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Turambar
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Mannheim


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  Unter fremden Monden Datum:25.05.11 22:16 IP: gespeichert Moderator melden


Unter fremden Monden



Vorwort

Verehrte Leserin, Verehrter Leser!
Dies ist nicht unbedingt eine erotische Geschichte; eine pornographische erst recht nicht. Im Grunde genommen handelt es sich möglicherweise um das erste Werk aus dem beliebten Genre des „Phantasy – Horror – SM – Erotik – Science – Fiction – Psycho – Thrillers“. Also demnach eine recht umfassende Erzählung, die sich mit der Seele des Menschen an sich beschäftigt, sowie im Zusammenhang damit mit den aufregenden Seiten der sexuellen Beziehungen zwischen zwei Menschen. Die Auseinandersetzung mit sexuellen Träumen und Phantasien, die den Bereich SM, Keuschhaltung und Unterwerfung betreffen, ist zumeist eher kritisch und hintergründig strukturiert, insbesondere dort, wo sie den Kontext eines einvernehmlichen, partnerschaftlichen Liebesspiels verlässt.

Die Seele des Menschen kennt viele Welten, die sich manchmal dem Geist öffnen. Und der Körper folgt dem Geist, während sich an Träumen die Realitäten brechen wie Wellen. So lebt auch das Ehepaar Mommsen ein weitestgehend völlig normales Leben in einer weitestgehend völlig normalen Welt. Aber jede noch so solide strukturierte Realität hat Löcher, hinter denen sich andere Wirklichkeiten befinden. Manchmal geht unvermittelt eine solche Tür auf, und in seltenen Fällen geht ein Mensch hindurch. Natürlich folgt gemeinhin in einem solchen Falle der Körper nicht dem Geist, aber der Vorstellungskraft sind hier keine Grenzen gesetzt.

Die gesamte Erzählung ist frei erfunden. Einige Orte sind der uns bekannten Wirklichkeit entnommen, mögen sich die Bewohner dort entweder geehrt fühlen, oder es mir verzeihen. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und Ereignissen sind allerdings nicht gewollt, und – falls es sie geben sollte – reiner Zufall. Teilweise enthält die Erzählung Darstellungen von Gewalt und sollte daher von empfindlichen Personen nicht gelesen werden. Außerdem ist der Inhalt wohl nur begrenzt zur erotischen Unterhaltung geeignet. Die geschätzte Leserschaft, welche primär nach sexuell stimulierenden Inhalten sucht, wird in den übrigen Geschichten des Forums durchaus hervorragendes und ernst zu nehmendes Material finden. Allen Übrigen wünsche ich viel Freude beim Lesen!


Inhaltsverzeichnis:

Erstes Kapitel - Ein kalter Hauch
1. Teil (siehe unten) / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil / 6. Teil / 7. Teil

Zweites Kapitel - Asynchron
1. Teil / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil / 6. Teil / 7. Teil

Drittes Kapitel - Zwei Feste
1. Teil / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil / 6. Teil

Viertes Kapitel - Das Ritual
1. Teil / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil

Fünftes Kapitel - Wetterwechsel
1. Teil / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil

Sechstes Kapitel - Hangar C
1. Teil / 2. Teil / 3. Teil / 4. Teil / 5. Teil





Erstes Kapitel:
Ein kalter Hauch



1.

Drei Dinge geschahen ungefähr zur gleichen Zeit. Das Klicken der Zündung und das störrische Schweigen des Motors, dicke Regentropfen, die auf die Windschutzscheibe klatschten und das Pfeifen des Mobiltelefons in der Tasche des Jacketts. Mike Mommsen fluchte, verfluchte zunächst seine drei akuten Probleme, dann sein Leben, die Welt und sämtliche Götter, an die er ohnehin nicht glaubte. Während er das Innere der klapprigen Schrottlaube, die seine Frau ein Auto nannte, mit blumigen Kraftausdrücken erfüllte, fand er immerhin Zeit, das schlecht schließende Schiebedach zuzukurbeln; einsetzender Gewitterregen und verbale Obszönitäten konnten unter Umständen zu einer schwerwiegenden chemischen Reaktion führen.

Nachdem er weitstgehend im Trockenen saß, pulte er das Handy aus der Jackentasche, wiederstand dem Impuls, das nervtötende Gerät aus dem Fenster auf den Lehrerparkplatz zu schleudern, und nahm stattdessen das Gespräch an. Daß er seinen Namen mehr schrie als nannte, war ihm herzlich egal.

„Mommsen!“
„…“
„Ach, du bist das, Claire. Was willst du?“
„…“
„Wie soll ich das bitte verstehen?“
„…“
„Und sonst geht’s dir gut, ja?“
„…“
„Was hab‘ ich damit zu tun?“
„…“
„…“
„Nicht vor acht. Deine Scheyßkarre lässt mich hier gerade schmählich im Stich.“
„…“
„Was du nicht sagst. Es tropft durch das beschyssene Schiebedach, aber ich wäre ja nie darauf gekommen, daß das am Regen liegen könnte.“
„…“
„Wer hat das Teil gebracht?“
„…“
„Der hat sie doch nicht alle. Was sollen wir damit?“
„…
…“
„Ist gut. Ich nehm‘ die Bahn. Bis nachher, meine Fähe.“

Der Regenguss endete pünktlich in dem Moment, als Mike Mommsen die Tür zu dem kleinen Vorstadthaus aufschloss, in das er vor vier Jahren mit seiner Frau Claire eingezogen war. Seiner Claire, seinem Herzblut, seiner Fähe, die damals schwanger gewesen war. Das kleine Eigenheim hatte das Geburtshaus ihrer Tochter werden sollen, das Heim für ihr erstes Kind, das nicht in einer lauten Stadtwohnung hätte aufwachsen sollen. Anschließend hatte Mike das Haus wieder verkaufen wollen, hätte am liebsten nicht nur die Stadt sondern das Land, am besten eigentlich die ganze Welt verlassen wollen. Claire war dagegen. Claire hatte unbegreiflich schnell ins Leben zurückgefunden, und dann hatte sie gar die Kraft gefunden, auch Mike zurück in die Realität zu holen.

Er ließ das tropfende Jackett auf den Boden im Flur fallen, kickte die ruinierten Schuhe von den Füßen, wobei er seine Aktentasche umwarf. Heraus purzelte ein Stapel Klausurhefte, einige schienen zur Dicke von Telephonbüchern aufgequollen zu sein. Blieb zu hoffen, daß seine Schüler mit Kugelschreiber geschrieben hatten, und nicht mit Tinte. Auch wenn es ihm eigentlich egal war, wahrscheinlich wurde in keinem Fach dünneres Gewäsch abgesetzt als in Geschichte. Die Verantwortung für den Niveaulimbo seiner Schüler suchte Mike klassischerweise nicht bei sich selbst, sondern vielmehr in den unterirdisch langweiligen Lehrplänen.

„Claire? Wo steckst du? Ich will in die Wanne…“
Die Tür zwischen Wohnzimmer und Küche flog auf. Claire trug eine Schürze und Handschuhe. Nein, keine Handschuhe, das war Mehl. Ihre Hände waren bis zum Ellenbogen weiß von Mehl. Eine Schürze? Mike hätte ihr das Ding am liebsten vom Leib gerissen. Waren sie so alt geworden?
„Verdammt, wie siehst du denn aus? Was machst du?“
„Backen?“
„Was um alles in der Welt…“
„Hast du eben was von Baden gesagt?“
„Sag blos, du hast mir eins eingelassen?“
„Natürlich nicht. Bin ich deine Bedienstete?“
„Eigentlich schon. Aber wenn du nicht in Stimmung bist…“
„Wäre ich vielleicht, aber da müsstest du ein bisschen nachhelfen.“
„Wie hättest du’s denn gerne? So in der Art wie: Ab in die Küche und backe sie mir eine Torte, Weib!“

Offenbar nicht. Claire lief rot an, eigentlich ein neckischer Kontrast zur mehlweißen Schürze und den bepuderten Armen. Die Küchentür schloß mit einem Krachen; Mike begab sich ein Stockwerk höher, ging ins Bad, ließ Wasser einlaufen und kramte sich im Schlafzimmer ein paar bequeme Klamotten für den Abend aus dem Schrank.

Das Signal auf dem Bett war unübersehbar. Sie hatte nicht nur die Stahlmanschetten und Lederriemen aus der Kommode gekramt, sondern auch das reichlich teure Accessoire, das sie sich vor nun fast drei Jahren geleistet hatten. Ja, genau das hatte noch gefehlt um dem Tag die Krone aufzusetzen. Mike setzte sich aufs Bett, durch zwei offene Türen war das Rauschen des Wassers in der Wanne zu hören. Er nahm den sündhaft teuren Keuschheitsgürtel, lies die Finger über das glänzende Metall des Frontschildes gleiten, strich über das Neopren des Taillengurtes und legte das Teil wieder zu den anderen Sachen. Wann hatte er ihn Claire zuletzt angelegt? Das musste fast ein halbes Jahr her sein. So um die Zeit, als sie wieder angefangen hatte zu arbeiten. Hatte es ihm Spaß gemacht? Mehr als die anderen Sachen, mit denen sie ihr Sexleben in der schweren Zeit danach wieder hatten aufleben lassen. Hatte es ihr Spaß gemacht? Anscheinend mehr, als er es bisher vermutet hatte. Immerhin hatte sie die Sachen nun wieder hervorgeholt.

Badezeit. Feuchte Hose, klammes Hemd und nasse Socken wanderten unverzüglich in die Waschmaschine. Passende Sachen aus dem Wäschekorb ergänzten die Maschinenfüllung, Pulver und Entkalker dazu und los mit der Sause. Es soll ja Männer geben, die der Bedienung einer solchen Maschinerie nicht unkundig sind. Badeschaum mit Kieferngeruch. Nicht gerade das Non Plus Ultra, aber besser als Lavendel. Immerhin heiß und eine Wohltat für die geschundenen Nerven.

Warum hatten sie mit ihren Spielereien überhaupt aufgehört? Wegen Claires Beruf? Vielleicht. Es war ja nicht so, daß es sonst nicht lief zwischen ihnen. Aber auch wenn Standardsex nicht unbedingt schlecht war, so vermisste er doch etwas. Und Claire ganz offensichtlich auch. Eigentlich hätte sie auch einfach etwas sagen können. Falsch. Auch Mike hätte etwas sagen können; wahrscheinlich hatte sie gerade darauf gewartet, war ettäuscht, daß von ihm nichts kam. Es ließ ihn nicht los. Versuche, die Gedanken in eine andere, entspanntere Richtung zu lenken, scheiterten. Die Schüler? Blos nicht. Feierabend. Das Auto, das er am Gymnasium hatte stehen lassen? Achtung, Zorngefahr! Abendessen? Es roch im ganzen Haus nach Kuchen. Mike wollte Maultschen in Brühe. Verdammt, das Spiel, das er mit Claire über fast zwei Jahre gespielt hatte, war doch eigentlich unheimlich anstrengend. Nicht nur für sie, sondern auch für ihn. Alleine das Nachdenken über eine Wiederaufnahme war schon anstrengend. Erst recht in der Badewanne. Also raus aus der Brühe, abgetrocknet, rasiert, Bademantel und Schlappen an. Gab es da unten vielleicht noch etwas anderes zu essen als Kuchen?





© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.

[Edit]: Dieser Eintrag wurde zuletzt von Turambar am 23.07.11 um 19:29 geändert
"Niemand versteht die Ledermäuse!"
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Te Oma Gemini Volljährigkeit geprüft
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  RE: Unter fremden Monden Datum:26.05.11 08:32 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo Turambar,

da scheint Dir ja eine sehr tiefgehende Story aus den Fingern zu fließen. Der Einstieg macht nicht nur Lust auf mehr, sondern läßt auch eigene Gedanken und vor allem auch Bedenken wieder zu ....

Ich freue mich mit der ganzen Gemeinde auf mehr ...

lg t
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Brumbear Volljährigkeit geprüft
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Lebe jeden Tag so als ob es der letzte währe

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  RE: Unter fremden Monden Datum:26.05.11 09:20 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo Turambar

Einem tollen Einstieg hast Du da hingelegt macht lust auf weiter

schönefolgen!! Mal Danke sagt für den Anfang


Gruß Brumbear
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Angelina18bi Volljährigkeit geprüft
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  RE: Unter fremden Monden Datum:26.05.11 11:57 IP: gespeichert Moderator melden


Hi Turambar,

das schreit nach Fortsetzung
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Turambar
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  RE: Unter fremden Monden Datum:26.05.11 18:28 IP: gespeichert Moderator melden


Moin zusammen!

Noch kein Tag alt und schon drei Kommentare?!? Soll noch einer schreiben, es gäbe hier zu wenig Feedback. Find´ ich gut von euch!

Zitat
...läßt auch eigene Gedanken und vor allem auch Bedenken wieder zu ....

So soll das auch sein. Ich hoffe nur, dem auch weiterhin gerecht werden zu können.

Zitat
Mal Danke sagt für den Anfang

Es ist auch wirklich kaum mehr als ein kurzer Einstieg. Das muss sich erstmal langsam aufbauen, alles.

Zitat

das schreit nach Fortsetzung

Auf jeden Fall heute Abend noch. Aber schrei nicht zu laut, sonst weckst du die Ledermäuse...

, Turambar
"Niemand versteht die Ledermäuse!"
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  RE: Unter fremden Monden Datum:26.05.11 19:19 IP: gespeichert Moderator melden


Der Einstieg gefällt mir, da der Alltag wie selbstverständlich mit in die Story einfließt. Dadurch erscheint sie mir näher an der Realität, was mir bei Geschichten wichtig ist, um sie quasi als nachspielbar wahrnehmen zu können und nicht nur als eine abgehobene Fiktion und/oder eine banale Auflistung geiler Erlebnisse.

Eine Geschichte ist also gerade durch den möglichst realen Bezug für mich interessant - wie das denn mit den Monden wird, wird man dann ja irgendwann sehen...

...vielleicht ist´s ja einfach n´ Tapetenmuster im Schlafzimmer...

Infos zum Forum: "Einführung - FAQ - Hilfestellung von A bis Z"
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Turambar
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  RE: Unter fremden Monden Datum:26.05.11 20:42 IP: gespeichert Moderator melden


2.

Abendsonne hatte die schweren Gewitterwolken vertrieben, und verwandelte den kleinen Garten vor der Terasse in ein dampfendes, tropisches Etwas. Claire hatte die gläsernen Schiebetüren zur Terasse geöffnet; es roch nach nassem Gras und Sommer. Das Erdgeschoss des Hauses bestand eigentlich nur aus einem großen Raum, neben dem sich der Eingangsbereich, Treppenhaus und ein kleines Arbeitszimmer drängten. Küche und Wohnzimmer bildeten eine Einheit nach amerikanischem Stil; der Küchenbereich drei Stufen erhöht und mit einem zentralen Küchenblock, bestehend aus Herd und großzügiger Arbeitsfläche. Der Esstisch stand frei im Raum, in der Nähe der breiten Fensterfront zwischen Küchenempore und einem behaglichen Couchbereich.

Frisch gebackener Zwetschgenkuchen kühlte neben der Spüle am Küchenfenster ab. Ohne ihre Backschürze balancierte Claire Gläser, Bier, Butter und eine Schale mit Obst vom Kühlschrank zum Esstisch, drapierte die Ergänzungen um eine Platte mit Sandwiches und zwei Holzbrettchen nebst Besteck. Verträumt ruhte ihr Blick auf den tropfenden Büschen des Gartens. Es sah nicht so aus, als hätte das Gewitter die Hitze der letzten Tage vertrieben. Im Gegenteil, das tropische Dampfbad ließ für die nächste Zeit noch mehr Waschküchenwetter erwarten. Immerhin war bald Wochenende.

