne, ruhige Arbeit. Und man hat Feierabend und ein richtiges Wochenende! Man hat seine Freiheiten...."
"Bis auf die Schenkelbänder, den Keuschheitsgürtel, den BH....."
Ingeborg musste zugeben, dass da was dran war. Aber jetzt sah es ja anders aus. Sachte zog sie Barbara zu sich heran. Berührte ihre stählernen Cups, streichelte sie, so als befänden sich richtige Brüste darunter. Ihre rechte Hand drückte gegen Barbaras Keuschheitsgürtel; es faszinierte sie immer wieder, darunter ein männliches Glied zu wissen, ein kleines Stück Männlichkeit, das weggesperrt war und sich jetzt, unter ihrer Hand, wahrscheinlich hilflos gegen die enge Röhre sträubte, in der es gefangen war. Gleichzeitig vergruben sich die Finger ihrer Linken in ihrer eigenen Scham. Es ist gut so, wie es ist, dachte sie. Sex... musste es immer mit einem Coitus enden? Nein, musste es nicht!
Auch Barbara hatte ihre Augen geschlossen. Es ist schön so, dachte sie. Ingeborg will mich.... Sie spürte ihr erwachendes sexuelles Verlangen. Klaus... Nein, das durfte nicht sein! Sie wollte es nicht! Aber der alte Spruch, dass der Geist wohl willig, das Fleich aber schwach sei, schien auch in dieser Situation über Barbaras Denken und Empfinden bestimmen zu wollen.
Sex, dachte sie, könnte ich doch nur einmal Sex haben, so wie Ingeborg ihn wohl kannte! Wie oft hatte sie es sich vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn man die Beine breit macht, wenn man bereit ist für den Mann, der über einem kniet. Wenn man das Glied sieht, wie es sich steil aufstellt und präsentiert, zum langsamen Eindringen oder dem harten Stoß bereit. Wie mochte es sein, wenn man die pralle Eichel spürte, die den Venushügel hinab nach der Scheide suchte; wenn der Mann schließlich in einen eindrang....

Sie seufzte leise auf. Ihr blieb immer nur der andere Part. Das Oben-knien, das Eindringen und Zustoßen. Sie begann, die vor ihr liegende Klitoris sanft mit der Zunge zu bearbeiten, dann ließ sie ab, als Ingeborgs Stöhnen lauter wurde. Widmete sich den Nippeln, die hart geworden waren, hart und empfindlich; sie saugte an ihnen, biss vorsichtig hinein, spürte das langsame Vibrieren des ganzen Körpers, der unter ihr lag. Ihre Hand tauchte ein in eine feuchte Scheide, ihr Daumen fand eine erregte Klitoris, ihr Zeige- und Mittelfinger wanderten über den Damm bis zum Anus, wo sie ebenfalls eindrangen. Ingeborgs Körper zuckte unter ihrem Griff, mit der Linken drückte sie die Brustwarzen, es gab keine Grenze mehr....
....bis auf meinen eigenen Keuschheitsgürtel, dachte sie. Sie begann, den Kampf ihrer eigenen Seele zu spüren: Barbara gegen Klaus. Würde er nie aufhören? Sie ließ von Ingeborg ab, ihre Hand suchte nach ihrer Handtasche, wo war sie? Sie lag neben dem Sofa. Sie wandte sich ab, suchte nach dem Einzigen, das jetzt helfen würde. Wo sind die Schlüssel??

Ingeborg spürte die plötzliche Veränderung, die mit Barbara vorgegangen war. Das Hervorbrechen männlicher Energie. Sie sah Barbara, die ein kleines Schlüsselbund aus ihrer Handtasche zog, eine vor Erregung zitternde Hand, Schlüssel, die zu Boden fielen. Barbara bückte sich, ihre stählernen Cups glitzerten im Schein der Kerzen, sie griff nach den Schlüsseln, steckte einen der kleinen Schlüssel in das Schloss ihres Keuschheitsgürtels.... gleich würde ihr sein Glied entgegenspringen, in sie eindringen, alles kaputt machen.

Klaus fluchte leise, er hatte in der Eile den falschen Schlüssel gewählt. BH, Keuschheitsgürtel und die Schenkelbänder hatten insgesamt drei verschiedene Schlüssel, da konnte es schon einmal vorkommen, dass man den falschen nahm. Er zog ihn wieder heraus und wollte gerade den nächsten in das kleine Schloss stecken, als sich Ingeborgs Hand über seine legte.
"Nicht, Barbara! Bitte tue es nicht! Ich.... ich will es nicht. Noch nicht....", fügte sie hinzu. Die Reaktion kam wie ein Seebeben daher. Die Hand mit den Schlüsseln entkrampfte sich, aber der Körper, zu dem sie gehörte, begann das Zittern der Hand zu übernehmen. Ingeborg blickte in Barbaras Augen. War es ihr Blick, oder der von Klaus? Sie sah, wie die Hand den kleinen Schlüssel aus dem Schloss zog, es blieb ungeöffnet, Barbara steckte die Schlüssel zurück in ihre Handtasche. Dann stand sie auf, Ingeborg sah die fortwährende Unruhe in ihrem Körper, dann ging Barbara in ihr Schlafzimmer.

Und jetzt?, überlegte Ingeborg. Warum nur musste immer alles so kompliziert sein? Sollte sie Barbara hinterhergehen? Ihr ins Schlafzimmer folgen? Oder brauchte diese jetzt etwas Zeit für sich allein? Sie setzte sich auf, überlegte, ob sie selber einfach da weitermachen sollte, wo Barbara eben aufgehört hatte. Mit dem Fuß stieß sie Barbaras Handtasche um; sie stellte sie wieder hin. Dann stand sie auf und wollte gerade ihren Bademantel zumachen, als sie Barbaras sanfte Stimme hinter sich hörte.
"Du brauchst ihn gar nicht wieder zuzumachen!"
"Was?" Sie war überrascht. Barbara stand hinter ihr, zog ihr mit sanfter Gewalt den Bademantel von den Schultern.
"Schhhh! Sei still!"
Wieder spürte sie warme Hände, die sie jetzt von hinten umfassten, ihre Brustwarzen reagierten augenblicklich, ihre Scham konnte die Erregung nicht mehr zurückhalten. Sie schloss die Augen, ließ alles mit sich machen, es war so schön, dann aber umfing sie die kalte Berührung ihres Keuschheits-BHs; Ketten, die über ihre Haare gezogen wurden, Körbchen, die sich über ihre Brüste senkten. Schon vernahm sie wieder den unbarmherzigen Druck, schon wurden ihre Nippel wieder von gemeinen Stacheln gequält; es war zum Verrücktwerden, kein Schmerz, aber dennoch kaum auszuhalten. Ganz unbewusst hatten ihre Hände wieder an die Brüste gegriffen, ihre Hände, die die Pein beenden wollten, nutzlos wie immer.
Das Anlegen ihres tragbaren Tugendwächters folgte, eine stählerne Pforte, die sich wie eine gewölbte Hand über ihren Venushügel und ihre Scham legte, wieder gab es den unangenehmen Druck zwischen ihren Gesäßhälften, das Verschließen der kleinen Schlösser hörte sie gar nicht mehr, es rauschte in ihren Ohren, wie die Welle, die auf den Strand trifft. Barbaras Seebeben wurde ihr Tsunami......
Erst als Barbara ihre Füße antippte und aufforderte, sie zu heben, regte sich leiser Protest. "Nein, bitte nicht die Schenkelbänder! Bitte, Barbara...."
Sie öffnete ohne zu zögern den Mund, als sie den schwarzen Ballknebel vor sich sah. Sie hatte nicht den Willen, sich dagegen aufzulehnen. Handschellen wurden ihr kommentarlos in die Hände gedrückt; sie wusste, was sie zu tun hatte und fesselte sich selber die Hände auf den Rücken. Barbara sah sie zufrieden an, lächelte, begann ihre Wange zu streicheln. Dann aber bückte sie sich und half ihr in die verhassten Schenkelbänder, zog diese an ihren Oberschenkeln hoch, bis es nicht weiterging; Ketten wurden am Taillenband des Keuschheitsgürtels befestigt; ein Schloss schloss die Bänder eng zusammen.

