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Thema:
eröffnet von beitlamed am 08.11.18 10:48
letzter Beitrag von Bulli31 am 09.11.18 18:44

1. Ein Modell von Kontrolle

geschrieben von beitlamed am 08.11.18 10:48

Ich bin unlängst über ein Buch gestolpert, in dem der Autor ein Modell von "Kontrolle" entwickelt, das ich recht elegant und interessant finde. (Peter Masters: The Control Book, Amazon.de)

Die Idee ist, dass im Alltag - wie auch in D/s Beziehungen - ständig ein Austausch von Kontrolle/Macht/Submission stattfindet. (Es geht nur um konsensuellen Machtaustausch, Gewalt ist ein anderes Thema.) Kontrolle ist in diesem Modell immer begrenzt und an einen Kontext gebunden, es gibt keine vollkommene und allumfassende Machtübergabe.

(Ich nehme an, dass der Autor die Idee im Prinzip aus der Transaktionsanalyse hat, aber er sagt es selbst nicht.)

Es gibt in diesem Modell vier Stufen, die immer in derselben Reihenfolge passieren. Der Prozess kann an jeder Stelle abbrechen, aber die einzelnen Stufen können nicht vertauscht werden.

Hier sind die Stufen:



  1. Sub bietet Kontrolle an
  2. Dom nimmt Kontrolle an
  3. Sub gibt Kontrolle auf
  4. Dom akzeptiert und vertieft Kontrolle


Der erste Schritt passiert im Alltag oft implizit: Du setzt dich beim Arzt ins Wartezimmer und wartest darauf, dass du aufgerufen wirst. Damit hast du die Kontrolle angeboten, einfach indem du dich in die Situation begibst.

Andererseits, wenn Sub beim Eintritt von Top niederkniet, ist das eben sehr explizit. Und wenn Top ins Zimmer kommt und Sub an den Haaren durch die Wohnung schleift, dann hat das Kontrollangebot (hoffentlich!) vorher irgendwann explizit stattgefunden, und jetzt ist es implizit gegeben.

Schritte 3 und 4 werden natürlich nur in D/s Situationen passieren. In Schritt 3 geht Sub quasi in den Subspace, also gibt sich mental der Kontrolle durch Top hin. Schritt 4 ist wichtig, um die Machtübergabe aufrechtzuerhalten: Der Machtunterschied muss immer wieder hergestellt werden.

Ich finde das Modell sehr erhellend, weil es eine Brücke schlägt zwischen ganz normalen Alltagssituationen und D/s, weil es die ganze Machtdynamik "normalisiert" und dadurch leichter fassbar macht, weniger "schrecklich". Und dadurch kann man dann auch leichter darüber reden. Finde ich gut.

Es ist natürlich nur ein Modell, keine "Wahrheit". Man kann es benutzen, oder halt nicht.
2. RE: Ein Modell von Kontrolle

geschrieben von Bulli31 am 08.11.18 23:49

Hmm, interessant das so zu sehen.

0.A: Nur konsensueller Machtaustausch
0.A.I: Es gilt die Intention von Sub, die mit den Wünschen von Top übereinstimmt
0.A.II: Die Intentionen können sich durch einen Orgasmus ändern (provoziert Abbruch)
0.A.III: Verhandlungen über den konsensuellen Bereich sind vor Stufe 1 durchzuführen
0.B: Physische Gewalt ist ausgeschlossen
0.C: Psychische Gewalt ist eingeschlossen
0.D: Kontrolle ist in diesem Modell immer begrenzt
0.E: Kontrolle ist an einen Kontext gebunden
0.F: vollkommene und allumfassende Machtübergabe ist ausgeschlossen
0.F.I: Das Ende von Stufe 4 ist absehbar oder geplant

Die Frage ist immer die Definition des konsensuellen Bereichs und dessen unveränderte Fortschreibung bis zum Ende von Stufe 4.
Oben habe ich mal versucht die Problematik aufzuzeigen.