Sie hörte Mike nicht, wusste aber dennoch, daß er sich in ihrem Rücken näherte. Ohne sich umzusehen ergriff sie seine Hand, noch bevor er sie in ihren Nacken legen konnte, und zog sie nach vorne und etwas tiefer. Er musste die Sachen auf dem Bett gesehen haben. War das also ein Routine – Brust – Kneten oder doch etwas mehr? Sie sah sich nicht um, wusste aber dabei, daß er genauso aus dem Fenster starrte wie sie selbst.
„Was für ein Dampf. Riecht nach klebrigem Ölwetter morgen.“
Sprach er mit ihr oder mit dem Garten? Claire zog seine andere Hand an ihre freie Brust. Das sollte doch als Antwort reichen…
„Sandwiches? Nicht schlecht. Besser jedenfalls als Kuchen.“
„Bist du sauer auf mich?“
„Ob ich was bin?“
„Na, wegen dem Empfang vorhin. Ich war etwas erhitzt, vielleicht. Das schwüle Wetter und die Backerei…“
„Ach was, ich bin nicht sauer. Was backst du auch an so einem Tag?“
„Denk mal scharf nach.“
„Hä?“
„Du selbst hast mich drum gebeten. Morgen Geburtstag von deinem Kollegen? Ring – ding – ding – ding – ding – ding; klingelt was bei dir?“
„Ach, Scheyße!“

Hände verschwanden von Claires Brüsten, dafür tauchte ihr Mann in ihrem Gesichtsfeld auf und ließ sich auf den Stuhl gegenüber fallen.
„Tut mir leid, Füchschen. Muss am Wetter liegen, schwüle Luft kann Alzheimer auslösen.“
„Ah, ja. Das Wetter.“
„Ich hab‘ gesehen was oben auf dem Bett liegt.“
„Na sowas! Hab‘ ich da vergessen, etwas aufzuräumen?“
„Willst du damit wieder anfangen?“
„Du nicht?“
„Wenn mich nicht alles täuscht, war ich nicht derjenige, der keine Lust mehr drauf hatte.“
„Was? Du bist doch… Wie war das mit Herrn Alzheimer?“
„Willst du mir jetzt etwa vorwerfen…?“
„Können wir das später besprechen? Ich habe Hunger.“
„Willst du oder willst du nicht?“
„Später? Bitte!“
„Boah…“

Mike schaufelte Schnittchen auf sein Brettchen. Schinken, Ei, Senf und Gurken. Gut, wenn sie das Spiel mit vollem Magen beginnen wollte, ihm war’s recht. Nur ihren angespannten und fragenden Blick wurde er nicht los. Was wollte sie denn noch? Mikes Augen wanderten durch den Raum, blieben kurz an einem riesigen Gegenstand hängen, der definitiv neu im Raum war. Er schüttelte den Kopf, wandte den Blick ab und stellte fest, daß der Fernseher lief. Den Ton hatte Claire abgestellt, also lief irgendeine pantomimische Darstellung einer schnulzigen, deutschen TV – Produktion. Irgendetwas kroch in seinen Kopf. Mike blickte wieder geradeaus und direkt in zwei riesige, grüne Augen, die ihn aufzufressen schienen, statt den Sandwiches. Was genau wollte sie jetzt, wenn sie das andere so explizit später wollte?

Mike entschied sich, das Problem auf elegante Weise zu lösen.
„Und, wie war dein Tag, Füchsin?“
Zwei Minuten später hatte er abgeschaltet. Ein bisschen schämte er sich dafür, aber seinem Appetit tat das keinen Abbruch.

Es war wie träumen. Die schwüle Abendstimmung versetzte ihn in eine Art Trance, aus der er erwachte, als die Platte mit Sandwiches leer, das Bier ausgetrunken und Claire verstummt waren. Hoffentlich hatte er nichts Wesentliches verpasst. Ein wenig mißtrauisch musterte er die Frau ihm gegenüber. Es war offensichtlich, daß sie nun ebenso mit offenen Augen vor sich hinträumte, wie er selbst vor wenigen Momenten. Mißtrauen räumte das Feld für liebevollere Gefühle, schöne Gefühle, allerdings durchzogen mit einer leicht bitteren Ader von Mitleid. Seit vier Jahren ein gewohntes Leid, das langsam verblasste, aber nie verschwinden würde.

Die letzten Sonnenstrahlen des Tages ließen ihre rot - blonden Locken noch roter erscheinen. Sah sie fern? Ihr Gesicht war dem stummen Gezappel auf dem Bildschirm zugewandt, aber der Punkt auf den ihre Augen fokussiert waren, schien sich sehr weit jenseits des Fernsehers zu befinden. Möglicherweise etliche Lichtjahre entfernt, vielleicht in einer ganz anderen Galaxie.
„Was wollte dein Vater hier?“
„Was?“
„Dein Vater. Du hast mich vorhin angerufen, und irgendwas von seinen Verrücktheiten erzählt.“
„Achso. Hast du’s nicht gesehen? Diese riesige Standuhr?“
„Ähm, Standuhr, genau. So im Vorbeigehen. Und was sollen wir mit dem Teil?“
„Was weiß denn ich? Er wollte uns wohl eine Freude machen.“
„Ah! So wie mit dem Polo. Wir hätten lieber einen Leihwagen von der Werkstatt nehmen sollen.“

Claire stand ziemlich aprupt auf; ihr Stuhl wankte, fiel aber nicht. Mike erhob sich etwas zaghafter, gemeinsam räumten sie die Reste des Abendessens auf. Es war nicht so, daß Mike etwas gegen Roland hatte. Im Gegenteil, er mochte den alten Sonderling eigentlich wirklich gerne, aber was er als verstörend empfand, waren die eigentümlichen Geschenke, die Claires Vater ihnen in unregelmäßigen Abstanden machte. Im Garten stand eine originalgetreue Miniatur einer amerikanischen Dampflock, im Keller gammelte ein funktionsfähiges Laufrad vor sich hin und im Schlafzimmer sowie in der Küche standen zwei nicht funktionsfähige, urtümliche Transistorradios. Roland Falk war Antiquariar mit Leib und Seele. Der Gipfel aber war der verrostete VW Polo, den er ihnen Anfang der Woche überlassen hatte. Bei dem Gedanken, daß er stattdessen lieber mit der Draisine zur Arbeit hätte fahren sollen, musste Mike unwillkürlich kichern.

Claire hasste es, wenn Mike sich über ihren Vater lustig machte.
„Was soll das? Er meint es nur gut, und die Uhr ist doch nicht hässlich. Siehst du die Schnitzereien?“
Der Fernseher war mittlerweile erblindet, die beiden wollten nach oben gehen und sich wesentlicheren Dingen widmen. Mikes Arm lag um Claires Taille, als sie vor der mannshohen Standuhr aus dunklem Holz standen. Hinter staubigem Glas ließen sich zwei schwere Pendel erahnen, die freilich still standen. Auch die Zeiger verharrten reglos auf einem wie Perlmutt schillernden Ziffernblatt. Merkwürdigerweise gab es derer drei statt zwei, und noch eigentümlicher erschien es, daß alle drei Zeiger exakt gleich groß waren.

„Wenn das Ding denn mal laufen würde. Aber wahrscheinlich ist es genauso alt wie der Polo und wird nimmer mehr auch nur irgendwas anzeigen.“
„Er hat gesagt, daß er am Samstag vorbeikommt, und sie zum Laufen bringt.“
„Na, das will ich sehen. Am besten bringt er auch noch andere Zeiger an. Ansonsten würde mich das Ding an sowas wie einen Schwarz – Schwarz – Fernseher erinnern.“
„Gehen wir jetzt hoch, oder was?“
„Warum sind das Überhaupt drei Zeiger?“
„Für die Sekunden vielleicht?“
„Quatsch. Eine Standuhr mit Sekundenzeiger? Hab‘ ich noch nie gesehen.“
„Was willst du jetzt noch mit der Uhr? Auf, ich hab’s eilig.“

Viel auszuziehen hatte sie nicht. Mike freute sich auf die „Zeremonie“; umso mehr, als ihr nackter Körper eine gewisse Gier ausstrahlte, mit der er in den nächsten Tagen wieder sein Spiel treiben konnte. Makellos, bis auf die Narbe unter ihrem Bauchnabel. Er stand, sie kniete vor ihm, den Kopf leicht schräg, den Blick nicht direkt auf seine Augen, sondern ein Stück tiefer; Hals oder Kinn.
„Bist du bereit, dich mir zu übergeben, deinen Körper und deine Lust, meine Fähe? Willst du deinem Meister dienen, mit allen Konsequenzen und so wie er es für richtig hält?“
„Ich übergebe meinen Leib und meine Lust, so wie ihr es wünscht. Ich nehme die Regeln an, ich freue mich, euch zu Diensten zu sein. Ich freue mich auf Belohnung und Strafe, ich unterliege nun den Wünschen meines Großen Wolfes.“

Mike zögerte. Sie nannte ihn manchmal „Wolf“ oder auch „Loup“, aber als seine „Sklavin“ hatte sie das bisher nie getan. Er beschloß, der Sache keine Bedeutung beizumessen, es war ein Spiel, auch die Zeremonie des Einschließens folgte bestenfalls einem losen Gedächtnisprotokoll. Das Entscheidende kam danach. Also ging er nun seinerseits vor ihr auf die Knie.
„Dann steh jetzt auf, Fähe!“
Das Anlegen des Keuschheitsgürtels übernahm Mike selbst. Den Spaß ließ er sich nicht entgehen. Begeisterung und einen Tusch: Er passte noch. Und wie! Glücklicherweise ließ sich das Taillenband noch etwas nachjustieren.
„Hast du abgenommen seit letztem Oktober?“
„Das fällt dir jetzt auf?“
„Keine Frechheiten, klar? Sonst fällt mir ganz schnell auf, daß du vergessen hast, die Reitgerte mit `rauszulegen.“
„Verzeihung, Grand Loup!“

Claire war heiß, so heiß wie schon lange nicht mehr. Kein Grund für Mike, sie abkühlen zu lassen. Im Gegenteil. Er drückte sie aufs Bett, sie sträubte sich ein wenig; gehörte alles zum Spiel, richtig? Richtig.
„Lass die Hände schön brav an deinen Seiten, sonst binde ich sie dir fest.“
Ausgiebig widmete er sich den besonderen Punkten ihres Körpers, genoß ihre Hitze, das Winden und Zucken ihres Körpers. Noch konnte sie die Hände stillhalten, aber das wäre auf die Weise nur eine Frage der Zeit. Als er das Gefühl hatte, daß sie kurz vor dem Platzen war, beendete er das lockende Vorspiel.
„So, das war’s. Jetzt bin ich dran.“
„Ein bisschen noch, ok?“
„Negativ. Vielleicht am Samstag. Oder Sonntag. Mal sehen.“

Was ihr Mund anschließend mit seinem Balken anstellte, brachte ihn zum Schweben. Claire, die stets behauptete, Oralsex wäre ja eigentlich nichts für sie, sie stelle sich dabei so unglaublich vertrottelt an? Von wegen. Nun belehrte sie ihn eindrucksvoll eines Besseren. Es machte ihn fix und fertig, und das Ganze auch noch zweimal. Zeit, die Füchsin duschen zu schicken, inclusive Zähneputzen, versteht sich.

Claire kam aus dem Bad zurück, abgekühlt, zumindest vorläufig. So ganz würde die Hitze die nächsten Tage vermutlich nie verschwinden, immerhin war das nicht ausschließlich ihr Problem. Was ihr weniger gefiel, war die Prozedur, die ihr Mann gerade dem gemeinsamen Bett angedeihen ließ. In der Bettritze machte er sich zu schaffen, befestigte einen Gurt am Rost zwischen den beiden Matratzen. Die beiden Riemen auf der Seite waren schon besfestigt, die Manschetten für Hände und Füße lagen einladend geöffnet auf der Matratze. Mit soviel Enthusiasmus seinerseits hatte sie eigentlich nicht gerechnet. Jedenfalls in dieser Nacht noch nicht.

„Ähm, sag mal, was genau hast du mit den Fesseln jetzt vor, Meister?“
„Soll das ein Witz sein? Die Dinger lagen da so chaotisch auf dem Bett `rum, also wollte ich mal aufräumen. Und am aufgeräumtesten sehen die Teile ganz klar an deinen Händen und Füßen aus.“
„Darauf würde ich jetzt aber gerne verzichten. Jedenfalls heute Nacht.“
„Nenenenenene! Wenn, dann spielen wir richtig. Ganz oder gar nicht. Oder soll der Keuschheitsgürtel wieder in die Kiste?“
„Nein, aber…“
„Hey, Ferien auf dem Ponyhof gibt’s wann anders. Was ist los?“
„Ich muss morgen arbeiten, und du glaub‘ ich auch. Oder feiern, besser gesagt. Deinen Kollegen zusehen, wie sie meinen Kuchen mampfen. Ich will schon, mit allen Konsequenzen und so weiter. Aber ich brauche eine oder zwei Nächte, bis ich mich an die Fesseln gewöhnt habe. Das weißt du. In der ersten Nacht tu ich kein Auge zu.“
„Oha. Und ich dann wohl auch nicht.“
„Wenn du nicht auf dem Sofa schlafen willst…“
„Will ich nicht. Vergiss‘ die Manschetten. Auch wenn’s kein Ponyhof ist, es ist immernoch ein Spiel.“
„Für uns beide. Aber lass die Riemen, wo sie sind. Morgen abend wirst du sie brauchen.“
„Warten wir’s ab.“




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Nachtrag, @ SmartMan:
Zitat
- wie das denn mit den Monden wird, wird man dann ja irgendwann sehen...

...vielleicht ist´s ja einfach n´ Tapetenmuster im Schlafzimmer...

Huch? Tapetenwechsel? Ich hatte beim Schlafzimmer der Beiden mehr an eine Art Terracotta – Putz gedacht. Lass dich überraschen. Aber Realität ist schon ein flüchtiger Traum…
"Niemand versteht die Ledermäuse!"
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Turambar
Story Writer

Mannheim


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Beiträge: 106

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  RE: Unter fremden Monden Datum:27.05.11 18:23 IP: gespeichert Moderator melden


3.

Wenigstens war das Labor gut klimatisiert. Nach dem Aufstehen, beim Frühstück, beim Blick auf den wolkenlosen Himmel und das Thermometer, das um sieben Uhr eine Temperatur von 19,8°C anzeigte, war die Versuchung groß gewesen. Am liebsten hätte sie das Spiel beendet, oder wenigstens bis zum Abend unterbrochen. Doch sie blieb stark, gleichwohl sie sicher war, daß Mike es akzeptiert hätte. Gedanken an die Unannehmlichkeiten, die der Tag bringen würde, schob sie resolut beiseite. Sie folgte einer Routine, die lange Zeit geruht hatte, die aber so unverschämt schnell wieder präsent war. Im Bad fand sie eine Rolle elastisches, schwarzes Klebeband, das seit ihrer letzten Keuschheitsphase im vergangenen Herbst nicht mehr angerührt worden war. Sie riss ein paar Streifen ab und überklebte die beiden Schlösser an der Vorderseite des Gürtels. Ruinierte Unterwäsche gehörte jedenfalls einer unerfahrenen Vergangenheit an. Das lästige Kaschieren verräterischer Formen unter ihrer Kleidung erfolgte durch einen robusten Baumwollslip und zusätzliche, bei der Hitze allerdings furchtbar lästige „bodyshaping“ – Pants. Nicht minder nervig, aber erfahrungsgemäß an den ersten „keuschen“ Tagen unverzichtbar: Eine Slipeinlage zwischen Slip und Keuschheitsgürtel, und ein paar Reserveeinlagen in der Handtasche. Letzte Konturen der Metallkonstruktion verschwanden unter einem lang geschnittenen Top und einem weit geschnittenen Trägerkleid.

Trotzdem hatte sie ständig das Gefühl, als würden Kolleginnen und Kollegen sie anstarren. Eine geheime Verschwörung, bei der allen Personen, mit denen sie zu tun hatte, ein Röntgenblick verliehen worden war, mit dem Ziel, sie zu demütigen, sie der totalen Lächerlichkeit preiszugeben. Durch ihre Arbeit vermochte sie sich kaum abzulenken. Eher war es umgekehrt. Das ganze Theater zwischen ihren Beinen lenkte sie von der Arbeit ab. Sicher, das würde sich mit der Zeit bessern, ebenso wie der unangenehme Verfolgungswahn verschwinden würde. Noch war aber ihr Denken viel zu sehr auf das Spielzeug an ihrem Unterleib fokussiert. In dem Maße, wie ihre Gedanken darum kreisten, projizierte sie eben auch Teile dieser Gedanken auf ihr Umfeld. Das Bewusstsein, daß diese paranoiden Vorstellungen blos idiotische Hirngespinste waren, nutzte wenig gegen ihr Unbewusstes Denken, welches stur auf seiner Ansicht beharrte, daß alle Anderen nicht nur durch ihre Kleidung, sondern auch direkt in ihren Kopf sehen konnten.

In Wirklichkeit fiel es Claires Kollegen noch nicht einmal auf, wie unkonzentriert und fahrig sie an diesem Freitag war. Selbst ihre Laborassistentin nahm kaum wahr, daß sie wegen Unachtsamkeit drei verunreinigte Proben hintereinander entsorgte, daß ihre Dokumentation erbärmlich viele Fehler aufwies, oder daß Claire ungewöhnlich oft auf die Toilette verschwand. Bindenwechsel. Das Eingeschlossen – Sein hatte nicht nur eine nervtötende Komponente. Sonst hätte Claire wohl auch kaum Interesse an der ganzen Prozedur. Von wegen Keuschhaltung! Eigentlich war das Ganze eher eine Art „Feuchthaltung“… Und je bunter und aufdringlicher das Bild ihrer hinter Metall eingesperrten empfindlichsten Körperteile in ihrem Kopf herumblinkte, desto intensiver nahm sie auch die damit verbundenen Gefühle war. Alle Gefühle, versteht sich.

Von einer Klimaanlage konnte Mike nur träumen. Geld aus dem Steuersäckel wurde schließlich nicht für die Klimatisierung von Gymnasien verwendet, denn es galt ja die Maxime, daß diese Gelder viel besser in einem aufgeblähten Verwaltungsapparat aufgehoben seien, dessen linke Hand nicht wusste, welches Geld die Rechte gerade verschwendete. Sinn – und hoffnungsloses Gedankentennis. Und warum eigentlich gab es für die Oberstufe kein Hitzefrei? Wahrscheinlich existierte irgendwo eine unwiederlegbare, teure Statistik, daß Schüler mit dem Eintritt in die elfte Klasse mit einem Schlag jede Beeinflussbarkeit durch Extremtemperaturen verloren.