Es war spät geworden. Barbara hatte Ingeborg den Bademantel über die Schultern gelegt und zugebunden, dann hatte sie sich selber angezogen.
"Ich will jetzt fahren. Ich bin.... - sie legte eine kleine Pause ein - ich bin müde. Es war ein langer Tag. Danke für das leckere Essen. Ich hoffe, er hat dir auch gut gefallen?"
Ingeborg nickte. Was hat sie mit mir vor?
Barbara nahm das kleine Schlüsselbund, ganz ähnlich ihrem eigenen. Sie nestelte den Schlüssel für die Handschellen ab, ging noch einmal ins Schlafzimmer, kam nach kurzer Zeit wieder, eine Tüte unterm Arm. "Hast du den hier schon ausprobiert??"
Ingeborg schüttelte den Kopf. Bruno hatte es mal vorgeschlagen, aber so weit hatte sie nicht gehen wollen.
"Nicht? Gut, dann werden wir demnächst mal zusammen das Vergnügen haben! Daniela hat mir alles darüber gesagt.... soll echt gut sein!" Sie lächelte, blickte ihr in die Augen. "Keine Angst, Kleines. Alles wird gut! Den Handschellenschlüssel habe ich ins Schlafzimmer gelegt, du wirst dich also selber befreien können. Und die Schlüssellöcher sind auf der richtigen Seite, wie ich sehen kann." Sie zog Ingeborg an sich, stählerne BHs, die gegeneinander stießen. Barbara küsste Ingeborg auf den geknebelten Mund, eine Zungenspitze, die der Linie der Lippen entlangfuhr; Ingeborg glaubte, zu zerbrechen; so hatte Bruno sie nie behandelt; sie spürte die Liebe, die von dieser jungen Person ausging, dann war sie allein, eine Tür fiel unten ins Schloss, dann hörte man den ersterbenden Laut eines kleinen Motorrollers....

55. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 19.02.17 22:00

Wir haben das Ende meiner Geschichte erreicht! Ich freue mich, dass mir doch wohl noch einige Leser geblieben sind! Wie schnell nun doch wieder die dunkle Jahreszeit vergangen ist!
Nun will ich heute nicht mehr viele Worte machen. Wie immer werde ich mich über den einen oder anderen Lesergruß freuen. Ich hoffe, dass auch das Schlusskapitel allen gefällt. Sollte jemand Probleme mit dem Posten haben, dann schickt mir bitte eine kurze Mail über das Forum, dann sehen wir weiter!
Es grüßt Euch alle sehr herzlich, Eure Daniela 20.


München, Mitte Dezember

"Und..., bist du jetzt wieder ganz auf Barbara umgestiegen?" Evelyn sah sie mit einem neugierigen Blick an, während sie ihren Tee umrührte. Sie hatte in den letzten Tagen wenig Zeit gehabt, es hatte Verletzte gegeben, Opfer von wild ausgearteten Weihnachtsfeiern, wobei sie sich immer fragte, was all das denn mit Weihnachten zu tun hatte. Jetzt aber hatte sie Zeit für eine Tasse Tee zusamen in einem netten Café in der Maxvorstadt.
Barbara sah zur Seite. "Im Moment, ja." Sie zuckte die Schultern. "Geht nicht anders, Lyn."
"Hm." Evelyn überlegte, ob sie den Ball aufgreifen sollte. Ein Gespräch über dieses Thema war immer schwierig. "Was hat deine Kommissarin gesagt?"
"Meine Kommissarin?? Meine Kommissarin hat gesagt, wir haben ihn!"
"Also genug, diesen Kerl in den Knast zu bringen?"
"Tja, hoffentlich. Ingeborg meinte, die Beweismittel müssten ausreichend sein. Wichtig aber ist, dass sich noch andere Opfer melden, dass ich nicht allein dastehe. Auf jeden Fall wird das nächste Jahr spannend werden." Barbara sah auf ihre Uhr. "Komm, trink aus! Lass uns noch etwas spazieren gehen! Bei dem Wetter sollten wir es genießen!"

Es war verrückt. War die Stadt vor bloß anderthalb Wochen noch im Schnee versunken, so wehte jetzt ein warmer Frühlingswind über die Dächer. Cafés hatten wieder Stühle und Tische nach draußen gestellt; Leute saßen da, unter Decken zwar, aber mit einem Eiskaffee oder einem Glas Weißwein, statt Glühwein.

War sie jetzt ganz auf Barbara umgestiegen? Evelyns Frage ging ihr nicht aus dem Kopf. Vor einigen Monaten, nach ihrer geglückten Flucht aus Rom, hatte alles anders ausgesehen. Jetzt aber war es schon wieder komplizierter geworden. Ja, es machte ihr Spaß, als Barbara zu leben. Aber Klaus war auch nicht schlecht. Sie musste lachen, als sie an den Sonntagabend bei Ingeborg dachte. Ja, da war Klaus aktiv geworden. Aber Ingeborg hatte ihn daran gehindert, den Keuschheitsgürtel abzulegen. War es besser so gewesen?
Sie hatte reagiert, ohne viel nachzudenken. Wenn ich keinen Spaß haben kann, dann du aber auch nicht! Barbara hatte plötzlich eine dominante Ader an sich entdeckt! Oder war es Klaus gewesen?? Der Gedanke, die Freundin in ihre stählerne Unterwäsche eingesperrt zu haben, hatte ihn mächtig erregt. Er würde nach Hause fahren, sich alles ausziehen und dann....

Und dann konnte er den Schlüssel zu seinem Keuschheitsgürtel und BH nicht finden, genauso wenig wie zu den Schenkelbändern. Er hatte den Inhalt der Handtasche zweimal durchsucht, aber da waren nur die Schlüssel zu Ingeborgs Dingern. Schließlich hatte er Ingeborg eine SMS geschickt: "hast du meine Schlüssel gesehen?" Die Antwort hatte nicht lange auf sich warten lassen: "hab ich! werde sie gut für dich aufheben!!" Er hatte keine Sekunde gezweifelt, dass es kein Zufall sein konnte. Und weil er sich so schlecht wieder in Klaus zurückverwandeln konnte, musste er im Moment bei Barbara bleiben.

"Bald ist Ostern!" Evelyn hakte sich bei ihr unter. "Tritt mir ja nicht mit deinen Killerabsätzen auf den Fuß! Hab heute keine Lust zum Arbeiten!" Sie lachte leise.
"Keine Angst! Aber du darfst mich natürlich nicht aus dem Gleichgewicht bringen!"