Beispiel: Besuch beim Arzt
Wenn man die Hilfe eines Arztes sucht (Phase 1, 2 u. 3), bestimmt der Arzt danach über Dein Leben (Phase 4). Ohne Safeword und ohne Rücksicht auf den konsensuellen Bereich. Ich hatte mal eine Entzündung am Bein. Ich bin am Ort meines Arbeitsplatzes ins KH, weil mir gesagt wurde, dass das böse aussieht. Mein Arzt nahm nachmittags keine Patienten an. Im KH bekam ich erste Versorgung und der Arzt meinte, dass er mich sofort stationär aufnehmen wollte. Ich konnte ihn runter handeln, so dass ich im KH am Wohnort vorstellig werden konnte. Dort wurde die Versorgung kontrolliert und eine Spritze gegen Entzündungen gesetzt. Eine Woche Bettruhe. Der Arzt aus dem ersten KH hatte dann später angefragt ob ich vorstellig geworden bin, sonst, so hatte er es mir erklärt, wäre er gesetzlich dazu verpflichtet gewesen mich von der Polizei verhaften zu lassen, um mich in Handschellen zur Wundversorgung ins KH (oder Psychiatrie) bringen zu lassen. Und bei Widerstand gibt's einen Gerichtsprozess.

So ist das ... wenn ein Arzt meint, man spiele mit dem eigenen Leben ... übernimmt jemand anderes die Kontrolle.
Meine Güte, ich hatte in meinem Leben schon so viele ungewollte starke Schmerzen, die den Ärzten am Axxxx vorbei gingen ... und jede Grippe ist schlimmer ... aber ... wegen so ein bisschen geröteter Haut am Bein läuft man sofort Gefahr entmündigt zu werden.
*kopfschüttel*

Aber das ist das reale Leben. Das ist kein Ponyhof und keine konsensuelle BDSM-Session.

Im BDSM kann man sich anderes "leisten".
Wenn man da Mist baut, muss sich Top oder Sub höchstens einen anderen Sub oder Top suchen.

Auf jeden Fall ein schöner Fund, auch wenn die Rahmenbedingungen zu den Schritten die Schwierigkeit sind.
3. RE: Ein Modell von Kontrolle

geschrieben von EXTREM-shop am 09.11.18 07:44

Hallo Bulli

den Hinweis des Arztes auf "Verhaftung" finde ich doch etwas fehl am Platz. Für mich wäre das die Überlegung ( ?? ) den Arzt wegen Nötigung zu belangen.

Arzt hätte sich ja auch von Dir eine Bestätigung unterschreiben lassen können, dass Du auf eigene Verantwortung dies und das ablehnt. M. E ist der Hinweis auf Polizei nur dann angebracht, wenn Gefahr für Dritte besteht ( Ebola, Pest .... )

4. RE: Ein Modell von Kontrolle

geschrieben von beitlamed am 09.11.18 08:25

Zitat

So ist das ... wenn ein Arzt meint, man spiele mit dem eigenen Leben ... übernimmt jemand anderes die Kontrolle.


Ja. Also ich muss jetzt nicht alles partout in dieses eine Modell integrieren, und ich glaube auch gar nicht, dass der Wert des Modells ist, alles integrieren zu können - sondern eben, genau diese Unterschiede besser formulieren zu können. Es gilt, in der Form wie ich es beschrieben habe, nur dort, wo Konsens besteht. Unter manchen Umständen erklären wir Leute als nicht konsensfähig und nehmen ihnen einfach die Entscheidung ab - ob man das jetzt gut findet, ist eine andere Frage.

(Wenn ich wirklich wirklich wollte, könnte ich deine Arztsituation vermutlich in das Modell integrieren... zB indem ich die einzelnen "Situationen" auf nur ein paar Sätze reduziere... naja, das wäre halt eine nette intellektuelle Hausübung, witzig aber nicht unbedingt sinnvoll.)

Das wirklich Interessante - für mich - ist, dass der erste Schritt trotzdem erhalten bleibt. Wir alle wissen, dass Ärzte so etwas dürfen, und wir begeben uns bewusst in die Situation, wo wir die Kontrolle anbieten.

Man könnte, vermute ich, sogar sagen, dass dieser erste Schritt bei jeder nicht gewaltsamen zwischenmenschlichen Interaktion immer passiert. Und der zweite im Grunde auch. Einer ist immer sub zum andern, und das ist auch nicht schlecht oder demütigend oder sowas, sondern einfach nur Teil der Kommunikation. Und es kann sich von Situation zu Situation umdrehen: "Sub" beim Arzt wird im Büro zum "Top": "Meier - kommen Sie in mein Büro".

Ich hege die Vermutung, dass Kommunikation insgesamt besser wird, wenn man das im Hinterkopf hat.