Ein Blick über seine Klasse führte die imaginäre Studie eindrucksvoll ad absurdum. Selbst die drei Streberinnen in der ersten Reihe schienen beinahe weggetreten zu sein. Glasige Augen starrten auf eine antiquierte Schultafel, auf der allerdings nur das Gekrakel aus einer anderen Stunde zu bewundern war. Mathematische Hieroglyphen, Kurvendiskussion, abenteuerliche Integrale. Mike hielt sich nicht nur für außerordentlich interessant und klug, er war immerhin auch so fortschrittlich, daß er schon vor einigen Jahren seinen Unterricht auf integrative Diskussionsrunden, ergänzt mit peppigen Powerpoit – Präsentationen umgestellt hatte.

Leider konnte er derzeit seiner eigenen Präsentation nicht wirklich folgen. Was kein Problem darstellte, die Klasse hatte sich ohnehin weitestgehend ausgeklinkt. Kein Wunder, die politische Entwicklung während der Weimarer Republik konnte eigentlich ernsthaft interessant sein, wenn man dabei nicht einem reichlich emotionslosen Lehrplan zu folgen hatte. Hoch lebe die Oberflächlichkeit, so leicht ist sie zu kontrollieren!

In der hintersten Reihe spielten einige Schüler Karten. Interessiert stellte Mike fest, daß dort tatsächlich Doppelkopf gezockt wurde. Das mochte womöglich eine größere intellektuelle Herausforderung sein, als sein Unterricht. Trotzdem hätte er normalerweise diese unterrichtsfremde Aktivität unterbunden, oder die entsprechenden Jungspunde aufgefordert, ihr Spiel außerhalb seines Klassenzimmers fortzusetzen.

Nur an diesem Tag fehlte ihm dazu die Energie. Die Luft war unerträglich drückend, weit geöffnete Fenster verstärkten die betäubende Stimmung eher, als daß sie sie bekämpften. Gleißend brannte das gigantische Kernfusionskraftwerk der Mitagssonne von einem einheitlich blassblauen Himmel; dunstig zwar, aber frei von jeder Wolke, die eine gewittrige Abkühlung hätte in Aussicht stellen können. Dennoch ließ sich die Schwüle in der Luft beinahe mit den Händen greifen. Die Atmosphäre war zum Bersten gespannt mit einem knisternden Kribbeln, einem Summen, einem Druck auf Hirn und Haut; derart aufgeladene Stimmung kannte Mike eigentlich nur aus der mystischen einen Stunde, bevor sich ein heftiges Gewitter entlud.

In den ersten Stunden hatte er sich noch einigermaßen zusammenreißen können, aber mittlerweile waren seinen tieferen Gedanken, zermürbt durch Hitze und drückende Schwüle, Tür und Tor geöffnet. Mechanisch spulte sein Mund das Programm zum Unterricht ab, ohne daß er davon viel mitbekam. In seinem Kopf hatte sich Claire breitgemacht, vereinnahmte sein Denken und ließ sich nicht mehr aus dem Zentrum seines Verstands vertreiben.

Wahrscheinlich war sie durch das Spiel noch stärker von ihrem normalen Tagesablauf abgelenkt als er, aber je mehr er darüber nachdachte – gezwungen war, darüber nachzudenken – desto intensiver spürte er seine Frau. Er bildete sich tatsächlich ein, daß trotz der räumlichen Separation eine sehr lebendige Verbinbung zwischen ihnen entstand. Grell erschien – in leuchtenden Neonfarben – ein lebensechtes Bild vor seinem inneren Auge: Claire silbrig, ihr Haar rot wie Feuer, der Keuschheitsgürtel in wilden Wirrungen die Farbe wechselnd; neongrün, blau, pink…

Als er glaubte, sie sogar riechen zu können (Sie hatte doch hoffentlich daran gedacht, genug Binden mitzunehmen?), ertönte glücklicherweise der völlig unerotische, schrille Klang der Pausenglocke. Mike war irritiert, er hatte so ein Gefühl, seit mindestens fünf Minuten keinen Ton mehr gesagt zu haben. Ein skeptischer Blick in die Gesichter seiner Schüler: Desinteresse, Müdigkeit, unbeteiligtes Grinsen. Alles in Ordnung.

„Frau Mommsen? Alles in Ordnung bei ihnen? Läuft der Chromatograph wieder?“
Professor VonBosstejn, Leiter des Labors. Schweißtropfen auf seiner Glatze trotzten spöttisch der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage. Rotes Gesicht, wahrscheinlich wegen chronischer arterieller Hypertonie: Derber Kontrast zu seinem weißen Schnauzbart. Es war tatsächlich halb vier, kurz vor Feierabend. Claire stand auf, flimmernde Bilder aus dem Rasterelektronenmikroskop, in das sie seit fast einer Stunde starrte, zerflossen vor ihren Augen. Zwei Schritte ging sie unsicher auf ihren Chef zu, hätte sich gerne gestreckt, verwarf aber den Wunsch vorläufig. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, graue Linien auf ihrer Netzhaut verschwanden und sie ergriff seine ihr angebotene Rechte.
„Er läuft, Herr VonBosstejn. Aber ich fürchte, wir müssen den Versuch am Montag wiederholen, irgendwie gab’s Probleme mit den Proben. Wenn sie wollen kann ich aber auch heute länger…“
„Ach, Blödsinn, Frau Mommsen. Machen sie das besser am Montag, und in neuer Frische. Ich wollte eigentlich nur…“
„Ja?“
„Seien sie doch so nett, und kommen noch mal in meinem Büro vorbei, wenn sie hier fertig sind?“
„Natürlich. So in einer halben Stunde?“
„Passt.“

Claires Kuchen war schlichtweg der Hit. Einziger Wehmutstropfen war, daß Theo Lins, geschätzter Freund der Eheleute Mommsen, von seinem eigenen Geburtstagskuchen nichts mehr abbekam. In der ausgelassenen Plauderei des Kollegiums verschwand das Backwerk so rasch, daß Theo noch mit dem Sekt beschäftigt war, während Silke Raisch – Wickert das letzte Stück zügig vertilgte. Entweder war ihr entgangen, daß das Geburtstagskind bisher leer ausgegangen war, oder sie war der Ansicht, daß ihr Vorrecht auf Kuchen als Schulleiterin größer war als Theos Ansprüche.

Der Geprellte bemühte sich, es mit Humor zu nehmen.
„Mikey, deine Frau hat ganz klar den Hunger eines Lehrerkollegiums an einem Freitag Nachmittag unterschätzt.“
„Ich werd’s ihr ausrichten. Soll sie das nächste Mal lieber zwei backen? Daß es auch für alle reicht?“
„Da hab‘ ich `ne bessere Idee.“
„Schieß los!“
„Sag ihr, sie soll wie üblich einen Zwergenkuchen für all die Schnorrer hier backen, und dann noch einen richtigen, nur für mich ganz privat.“
„Oh, da wird sie sich bestimmt glücklich schätzen, dich ganz persönlich so verwöhnen zu dürfen.“
„Liebe geht eben durch den Magen.“
„Dann werde ich veranlassen, daß sie dir garnichts mehr bäckt, kocht, blanchiert, brät und so weiter.“
„Eifersüchtig?“
„Auf dich?“
„Hör mal, ich muss die Feier verschieben. Sonntag wird das nichts. Tina ist im Krankenhaus…“
„Was? Ich hoffe, es ist nichts Ernstes?“
„Ach, wo. Sie ist ja nur heute da drin, ambulant. Ist `ne Routinesache, du weißt ja bescheid. Aber mir wär’s trotzdem lieber, wenn wir nächstes Wochenende feiern würden. Dann aber am Samstag, statt am Sonntag“
„Ist kein Thema. Wir kommen auf jeden Fall.“

„Herr Mommsen?“
Was in aller Welt wollte die Raisch – Wickert jetzt von ihm? Eigentlich bestand ein schweigendes Einvernehmen zwischen ihnen, sich so umfassend wie möglich aus dem Weg zu gehen. Ungerne ließ er Theo stehen und wandte sich der gartenzwerggroßen Feministin mit Rubensfigur zu, die ziemlich genau das repräsentierte, was er unter dem endgültigen Antipol der Weiblichkeit an sich verstand.
„Sie sind abstinent, Herr Mommsen? Er geschehen noch Zeichen und Wunder.“

Er warf einen skeptischen Blick auf das Glas in seiner Hand. Trug er das schon so lange mit sich herum? In der Tat hatte der Sekt in dem Orangensaft längst aufgehört zu perlen. Er kam zu dem Entschluß, seine Vorgesetzte in dem Glauben zu lassen, daß er tatsächlich dem Alkohol entsagte und nahm einen Schluck des ekelhaft schalen Getränks zu sich.
„Ach wissen sie, Frau Raisch – Wickert, bei der Hitze besteht ein zu hohes Risiko, ihnen die Möglichkeit für Disziplinarmaßnahmen gegen mich zu verschaffen, wenn ich mich damit nicht zurückhalte.“
„Ich habe noch was Besseres für sie. Was sagt ihnen der Name Schlick?“
„Oh, bitte! Alles, nur das nicht.“
„Er sitzt genau in diesem Moment in Zimmer dreisiebenundvierzig und erwartet sie ungeduldig. Ich habe mir erlaubt, ihm zu sagen, daß sie unterwegs sind.“
„Wieso Er? Herr Schlick? Ich dachte es geht um Andrea?“
„Das tut es. Stellen sie sich nicht dumm, bitte. Herr Schlick ist natürlich der Vater des Mädchens.“
„Was? Sie hat einen Vater?“



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Turambar
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  RE: Unter fremden Monden Datum:28.05.11 18:45 IP: gespeichert Moderator melden


4.

Claire hätte gerne die Beine übereinandergeschlagen, nachdem ihr Chef ihr einen bequemen Ledersessel in der Sitzgruppe seines Büros zugewiesen hatte. Unglücklicherweise war diese Haltung derzeit für sie prohibitiv, weshalb sie einigermaßen steif in den weichen Polstern saß, dabei peinlich bemüht, wenigstens die Knie zusammenzuhalten. Sie machte sich nicht die Mühe, den angebotenen, sündhaft teuren Whisky auf Eis abzulehnen, auch wenn ihr eigentlich ein simples Mineralwasser lieber gewesen wäre. Geschmack und Wirkung des Getränks waren jedeoch durchaus famos. Nach wenigen Schlucken bereits hatte sie das Gefühl, einigermaßen duhn zu sein, und empfing die Einladung zu einer Party des Vorstands des Pharmaunternehmens, für das sie arbeitete. Sonntag in einer Woche hatte sie noch nichts vor, nein. Ob sie mit ihrem Mann kommen könnte? Aber selbstverständlich. Markus VonBosstejn wäre hocherfreut.

Beschwingt schritt sie durch die Flure dem Ausgang und dem Feierabend zu. Es schien beinahe, als hätte sich das Gewicht ihrer ganz speziellen Unterwäsche um mindestens einhundertvierzig Prozent verringert.

Kurz darauf jedoch fühlte sich an, als wollte die Hitze sie mit einem Knüppel niederschlagen. Der Temperaturunterschied, als sie den Labortrakt verließ, war beinahe übelkeiterregend. Das Klima in der Straßenbahn jedoch setzte noch mal eins drauf. Obwohl es eindeutig nicht stimmte, hielt sich hartnäckig die Legende, daß die Bahnen klimatisiert seien. Dafür waren selbstverständlich auch die Fenster mittlerweile nicht mehr zu öffnen. Klar, das machte ja auch keinen Sinn, solange die stinkende, klebrige Luft von der Klimaanlage gekühlt wurde. Soweit die Theorie. In der Praxis sah es so aus, daß die stinkende, klebrige Luft genauso stinkend und klebrig war, wie in jeder Straßenbahn, nur eben nicht kühl, sondern in etwa so temperiert wie eine amtliche finnische Sauna. Der Schweiß der dicht an dicht gedrängten Passagiere diente dabei als Aufguß.

Claire reduzierte ihre Atemtätigkeit auf ein Minimum, doch auch das war schon zu viel. Sie stand, versuchte verzweifelt, der Reibung ihres Körpers am Leib eines riesenhaften Alkoholikers zu entgehen, der seinem viel kleineren, aber mindestens ebenso unmißverständlich nach Bier duftenden Kompagnon lautstark unverständlichen Kauderwelsch ins Ohr brüllte. Weiter hinten schrie eine ganze Riege von Kleinkindern um die Wette, und mindestens zweihundert in körpereigenen Ausdünstungen schwelgende Berufsschüler ergötzten sich am Geplärr ihrer Mobiltelephone.

Der Riese schob ihr seine mit undefinierbarer Brühe verklebte Bierdose ins Gesicht.
„Halt das mal, Alle!“
Reflexartig griff Claires Hand nach des Säufers flüssigem Kleinod.
„Dangge, assrein. Jetz ma sehn…“
Als der Typ ein waffenscheinpflichtiges Klappmesser aus der Hose hervorzauberte, schien sein fetthaariger Kumpan fast noch blasser zu werden als Claire.
„Was hassn jetz vor? Mach kein Scheyß, klar? Nich heute, du. Weil doch eh…“
„Ach, Kopf zu, Mann. Bin doch nich blöd. Nee, nee. Aber kanns jetz ma seh’n, hier…“
Er beugte die stattliche Muskulatur seines Oberkörpers über einen Kniderwagen und eine geschockt wirkende Mutter, die vergeblich versuchte, ihr Kind zu beruhigen. Mit erstaunlich sicherer Hand prokelte er mit Fingern und Klinge an dem Verschluß des Bahnfensters herum.
„Dabbische Stroosebohne! Seid ihr alle so saublöd, im Scheyßgestank hogge zu wolle? Alla, guck zu jetz, wenn isch den Scheyß uffbekomm, könnt’er mir dangge.“

Claire spürte, wie ihr schwindelig wurde. So unangenehm der Mann ihr war, so abstoßend sein Geruch, seine Sprache, seine Ausstrahlung sein mochten, irgendwie empfand sie eine gewisse Bewunderung. Hatte er nicht recht? Wie die Ölgötzen saßen und standen sie lethargisch herum, litten sie alle in dieser Straßenbahn, weil irgendeine idiotische Betriebsanordnung des Bahnunternehmens das Öffnen der Fenster verbat. Was taten sie dagegen? Nichts. Bis ein mutmaßlicher Hartz – Vierler mit einem illegalen Messer und einer vehementen Bierfahne die Initiative übernahm. Er machte genau das, was der logische Menschenverstand eigentlich gebot, wozu aber niemand außer ihm den Mut hatte.

Es knackte in den Lautsprechern an der Decke, eine dünne, genervte Stimme rutschte aus der beinahe schleimigen Luft über ihren Köpfen.
„An den Mann beim zweiten Einstieg! Lassen sie das Fenster in Ruhe, die Fenster sind nicht zu öffnen. Lassen sie das, oder sie kassieren eine Anzeige wegen Sachbeschädigung!“

Claires Schwindel wurde zu einem Strudel. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Auch wenn eigentlich das Metall nicht direkt mit ihrer Haut in Berührung kam, spürte sie plötzlich den Keuschheitsgürtel als ein glühendes Dreieck um ihren Unterleib. Schmerzhaft, und zugleich von unerträglicher Energie, stärker als jeder Orgasmus, den sie bisher erlebt hatte, allerdings nur für die Dauer eines Sekundenbruchteils. Die Welt – das Universum der überfüllten Straßenbahn – verschwamm rotierend vor ihren Augen. An die Stelle trat etwas Anderes, drängte sich mit Macht in ihr nach vorne, bis es ihren ganzen Kopf einzunehmen schien. Distanziert stellte sie fest, daß sie schrie, daß sie der Stimme des Fahrers etwas erwiederte. Was umso verstörender war, als sie sich einerseits völlig klar fühlte, andererseits aber wie in einem kurzfristigen Rausch, bei dem etwas anderes die Kontrolle über sie an sich riss. Der ganze Zauber dauerte keine drei Sekunden, dann war sie wieder völlig bei sich. Die Erinnerung an den soeben erlebten Moment wirkte wie der blasse Schemen eines Jahre zurückliegenden Ereignisses. Zugleich meinte sie immer noch den Wiederhall ihrer Worte zu vernehmen.
„Halt die Klappe, und fahr! Ignorier das und schreib nachher deinen Bericht, aber halt die Klappe, Mann!“

In diesem Moment waren tatsächlich alle Augen auf sie gerichtet. Was sie aber in den Gesichtern las, waren Zustimmung, Anerkennung und hier und da Schadenfreude. Der Alkoholiker von gigantischer Gestalt musterte sie mit einem Ausdruck, der beinahe schon Ehrfurcht ausdrückte. Dann schüttelte er den Kopf, lachte, und wandte sich wieder dem Fenster zu, das kurz darauf ein Klicken vernehmen ließ, und sich bereitwillig öffnen ließ.