Sie überquerten die Ludwigstraße in der Nähe der Universität. "Sag mal, hast du mal an ein Studium oder so gedacht? Du hast doch ein gutes Abitur!"
"Gute Frage! Nein, ich weiß nicht. Ich hatte eher an was mit Kindern gedacht. Erzieher oder so..."
Evelyn blieb so abrupt stehen, dass Barbara jetzt doch beinahe gestrauchelt wäre. "Nein!! Nein, das wirst du nicht tun!"
"Was...??" Barbara hatte sich gefangen, war aber über Evelyns harte Reaktion erschrocken.
"Mensch, siehst du es denn nicht Barbara - oder Klaus - du darfst nichts mit Kindern machen! Es ist doch immer die alte Leier. Willst du auch zu denen gehören, die dann wieder diesen Scheiß von Ich-bin-selber-missbraucht-worden erzählen wollen? Wenn es bei dir plötzlich klick macht? Wenn du dich nicht mehr beherrschen kannst? Wenn du selber den Schmerz vergessen hast, den man dir angetan hat?"
"Im Leben nicht, Evelyn! Warum zum Teufel sollte ich denn Kindern so etwas Schlimmes antun? Das macht doch gar keinen Sinn! Ich bin doch kein Unmensch!"
"Doch, Klaus. Doch, es macht Sinn. Man verdrängt die schlimme Tat, aber das Unterbewusstsein will sie einfach nicht löschen. Es bohrt und frisst und brodelt in einem... wie war es damals...., was hat der kleine Klaus damals gefühlt...? Das Unterbewusstsein will keine Ruhe geben! Und ohne es zu merken wird man selber vom Opfer zum Täter!"
"Aber Lyn, wenn du so denkst, dann wären ja diese Typen wie Pater Ruprecht doch entschuldigt, nicht wahr?"
"Nein, das sind sie nicht. Weil sie sich im entscheidenden Moment ihres Lebens für die falsche Richtung entschieden haben. So wie ein Schwimmer, der sich nicht traut, an den Beckenrand zu schwimmen und sich dort festzuhalten, bevor er untergeht. Weil er glaubt, dort überall wilde Hunde zu sehen. Statt dessen schwimmt er mitten im Becken herum und denkt, er werde es schon allein schaffen."

Jetzt blieb Barbara stehen und hielt Evelyn am Arm zurück. "Das kapier ich jetzt überhaupt nicht!"
"Nun ja, es gibt ja auch Rettungshunde. Die verschüttete Menschen aufspüren und ihnen das Leben retten."
"Verschüttete Menschen?"
"Ja, genau das seid ihr doch: Verschüttete Menschen. Missbrauchsopfer brauchen Rettungshunde; allein schaffen sie es nicht!"

Sie gingen schweigend weiter. Langsam näherten sie sich dem Englischen Garten. Sonnenanbeter und sogar einige Kerle mit nacktem Oberkörper waren zu sehen, sobald sie das Tor passiert hatten.
"Also, das mit Kindern wirst du schön bleiben lassen. Du könntest ja Kollege werden!"
"Rettungssanitäter? Ich weiß nicht...."
"Dann halt Kollege von deiner Kommissarin! Da könntest du für Recht und Ordnung eintreten!"
"Polizei?? Ich?? Wie soll das denn gehen, Evelyn?" Barbara sah an sich hinunter; mit leicht hilfloser Geste lupfte sie ihren Rock ein wenig. "Ich glaube nicht, dass unsere bayerische Polizei für ihre Toleranz in diesen Dingen bekannt wäre..." Sie musste lachen.
"Hm, ja, da könntest du recht haben! Schwierige Kiste! Dann bleibt wohl nur noch Künstler übrig. Schriftsteller oder so! Da kannst du, so wie du bist, an der Schreibmaschine sitzen und dir schöne Geschichten ausdenken. Egal, was du dabei anhast!" Jetzt mussten beide lachen!

Am Chinesischen Turm hatte ein Weihnachtsmarkt eröffnet. Ein schöner Weihnachsmarkt, wie beide zugestehen mussten, mit weihnachtlich eingerichteten Buden und ohne die übliche Rummelatmosphäre, aber bei fünfzehn Grad Wärme fehlte halt etwas.
"Du hattest vorhin von Balance gesprochen?"
"Hatte ich? Ach so, ja. Wegen der Schuhe! Stimmt!"
"Ich denke an eine andere Balance..."
Barbara blickte sie fragend an.
"Warum tust du es, Klaus? Warum musst du dich immer wieder in Barbara verwandeln? Ist es eine Frage der Balance? Der seelischen Balance?"
Barbara zuckte zurück. Sie wusste es nicht. Sie hatte keine Antwort. "Ich weiß es nicht. Es ist einfach so. Ich bin ausgeglichener, ruhiger, wenn ich Barbara sein kann. Reicht dir das als Antwort?"
"Nicht wirklich. Dinge sind nicht einfach so. Es gibt immer Hintergründe und Ursachen. Ich dachte nur an ein ganz anderes Problem!"
"Und das wäre?"
"Du wirst dich entscheiden müssen. Klaus oder Barbara. Du kannst nicht ewig hin und her wechseln. Das verträgt die Seele nicht. Ich... ich habe... " Sie stockte.
"Du hast was, Lyn?"
"Ich habe Männer gesehen... Männer in Frauenkleidern, die sich umgebracht hatten." Sie schwieg.
Barbara ließ den Kopf hängen.
"Es ist nicht deine Schuld, Klaus. Es ist leider unsere Gesellschaft. Sie ist noch nicht so weit. Sie möchte andere einordnen können: männlich oder weiblich? Tertium non datur! Etwas Drittes gibt es nicht!"
"Scheiß Gesellschaft." Klaus trat nach einem Stein, aber die Schenkelbänder, die er immer noch trug, hätten ihn beinahe zu Fall gebracht.
"Du könntest Politiker werden! Münchens kommender OB. Und dann kannst du ans Rednerpult treten, und sagen: Übrigens, ich bin eine Transperson! Und das ist gut so!! Ganz so wie Wowereit damals bei den Schwulen."
Sie hakte sich wieder unter. Beide bestellten einen Glühwein, bald war Weihnachten, egal welches Wetter. Aber bereits etwas vorglühen war sicherlich nicht das Schlechteste, was man machen konnte. Die Zukunft würde zeigen, welchen Weg man wählen würde.


Epilog - München, 28. Dezember

Wie schnell doch alles vorübergehen konnte! Klaus war froh, Weihnachten wieder einmal irgenwie überstanden zu haben. Er hatte einige Zeit als Barbara verbracht, dann aber wieder zu Klaus gewechselt. Natürlich erst nachdem Ingeborg Barbara aufgeschlossen hatte. Und das hatte sie wiederum erst dann getan, als auch er ihre Schlüssel herausgerückt hatte.
Eine komplizierte Beziehung hatte sich zu Ingeborg entwickelt. Beide mochten sich, ganz ohne Zweifel, beide schafften es ohne Probleme, über den Altersunterschied hinwegzusehen. Und beide genossen durchaus das Spiel mit wechselnder Dominanz und, was ihn betraf, wechselnder Identität. Generell ließ sich vielleicht sagen, Ingeborg bevorzugte Barbara, warum auch immer, wohingegen er zunehmend auch an seiner Rolle als Klaus Gefallen fand.
Einen leisen Krach hatte es allerdings gegeben, als Klaus Ingeborg notgedrungen von seinem Alleingang an jenem Abend in der kleinen Kirche erzählte; erst, als er ihr zugestand, niemand würde sie zwingen, mitzumachen, lenkte sie ein. Vielleicht nur, weil er sich als Barbara angemeldet hatte.