Die Grenze zum BDSM verläuft für mich exakt zwischen 2. und 3. Schritt.

Zitat

Meine Güte, ich hatte in meinem Leben schon so viele ungewollte starke Schmerzen, die den Ärzten am Axxxx vorbei gingen ... und jede Grippe ist schlimmer ... aber ... wegen so ein bisschen geröteter Haut am Bein läuft man sofort Gefahr entmündigt zu werden.
*kopfschüttel*


Ich kenne die genauen Bedingungen natürlich nicht, aber das generelle Prinzip ist, wenn ein Arzt beschließt, dich ins Krankenhaus einzuweisen, dann hast du das zu befolgen und es wird zur Not mit Gewalt durchgesetzt - und das ist auch gut so.

(Edit: Das stimmt so, glaube ich, nicht, solange sie dich nicht wirklich für unmündig erklären - aber es ist generell trotzdem gut, ins Spital zu gehen, wenn der Arzt das für nötig hält.)

Die Kerle wissen im großen und ganzen schon recht gut, was sie tun. Ich bin selbst kein Arzt, aber soweit ich weiß, können Entzündungen an Extremitäten, die nicht von selbst heilen, erstaunlich schnell zu Blutvergiftungen und Exitus führen. (Du hast nicht zufällig Diabetes? Da sind sie dann nämlich bei allem, was nicht sofort abheilt, extrem paranoid, weil ja unsere Wundheilung schlechter ist. So eine kleine Wunde, die dann immer tiefer geht und irgendwann den Knochen erreicht... *schüttel*)

Zitat

Aber das ist das reale Leben. Das ist kein Ponyhof und keine konsensuelle BDSM-Session.

Im BDSM kann man sich anderes \"leisten\".
Wenn man da Mist baut, muss sich Top oder Sub höchstens einen anderen Sub oder Top suchen.


Naja... also wenn man WIRKLICH Mist baut, ist jemand tot und jemand anderer im Gefängnis.

Zitat

Auf jeden Fall ein schöner Fund, auch wenn die Rahmenbedingungen zu den Schritten die Schwierigkeit sind.


Ich möchte nur anmerken: Das ist aus meiner Sicht keine "Anleitung für gelungenes BDSM". Der Autor entwickelt in seinem Buch ansatzweise so etwas, aber das ist weit jenseits von diesem Modell. Das Modell beschreibt nur einen Aspekt von Kommunikation, der zum einen Teil im Alltag immer da ist, und zum anderen Teil auf bewusste Kontrolle eines Menschen hinausläuft. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass das auch *gut* ist. Ich könnte mir zB vorstellen, dass ein Eintritt in eine Sekte sehr ähnlich funktioniert - nur dass halt zwischen Schritt 2 und 3 die Manipulation passiert, die den "sub", also den Konvertiten, dazu bringt, sich dem Ganzen hinzugeben.

Die Stärke des Modells ist für mich gerade, dass es auch die *schlechten* Varianten beschreiben kann und trotzdem einfach genug ist, um es leicht zu verstehen.
5. RE: Ein Modell von Kontrolle

geschrieben von beitlamed am 09.11.18 08:30

Zitat

M. E ist der Hinweis auf Polizei nur dann angebracht, wenn Gefahr für Dritte besteht ( Ebola, Pest .... )



... oder bei Selbstgefährdung, glaube ich, jedenfalls hier in Ö. Das heißt aber dann, dass man direkt mit Selbstmord gedroht hat. Im beschriebenen Fall kann man sicher etwas unterschreiben und damit dem Arzt die Verantwortung abnehmen. Ich würde es im Allgemeinen nicht anraten, aber klar, man darf und man kann und die Sozialversicherung wird sich freuen. Und der Bestatter eventuell auch.
6. RE: Ein Modell von Kontrolle

geschrieben von Bulli31 am 09.11.18 18:44

Bei mir war es wohl eher das Ignorieren einer Gefahr, die sich unwichtig anfühlte.

Das Problem begann ganz normal im Sommer. Kurze Hose und schon war ein Kratzer am Bein. Dann noch stressinduzierte Gewichtsreduktion, die heute "Mangelernährung" heißt, und mehrmaliges nervöses Kratzen an der juckenden, weil heilenden Wunde, und das Ding war gelaufen.




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