Glücklicherweise verblasste das verstörende Bild, welches Claires Kopf während ihrer kurzen Absence erfüllt hatte, ziemlich schnell. Bald schwanden die drei seltsam verformten, ineinander verdrehten Uhrzeiger zur Unkenntlichkeit. Was blieb, war eine seltsame Unruhe, als würde das zu schnelle Ticken einer Uhr ihren Herzschlag beschleunigen…

Mike bemühte sich um eine lässige Position, wippte ein wenig mit seinem Stuhl, während der Mann ihm gegenüber erste Anzeichen von Zorn erkennen ließ. Es war eigentlich immer das Selbe, wenn es auf das Ende eines Schuljahres zuging. Eltern, die sich in der Zeit davor einen Scheyßdreck um ihre Kinder gekümmert hatte, ging nun eine mögliche Nicht – Versetzung gegen den Strich. Also versuchte man, ein wenig auf die Lehrer einzuwirken, um dem Theater zu entgehen, selbst in der Erziehung aktiv werden zu müssen. Man war ja ein guter Mensch und ein toller Vater, auch das Kind war ja nicht wirklich unbegabt, sondern nur ein wenig faul vielleicht. Das sollte sich doch alles in einem guten Gespräch regeln lassen, richtig?

Falsch.

Die entsprechende Schülerin war schlichtweg schlecht. Nicht faul, nur etwas überheblich und obendrein den Anforderungen des Unterrichts nicht gewachsen. Für einen Vater, der Chefarzt oder so etwas in der Art war, bedeutete das natürlich eine ganz fatale Schmähung. Aber das war nicht Mikes Problem. Die fünf, die das Mädchen bekommen würde, war schon eher eine Gnadenfünf. Er hatte sicher nicht die Absicht, die Schülerin mit einem speziellen Maßstab zu messen, nur weil ihr Vater sich für eine Nichtversetzung der Tochter vor seinen Kollegen schämen musste.

„Herr Schlick…“
„Doktor.“
„Verzeihung?“
„Doktor Schlick, bitte.“
„Es tut mir leid, aber ich kann Andrea nicht anders bewerten, als alle anderen Schüler auch. Die Leistungen sind wie sie sind. Vielleicht hätten sie etwas früher kommen können. Ich habe sie immerhin vor drei Monaten schon deswegen angeschrieben. Dann hätten wir uns zusammen überlegen können, wie wir die Situation hinbekommen.“
„Damit sind sie jetzt natürlich ein bisschen spät, Herr Mommsen.“
„Genau davon rede ich ja. Deshalb hätte ich sie gerne deutlich früher gesehen.“
„Das kann jetzt nicht ihr Ernst sein. Sie lassen Andrea durchfallen, wegen einem Fach wie Geschichte?“
„Nein. Nicht wegen dem Fach, sondern wegen ihrer Leistung in dem Fach.“
„Wissen sie, wie das für mich klingt?“
„Wissen sie, wie wenig mich das interessiert, wie das für sie klingt? Ich mache meinen Unterricht, die Mitarbeit und den Lernerfolg der Schüler habe ich anschließend zu bewerten. Dabei habe auch ich mich an die entsprechenden Vorgaben zu halten.“
„Ihr Unterricht scheint ja eine schöne Katastrophe zu sein.“
„Dann sollten sie vielleicht das Kultusministerium dazu anregen, meine Leistung dahingehend zu überprüfen.“
„Das könnte ich tun. Aber sie könnten dem auch ganz einfach entgehen.“
„Da sehe ich keine Möglichkeit.“
„In dem Fall warne ich sie schon mal vor. Es wird mir eine Vergnügen sein, dafür zu sorgen, daß nicht mehr jeder dahergelaufene Neger an deutschen Gymnasien deutsche Geschichte unterrichtet. Daß das nicht funktioniert, dafür sind sie ja mal das beste Beispiel.“

Normalerweise ließen rassistische Äußerungen Mike kalt. Solche Bemerkungen, die tatsächlich böswillig waren, ignorierte er für gewöhnlich weitestgehend. Scherzhaft gemeinte Anspielungen auf seine Hautfarbe fand er teilweise sogar komisch, konnte darüber durchaus lachen. Gelegentlich, meistens ab einem gewissen Alkoholpegel, riss er selbst sogar tendenziell rassistische Witze.

Umso überraschender war für ihn seine Reaktion in diesem Moment. Er hatte in der Sekunde, als seine linke Hand nach vorne schnellte, dem „netten Rassisten von nebenan“ die Brille von der Nase griff, während die rechte ausholte und ihren Abdruck auf der linken Backe des Dr. Schlick hinterließ, eigentlich keine Kontrolle über das was er tat. Dennoch hatte er nicht das Gefühl, affektvoll auszurasten, sondern vielmehr für eine Sekunde fremdgesteuert zu sein. Immerhin fühlte er sich bei der Aktion völlig klar, keineswegs entrückt. Abgesehen vielleicht von dem kurzen Aufleuchten eines grellen, brutalen Bildes in seinem Verstand, das er sich zunächst nicht erklären konnte.

„Das…“
„Nix „das“, Herr Mommsen. Ich würde sagen: Das war’s für sie. Ein Fall für’s Gericht wird das, das verspreche ich hoch und heilig!“
„Hören sie, Herr Doktor Schlick, es tut mir leid. Ich habe da die Fassung verloren, es…“
„Ja, leid wird ihnen das wirklich tun. Geben sie mir meine Brille wieder!“
Während Mike einem den Tränen nahen Doktor Schlick sein Nasenfahrrad zurückgab, wurde ihm vage bewusst, daß sich der Schritt seiner Hose durch eine Errektion ausbeulte, die zwar gerade im Abklingen war, einem aufmerksamen Beobachter aber dennoch hätte auffallen müssen. Glücklicherweise war der Mann, den er gerade geschlagen hatte, derzeit alles andere als ein aufmerksamer Beobachter.

Während er bei dem havarierten Polo auf den Abschleppdienst wartete, wünschte er sich nicht nur zum ersten Mal seit über fünf Jahren eine Zigarette, sondern auch, daß die zwanghaften Gedanken an Claire und ihren Keuschheitsgürtel zurückkehren möchten. Um seinen durcheinander gewirbelten Verstand ein wenig zur Ruhe zu bringen. Er wollte nur noch die Gedanken an seinen Ausraster verdrängen, damit würde er sich noch früh genug wieder ausseinandersetzen müssen. Wodurch die Erinnerung an sein neues Problem aber dann wirklich verdrängt wurde war das Bild. Im Gegensatz zu Claire in der Straßenbahn, konnte Mike das Gesehene durchaus einordnen. Es war die Uhr, das eigenartige Ziffernblatt aus Perlmutt, die drei seltsamen, bauchigen Zeiger. Die Zeiger bewegten sich in absurden, mathematisch völlig unmöglichen, gegenläufigen Kreisbahnen, verkrümmten sich und bildeten etwas wie ein abgerundetes, dreigliedriges Swastika. Er schüttelte sich, als bekäme er eben trotz der Hitze eine Gänsehaut.


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  RE: Unter fremden Monden Datum:30.05.11 11:42 IP: gespeichert Moderator melden


sehr gut geschrieben!!! bin sehr gespannt auf eine Fortsetzung
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  RE: Unter fremden Monden Datum:30.05.11 17:24 IP: gespeichert Moderator melden


5.

Der Samstag brachte keine Abkühlung. Es war ebenso heiß wie an den Tagen zuvor, doch immerhin verwehte ein trockener Wind sie stickige Feuchtigkeit. Obwohl beide am letzten Abend nicht gerade in der Stimmung für erotische Spiele gewesen waren, hatte Claire die Nacht in Fesseln verbracht, und erbärmlich schlecht geschlafen. Trotzdem fühlte sie sich einigermaßen stolz. Umso mehr, als sie auch Mikes Stolz spüren konnte. Seinen Stolz und die Begierde in seinen Augen, wenn er sie ansah, über ihr Haar strich oder ihre Lippen mit den seinen berührte, was er an diesem Vormittag oft und ausgiebig tat.

Mit jeder dieser elektrisierenden Berührungen schien Claires Welt intensiver zu werden. Gefühle empfand sie so viel stärker als sonst, nicht nur ihre Lust. Beinahe jede Sinneszelle ihres Körpers lief geradewegs zu Hochform auf. Claire wollte mehr. Ihr Körper wollte sich dem Rausch hingeben, der Generator zwischen ihren Beinen schrie nach Erlösung; ihr Geist als Katalysator verlangte nach noch stärkeren Reizen, sowie nach Verlängerung der emotionalen Anspannung.

Sie war dabei sich einen Plan zu überlegen, wie sie Mike dazu bringen könne, ihr noch mehr Restriktionen aufzuerlegen, sie noch mehr anzuheizen, sie mittels noch stärkerer Reize zur Ekstase zu bringen. Darum ließ Mike sie schließlich auf dem Sofa alleine. Der geschockte Ausdruck im Gesicht seiner Frau brachte ihn zu Grinsen als er plötzlich aufstand.
„Kühl dich mal etwas ab, Feuerfüchsin! Ich hab´ da noch einen ganzen Stapel aufgequollene Klausurhefte, um die ich mich kümmern muss.“
„Nicht dein Ernst oder?“
„Oh doch! Wenn wir jetzt nicht aufhören, dann platzt du. Und ich auch. Soviel dazu.“
„Wenn du jetzt gehst, mach‘ ich den Rest einfach alleine.“
„Aha. Das würde ich zu gerne sehen.“
„Du weißt sehr wohl, daß das geht.“
„Kann sein. Aber du weißt ebenso gut, daß ich dann ziemlich sauer wäre. Sei einfach mal hübsch brav, dreh Däumchen, und dann denk‘ ich mal drüber nach, ob du vielleicht morgen eine tolle Belohnung bekommst.“
„Bis dahin bin ich so ausgelaufen, daß innen alles trocken wie die Sahara ist…“
„Dann solltest du ein Handtuch unterlegen, wenn du hier auf dem guten Sofa bleiben willst.“

So intensiv die Freude eben noch gewesen war, so unerträglich war nun die Frustration. Grummelnd ließ sich Claire auf dem Sofa auf den Rücken fallen, warf ein Bein über die Lehne, streckte das andere auf die Kissen und versuchte, ihre Hände irgendwie so zu platzieren, daß sie keinen Unfug anrichten konnten. Es war perfide, aber im grunde hatte Mike ihr genau das gegeben, was sie wollte. Erst angeheizt wie ein Brathähnchen und dann ins kalte Wasser fallen lassen. Aus die Maus.

Dem Körper fiel es schwer, wieder zur Ruhe zu kommen, dem Geist noch schwerer. Beherrschung war das Zauberwort. Doch Selbstbeherrschung fiel so viel schwerer, als beherrscht zu werden…

Als es an der Tür Sturm läutete, hatte sie so schön gedöst. Ihr Körper schien flüssig geworden zu sein und in schwereloser Freiheit durch einen Ozean aus Zeit zu treiben. Der Geist gelöst, gegenstandslos, unabhängig. Absoluter Frieden, sanftes Schweben im Licht. Dann durchbrochen von schrillem Geplärr: Seit vier Jahren dachten beide regelmäßig darüber nach, eine neue, angenehmere Klingelanlage einbauen zu lassen.

Stimmen an der Tür: Mike und Roland, Claires Vater. Sie setzte sich auf, bemühte sich, das dünne Kleid möglichst so zu arrangieren, daß es komische Formen um ihren Unterleib effektiv verheimlichte. Eigentlich hätte sie duschen sollen, ihr Geruch war schwach, aber relativ eindeutig. Peinliche Sache, vor allem, wenn der Besuch der eigene Vater war. Also jetzt aufstehen, Begrüßung, Umarmung, Bussi links und Bussi rechts? Eher nicht. Das Ertasten eigentümlicher, harter Strukturen über ihrem Bauchnabel oder wenn er ihr übers Kreuz strich, waren nicht unbedingt in ihrem Sinne. Obwohl sie so einen Verdacht hegte, daß ihr Vater ohnehin schon so Einiges ahnte. Aber er sollte ahnen, was er wollte, hatte er doch bisher nie etwas gesagt. Solange es sich einrichten ließ, war Claire nur zu gerne bereit, das Thema zu verdrängen und sich und ihrem Vater irgendwelche Peinlichkeiten zu ersparen. Sie streckte sich wieder auf dem Sofa aus, nahm unangenehmes Kneifen in kauf, als sie die Beine übereinander schlug, und blickte in ein hageres Gesicht mit krausem, grauem Vollbart und runder Brille, das über der Sofalehne auftauchte.

„Schläfst du?“
„Morgen, Paps. Ich hab‘ eher so’n bisschen gedöst. Schlecht geschlafen, letzte Nacht.“
„Die Hitze, was?“
„Schätze schon.“

Er beugte sich herunter, drahtiger Bart kitzelte auf ihrer Stirn und der Nase.
„Immer noch um keine Lüge verlegen, Streuselkuchen?“
„Was? Ich hab‘ doch nicht…“
„Wann hättest du je wegen heißem Wetter schlecht geschlafen? Das wäre ja was ganz Neues. Claire, ich bin zwar alt und werde langsam tatterig, aber ich bin noch nicht… Äh, wie sagt man? Tatterig, genau.“
„Wolltest du nicht nach der Standuhr sehen?“
„Ah, ja! Lass dich von mir nicht stören, auch wenn es mir Spaß macht.“
„Ich habe wirklich schlecht geschlafen, Paps.“
„Glaub‘ ich dir. Aber nicht wegen der Hitze.“
Roland legte eine Tasche mit Werkzeug und sein dickes, zerfleddertes Notizbuch auf die Anrichte neben der Uhr.
„Ich hoffe ja nur, es ist nicht wegen Cassandra. Das ist jetzt so lange her, Claire, daß…“
„Nein, es war ganz sicher nicht wegen Cassandra. Und ich will ganz bestimmt jetzt auch nicht über Cassandra reden. Denn es ist lange her, aber noch lange nicht lange genug.“
„Ich weiß, daß wird niemals…“
„Papa, bitte!“
„Ihr hattet auch keinen Streit, du und Mike?“
„Wenn du’s wirklich wissen willst, wir hatten so in etwa das genau Gegenteil von Streit.“
„Ok, ich will’s gar nicht wissen.“
„Danke!“

Auf jeden Fall hatte ihr Vater es geschafft, ihr jeden erotischen Gedanken auszutreiben. An Schlaf oder liquides Dahindösen war ebenfalls nicht zu denken, erst recht, nachdem Roland ungefragt die Stereoanlage einschaltete, auf Kanal 6 Radio Rockland fand, und zu den irgendwie eher nervigen Klängen von Bon Jovi an dem Ungetüm herumzubasteln begann, das er ihnen am Donnerstag ungefragt ins Wohnzimmer gestellt hatte.

Claire hörte Mikes Schritte trotz der lauten Musik, linste über die Sofalehne, und sah ihren Mann kopfschüttelnd im Durchgang zur Diele stehen. In der einen Hand hielt er ein Telephon, mit der anderen rieb er sich das Kinn, wobei er absolut dämlich aussah. Claire hob einen Finger an die Lippen, Mike zeigte ihr einen Vogel, anschließend auf Roland, dann verließ er den Raum, die Tür hinter sich zuziehend.

Sie versuchte verzweifelt, wieder ein wenig wegzudriften, das große, warme Blau wiederzufinden, aber das Radio dudelte ein viel zu glattes Lied nach dem anderen; die friedliche Stimmung des Vormittags war tot. Claire setzte sich auf. Rockland hatte in letzter Zeit stark nachgelassen, vielleicht sollte sie den Sender aus der Liste schmeißen.
„Weißt du, Streuselkuchen, ich habe so das Gefühl, daß Rockland in letzter Zeit stark nachgelassen hat, weil…“
„Dann such dir `nen anderen Sender. Oder mach dir `ne CD an.“
„Ich habe übrigens ein paar schöne, alte Schallplatten bekommen, aus einer Haushaltsauflösung. Wenn du sie dir mal anschauen willst…“
„Ich denk‘ mal `drüber nach, ok?“
„Nerv‘ ich dich irgendwie?“
„Nein. Ich hab‘ nur schlecht geschlafen.“
„Und hast keine Lust, dich zu unterhalten.“
„Ich geh‘ jetzt duschen, und dann mach ich Kaffee, und mit ein bisschen Glück kann ich Mike motivieren, noch schnell zum Bäcker zu fahren. Für Kuchen.“
„Fein!“

Mike war gerne bereit, beim Bäcker vorbeizuradeln. Er hätte auch den BMW nehmen können. Am Nachmittag des Vortages hatte er in der Werkstatt zwar noch fast eine Stunde warten müssen, aber immerhin konnte er dann den eigenen Wagen wieder mitnehmen. Auf den nicht funktionierenden Tempomaten konnte er gerne verzichten.

Aber wozu an einem solchen Tag ein Auto bewegen, wenn er mit dem Rad auch kaum länger brauchte? Außerdem hatte sich nach dem Telephonat mit Göran Schmidtner seine Stimmung drastisch verbessert. Göran Schmidtner war ein Freund aus Schulzeiten. In der Oberstufe war Göran der größte Kiffer von ihnen allen gewesen, außerdem nur etwa jede zweite Stunde anwesend, berühmt für diverse Verweise, Unfälle mit fremden Autos unter Alkoholeinfluß und jeden Tag irgendwie mit einem anderen Mädchen zusammen. Inzwischen hatte Göran Jura studiert, führte eine eigene Anwaltskanzlei und lebte mit einem zehn Jahre jüngeren Profisportler zusammen. Mike hatte Göran angerufen, um sich ein paar Erkundigungen wegen der Ohrfeigen – Geschichte einzuholen, und Göran hatte ihm angeboten, sich persönlich darum zu kümmern. Er habe gerade einen Prozeß für irgendeinen Energiekonzernsobermacker abgeschlossen, natürlich zur vollsten Zufriedenheit des Klienten, und im Moment ausreichend Zeit, um eine kleinere Sache für einen alten Freund zu regeln.