Weihnachten selber war wie immer ein schwieriges Fest. Wie feiert man das Fest der Familie, wenn man keine Familie mehr hatte? Zumindest nicht hier in der Nähe? Früher war es selbstverständlich gewesen, die Tage mit der Großmutter zu verbringen; jetzt aber war niemand mehr da, der Zeit oder Lust hatte, ihn einzuladen oder zu besuchen. Also tat er das, was alle taten, die in einer ähnlichen Situation waren: er kochte sich leckeres Essen, machte es sich gemütlich und zog sich diverse Weihnachtsfilme auf DVD rein, die er vorher ausgeliehen hatte. Aber er war froh, dass das Leben jetzt, nach Weihnachten, wieder seinen gewohnten Gang ging. Irgendwie müsste man noch Silvester überstehen, dann könnte man im neuen Jahr ein neues Kapitel aufschlagen!

Nachdenklich betrachtete er den Abreißkalender seiner Oma. Der Kalender war auf wenige Blättchen zusammengeschrumpft, nur jenes schwarze Pappeteil, das wie ein Dach über den traurigen Restkalender hinausragte, erinnerte noch daran, dass das Jahr einmal aus 365 Tagen bestanden hatte. Dunkel erinnerte er sich an seine Reise nach Rom, zusammen mit Andrea, der vorgegeben hatte, ihn vor der Polizei retten zu wollen. Ach ja, dann die Papstwahl! Diese Menschenmassen! Wieso brauchten die Leute immer jemanden, den sie anbeten und verehren konnten? Trug vielleicht gerade das Christentum eine Hauptschuld am aufkommenden Führerkult des Nationalsozialismus?? Fragen über Fragen.
Manchmal ist es unmöglich, Dinge sofort zu erkennen. Auch er selber hatte lange gebraucht, bis er Andreas wahre Absicht erkannt hatte! Schließlich der Schock, als seine vermeintliche Zuflucht sich in einen veritablen Kerker gewandelt und Andrea seine Maske fallen gelassen hatte. Dann seine verrückte Flucht; in München schließlich das erste Zusammentreffen mit Ingeborg. Und dieser Wahnsinn dann, noch einmal nach Rom zu fahren, um den Namen von Pater Ruprecht herauszubekommen!
Er griff das Blatt mit der Zahl 27, riss es ab und begann zu lesen, was auf der Rückseite des nächsten stand: 28. Dezember - ´Fest der....

Es klingelte. Er knüllte das Kalenderblatt zusammen und steckte es in die Hosentasche; später würde er es wegwerfen.
Es klingelte wieder. Er warf einen schnellen Blick aus dem Küchenfenster; ein Taxi stand draußen und wartete. Nanu? Er hatte kein Taxi bestellt. Es musste ein Irrtum sein.
Klaus öffnete die Tür und erwartete den Fahrer, stellte aber sofort fest, dass er sich getäuscht hatte. Eine alte Dame stand dort und sah ihn an. "Ja, bitte?"
"Gretl", sagte sie, "ich wollte..."
Klaus erschrak. Sie klang genauso, wie Annegret, seine verstorbene Oma. Es lief ihm kalt den Rücken runter. "Meine Oma ist tot. Es tut mir leid.... Sie haben den Weg umsonst gemacht."
"Ich weiß, dass meine Schwester tot ist!" Sie blickt ihn an. Ihre Augen hatten etwas Untersuchendes an sich. "Deine ist es nicht."
Ihm war unheimlich zumute. Wer war diese Frau? Sie hatte sich nicht vorgestellt.
"Hast du Zeit, Klaus? Komm, wir müssen jemanden besuchen! Komm, zieh deine Jacke an! Das Taxi wartet nicht ewig!" Sie ging an ihm vorbei, er stand starr vor Schreck, was soll das hier.... versteckte Kamera, oder was?? Sie reichte ihm seine Jacke, so als habe sie es immer schon getan. "Nun komm! Ich werde dir alles erklären. Alles wird gut!"
Er ließ es mit sich geschehen. Alles wird gut? Aber war jetzt nicht schon alles gut? Sie stiegen ins Taxi ein, setzten sich nebeneinander auf die Rückbank und schnallten sich an. Wer ist diese Frau?? Und wieso redet sie so wie meine Oma??
Es ist nicht wahr, dachte er, als das Taxi losfuhr. Die alte Dame an seiner Seite musste dem Fahrer schon vorher das Fahrtziel genannt haben. Jetzt sah sie ihn an.
"Du weißt, wer ich bin?"
"Nicht wirklich." Sein Mund hatte sich zu einem schmalen Strich verengt.
"Ich bin Gertrud. Die Tante von Christl, deiner Mutter."
Gertrud? Der Name sagte ihm nichts. Er schüttelte leise den Kopf.
"Tante Trudel! Hast du den Namen vielleicht schon einmal gehört?"
"Ja, jetzt erinnere ich mich dunkel. Mutter hatte sich manchmal mit Oma unterhalten. Sie muss dich kennen gelernt haben, als sie noch sehr klein war. Aber Oma hat nie von dir gesprochen."
Gertrud ließ ein erbittertes Lachen hören. "Ja, deine Mutter muss wohl so knapp sieben Jahre alt gewesen sein, als ich in den Jemen ging. Und dass deine Oma nie von mir gesprochen hat.... typisch! Für sie war ich das Schwarze Schaf der Familie!"
Klaus war mulmig zumute. "Ich verstehe nicht.... und wo fahren wir eigentlich hin?"
"Wir sind bald da!"

Sie fuhren schweigend weiter. Die Stadt hatte sich wieder gefüllt, heute mussten Geldgeschenke angelegt oder die üblichen missratenen Geschenke - zu große BHs und zu knappe Slips - umgetauscht werden. Aber das Taxi fuhr weiter, heraus aus der Innenstadt, bis es in einem stillen Vorort vor einem wohl nicht mehr ganz neuem Gebäude hielt.
"Wir sind da! Du bist wirklich noch nie hier gewesen, hast keine Ahnung??"
Klaus schüttelte den Kopf. "Wo sind wir hier?"
"Es ist ein Pflegeheim. Komm, steig aus. Die Besuchszeit hat gerade angefangen."

"Wir besuchen jemand?" Er war ausgestiegen und sah sich um. Das Gebäude mochte aus den 80er Jahren stammen, es wies die typische Architektur jener Jahre auf. Es sah gepflegt aus, die Grünanlagen waren ordentlich, es gab Spazierwege und Bänke; im Sommer mochte es hier richtig schön sein. Plötzlich war ihm etwas eingefallen. Er hielt seine Großtante zurück. "Wart mal bitte! Ich hatte einen Aktenordner in Omas Schreibtisch gesehen! Sie hatte wohl die Pflegepatenschaft für ein kleines Mädchen übernommen, Martha oder so ähnlich. Lebt sie hier?"
"Ja." Die Antwort fiel knapp aus; Gertrud war ihm schon vorausgeeilt.
"Was ist denn mit ihr? Warum lebt sie nicht bei ihren Eltern?"
"Sie ist behindert. Und sie lebt hier, weil ihre Eltern....." Sie verstummte. Sie blieb stehen. Klaus sah, dass sie einen Moment so aussah, als könnte sie jeden Augenblick tot umfallen.
"Weil ihre Eltern... was?"
"Weil ihre Eltern sie nicht haben wollten!"
Sie hatte sich wieder gefangen. Öffnete die Tür, ging zur Anmeldung, fragte nach der richtigen Abteilung. Dann ging sie wieder voran. Klaus merkte, dass etwas nicht stimmte. Die Gänge verengten sich vor seinen Augen, alles begann sich zu drehen. Er musste sich an einem der langen Geländer festhalten, die in allen Fluren angebracht waren. "Warte bitte!"
"Was ist? Ist dir schlecht?"