Im Garten nebenan hatte jemand einen kleinen Pool aufgebaut, der nicht nur den beiden Buben der Hartwigs, sondern auch einer recht großen Schar an halbwüchsigen Freunden der Jungs ein nasses und lautsarkes Vergnügen bereitete. Quasi als Kontrastprogramm dazu hörte auf der anderen Seite der verwitwete Kriminaloberkomissar a.D. Hieronimus Gross eine Puccini – Oper mit offenen Fenstern. Das tat er natürlich mit angemessener Lautstärke; sein Gehör war nicht mehr das Allerbeste.

Statt Kaffe hatten sich die Mommsens kurzfristig für Eistee entschieden. Roland Falk trank davon ungefähr eine ganze Kanne, dazu vertilgte er sage und schreibe drei Stücke Erdbeerkuchen. Es schien ihm weder aufzufallen, daß seine Tochter sich für ihren Ratansessel nach wenigen Minuten ein zweites Polster holte, noch daß sie in der schönsten Mittagshitze eine dicke Jeans mit Gürtel trug, dazu eine Bluse und darüber noch ein recht langes Stricktop. Seine Aufmerksamkeit schien durch die Kulisse an Sommergeräuschen abgelenkt zu sein.

„Also, ich verstehe ja nicht wirklich, was euch in dem Spießerviertel noch hält.“
„Wieso? Das Haus ist doch Klasse. Sowas finden Claire und ich nicht mehr so schnell. Und der Garten ist doch schön.“
„Ach, wer braucht schon einen Garten. Wenn ich grün will, fahre ich hoch in den Schwarzwald. Ich find’s zu laut hier.“
„Dich stören die Kinder?“
„Ne. Der Opernfetischist stört.“
„Ach, komm. Besser als Radio, oder nicht?“
„Was du nicht sagst, Claire. Aber ganz im Ernst: Bei mir ist es ruhiger. Direkt in der Innenstadt. So viel Gelärm hab‘ ich da noch nie gehabt.“
„Dafür ist hier ab zehn Uhr abends Ruhe.“
„Ja, wie auf dem Friedhof wahrscheinlich.“

Es fiel Roland zu spät auf, daß seine letzte Bemerkung nicht so ganz passend war. Claire stocherte etwas abwesend in Resten von Kuchenteig auf ihrem Teller, Mike hatte den Ellenbogen auf die Lehne seines Sessels gestützt, das Kinn auf der Faust. Ganz besonders konzentriert betrachtete er die Hecke, hinter der die Freudenschreie von mindestens sieben Kindern mit dem Platschen und Schwappen des Pool wetteiferten.

„Tut mir leid, ich bin ein Idiot. Warum muss ich auch immer jeden Scheyß, den ich gerade denke, laut aussprechen?“
„Ist schon ok, Paps. Das liegt nicht an dir, wir haben ja sonst auch keine Probleme, wenn jemand was sagt. Aber manchmal kommt’s eben doch durch…“
„Wegen der Uhr muss ich noch mal kommen, die Woche.“
„Du hast ja `nen Schlüssel.“
„Ich bin halt doch kein Uhrenexperte. Aber ich habe einen Bekannten, der sowas macht. Mit dem werd‘ ich mal reden, weil ich glaub‘, daß ich ein paar Ersatzteile brauche. Aber das krieg‘ ich schon hin, kein Problem.“
„Es eilt ja nicht. Ich finde die Uhr übrigens ganz hübsch…“
„Und du, Mike? Oder hättest du lieber noch ein Laufrad?“
„Sie passt zur Anrichte.“

Zum Abschied drückte Claire ihren Vater. Wenn der dabei etwas Ungewöhnliches spürte, dann schlimmstenfalls den Gürtel ihrer Jeans. Trotzdem kassierte sie wieder so einen Blick, irgendwie wissend, etwas spöttisch und auch angehaucht mit einem Schuß väterlicher Sorge. Daß er natürlich vergessen hatte, die Standuhr wieder an die Wand zu rücken, war keine Überraschung. Eher schon ungewöhnlich war sein Notizbuch, daß er aufgeschlagen auf der Anrichte hatte liegenlassen. Ungewöhnlich deshalb, weil er dieses Büchlein normalerweise wie seinen Augapfel zu hüten pflegte. Kopfschüttelnd klappte Claire das Buch zu und legte es in der Diele bereit. Es konnte sicher nicht lange dauern, bis Roland seinen Verlust bemerkte und wieder bei ihnen vor der Haustür stand.



© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
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  RE: Unter fremden Monden Datum:30.05.11 20:50 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo Turambar,

du hast deine Geschichte intelligent, einfühlsam und anschaulich geschrieben. Du vermagst Szenerien genau und nachvollziehbar zu beschreiben und nutzt die personale Erzählperspektive, um die Stimmungen und Reaktionen auszudrücken, aber auch eine gewisse Distanz zu wahren. Die Sätze sind gekonnt gebaut, ohne unübersichtlich zu wirken. Die Wortwahl ist durchweg situationsangemessen und treffsicher. Es macht mir Freude, deine Geschichte zu lesen. *lobrüberbeam*

Viele Grüße von

Bluevelvet (der diesen seinen Kommentar viel zu trocken und schulmäßig findet)


[Edit]: Dieser Eintrag wurde zuletzt von bluevelvet am 30.05.11 um 20:59 geändert
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  RE: Unter fremden Monden Datum:31.05.11 17:43 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo, bluevelvet!

*rübergebeamteslobgenieß*

Und doch denke ich, daß einige Leser enttäuscht sein mögen. Zu wenig Sex, zuwenig Kopfkino. Aber diese Geschichten überlasse ich lieber anderen Autoren, die das besser können. Diese Erzählung wird sich auch noch in unvorhergesehene Richtungen entwickeln, aber es wird wohl nie eine vordringlich erotische Geschichte werden. Das ist schon auch ein Bestandteil, aber genauso wie Sex und Erotik Teile des Lebens sind, soll sich diese Erzählung auch in einem weiter gefassten Rahmen bewegen.

Die Formulierung der Sätze, die Wortwahl und auch die inhaltliche Gestaltung erfordern auch immer einen ziemlichen Aufwand. Es ist fast wie Arbeit. Aber es macht Spaß, umso mehr, wenn dazu auch etwas an Feedback `rüberkommt, wenn ich also das Gefühl habe, daß mein Geschreibsel tatsächlich ankommt.

Übrigens, wegen "trocken und schulmäßig": Solche Kommentare hätte ich in der Schule lieber unter meinen Klausuren gelesen, als einen Haufen Fragezeichen und eine leicht verwirrte Drei. Ich war ein furchtbarer Schüler. Als ich gemerkt habe, daß manche Lehrer mit langen Sätzen Probleme haben (auch wenn die Sätze korrekt sind), habe ich mir bisweilen einen Spaß daraus gemacht, Satzmonstren über eineinhalb Schulheftseiten zu konstruieren. Lesbar war das nicht. Ich gebe mir Mühe, das besser zu machen.

Viel Spaß beim nächsten Abschnitt des ersten Kapitels (von so ca zwanzig bis dreißig)!

Grüße, Turambar.
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  RE: Unter fremden Monden Datum:31.05.11 17:45 IP: gespeichert Moderator melden


6.

Was aber nicht geschah. Roland tauchte weder am Samstag noch am Sonntag auf. Mike war sich sicher, daß mit Claires Vater alles in Ordnung war, aber sie blieb unruhig. Mehrmals wählte sie Rolands Festnetz – und Mobilfunknummer an, wo sie jeweils mehrere Nachrichten hinterließ, als sich lediglich der Anrufbeantworter beziehungsweise die Mailbox meldete.

Nach dem Abendessen hatte Mike endgültig genug. Es war kurz nach sechs, das Wetter traumhaft schön, also packte er Handtücher, zwei Gläser und eine Flasche Wein in den BMW und schnappte Claire das Telephon aus der Hand, als sie eben die Wahlwiederholungstaste drückte.
„Tu mir einen Gefallen, ok? Vergiss Roland für ein paar Stunden, der kommt schon alleine zurecht. Lass dein Handy hier und komm mit zum Baggersee. Sonst fahre ich alleine, trinke die Flasche Wein leer, gerate dann auf dem Heimweg in eine Polizeikontrolle und muss meinen Lappen abgeben.“
„Findest du das normal, daß er nicht auftaucht und auch nicht erreichbar ist?“
„In einem Wort: Ja. Er ist irgendwo unterwegs, komischen Krempel kaufen oder Angeln oder so. Er hat sein Handy irgendwo liegengelassen, weil wenn er sogar sein Buch hier vergisst, wie soll er das an sein Mobiles denken?“
„Er muss gemerkt haben, daß sein Buch weg ist. Ich frag‘ mich eben, warum er sich dann nicht meldet.“
„Weil er genau weiß, daß es hier ist? Weil er es einfach heute nicht braucht? Weil er vielleicht zehn Mal versucht hat, bei uns anzurufen, du aber die ganze Zeit die Leitung blockiert hast?“
„So ein Schwachsinn!“
„Lass uns an den Baggersee fahren. Hallo? Ich bin auch noch da. Du könntet etwas mehr Interesse an deinem Keyholder zeigen, weil sonst Keyholder frustriert ist, sauer wird, und irgendwann auch keinen Bock mehr auf dich hat.“
„Ah! Erpressung!“
„Deine letzte Chance, Fähe! Schwing die Hufe!“
„Pfoten, wenn überhaupt.“

Der BMW rumpelte langsam über normalerweise für den Verkehr gesperrte Waldwege, bog links ab, rechts ab, zog sich den Zorn einer Gruppe Radler zu und erreichte das abgelegene Nordufer des Baggersees. Es war „ihre“ Stelle, für gewöhnlich fuhren sie den Platz mit dem Rad an, doch für Claire waren Fahrradsättel nicht nur sprichwörtlich ein rotes Tuch, wenn sie verschlossen war.

Vom improvisierten Parkplatz des BMW führte ein schmaler Pfad durch dichten Wald, rauschende Blätter über ihnen, Schattenspiele im Unterholz, wo die Sonne einen Weg durch die Bäume fand. Der Pfad endete an einer kleinen, sandigen Bucht. Selten kamen Badegäste an diese Stelle. Meistens waren es dann Pärchen, die in romantischer Stimmung die Abgeschiedenheit suchten. An diesem Sonntag waren es ein paar Jugendliche, die dort einen ruhigen Platz zum Kiffen gefunden hatten.

Claire wollte direkt umkehren, als sie die Gruppe von benebelten Halbstarken am Ufer sitzen sah. Mike grinste nur, legte den Finger auf die Lippen und näherte sich den Jugendlichen.
„Schöner Platz hier, nicht? Hallo, Vera, Markus und Jason. Die erste Stunde fällt übrigens morgen nicht aus. Das ist ein Gerücht, das wohl Eric in die Welt gesetzt hat.“
Vier glasige, rote Augenpaare starrten Mike an, als wäre er ein Gespenst oder ein Dämon aus der Hölle.
„Seid ihr noch ein Weilchen hier? Es stört euch hoffentlich nicht, wenn ich mich ein bisschen mit meiner Frau dazusetze. Wir können gerne schon mal eure Klausuren durchgehen, die ihr morgen zurückbekommt.“
Mike brauchte sich nicht umzusehen, er wusste genau, daß Claire schwer zu kämpfen hatte, um nicht laut lachen zu müssen.

„Ääääh… Also, eigentlich wollten wir gerade los, Herr Mommsen.“
Jasons Gesicht war inzwischen fast genauso rot wie seine Augen. Den Joint hatte er beinahe panisch ins Gebüsch geschnippt, als Mike sie angesprochen hatte. Die anderen hatten bereits mit unbeholfenen Bewegungen angefangen, sich anzuziehen, Decken, Tabak und Getränke einzupacken.
„Ach, seid doch so gut, und nehmt auch die leeren Bierflaschen mit. Ist doch Pfand drauf. Und Jason?“
„Häh? Was?“
„Schnapp dir mal eine von den leeren Flaschen, mach Wasser rein und schütt‘ es über den Joint. Muss ja nicht sein, daß der das Gebüsch abfackelt. Ins Wasser werfen wäre übrigens nicht weniger auffällig, aber deutlich weniger bescheuert gewesen.“

Die Schatten wurden länger, das Licht goldener, der Wind schlief ein. Auf der Wasserfläche zwischen der kleinen Bucht und der Insel, zu der Mike und Claire geschwommen waren, wasserten zwei Schwäne. Dort am Wasser lagen ihre Kleider auf der Böschung, ebenso die Handtücher. Mike hatte die Weinflasche und zwei Gläser mitgenommen, Claire den Autoschlüssel. Ein Geistesblitz hatte Mike den Schlüsselbund sicher an einem der Schlösser von Claires Blechhöschen befestigen lassen. Nun bimmelte sie wie ine Katze mit Glöckchen, wenn sie sich bewegte.


Die Flasche war zu zwei Dritteln geleert, als die Sonne unterging. Leicht fröstelnd suchte Claire die Wärme von Mikes Körper. Sie war völlig nackt, bis auf eine knapp geschnittene Badehose, und die bestand in ihrem Fall aus Metall. Vom anderen Ende des Sees waren die Geräusche einer illegalen Grillfete zu hören, eine schlecht gestimmte Gitarre wurde gespielt und ein Mädchen sang dazu betörend schief. Die Klänge waren weit genug entfernt, so daß sie die Ruhe auf der kleinen Insel nicht wirklich störten.

Claire schob ihre Füße unter Mikes Unterschenkel.
„Ist dir kalt?“
„Ein bisschen.“
„Du solltest noch etwas Wein trinken.“
„Alkohol wärmt nicht. Das ist eine Illusion.“
„Aber eine verdammt Gute!“
„Schenk mir mal ein!“

„Diese Typen an unserer Stelle waren Schüler von dir?“
„Drei von ihnen, ja.“

„Nimmst du mich eigentlich ernst, Mike?“
„Was? Wie meinst du das jetzt?“
„Wie ich es sage. Manchmal habe ich das Gefühl, daß du über mich lachst. So innerlich, meine ich.“
„Was soll der Quatsch? Ich lache über dich, wenn du was Witziges sagst, oder was Komisches machst, oder…“
„Verstehst du mich jetzt bewusst falsch? Du weißt, daß ich das nicht meine.“
„Claire, was genau willst du gerade von mir?“
„Ehrlichkeit.“
„Aha.“
„Machmal nimmst du mich nicht für voll. Machst du das bewusst, oder denkst du einfach nicht nach?“
„Ich liebe dich. Aber manchmal bist du rätselhaft.“
„Dann gib‘ dir mal Mühe.“

„Geht es dir um unser Spiel?“
„Um unser Spiel. Haargenau. Vor allem darum, daß du es so ganz einfach und würdelos „das Spiel“ nennst.“
„Ist es das nicht? Willst du es nicht? In dem Fall…“
„Das weißt du ganz genau. Du weißt, daß es mir gefällt, und dir gefällt es auch. Also warum habe ich immer wieder das Gefühl, daß es für uns nicht das Selbe ist?“
„Es ist gar kein Spiel für dich.“
„Es ist solange ein Spiel für mich, wie du es nicht ernst nimmst. Du rennst nicht mit so einem Teil rum. Du gibst dir nicht den Stress, nachts kaum ein Auge zuzubekommen, weil du dich nicht mal auf die Seite drehen kannst. Und wenn ich deswegen rumjammer‘ dann kommst du so ganz verständnisvoll daher, willst mich aufschließen, losbinden, was auch immer – aber du setzt dich nicht damit auseinander. Wenn es dir zuviel wird, dann ziehst du zurück. Ich bin die, die dann sagen muss, es ist alles ok, lass uns weitermachen.“
„Wenn es mir zu viel wird? Ich versuche nur, deine Grenzen zu respektieren, und wenn du mir sagst…“
„So siehst du aus! Wenn ich dir sage, ich will nicht, dann will ich in Wirklichkeit vielleicht, daß du mir sagst, daß ich muss. Mal daran gedacht?“
„Jetzt frage ich mich, ob du das nicht zu ernst nimmst. Ich habe einen Beruf, du hast einen Beruf. Wir haben ein Leben, dir geht’s doch auch nicht nur um Sex.“
„Es geht mir auch bei dem, was du so superniedlich „das Spiel“ nennst nicht nur um Sex. Das ist ein Teil davon. Ein Wichtiger, aber eben nur ein Teil. Ich hätte gerne mehr. Und ich spüre, daß es für dich eigentlich auch so sein sollte.“
„Aber ich kann doch nicht… Schon gut. Du liegst nicht daneben mit deiner Einschätzung. Ich werde aber ganz sicher niemals auf irgendwas bestehen, wenn du mir sagst, daß es nicht geht. Wie stellst du dir das vor? Ich kann dich nicht behandeln, wie meine Sklavin. Weil ich dich respektiere. Nicht nur als meine Frau, auch und ganz besonders als Partnerin. Als Freundin. Wenn du am Ende noch anfängst, mich jederzeit mit „Meister“ oder sowas anzureden, das mach‘ ich nicht mit.“
„So meine ich das auch nicht. Aber du hast vorhin was von Grenzen gesagt. Du kennst meine Grenzen nicht, und ich auch nicht.“
„Doch.“
„Ich bin mir sicher, daß du niemals zu weit gehen würdest. Also warum hältst du dich dann immer so vornehm zurück? Du wirst mich nicht verletzen. Was mich nämlich verletzt, ist daß du immer noch zu denken scheinst, du könntest zu viel von mir verlangen. Oder zu weit gehen.“
„Das denke ich?“
„Lieg‘ ich falsch?“
„Ja! Nein! Wenigstens denke ich überhaupt.“
„Schön für dich. Weißt du, wie das für mich klingt?“
„Vergiss‘ es!“
„Zu spät.“
„Wir sollten gehen. Es wird kalt.“
„Ja, eiskalt wird’s! Vor was hast du Angst? Ich bin sauer! Schön, daß du dich dann einfach aus der Affäre ziehst.“
„Vergiss den Autoschlüssel nicht.“

Mike setzte die Weinflasche an, kippte den letzten Schluck in einem Zug, griff sich die beiden Gläser und sprang ins nachtfinstere Wasser. Er zog sich aus der Affäre, zumindestens körperlich. Er hatte dazu einfach nichts mehr zu sagen. Das Thema war Claire wirklich wichtig, das stand fest. Wahrscheinlich hatte sie auch recht. Aber das, was sie von ihm wollte, und die Art, wie sie es ihm mitteilte, waren so paradox, daß sie sich eigentlich schon wieder selbst ad absurdum führte. Sie machte sich stark, verlangend, fordernd, und was forderte sie? Unterdrückt zu werden? Gequält zu werden? Was für ein Witz.



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  RE: Unter fremden Monden Datum:31.05.11 20:13 IP: gespeichert Moderator melden


Hi Turambar,

ach so ist das, die Schüler bauen bewusst diese überlangen Satzmonstren ... *gg* Meine Schüler verlieren allerdings spätestens nach einer halben Seite den Überblick über ihre Konstruktionen. - Die Sprache deiner Story ist völlig ok., auch die Satzlängen, die ja durchaus unterschiedlich sind. Wo steht denn geschrieben, dass man nur Hauptsatz an Hauptsatz reihen muss? Ich lese es gern etwas anspruchsvoller. Ein wunderbares Detail muss ich noch erwähnen:

> Die Schatten wurden länger, das Licht goldener, der Wind schlief ein.

So ein Satz ist einfach klasse, ein dichterischer Volltreffer. Es ist, als erlebte man die Abenddämmerung direkt mit. Schreib auf jeden Fall weiter. Und vielen Dank für die Mühe, die du dir machst.

VG Blue


[Edit]: Dieser Eintrag wurde zuletzt von bluevelvet am 31.05.11 um 20:27 geändert
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  RE: Unter fremden Monden Datum:01.06.11 18:29 IP: gespeichert Moderator melden


7.

„Es hat dir wirklich gefallen, Füchsin?“
„Es war… Am Anfang war’s schon komisch. Ich hätte nicht gedacht… Naja, daß es so schön wird. Es ist der Wahnsinn, richtig geil. So – Erfüllend, das ist es!“
„Wow.“

Claire war noch immer erhitzt. Sie saß im Bett, Mike lag neben ihr, seine rechte Hand ruhte warm auf ihrem rechten Oberschenkel. Helle Schweißperlen glitzerten auf seiner dunklen Haut, die glänzenden Augen wirkten wie ein Spiegel, in dem sie das Innerste und Erhabenste ihrer eigenen Seele zu erkennen glaubte. So unglaublich schön dieser Gedanke sich anfühlte, hatte er doch auch etwas Unheimliches, vor dem sie in gewisser Weise zurückschreckte, auch wenn es nicht geradewegs beängstigend war. Die Tiefe ihres Selbst, in die sie ihren Mann hatte eintauchen lassen, wiedergespiegelt zu sehen, erfüllte sie mit Wärme, mit Glück, mit Scham, mit Unbehagen. Sie fühlte sich zu offen, einerseits ungeschützt, andererseits geborgen in Mikes Liebe und Vertrauen. Selten hatte sie sich selbst Zutritt zu diesen Ebenen ihrer Seele erlaubt, und jetzt drang sie mit ihrem Mann zusammen dorthin vor, unter seiner Führung sogar. Wie weit konnte Vertrauen gehen?

Sie ließ sich rücklings in die Kissen fallen, atmete tief durch, während Mike sich auf die Seite drehte, seine Hand auf ihrem Oberschenkel ein Stück höher kroch und seine Linke das haarige Durcheinander auf ihrem Kopf glattstrich. Die Arme hielt sie über der Brust verschränkt, rieb mit ihren Händen über die Haut knapp oberhalb der Ellenbogen, wo die Spuren von Mikes Kletterseil eben im Begriff zu verschwinden waren.

„Weißt du, ich hatte echt Angst, daß du es ablehnst. Weil das hätte dann zwischen uns etwas zerstört, was wir nicht mehr so einfach wieder hätten gutmachen können.“
„Blödsinn, Mike. Ich weiß nicht, wie du auf so eine Idee gekommen bist, aber du hast gewusst, daß ich das nicht ablehnen werde. Nichts, was du machst, könnte mich je abstoßen.“
„Meinst du?“
„Ich weiß es.“
„Du würdest es wieder wollen?“
„Jederzeit.“


Ihre Nase juckte. Reflexartig versuchte ihre rechte Hand, das Übel zu bekämpfen, kam aber nicht weit damit. Ein leises Seufzen konnte sie nicht unterdrücken, aber Mike neben ihr auf der anderen Seite des Bettes atmete ruhig und gleichmäßig weiter. Warm und weich gebettet in Erinnerungen war sie dem Schlaf entgegengedriftet, doch das dämliche Jucken hatte sie erbarmungslos zurückgeholt. Hellwach starrten Claires Augen in die Dunkelheit des Schlafzimmers.

Zur kribbelnden Nase gesellten sich dumpfe, ziehende Schmerzen in den Schultern und Armen, sowie Druck auf ihrem Becken und im Kreuz, der stärker wurde, je mehr sie sich darauf konzentrierte. Ein Schaffell unter ihrem Rücken hätte eigentlich den nervtötenden Druck auf ihre unteren Lendenwirbel abschwächen sollen, aber so wirklich ausgereift war das System nicht unbedingt. Dafür allerdings einigermaßen zu warm. Claire spürte eine Träne aus ihrem Augenwinkel über die Schläfe rinnen. Der Fokus ihrer Wahrnehmung verschob sich ein wenig, ihr Bewusstsein stufte gnädigerweise die körperliche Schmerzwahrnehmung ein wenig zurück, befasste sich aufs neue mehr mit „inneren Angelegenheiten“.

Von dem kleinen Dissens auf der Insel im Baggersee war immerhin eine Botschaft bei Mike angekommen. Während der Heimfahrt schien er keineswegs sauer gewesen zu sein, nur nachdenklich. Dennoch hatte Claire beinahe enttäuscht zur Kenntnis genommen, daß er keine Anstalten machte, seine Ankündigung des Aufschließens an diesem Abend zurückzunehmen. Was allerdings folgte, war die überraschende Erfahrung, daß ihre Worte ihn durchaus berührt hatten. Verblüfft fand sie sich in der Badewanne stehend wieder, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Ihr Körper wurde von Mike gewaschen, mit besonderer Hingabe widmete er sich der gründlichen Pflege ihres Intimbereiches, trieb sie dabei bis kurz vor die Spitze, um ihr kurz davor die Erfüllung zu verweigern.

Breit grinsend trat er zwei Schritte zurück, ließ sie breitbeinig und tropfnass in der Wanne stehen. Mit großer Zufriedenheit musterte er seine ziemlich verblüffte Fähe, schnitt ihr prompt das Wort ab, als sie den Mund öffnete.
„Excellent, passt doch. Bleib so, warte hier einen Moment. Bin gleich wieder da, ich muss nur noch schnell was vorbereiten.“
Claire klappte den Mund zu, ohne etwas zu sagen, was sich ohnehin nicht gelohnt hätte, denn Mike ließ sie einfach stehen. Sie versuchte, in der Position zu verharren, aber ihre Füße begannen in der nassen Wanne zu rutschen, also stellte sie diese etwas enger zusammen. Die Badezimmertür stand offen, kalte Luft flutete in den Raum, kühlte ihre nasse Haut und ebenso ihre Erregung unerbittlich ab.

Etliche Minuten blieb Mike verschwunden, sie hörte ihn auf der Treppe, hörte ihn im Schlafzimmer. Als er zu ihr zurückkahm, hatte sie eine Gänsehaut. Mit einem weichen, großen Handtuch rieb er sie gründlich trocken; das Spiel setzte von neuem ein, wieder ließ er ihr Barometer bis kurz vor den Anschlag steigen. Claire schloß die Augen, ließ sich treiben und landete unbarmherzig wieder auf dem Boden der Tatsachen, beziehungsweise des Badezimmers, als sich unvermittelt ein schneidend kalter Keuschheitsgürtel um ihre Taille und über ihre Scham legte. Erschrocken riss sie die Augen auf, schnappte stockend nach Luft.
„Verdammt, Mike, was hast du mit dem Ding angestellt? Ich vereise!“
„Im Gefrierfach war noch ein bisschen Platz. Wir sollten übrigens mal wieder Hähnchen machen.“

Die Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt wurde Claire ins Schlafzimmer geführt, wo sie sich über eine recht absurde Gurtkonstruktion auf dem Bett wundern durfte.
„Hä? Gehst du klettern, Mike?“
„Siehst du hier irgendwo Berge? Das ist für dich, geliebte Fähe. Eine anregende, keine Verschärfung, so du denn willst.“
„Wie soll das funktionieren? Ich bin gar gespannt, Meister.“
„Schön! Amtlich festgespannt bist du gleich.“

Das Sicherungssystem tat seinen Zweck ganz hervorragend. Mike hatte ihr die Klettergurte um Brust und Hüften gelegt und mit Reepschnüren analog zu den Hand- und Fußfesseln am Lattenrost befestigt. Ein Aufrichten des Oberkörpers war nicht mehr möglich, somit entfiel auch diese Möglichkeit, Becken und Kreuz ein wenig zu entlasten. So spürte sie Hitze, spürte jeden Muskel und Knochen in ihrem Körper überdeutlich und empfand ein irritierend paradoxes Glücksgefühl der Verzweiflung. War sie jetzt glücklich oder zufrieden? Konnte das sein, und für wie verrückt würde sie jemand halten, der sie in diesem Moment ansah, mit Tränen in den Augen und einem Grinsen im Gesicht?

„Sag mir endlich, wo wir hinfahren!“
Seit über zwei Stunden fuhren sie, rasten über die Autobahn einem mysteriösen Ziel zu, das nur Mike kannte. Er gab sich während der Fahrt wortkarg, insistierte darauf, eine Überraschung für sie vorbereitet zu haben. Irgendwo hatte die Raserei ein Ende, kriechender Verkehr, ermüdendes Stehen im Stau zerrte an Claires Nerven. Mike gab nach, griff in die Innentasche seiner Jacke und zog einige zusammengefaltete Zettel heraus, die er Claire wortlos in die Hand drückte.

Sie faltete die Papiere auseinander, studierte stirnrunzelnd die Ausdrucke von Internetseiten und E-mails. Völlig überrumpelt schüttelte sie den Kopf, las erneut die Mails, wobei ihr Mund halb offenstand. Sie blieb bei einigen Photos hängen, stellte fest, daß ihre Hände, die das Papier hielten, zu zittern begonnen hatten und legte die Ausdrucke in ihrem Schoß ab.Sie brauchte einige Zeit, bis sie die Sprache wiederfand.

„Spinnst du, Mike? Das ist ein Witz, oder?“
„Sollen wir umkehren? Da vorne ist eine Ausfahrt.“
„Du meinst das wirklich ernst…“
„Es tut mir leid, aber irgendwie… Ach verdammte Scheyße, ich hab‘ gedacht, es gefällt dir vielleicht. Gibt dir `nen Kick oder so…“

Claire starrte aus dem Fenster. LKW an LKW auf der rechten Spur, dazwischen kurze Ausblicke über hügelige Wälder, vereinzelte Wiesen und Felder dazwischen. Das musste sie jetzt erstmal verdauen; sie brachte keinen Ton heraus.

„Wenn du es bescheuert findest, dann sag‘ es jetzt. Ich dreh‘ einfach um, vielleicht gibt es hier ein nettes Hotel in der Gegend, wir machen uns einen schönen Abend und das Thema ist Geschichte. Ich hatte nicht vor, dich zu schocken.“
„Fahr weiter!“

Es war eine lange Fahrt, und zudem eine reichlich schweigsame. Claire spürte deutlich, wie Mikes Nervosität ständig zunahm. Allerdings hatte sie nicht wirklich Lust, ihn zu beruhigen, war sie doch selbst viel zu verwirrt dazu. Am Zielort hatte er ein Hotel gebucht, in dem sie beide eine weitestgehend schlaflose Nacht verbrachten. Der Termin war für den nächsten Vormittag vorgesehen, weder Mike noch Claire konnten dem wirklich guten Frühstück irgendwelche Begeisterung entgegenbringen.

Während des Gesprächs fühlte sie sich beinahe entrückt, beantwortete Fragen mechanisch, ohne wirklich wahrzunehmen, was sie denn sagte. Auf die Frage, ob ihr Mann bei der Anmessung anwesend sein solle, hätte sie fast mit: „Wer soll wobei anwesend sein?“ geantwortet. Stattdessen nickte sie nur. Die anschließende Veranstaltung war wohl das Seltsamste, was sie bisher erlebt hatte. Sie starrte Mike an, der auf einem Sessel sitzend ihrem Blick auswich und sichtlich nicht wusste, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Wenigstens schien er genauso angespannt wie sie selbst zu sein.

„Wir haben ein paar Probemodelle, Frau Mommsen. Wenn sie Interesse haben, mal einen anzuprobieren?“
„Was? Jetzt? Hier?“
„Nur wenn sie wollen. Wenn sie, Herr Mommsen…“
„Claire?“
„Ja, schon gut. Ich meine… Ach, bleib einfach hier, Mike. Wenn schon, denn schon.“
„Bin gleich zurück, Frau Mommsen.“

In dem Moment, wo sich zum ersten Mal das Metall um ihren Unterleib schloß, erlebte Claire eine Überraschung. Sie hatte fest damit gerechnet, sich völlig bescheuert zu fühlen. Halb hatte sie erwartet und halb gehofft, daß das Gefühl ihre Skepsis unbedingt bestätigen würde. Sie würde etwas sagen wie: „Tut mir leid, Mike, aber das ist nichts für mich,“ dieser würde daraufhin den Auftrag stornieren und das Thema wäre für die Zukunft erledigt.

Es kam anders. Nicht, daß ihre Unsicherheit von einem Moment zum nächsten völlig verflogen wäre, aber zumindest schrumpfte sie rasch auf ein eher unbedeutendes Maß, welches von zunehmender Neugier überlagert wurde. Interesse war erwacht. Woran das genau lag, und warum es plötzlich so kam, konnte Claire auch nach mehreren Jahren nie wirklich ergründen. Sie sah sich im Spiegel, ungewohnt und auf eine obskure Weise ziemlich sexy. Im Hintergrund des Spiegels saß Mike in einem roten Sessel, den Oberkörper aufgerichtet, die Hände auf die Armlehnen gestützt. Claire drehte sich zu ihm um, die Bewegung löste ein eigentümliches, warmes Kribbeln im Schritt aus. Dann die Wärme in seinem Blick, Wärme, Lust und dahinter ganz viel Liebe.


Von wegen Wärme! Was sie diesmal aus dem Halbschlaf riss, war schneidende, brutale Kälte. Ein Gefühl, als sprühte ihr jemand Vereisungsspray direkt auf die Scham. Sie fuhr zusammen, ihr Leib wollte sich im Bett aufrichten, wurde unsanft zurück auf die Matratze gepresst, die Hände wollten nach der plötzlichen, ekelhaften Kälte greifen, hatten aber keine Chance, das Desaster zu erreichen. Weil sich der Temperatursturz nur so lokal manifestierte, während der Rest ihres Körpers vor Hitze glühte, tatsächlich schweißüberströmt war, erlebte sie das Ereignis als noch erschreckender. Begleitet wurde es von einem hohlen, sonoren Klang, den sie noch nie gehört hatte. Ein beinahe gruseliges Geräusch, leise, aber ganz sicher aus einer Quelle im Inneren des Hauses. Regelmäßig dumpf und doch mit hellem Nachhall: Einmal, zweimal, dreimal, viermal… Das Läuten einer Uhr. Nur gab es im Haus keine Uhr, die läutete, denn die enizige Uhr, die das vielleicht konnte, stand definitiv still.