Waren es die Worte, die ihm plötzlich so zugesetzt hatten? Behindert.... Er hatte seine behinderte Schwester ins Verderben gestürzt. "Ich... ich weiß nicht. Es ist.... ich will...." Er begann, dummes Zeug zu stottern.
Zum ersten Mal nahm Gertrud ihn jetzt in den Arm. "Komm, wir sind gleich da! Sie wird sich freuen..." Sie nahm seine Hand, zog ihn langsam mit sich.

Sie gelangten an eine Glastür. Sie mussten klingeln, eine Schwester kam und öffnete von innen. " Schön, dass Sie da sind! Magda wird sich bestimmt freuen!"
Sie ließ die beiden passieren und wandte sich zum Gehen. Klaus ergriff ihren Arm und hielt sie zurück. "Schwester! Wartet sie schon auf uns?"
Sie blieb stehen und sah Klaus fragend an. "Nein. Nein sie wartet nicht. Sie wartet nie auf jemanden. Sie hat auch nie viel Besuch bekommen. Ab und zu kam ihre Großmutter vorbei...."
"Meine Schwester", sagte Gertrud leise.
Sie gingen weiter. Ihre Großmutter...., hallte es in Klaus Kopf wieder. Und plötzlich merkte er, wie seine Augen feucht wurden. Hatte das Herz etwas erkannt, was der Kopf immer noch nicht sehen konnte?

Sie betraten ein geräumiges, hübsch eingerichtetes Zimmer. Ein großes Fenster bot einen schönen Blick nach draußen; Klaus registrierte die abschließbaren Fenstergriffe. Eine junge Frau, kaum älter als er selber, saß an einem Schreibtisch und versuchte, einen Turm aus wackeligen Bauklötzen zu errichten, der aber scheinbar immer wieder zusammenfiel.
Ein kleines Mädchen war nicht im Zimmer. Klaus war irritiert. Fragend sah er seine Großtante an.
"Ena helfen!!" Die junge Frau hielt ihm einen der Bauklötze hin. "Laus helfen!!"
Er streckte seine Hand aus. Tränen flossen ihm über die Wangen. Erinnerte er sich??
Er sah sich um. Die Schwester hatte schon ein Taschentuch in der Hand; auch Gertrud suchte in ihrer Handtasche nach einem. "Komm, Klaus! Hilf deiner Schwester!"
"Meiner Schwester??"
"Ja. Ihre Schwester." sagte die Krankenschwester. "Ihre Schwester Magdalena!"


Es war einige Stunden später. Klaus steckte seinen Schlüssel ins Türschloss und schloss auf. Er ließ seine Großtante zuerst eintreten. Sie hatten, nach dem Besuch bei Klaus Schwester Magdalena, zuerst in der Stadt Mittag gegessen, dann hatten sie Kuchen gekauft und jetzt hatte er Gertrud zum Kaffee eingeladen. Er hatte woh selten zuvor in seinem Leben so viele offene Fragen gehabt, wie heute.
Jetzt hatte er Kaffee gemahlen, eine Filtertüte in den Trichter getan und Wasser mit dem neu angeschafften Wasserkocher gekocht. Seine Oma hatte immer noch, ganz altmodisch, einen Kessel und die Herdplatte benutzt. Eine Kaffemaschine hatte sie nie besessen, Klaus wollte davon auch nichts wissen.
"Wusstest du, dass Oma, dass deine Schwester gestorben war? Sie war ja immerhin deine Schwester..., aber zur Beerdigung bist du nicht gekommen! Wo hast du überhaupt gesteckt, und wieso tauchst du jetzt plötzlich auf? Lebst du hier in München? Allein??"
Gertrud hätte sich beinahe an ihrem Kuchen verschluckt. "Immer langsam! Hübsch der Reihe nach!"
"Entschuldige bitte! Ich bin, also ich bin immer noch total erschüttert! Vor wenigen Wochen hatte ich noch gar nicht gewusst, dass ich überhaupt eine Schwester hatte. Dann glaubte ich, ich hätte sie umgebracht - nicht absichtlich natürlich, aber halt in kindlicher Ungestümtheit. Und jetzt.... das hier!" Er trank einen Schluck Kaffe, er war ihm gut gelungen. Aber seinen Kuchen hatte er noch nicht angerührt. "Glaubst du...., glaubst du, sie hat mich erkannt? ´Laus helfen!´ Du hast es doch auch gehört."
Gertrud zuckte leicht mit den Schultern. "Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Das kann wohl keiner so genau wissen. Aber, nun ja, ganz blöd ist sie ja nicht."
"Die Schwester sagte, sie sei in etwa auf der Stufe einer Zweijährigen stehen geblieben. Weißt du mehr, Gertrud?"
"Ach, nenn mich doch bitte lieber Tante Trudel. Das kommt mir natürlicher vor, auch wenn ich technisch gesehen deine Großtante bin!" Sie lächelte. "Also, mal der Reihe nach. Nein, vom Tode deine Oma habe ich nichts gewusst. Ich erfuhr es erst neulich, ganz durch Zufall. Weißt du, deine Großmutter und ich hatten uns schon vor sehr vielen Jahren auseinandergelebt. Im Grunde genommen fing das schon während des Krieges an. Wir wohnten damals in recht ärmlichen Verhältnissen im Bayrischen Wald. Ich war im BDM - Bund Deutscher Mädel, eine glühende Anhängerin des Führers! Wie fast alle damals. Es war für viele von uns eine schöne Zeit. Ich weiß auch noch, wie ich immer die Sondermeldungen im Radio hörte und Fähnchen auf eine Russlandkarte steckte. Bis schließlich alles zusammenbrach. Ich war fünfzehn als wir den Krieg verloren hatten, fünf Jahre älter als Gretl. Für mich brach damals eine Welt zusammen, für sie nicht. Was hatte ich denn schon gelernt, außer Heil-Schreien und den Arm hochzureißen und das Horst-Wessel-Lied zu singen. Für mich waren die Amerikaner der Feind, für Gretl hingegen die Befreier. Ich weiß nicht, sie hat vielleicht auch andere Dinge erlebt, als ich. Sie war insgesamt ein viel angepassterer Mensch, als ich. Und immer diese Frömmelei! Furchtbar!"

Klaus probierte von seinem Kuchen. Der war nicht schlecht. "Habt ihr euch deswegen zerstritten?"
"Nein, der Bruch kam erst Jahre später. Ich heiratete Mitte der 50er Jahre, mein Mann wurde beruflich nach Berlin versetzt; ich ging mit ihm. Aber während es für ihn beruflich aufwärts ging, ging es für mich abwärts. Ich hatte bestimmt keine Lust, Frau Doktor Dieter sowieso zu sein. Die Rolle der treusorgenden Hausfrau passte mir überhaupt nicht. Verstehst du, ich wollte teilhaben am Leben, mitdenken, mitreden! Nach knapp zehn Jahren ließen wir uns scheiden und ich fing an, Soziologie und Politikwissenschaft an der F.U. zu studieren. D a s war eine tolle Zeit dann!"
"Better late than never!" Klaus schenkte Kaffee nach.
Seine Großtante lachte. "Ja, da hast du wirklich recht! Schöner Spruch! Aber weißt du, Sprüche hatten wir auch, jede Menge! ´Wer öfters mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!´ Solche Sachen! Unsere ganze Generation war ja voll davon...." Sie sinnierte einen Moment, nannte aber keinen. "Alles dummes Zeug! Bis vielleicht auf einen: ´Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht´. Ja, so war das damals. Eine sehr unruhige Zeit."
"Widerstand, Tante Trudel?"
"Ja. Weißt du, wir hatten die Schnauze voll von diesen ganzen alten Nazis...."
"Aber du warst doch selber Nazi!!", unterbrach Klaus sie.
"Ach Junge...!" Die alte Dame schüttelte mitleidig den Kopf. "Damals waren doch alle Nazis! Es gab ja nichts anderes! Vielleicht noch die Kirche, aber viel besser war die auch nicht. Und obendrein noch so langweilig! Die ganzen Messen auf Latein, was niemand verstand!"
"Aber die christliche Botschaft der Nächstenliebe ist doch wohl allemal besser, als der Hass, den die Nazis predigten," warf Klaus ein.
Seine Großtante sah ihn mit mitleidigem Blick an. "Nächstenliebe.... Hass! Was weißt du denn? Glaube mal bloß nicht, die Katholiken hätten protestantische Mitbürger geliebt. In deren Augen waren die doch kaum besser als Heiden. Und ´Hass´? Wen sollten wir denn in unserem Dorf hassen? Etwa Juden? Gab es doch gar nicht! Das mag eher eine Sache in den Städten gewesen sein, wenn überhaupt. Glaube mir, unsere Welt war damals voller Liebe.... wir liebten den deutschen Wald, die deutsche Mutter, das deutsche Lied..... Und wir alle, jung und alt, liebten den Führer...." Sie schüttelte schwach den Kopf. "Kann man sich heute ja gar nicht mehr vorstellen....Die Nazis verstand man wenigstens: Ein Volk, ein Reich, ein Führer! Was brauchten wir denn mehr? Nein, eigentlich waren alle damals Nazis. Und wenn einer es nicht war, dann war er entweder tot oder längst schon ins Ausland emigriert. Ich sage dir, die Macht des Pöbels ist schlimmer als die des Gewissens! Wenn du eben nicht emigrieren kannst, dann hast du eigentlich keine Wahl mehr!"

"Oder in Dachau," fügte Klaus hinzu. "Aber irgendwie klingt das jetzt, als wärst du zu den Sozis gegangen, damals, im Studium. Das geht doch gar nicht!"
"Willst du mir Vorwürfe machen? Du hast ja gar keine Ahnung, was alles geht? Ich sage dir, die Leute wechseln ihr Mäntelchen schneller als man glaubt! 1933 sind viele Kommunisten zu den Nazis gegangen, später dann, in der DDR, sind viele Nazis zu den Kommunisten gegangen."
"Wie alt warst du damals eigentlich? Wohl auch nicht mehr so ganz jung, oder?"
"Der Mensch ist immer so alt, wie er sich fühlt. Glaube mir, nach meiner Scheidung fing das Leben für mich ja erst so richtig an! Ich war 35, als ich mit dem Studium anfing. Die ersten Semester waren noch relativ ruhig, aber dann kam dieser ganze Schlamassel mit Benno Ohnesorg, der Kampf gegen die US-Imperialisten in Vietnam, die Kriegstreiber auf der Hardhöhe. Dann das Attentat gegen Rudi Dutschke... Weißt du, da kam einfach alles zusammen. Der Sechstage-Krieg in Israel, die Unterdrückung des palästinensischen Volks... irgendwann musste einfach gehandelt werden!"
"Gehandelt??"
"Action speaks louder than words, Klaus! Es wurden Texte von Ulrike Meinhof verbreitet..."
"Ach ja! Rote Armee Fraktion!" Mein Gott, wann war das? Vor über 40 Jahren...., überlegte Klaus.
"Wir wollten die Welt verbessern, Klaus. Und Ulrike war die Erste, die uns dazu kluge Gedanken vermittelte. Die Frau war nicht doof..."
"Du warst in der R.A.F.??"
"Ein kleiner Fisch, weiter nichts. Ein Wasserträger, wenn du so willst."
"Wasserflaschen werden es ja wohl nicht gerade gewesen sein, die du nach vorne gebracht hast!" Er konnte es nicht glauben, das hier war viel zu verrückt.
"Natürlich nicht! Ich hatte Verbindungen zwischen einzelnen Zellen hergestellt. Briefe transportiert. Manchmal Geld."
"Gleich von Anfang an? Bei der ersten Generation hast du schon mitgemacht? Baader, Meinhoff, Raspe, Ensslin....Ich glaub es nicht...." Klaus war sprachlos.
"Sagen wir statt erster Generation lieber dritte Garde! Leute, die immer im Hintergrund blieben, die nie auf Fahndungslisten auftauchten."
"Aber...", Klaus holte Luft, "beim Briefe transportieren ist es dann nicht geblieben, nicht wahr?"
"Nein. Wir hatten angefangen, das Gewaltmonopol des Staates in Frage zu stellen. Und dann gab es eigentlich nur noch eine Konsequenz..."
"Der bewaffnete Kampf!"
"Ja, du sagst es. Natürlich ging das nicht alles von heute auf morgen, das hat schon seine Zeit gedauert. Und natürlich hatte niemand von uns Ahnung, wie man mit den ganzen Sachen umgeht; Pistolen, Sprengstoffe und so. Wir mussten das erst lernen. Da sind wir dann nach Jordanien gereist, dort bekamen wir eine Art militärischer Grundausbildung."
Klaus starrte die alte Dame sprachlos an. "Warst du nicht schon etwas zu alt für dieses Zeug...., diesen Kampf, wie du es nennst?"
Gertrud schüttelte den Kopf. "Wieso? Ich war vier Jahre älter als Ulrike Meinhof. Aber wie gesagt, ich war nie an Attentaten und diesen Dingen beteiligt."
"Willst du dich freisprechen?"
"Nein. Will ich gar nicht. Ich habe auch schwere Schuld auf mich genommen. Aber in unserer Rechtsprechung ist es immer noch ein Unterschied, ob man Briefe transportiert, deren Inhalt man nicht einmal kannte, oder ob man den Abzug einer Waffe durchzieht. So sehe ich es zumindest."
"Ansichtssache", flüsterte Klaus.
"Alles im Leben ist Ansichtssache! Wie gesagt, wie wollten, wenn auch nicht gleich die ganze Welt, so doch aber die Bundesrepublik verändern..."
"Was euch ja auch gelungen ist! Ich sage nur Notstandsgesetze, Radikalenerlass, Überwachung an allen Ecken und Enden..."
"Nein, es ist uns nicht gelungen. Leider. Was du beschreibst war nur die Reaktion der herrschenden Klasse, damit hatten wir nichts zu tun. Wir wollten Strukturen verändern, Ansichten und Einsichten. Aber das ist uns nicht gelungen. Nicht einmal durch den bewaffneten Kampf!"
"Terror! Ihr habt Unschuldige ermordet! Aber das scheint ihr ja bis heute nicht begriffen zu haben!"
Gertrud schwieg. Sie nahm einen letzten Schluck Kaffee, er war kalt geworden, sie setzte die Tasse etwas heftiger ab, als sie es beabsichtigt hatte. "Ja, vielleicht hast du recht. Nach Ulrikes Verhaftung änderte sich alles. Es fehlte uns jene Leitfigur, die sie zu Anfang des Widerstands gewesen ist!"
"Widerstand!! Wenn ich das schon höre! Klingt ja fast, als wolltet ihr euch auf eine Stufe mit den Attentätern vom 20. Juli gleichstellen!"
Sie brauchte nicht lange zu überlegen. "Ja, da hast du recht. Viele von uns sahen es wohl so. Aber du kannst diese Zeit nicht begreifen, wenn du nicht selber in ihr gelebt hast, Klaus!"
Gertrud zog sich ihre Strickjacke fester um die Taille. "Eigentlich war es da schon alles aus. Ulrike wurde 1972 verhaftet, ebenso wie Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Ich hatte irgendwie Glück gehabt, holte Geld aus einem unserer Depots und verließ das Land. Ich reiste lange in der Weltgeschichte herum, Jemen, Indien, Nepal. und kam dann wieder zurück und ging in die DDR. Das war Anfang der 80er Jahre. Es ist mir immer noch schleierhaft, wieso ich nicht, so wie die Albrecht, die Viett und die anderen, aufgeflogen bin. Aber, wie gesagt, ich war ja nur ein Helfer im Hintergrund."
"Ganz schön verrückt", murmelte Klaus. Langsam hatte er an diesem einen Tag mehr zu hören bekommen, als er glaubte, verkraften zu können. "Und dann, nach dem Fall der Mauer 1989? Da war es dann vorbei mit dem revolutionären Eifer? Bist du dann wieder nach München zurückgekommen?"
"Nein," antwortete seine Großtante leise, aber bestimmt. "Der revolutionäre Eifer ist nie untergegangen. Aber ich musste einsehen, dass es sinnlos war, von einer Revolution zu träumen, solange die Menschen selbst die Schwächsten in der Gesellschaft unterdrücken! Und alle tun es! Nazis, Sozis, Kommunisten, Kapitalisten, Christen, Atheisten...."