Sie musste geschrien haben, jedenfalls war Mike wach, richtete sich neben ihr im Bett auf, begleitet vom vertrauten Quietschen des Lattenrostes.

„Claire? Was ist los? Alles in Ordnung bei dir?“
„Hast du was gehört Mike?“
„Du hast geschrien. Geht’s dir nicht gut?“
„Das war die Uhr. Die von Paps, sie hat geschlagen, hast du nichts gehört?“
„Nein. He, du hast geträumt. Die Uhr läuft nicht. Also kann sie wohl kaum läuten.“

Sie spürte seine Hand auf ihrem Arm, dann auf ihrer Brust.

„Du glühst ja! Bist klatschnassgeschwitzt. Wirst du krank?“
„Weiß‘ nicht. Mir war auf einmal so… Mike, fass‘ den Keuschheitsgürtel an.“
„Was?“
„Mach’s einfach!“
„Scheyße! Was ist das denn?“
„Was fühlst du?“
„Der ist fast so kalt wie vorhin, nachdem ich ihn aus dem Eisfach geholt habe! Wie kann das…?“
„Nimm deine Hand nicht da weg!“
„Schon ok, schon ok. Wird schon wieder wärmer. Was hast du nur gemacht?“
„Ich?!? Gar nichts!“

Der Spuk verging nicht so schnell, wie er eingesetzt hatte, aber nach und nach kehrte unter Mikes Händen die Wärme zurück. Ihr Zittern legte sich, der Schweiß trocknete, während Mike sie so gut es ging in den Arm nahm. Und nun war er es, der wach lag, während Claire schon bald in tiefen Schlaf sank.



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Zweites Kapitel:
Asynchron



1.


Am nächsten Morgen stand Mike vor der Standuhr. Auch wenn sein Verstand es nicht wahrhaben wollte, die Pendel hinter der Scheibe bewegten sich, kontinuierlich und lautlos, die seltsamen Zeiger waren zum Leben erwacht, wanderten unwiederlegbar über das schimmernde Ziffernblatt. Jedenfalls zwei von ihnen. Ein Zeiger verharrte auf der Zwölf, die beiden anderen zeigten entweder sechs Uhr fünfundzwanzig oder fünf Uhr dreiunddreißig an. Je nach dem, welchen man als Minutenzeiger definierte, und welchen man für den Stundenmesser hielt.

Als Claire mit nassen Haare vom Duschen nach unten kam, stand Mike noch immer wie hypnotisiert da, von Faszination gebannt in der Betrachtung des asynchronen Ausschlags beider Pendel, die sich in grundverschiedenen Takten bewegten. Genaugenommen schien das hintere der Beiden überhaupt keinem festen Rhythmus zu folgen, pendelte mal schneller und mal langsamer als das konstant schwingende Vordere. Als er Claires Hand zwischen seinen Schultern spürte, wandte er sich ab.

„Glaubst du mir jetzt? Sie hat geläutet, gestern nacht.“
„Was für ein behämmertes Teil. Guck‘ dir die Zeiger an. Und die Pendel erst. Möchte wissen, was der Erbauer dieser Uhr so geraucht hat.“
„Vielleicht war es einfach nur ein ausgemachter Scherzbold, und das Ding hier sein Meisterstück zu Halloween.“
„Meinetwegen auch ein bekiffter Scherzbold. Ich frage mich nur, warum sie gerade jetzt zum Leben erwacht? Bis gestern abend gab das Teil doch keinen Muchs von sich.“
„Ist schon ein Rätsel, ja.“
„Wahrscheinlich hat dein Vater irgendwas in Gang gesetzt, was sich erst jetzt auswirkt…“
„Nein, wie naheliegend, Holmes! Und so einleuchtend, ich bin sprachlos.“
„Ja, ich auch. Genau das ist mein Problem.“

Dennoch hatte Mike beschlossen, die eigentümliche Wiederauferstehung der Standuhr möglichst nicht weiter zu beachten. Es mochte irgendeinen Grund geben. Fakt war, daß das Teil irgendwann in der letzten Nacht wieder in Betrieb gegangen war, geläutet hatte, weswegen Claire sich furchtbar erschrocken hatte. Zum Teufel mit den Mysterien des Alltags, seine Schüler erforderten zu viel Aufmerksamkeit, als daß er sich über solche Kleinigkeiten den Kopf zerbrechen konnte. Zumal es in diesem Kopf seit ein paar Tagen noch ganz andere, dringendere Baustellen gab.

Über Mittag hatte er zwei Hohlstunden, in denen er die Gelegenheit wahrnahm, dem indischen Restaurant zwei Straßen weiter einen ausführlichen Besuch abzustatten. Er bestellte Murgh Vindaloo, dazu Reis und Naan, um das Feuer in seinem Mund ein wenig abzulöschen. Die Schärfe war beinahe echt indisch, er spürte unter seinem Hemd den Schweiß perlen, genoß gleichzeitig die Kälte der voll aufgedrehten Klimaanlage. Wie gerne er jetzt ein Bier dazu getrunken hätte, und sei es um noch mehr zu schwitzen! Doch auch ohne das tat das Essen und das Ambiente des Restaurants seine Wirkung. Das schummerige Licht creierte kühle und behagliche Schatten zwischen bunten Wandbehängen und matt schimmernden Plastiken hinduistischer Götter. Sein Blick blieb an der zentralen Statue eines vergoldeten Ganesh hängen. Betört durch die Gerüche nach Koriander, Knoblauch, Mottenkugeln und Räucherstäbchen, beschwingt von dezent dudelnder indischer Popmusik, versank er in einen Zustand, der beinahe schon einer Meditation glich. Er leerte geistesabwesend sein zweites Mango – Lassie. Draußen vor der Tür lag die Straße in brütender Mittagshitze, draußen vor der Tür lief die Zeit schneller ab, draußen vor der Tür tummelten sich all die anderen kontrahierenden Universen, doch er befand sich hier drinnen außerhalb, er befand sich in einem Zwischenstadium, er…

... war wieder in Indien. Die Welt der Düfte, die Welt des unkontrolliert wuchernden Lebens und des Todes, der wie auf verlorenem Posten gegen das alles anzukämpfen versuchte. Wenn er das Lokal verließe, sich zurück in das staubige Gewimmel würfe, fände er dort sein Motorrad, eine für knapp sechshundert Dollar in Bangalore gekaufte Honda. Den Traveller – Rücksack auf dem Rücken, den Helm am Lenker baumelnd, fädelt er sich hupend in das organisierte Chaos und Durcheinander aus unglaublichen Fahrzeugen ein; nächstes Ziel: Kancheepuram. Von dort aus? Wird sich eine Straße finden. Höchstwahrscheinlich weiter richtung Osten, an den Golf von Bengalen. Koromandel – Coast, Chennai…

Er hatte Abstand gebraucht. Seine Heimat war zu einem Friedhof geworden, also hatte er kurzerhand ein Sabbatjahr beantragt. Arbeitgeber und Behörden waren ihm angesichts der Ereignisse, die so frisch hinter ihm lagen, gerne entgegengekommen, hatten eine kurzfristige Abreise ermöglicht. Natürlich hatte er Claire gefragt, ob sie ihn begleiten wolle. Er war froh, daß sie kein Interesse hatte. Er brauchte nicht nur Distanz zu seiner Umgebung, er hatte auch das Gefühl, Abstand von Claire zu brauchen. Und sie von ihm.Er flog von Mumbai nach Goa, verbrachte dort eine Woche, bevor er mit dem Zug über die Ghats ins Landesinnere reiste. Er folgte keinem konkreten Plan, ließ sich treiben, suchte die kleinen, von Touristen verschonten Tempel auf, wo er sicher war, kurze Zeit später mit irgendeinem Sadhu das Chillum zu teilen.

So trudelt er irgendwann in Bangalore ein, kauft ein Motorrad, um noch unabhängiger zu sein, rollt ziellos über die mystischen Landstraßen Südindiens. Die meiste Zeit ist er stoned, aber das ist in Ordnung. In jener Zeit ist es für ihn eine gute Lösung. Was genau er macht, warum er hier ist, woher er kommt – das Alles verliert langsam an Bedeutung. Was bleibt ist befreiende Leere, die sich langsam, ganz langsam wieder mit Leben zu füllen beginnt. In Chennai wird er sich nach Norden wenden. Immer an der Küste entlang. In Bubhaneshwar…

„Mike?“


„Mike! Was treibst du hier? Schläfst du?“
Es dauerte tatsächlich mehrere Sekunden, bevor Mike seine Zeiten und Realitäten wieder geordnet und sein Geist sich für eine davon entschieden hatte. Wer sich ihm gegenüber gerade niederließ und nach der Spreisekarte griff, war niemand anderes als Claires Vater.

„Ah, Roland! Ich habe ein bisschen gedöst, geträumt…“
„Oh ja, das kenn‘ ich! Geht mir auch manchmal so, wenn ich hier bin.“
„Du kommst oft hierher? Ich hatte keine Ahnung, daß du indisches Essen magst.“
„Nur im Sommer, Bursche. Aber ich mag die Atmosphäre hier. Entspannt ist eigentlich ein Wort, daß es nicht wirklich trifft. Aber so was in der Art.“
„Was du nicht sagst…“
„Was hattest du?“
„Hunger.“
„Das nehm‘ ich denn wohl auch…“

„Claire ist ein bisschen nervös wegen dir, übrigens.“
„Hä? Wie das?“
„Sie hat sich Sorgen gemacht, weil du dein Buch bei uns hast liegenlassen. Sie meint, daß wäre ein verheerendes Zeichen bei dir, und hat darum am Sonntag ungefähr fünhundert Mal versucht, dich zu erreichen.“
„Wie, mich erreichen? Warum hat sie nicht mein Handy… Ah! Moment, da war noch was. Ich hab’s vielleicht vergessen, zu erwähnen, aber ich habe seit letztem Donnerstag oder so eine neue Nummer.“
„Ja, das haben wir wohl irgendwie nicht mitgekriegt. Und dein Notizbuch hast du nicht vermisst?“
„Wieso? Das hab‘ ich doch hier! Aber warte: Ich hatte am Samstag bei euch noch ein anderes Buch dabei. Ein Älteres, in dem ich ein paar Sachen über Uhren aufgeschrieben hatte. Ich schreibe viel, da brauche ich schon so alle halbe Jahr ein neues Kritzelbuch.“
„Na dann… Sag‘ mal, Roland, was hast du eigentlich mit dieser Standuhr gemacht, als du bei uns warst?“
„Jaaaaa, tut mir leid, ich habe meinen Freund noch nicht angerufen deswegen. Es kann also noch ein bisschen dauern.“
„Mach dir keinen Kopf wegen der Zeit. Die läuft nämlich.“
„Natürlich läuft die. In manchen Köpfen zwar ein bisschen anders, und manchmal auch in die falsche Richtung, aber laufen tut sie immer.“
„Die Uhr läuft, die du uns geschenkt hast. Seit gestern nacht. Macht Tick – Tack und Bimm – Bamm.“
„Ernsthaft? Sachen gibt’s…“
„Kommst du trotzdem die Woche vorbei? Um das Buch zu holen, und auf `nen Kaffe vielleicht.“
„Bestimmt. Ich ruf‘ mal an.“

Mike stand auf, griff seine Tasche und zahlte an der Theke. Er wollte schon das Restaurant verlassen, als er noch einmal umkehrte, um sich von Roland die neue Handynummer geben zu lassen. Die musste Claires Vater freilich in seinem aktuellen Notizbuch nachschlagen, das er zunächst erfolglos in seinem abgewetzten Aktenkoffer suchte, bevor er es in seiner Jackentasche fand. Genau da, wo er es schon den ganzen Tag aufbewahrte.

Am Haupteingang des Schulhauses wurde Mike von zwei Gestalten angesprochen, die eine so perfekte Parodie von „Tatort – Komissaren“ darstellten, daß der Überraschungseffekt ihrer Polizeiausweise wie ein durchschaubarer Witz zum Verhungern verdammt war, noch bevor sie sich verbal als die Komissare Torun und Basstong vorstellen konnten. Was Mike überraschte, war die Eile, mit der die Anzeige dieses Doktor Schlick bearbeitet wurde. Wahrscheinlich hatte der Mann Beziehungen, die eine Beschleunigung auch bei einer Bagatelle wie dieser ermöglichten.

Er schloss ein unbenutztes Klassenzimmer auf, um das Gespräch nicht in der Eingangshalle seiner Schule führen zu müssen. Er und der jüngere der beiden Komissare, der blonde und athletische Herr Basstong, griffen sich zwei Stühle und setzten sich, während Torun mit seinem grauen Schnurrbart aus dem Fenster starrte, als ginge ihn die ganze Sache eigentlich gar nichts an. Also richtete Mike das Wort an Basstong.

„Ich hätte nicht gedacht, daß sich die Kriminalpolizei mit der Sache befasst. Als so dramatisch hätte ich es nicht eingeschätzt, um ehrlich zu sein.“
„Dann sind sie also schon im Bilde?“
„Ja, natürlich. Ich habe zwar nicht damit gerechnet, daß sie mich wegen einer Ohrfeige an meinem Arbeitsplatz aufsuchen, hatte eher daran gedacht, eine Vorladung zu erhalten, aber…“
„Verzeihung, aber da geht jetzt was durcheinander. Von irgendwas mit einer Ohrfeige weiß ich garnichts. Deswegen sind wir nicht hier.“
„Äh, umso besser. Aber warum wollen sie dann mit mir sprechen?“

„Ich weiß nicht, ob das jetzt in irgendeiner Weise besser ist. Es geht um das Grab ihrer Tochter.“
„Cassandra? Was ist damit?“
„Es hat – Es tut mir leid, Herr Mommsen, aber es hat heute nacht wohl eine Schändung des Grabes gegeben.“
„Erbärmliche Scheyße!“
„Darum haben wir sie direkt hier aufgesucht. Ich würde ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn das für sie in Ordnung ist. Wenn es jetzt nicht geht, würde ich sie bitten, in nächster Zeit bei uns vorbeizukommen…“
„Ich hab‘ noch ein wenig Zeit, kein Problem. Waren sie schon bei meiner Frau? Was genau ist denn passiert? Sieht es schlimm aus?“
„Bei ihrer Frau waren wir noch nicht, nein. Und bei den Beschädigungen handelt es sich um Schmierereien auf dem Grabstein. Und davor hat jemand ein Feuer entfacht…“
„Ein Feuer? Auf dem Grab?“
„Ja, so ist es leider.“
„Haben sie denn schon was? Meinen sie, das waren vielleicht irgendwelche Jugendliche, die sich für Vamps halten, oder so?“
„Dazu kann ich ihnen nichts sagen. Aber dafür sind wir hier, um das herauszufinden. Ich würde von ihnen gerne wissen, Herr Mommsen, wann sie das letzte Mal am Grab waren.“
„Also ich selbst am Sonntag, ich meine: Gestern vor einer Woche. Meine Frau in der letzten Woche am Mittwoch nachmittag.“
„Wer besucht noch das Grab außer ihnen beiden?“
„Der Vater meiner Frau gelegentlich. Roland Falk. Ich nehme an, daß die beiden in der letzten Woche zusammen auf dem Friedhof waren.“
„Sonst jemand? Haben sie Freunde oder Bekannte, oder auch ehemalige Freunde ihrer Tochter, die eventuell das Grab besuchen könnten?“
„Ich denke nicht. Das sollten sie Claire fragen, und zu…“
„Claire ist ihre Frau?“
„Freunde meiner Tochter! Haben sie eigentlich selbst einen Blick auf das Grab geworfen?“
„Bitte? Wie kommen sie…“
„Bei Gelegenheit vergleichen sie bitte das Geburts- und das Todesdatum.“
„Entschuldigung, Herr Mommsen. Ich war da wohl nicht ganz im Bilde.“
„Is‘ gegessen. Ja, Claire ist meine Frau.“
„Gibt es jemanden, der einen Groll gegen sie hegt?“
„Die entsprechende Person wird kaum ein Interesse daran haben, Cassandras Grab zu verwüsten. Was soll die Frage? Wieso soll da was Persönliches dahinterstehen, wenn irgendwelche Chaoten einen Friedhof verwüsten?“
„Der Friedhof wurde nicht verwüstet. Die Schändung betrifft nur ein einziges Grab.“




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
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Turambar
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  RE: Unter fremden Monden Datum:03.06.11 17:14 IP: gespeichert Moderator melden


2.

Die Zeit dehnte sich aus. Sie verging nicht, sie verging noch nicht einmal langsam. Sie dehnte sich einfach nur immer weiter aus, so als befände sich Claire am exakten Mittelpunkt des Universums. Alles um sie herum rauschte exzentrisch in die Unendlichkeit davon, erschuf für sich selbst eine Illusion von Zeit und Vergänglichkeit, von der Claire aber ausgenommen war.