Klaus sah Gertrud fragend an. "Wovon redest du?"
"Hast du dich nie gefragt, wieso die Ehe deiner Eltern in die Brüche gegangen ist?"
Klaus zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf.
"Deine Schwester.... Diese ganze große Schwindelnummer, die sie dir vorgespielt haben..."
"Ich vermute, sie wollten mich beschützen. Sie müssen geglaubt haben, es sei leichter, mir den Tod meiner Schwester vorzugaukeln, als mich jedes Mal, bei jedem Besuch, wieder daran zu erinnern, dass ich Schuld an ihrem Schicksal hatte?"
"Du hast keine Schuld, Klaus! Du nicht! Hast du dich noch nicht gefragt, wieso deine Schwester behindert war?"
I c h h a be k e i n e S c h u l d Klaus glaubte nicht recht gehört zu haben. Wieso soll ich keine Schuld haben? Ich habe sie doch die verdammte Treppe hinuntergestoßen! "Ich... ich verstehe nicht. Wieso soll ich keine Schuld an ihrem Schicksal haben?" Verunsichert blickte er seine Großtante an.
"Erinnerst du dich noch, was die Pflegerin gesagt hatte?"
Klaus schüttelte den Kopf. "Nein, es war alles so viel..."
"Sie sagte, deine Schwester sei auf dem geistigen Niveau einer Zwei- bis Dreijährigen stehen geblieben. Sie war ja bereits ein behindertes Kind, als das mit der Treppe geschah."
"Äh, ja. Muss wohl. Aber, wieso war sie eigentlich behindert?"
Die alte Frau wich seinem Blick aus. Klaus sah, wie ihre Hand sich verkrampfte und zitternd zur Faust ballte. Aber sie schwieg.
"Gertrud! Wieso war meine Schwester behindert?"
Sie sah auf ihre Uhr, schüttelte den Kopf. "Du weißt es also nicht.....?"
"Ich weiß gar nichts!! Aber wenn du es weißt...., du musst es mir sagen! Was war geschehen? Hatte sie einen Unfall gehabt??" Ohne es zu merken hatte er den Arm seiner Großtante ergriffen und zu sich hingezogen.
Gertrud sah ihn an, alle Farbe war aus ihrem alten Gesicht gewichen. Klaus spürte, wie ihm das Blut sprichwörtlich in den Adern gefror.

Leise begann sie zu sprechen. "Deine Eltern...., nein, mit deinem Vater hat es angefangen. Kriegsfolgen, weißt du...."
"Kriegsfolgen? Was denn für Kriegsfolgen? Vater ist 1960 geboren. Der hat doch nie was vom Krieg mitbekommen!"
"Er nicht. Aber sein Vater. Dein Großvater. Er hat als kleines Kind den Krieg mitbekommen. Wann war er geboren..., wart mal, ´35 glaube ich. Ja, der hat hier in München die schweren Angriffe miterlebt; er hat viele Nächte im Bunker gesessen."
Klaus unterbrach sie. "Aber jetzt verstehe ich rein gar nichts mehr. Was soll denn Opa jetzt damit zu tun haben?"
"Ach," sagte sie, "ich weiß, das ist schwierig zu verstehen. Dein Opa hatte als Kind im Bunker gelernt, dass Kinder nicht schreien dürfen. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! Das galt ganz besonders für Kinder. Da waren ja immer viele Kinder mit im Bunker, ich erinnere mich sehr gut. So etwas vergisst man nicht. Und ich sage dir, wenn eines anfing zu schreien, dann schrie bald die ganze Meute. Die armen Leute da im Bunker, die waren doch alle starr vor Angst! Ich sage dir, ein Volltreffer auf den Bunker, und alle wären mausetot gewesen! Hat es oft genug gegeben. Jeder wusste, dieser Angriff könnte der letzte sein. Stell dir mal so einen Bunker vor, dreifach belegt, über tausend Leute, die Luft knapp, die Beleuchtung schwach. Von draußen immer wieder der Lärm der explodierenden Bomben und Luftminen. Man könnte genau hören, wenn sie näher kamen. Und dann der Gestank! Überfüllte, verstopfte Toiletten, Menschen die vor lauter Angst nicht mehr an sich halten konnten... es war grauenvoll. Und wenn dann noch schreiende Kinder dazu kamen, dann war es die Hölle auf Erden. Bei jedem Angriff gab es Leute, die nur noch tot aus dem Bunker herauskamen!"
"Ja, das war bestimmt schrecklich. Aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit Magdalena zu tun hat!"
"Deine kleine Schwester war ein sehr unruhiges Kind. Sie schrie sehr viel...."
"Ja?" Klaus packte sie wieder am Arm.
"Dein Vater.... er, er hatte es von seinem Vater gelernt: Kinder dürfen nicht schreien! Er hat sie geschüttelt, wieder und immer wieder, bis sie still war." Tränen liefen ihr über die Wangen.
"Oh mein Gott! Aber, das ist doch verrückt. Vater hat doch nie in so einem Bunker gesessen!!"
"Er nicht. Aber sein Vater. Und das Trauma, das dieser damals erlebt hat, hat er unbearbeitet an deinen Vater weitervererbt."
Klaus sah sie an, schüttelte den Kopf. "Nein...."
"Doch Klaus, das gibt es. Leider. Aber damit nicht genug. Auch deine Mutter hatte Probleme mit deiner Schwester. Sie hatte keine Geduld, explodierte in wahren Gewaltorgien, wenn das Kind nicht spurte. Sie hat sie an den Schultern gepackt und mit dem Kopf gegen die Wand geknallt, wenn sie nicht weiterwusste. Deswegen ist deine Schwester behindert. Jetzt weißt du es, Klaus." Sie sackte zusammen.

Es war unfassbar. Nein, ich glaube es einfach nicht!, dachte er, keiner weiteren Regung fähig. "Woher weißt du es?" Skepsis schwang in seinen Worten mit.
"Sagen wir einfach, ich weiß es", antwortet die alte Frau müde.
"Nein." Klaus protestierte. "Nein, Gertrud, das reicht mir nicht. Du erhebst ungeheuerliche Vorwürfe gegen meine Eltern... woher willst du das alles wissen? Bist du selber dabeigewesen? Und warst du nicht eigentlich in der DDR geblieben?"
"Die DDR gab es da schon lange nicht mehr. Ich kam 1990 zurück nach München. Versuchte irgendwann einmal, Kontakt zu meiner Schwester aufzunehmen. Lernte Leute kennen, die mit ihr und deinen Eltern befreundet waren. Sie hatten es gesehen, auch wenn sich deine Eltern immer Mühe gegeben hatten, nicht aufzufallen..."
"Aber so etwas muss doch auffallen!" Klaus schlug mit der Faust auf den Tisch. Im Kindergarten, oder bei ärztlichen Untersuchungen. Und wieso hat denn da nie jemand Anzeige erstattet?"
Gertrud gab einen langen Seufzer von sich. "Vergiss nicht: dein Vater hatte hier studiert, hier in München. Er kannte viele Leute noch aus seiner Studienzeit. Und im Kindergarten ist deine Schwester nie gewesen.
Ein Albtraum, dachte er. Ich habe nur einen schlimmen Albtraum! "Und dann habe ich sie die Treppe hinuntergestoßen, Lenchen kam ins Pflegeheim, mir gaukelte man vor, sie sei gestorben, und dann ließen die Eltern sich scheiden und Mutter ging mit mir nach Italien. Großmutter übernahm alles, was mit Lenchen zusammenhing, und als ich dann ins schulpflichtige Alter kam und Mutter die Stelle bei Radio Vatikan bekam, dann übernahm Großmutter mich auch noch, bis ich dann auf dieses Internat abgeschoben werden konnte!" Er schüttelte den Kopf, es war jetzt mehr, als er verkraften konnte.

"Ja, Klaus, so in etwa war es. Eine schlimme Zeit. Deine Eltern hielten es nicht mehr aus, dem Anderen ins Gesicht zu blicken. Sie sahen, wie in einem Spiegel, immer nur ihre eigene Schuld. Und die wollten sie nicht sehen. Es war, nach Magdalenas schrecklichem Unfall, klar, dass deine Eltern nicht zusammenbleiben konnten."
"Aber... aber, du sprachst von einem Trauma. Dann hat zumindest Vater wohl keine Schuld an seinem Verhalten?"
"Doch, Klaus, die hat er. Das unbewusst an ihn weitervererbte Trauma befreit ihn nicht von seiner persönlichen Schuld. Was er getan hat ist ein unentschuldbares Verbrechen. Wir können uns nicht immer freikaufen, indem wir die Geister der Vergangenheit bemühen. Ein jeder Mensch ist für sein Tun und Handeln verantwortlich! Unschuldig sind allein die Kinder...."

Die alte Dame raffte sich auf. "Es ist spät geworden. Rufst du mir bitte ein Taxi, Klaus?"
Er überhörte ihre Bitte. "Und ich? Wie bin ich damit fertig geworden? Nachdem man mir also vorgemacht hatte, meine Schwester sei gestorben?"
Sie sah ihn an, so als erblickte sie ihn gerade zum ersten Mal. "Du? Du hattest angefangen, ins Bett zu machen und aufgehört, zu sprechen. Besser wurde es erst, als du die Sachen deiner Schwester für dich entdecktest!"
"Ihre Sachen? Du meinst ihre Spielsachen?"
"Nein. Nicht ihre Spielsachen. Ihre Sachen... ihre Kleider und Röcke. Du hattest sie angezogen. Wenn du sie trugst, dann schien es dir gut zu gehen. Dann redetest du auch wieder. Deine Mutter fand das ganz in Ordnung, aber für deinen Vater war das letztendlich Grund genug, die Scheidung einzureichen. Natürlich nur ein billiger, für ihn willkommener Vorwand, vor seiner eigenen Verantwortung fliehen zu können!" Sie stand auf. "So, ich muss dann mal so langsam. Komm, ruf mir bitte mal ein Taxi, ich muss sehen, nach Hause zu kommen.

Das Taxi kam wenig später. Sie verabschiedeten sich voneinander, nachdem Gertrud Klaus ihre Adresse gegeben hatte. Sie wollten sich wiedertreffen.
Klaus schloss die Tür hinter sich; er hatte dem Taxi und seiner Großtante lange hinterhergewunken. Neue Bänder waren an diesem Tag geknüpft worden, aber andere schienen für immer zerstört.
Es war dunkel im Haus. Er würde Licht machen müssen....
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56. RE: Schuld (Fortsetzung von ´Agonie´)

geschrieben von Daniela 20 am 13.11.17 13:38

13.11.2017

Liebe Leser! In wenigen Wochen werde ich hier im Forum den fünften und

abschließenden 'Band' meiner München-Trilogie vorstellen - was diese somit zu einer

Pentalogie macht.

Wie immer wird es den Winter hindurch jeden Sonntagabend um 22 Uhr ein neues

Kapitel geben. Meine Begründung für diesen Termin ist einfach: Macht Euch erst ein

schönes Wochenende! Kümmert Euch um Familie und Freunde, gern auch etwas um

ein gemütliches Zuhause. Und zum Schluss dann gibt es von mir ein wenig zur

'geistigen Erbauung'.... hihi.

Teil 5 unter dem Titel "Versöhnung" setzt, zum besseren Verständnis, die Kenntnis der

ersten vier Teile voraus. (Zuspätgekommene werden bei mir nicht vom Leben bestraft!)

Klar, lesen kann man den neuen Teil auch ohne Vorkenntnis, aber besser ist es schon,

wenn man weiß, warum alles so kommt, wie es kommen musste.

Um es dem Leser einfacher zu machen, möchte ich nun hier die Teile "Herbstferien"

(1.Teil), "Frust" (2.Teil), "Agonie" (3.Teil) und "Schuld" (4.Teil) ein wenig nach vorne

bringen.

Wenn Ihr Meinungen oder Kritik habt, schreibt sie bitte nicht hier, sondern in der

Rubrik 'Diskussion über Stories', unter der Überschrift 'München-Trilogie'!

Herzlichen Dank und bis bald!

Eure Daniela 20


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