Spaß oder gar Freude hatten sich nachhaltig verabschiedet. Nervtötend, unbequem, lästig, schmerzhaft und demütigend waren Attribute, mit denen ihre Empfindungen treffend hätten beschrieben werden können. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht mit ihrer Handtasche die Toilette aufzusuchen, den Umschlag zu zücken, das Siegel zu brechen und der Sache ein Ende zu bereiten. Zusammenreißen bedeutete, daß die Zeit verging wie zähes Kaugummi. Zusammenreißen verhieß aber auch Aussicht auf Glück und Euphorie, Vorfreude auf die stolz glänzenden Augen ihres Mannes am Abend. Also Augen zu und durch, per aspera ad astra, erst durch Leid ermesse sich der wahre Wert des Glücks.

Leid und Glück? Nein, so einfach war das nicht, aber manchmal tat es eben gut, die Dinge im Leben auf möglichst simple Grundstrukturen herunterzubrechen. Das Bewusstsein, daß es sehr wohl Formen des Leides gab, die kein übergeordnetes Glück zuließen, war tief und unauslöschbar in Claires Verstand eingegraben. Oder brauchte ein so umfassendes Leid lediglich so viel mehr Zeit, um ein gleichwertiges Gefühl von Glück zu gewähren? Spielte die Zeit dabei überhaupt eine Rolle? Erstaunlicherweise dehnte sich Zeit unter dem Einfluss negativer Emotionen aus, während sie sich bei positiven Emotionen zusammenzuziehen schien. Ungerechte Welt! Damals war es so gewesen, in der Zeit der Trennung. Ihre eigene Zeit war stehengeblieben, oder hatte sich wenigsten so sehr verlangsamt, daß sie scheinbar gar nicht mehr fortschritt. Die sieben Monate, die Mike in Indien unterwegs gewesen war, hatte sie selbst wie sieben Jahre erlebt. Oder wie siebzig. Ausgehend von dem einen Ereignis, das zwar so viel kürzer gewesen war, in ihrem Unbewussten aber in gewisser Weise noch immer andauerte. Ein paar Momente, Bruchstücke von Tagen, in denen Teile von ihr immer noch herumirrten, auch wenn diese nun über vier Jahre zurücklagen.

In jener Nacht erwachte sie mit höllischen Schmerzen, die in massiven Kontraktionen an- und abschwollen. Sie waren so viel stärker als das leichte Ziehen, das sie in den letzten Tagen zweimal zu ihrem Gynäkologen getrieben hatte. Ultraschall und Blutbild waren völlig normal gewesen, Cassandra hatte sie zur Strafe ein paar mal zornig geboxt und getreten, das war alles. Jedenfalls bis zu diesem Moment. Claire konnte nicht schreien, reißende Schmerzwellen hatten alle Luft aus ihren Lungen gepresst, ließen sie in doppelter Todesangst verkrampfen. Klebrige Nässe zwischen ihren Beinen und unter ihrem Hintern. Nur kein Fruchtwasser, bitte nicht, das war viel zu früh, sie hatte doch noch fast sechs Wochen bis zu ihrem Termin. Eine schlimmstenfalls peinliche Unkontrolliertheit ihrer Blase, das musste es sein, ganz sicher, bitte, lieber Gott, und bitte lass die Schmerzen von der Wirbelsäule kommen, ein Bandscheibenvorfall oder irgendwas…

Ein paar flache Atemzüge später schlug sie die Decke zurück, schaltete die Lampe auf ihrem Nachttisch ein und richtete sich auf. Kein Fruchtwasser, aber auch kein Urin. Ihre graue Jogginghose war bis zu den Kniekehlen dunkelrot, fast schwarz verfärbt, klebrig und glänzend. Neue Kontraktionen setzten ein, als risse man ihr den Unterleib mit glühenden Zangen auseinander. Die blutige Brühe zwischen ihren Schenkeln breitete sich aus. Völlig erstarrt brachte sie nicht mehr als ein heiseres Flüstern heraus.

„Mike…“

Zwei Sekunden später kreischte sie, schrill und entsetzlich. Noch nie hatte sie so einen Ton von sich gegeben. Nie.


„MIKE!“

Noch nie hatte sie ihren Mann so panisch gesehen. Drei Versuche brauchte er, um drei Ziffern zu wählen. Er stammelte unzusammenhängende Sätze ins Telephon, am ganzen Körper zitternd, das Gesicht leichenblass, farblos, jede Pigmentierung schien wie ausgelöscht. Noch während er nach und nach die Antworten auf die Fragen des Disponenten am anderen Ende der Leitung suchte, wurde es um Claire dunkel. Vehement versuchte sie sich gegen die Ohnmacht zur Wehr zu setzen, aber eine weitere Flut grausamer Krämpfe waren mehr, als sie ertragen konnte.

Erst drei Tage später kam sie im Krankenhaus wieder zu sich. Schläuche in ihrer Nase, im Hals und am linken Unterarm,wohl auch weiter unten, aber ab einer Höhe etwa vom Bauchnabel abwärts war sie völlig gefühllos. Gefühllos und leer, so entsetzlich leer. Mattes Licht im Raum, leises Piepsen und Blubbern, fremde, schauerliche Geräusche. Sie bewegte die Arme, versuchte ihren Oberkörper aufzurichten und verspürte Druck auf der rechten Schulter und ihrem Oberarm. Mike erwachte, hob den Kopf, sie sah in sein Gesicht, verklebte Haare, rote Augen, verquollen und irgendwie brüchig.

„Claire…“
Ihre Augen fielen wieder zu. Merkwürdig, wie die Worte, die sie aussprechen wollte, in ihrem Verstand gebildet wurden, sich aber nicht aussprechen ließen.
„Ich liebe dich, Claire. Ganz…“
„Wo ist sie?“
„Sie lebt.“
„Will zu ihr.“
„Gleich, Claire. Nur noch einmal schlafen, ok?“
Während sie versuchte, den Sinn seiner Worte zu verstehen, war sie wieder weg. Ein Vorhang aus starken Morphinen senkte sich über ihren Geist und spendete fadenscheinige Wärme und kaltes Vergessen.



An manchen Tagen fiel es ihr unendlich schwer, das Ende ihrer Schwangerschaft in den tiefen Schubladen ihres Geistes verschlossen zu halten, wo es hingehörte. Aber es war in Ordnung. Schmerzhaft, das mit Sicherheit, aber sie konnte damit umgehen. Sie hatte es gelernt, weil sie sich damit auseinandergesetzt hatte, weil sie die Existenz der Vergangenheit zuließ und zugleich eine gewisse Distanz wahren konnte. Ihr Vater hatte bei der Bewältigung eine große Rolle gespielt. Eine wesentlich größere jedenfalls als die Therapeutin oder die Selbsthilfegruppe, abgesehen von Charon natürlich. Mike hatte natürlich eine wichtige Rolle gespielt, wenn auch eher indirekt. Wie hatte er sich geschämt, sie damals alleine zu lassen, und wie gut war es gewesen, daß er in jener Zeit seinen eigenen Weg gegangen war. Ein Segen für sie beide, ohne die vorübergehende Trennung wäre ein Neuanfang, ein neues, gemeinsames Leben, wohl ausgeschlossen gewesen.

Claire hatte fast schon nicht mehr zu hoffen gewagt, daß es tatsächlich noch mal Mittag werden würde. In der Kantine holte sie sich das Tagesessen, Putengeschnetzeltes mit Spätzle, dazu Salat und einen Fruchtsaft. Sie fand einen leeren Tisch, fand sogar eine einigermaßen akzeptable Sitzposition auf dem ungepolsterten Kantinenstuhl. Was sie nicht fand, war gesegneter Appetit an ihrem Essen. Zur Ablenkung schlug sie den schwedischen Kriminalroman auf, der ihren aktuellen Lesestoff bildete. So konnte sie sich dann mehr mit den düsteren Gedanken des Autors, als mit dem Geschmack ihrer Mahlzeit beschäftigen konnte.

Den Teller zur Hälfte leergegessen, war sie in ihre Lektüre vertieft, als zwei Tische weiter der Tumult begann. Vier Männer um die fünfzig verbrachten dort ihre Mittagspause. Claire war sich von zweien vage bewusst, daß sie in der Verwaltung arbeiteten. Einer von ihnen begann jedenfalls plötzlich keuchend nach Atem zu ringen, hielt sich die Hand auf die Brust und rutschte wie in Zeitlupe von seinem Sitz zu Boden. Entsetzt sprangen die Kollegen auf, ein hastig zurückgeschobener Stuhl kippte, während hektische Stimmen laut wurden.

„Was ist los Werner? Was hast du?“
„Das ist der Kreislauf! Ich hole Wasser!“
„Au! Herz…“
„Leg dich hin, Werner! Leg die Beine hoch, schnell!“

Als einer der Männer im Begriff war, die Beine des Zusammengebrochenen anzuheben, ging Claire dazwischen.
„Lassen sie die Beine unten! Oder wollen sie ihn umbringen?“
Der Mann sah verwirrt zu ihr auf, folgte aber ihrer Anweisung.
„Und jetzt knien sie sich hinter ihn, und richten den Oberkörper auf! Stützen sie ihn von hinten ab, damit das Herz entlastet wird!“
„Darf ich fragen, wer sie sind?“
„Jedenfalls kenne ich mich ein bisschen aus, also machen sie bitte einfach, was ich sage, wenn sie helfen wollen.“

Claire wandte sich an den zweiten Kollegen, der wie versteinert neben ihr stand.
„Sie können auch mal was machen, und zwar den Notruf wählen. Erzählen sie was von Herzinfarkt und daß ihr Kollege total weggetreten ist.“
„Aber Werner ist doch nicht…“
„Nein, aber mit ein bisschen Dramatik geht es wahrscheinlich schneller.“

Claire wendete sich dem auf dem Boden sitzenden Mann zu, der immer noch krampfhaft atmete, wobei sich auf seiner käsig weißen Stirn dicke Schweißtropfen bildeten. Der Kollege, der ihn von hinten stützte, schwitzte ebenfalls, allerdings aus anderen Gründen. Sie nahm die Hand des Kranken, wo sie einen schnellen, unregelmäßigen Puls fühlte.

„Wie heißen sie?“
„Werner… Kaltenbach.“
„Versuchen sie, langsamer zu atmen. Der Notarzt ist unterwegs, das wird schon.“
„Mein Herz…“
„Haben sie das schon mal gehabt?“
„Nicht so.“
„Sind die Schmerzen sehr schlimm.“
„Wird besser, glaub‘ ich.“
„Wo genau tut es denn weh?“
„Brust und Rücken. Und im Hals. Unterm Kinn.“
„Waren sie deswegen mal beim Arzt?“
„Angina, sagt der.“
„Hat der ihnen dafür Medikamente gegeben?“
„Tabletten und Spray. Spray ist nur für den Notfall.“
„Ein rotes Fläschchen? Haben sie das dabei?“
„Nein. Vergessen.“

Sie schickte den Angestellten, der mit einem Glas Wasser kam, prompt wieder los, um eine Decke aufzutreiben. Anschließend beauftragte sie den Mann, der den Notruf abgesetzt hatte, in der Kantine herumzufragen, ob irgendjemand mit Herzproblemen sein Nitrospray einstecken hatte. Mittlerweile hatte sich eine ganze Gruppe von Kantinenbesuchern um die Szene versammelt. Auch Claires direkter Vorgesetzter, Professor VonBosstejn, befand sich unter den Zuschauern, was sie aber gar nicht realisierte. Ebensowenig wie sie davon Notiz nahm, daß ihre Bluse aus dem Bund ihrer Jeans gerutscht war. Ihr Laborkittel hing über einer Stuhllehne an ihrem Arbeitsplatz. Glücklicherweise erregte der Mann auf dem Boden deutlich mehr Aufmerksamkeit, als die merkwürdig abstehenden Formen unter ihrem Unterhemd.

Kaum eine Viertelstunde nachdem Werner Kaltenbach abgerutscht war, trafen ein Notarzt und eine Rettungsmannschaft ein. Nachdem Claire ihren Schützling an den Arzt übergeben hatte, wollte sie sich möglichst schnell und unauffällig aus dem Staub machen. Doch VonBosstejn war schneller und passte sie am Ausgang der Kantine ab.

„Frau Mommsen! Sie haben ja ganz erstaunliche Qualitäten! Ich bin wirklich beeindruckt.“
„Finden sie?“
Claire war verunsichert. Mittlerweile war ihr bewusst geworden, daß die Position, in der sie vor Werner Kaltenbach gehockt hatte, nicht unbedingt dazu getaugt haben musste, ihr kleines Geheimnis angemessen zu bewahren. Die Frage war nur, ob das auch ihrem Chef aufgefallen war.
„Aber ja. Ich habe gesehen, wie sie reagiert haben. So ruhig und überlegen; also ich hätte nicht gewusst, wie ich mich in einer solchen Sizuation verhalten hätte.“
„Naja, bevor ich an die Uni gegangen ist, habe ich ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Roten Kreuz gemacht. Dazu gehörte auch eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin.“
„Sowas haben sie gemacht? Ist ja phantastisch!“
„Finden sie? Ich wusste nach dem Abizur noch nicht so wirklich, was ich machen sollte. Meine Freundinnen damals haben dann solche Sachen gemacht wie Au – Pair irgendwo im Ausland, oder Work – and – Travel. Und ich bin halt zum Rettungsdienst gegangen.“
„Sie haben meinen Respekt, Frau Mommsen. Ernsthaft. Ich bitte sie, trinken sie noch einen Kaffe mit mir. In meinem Büro.“
„Eigentlich sollte ich längst wieder im Labor sein…“
„Ach was. Hallo? Bin ich hier der Chef oder nicht? Dann kann ich ja wohl auch entscheiden, wie lange ich auf ihre Testergebnisse warten kann. Nach dem Stress eben haben sie sich wirklich etwas Ruhe verdient.“

Kurze Zeit später fand sie sich erneut in dem angenehm kühlen, geschmackvoll eingerichteten Büro ihres Chefs wieder. Nur daß ihr diesmal statt kaltem Whiskey heißer Kaffee angeboten wurde. Sie fühlte sich tatsächlich entspannt, vor allem das Unwohlsein des Vormittags war verflogen. Wie sie dazu kam, konnte sie nicht nachvollziehen, jedenfalls stellte sie nach einer Weile überrascht fest, daß sie zwanglos mit ihrem Chef plauderte. Wobei sie eigentlich erzählte, während er ihr zuhörte. Das Besondere daran war vor allem, was sie sagte. Sie fand sich selbst über Dinge erzählend, von denen sie gewöhnlich zu kaum einem Menschen sprach. Bestenfalls dann und wann mit Mike oder ihrem Vater.

„…das zweite Mal, daß ich beim Rettungsdienst gearbeitet habe, war in der Zeit nach meiner Fehlgeburt…“
„Sie hatten eine Fehlgeburt? Was für eine Schande. Mein Beileid, Frau Mommsen. Es tut weh, das von ihnen zu hören.“
„So ganz werde ich da sicher nie drüber wegkommen. Aber ich kann mittlerweile damit umgehen. Ich hatte eine Blutung in der dreißigsten Schwangerschftswoche. Sie haben Cassandra in einer Notsectio `rausgeholt. Elf Tage später ist sie gestorben. Ich weiß nicht, ob sie das verstehen können. Aber bei all dem Leid waren die paar Male, die ich sie im Arm halten konnte, das Intensivste, das Schönste auch irgendwie, was ich je erlebt habe.“
„Ich weiß nicht, ob man es „verstehen“ nennen kann. Aber es bewegt mich, Frau Mommsen. Wie soll jemand so etwas wirklich verstehen, nachvollziehen können, der das nie selbst erleben musste?“
„Wahrscheinlich haben sie recht. Kann sein, daß ich deshalb so selten darüber rede. Wissen sie, in der Zeit direkt danach habe ich natürlich schon viel drüber gesprochen. Während der Psychotherapie, in der Selbshilfegruppe; das hat geholfen, aber das war nicht das Entscheidende. Anders ist es, wenn ich mit meinem Mann oder mit meinem Vater darüber spreche. Wegen der emotionalen Verbundenheit.“
„Immerhin hatten sie jemanden, der sie in der Zeit auch auf jener Ebene begleitet hat. Aber das sollte man doch von einem guten Mann auch erwarten, nicht? Ihr Gatte kann sich glücklich schätzen, mit einer Frau wie ihnen.“
„Danke für die Blumen. Allerdings war er garnicht an meiner Seite in den Monaten danach. Er… Wir haben einfach Abstand gebraucht. Es war besser so.“
„Ernsthaft? Und das war ok für sie? Daß er sie einfach alleine lässt mit ihrem Schmerz…“
„So war es nicht. Er hat seinen Weg der Kompensation verfolgt, ich meinen. Ich bin froh, daß wir es so gemacht haben. Ich glaube, letztenendes hat uns das noch enger zusammengebracht. Und später haben wir viel darüber gesprochen.“
„Und sie haben ihren Weg über den Rettungsdienst gefunden? War das nicht unglaublich hart?“
„Sowas in der Art hat auch meine Therapeutin gesagt. Hat mich quasi für verrückt erklärt. Ich hab’s trotzdem gemacht, und es hat mir geholfen, so bescheuert das jetzt klingt.“
„Klingt überhaupt nicht bescheuert. Nur ungewöhnlich.“
„In der Selbsthilfegruppe habe ich damals einen Mann kennengelernt. Wir nannten ihn alle Charon. Er hieß nicht wirklich so, aber ehrlich gesagt, fällt mir sein richtiger Name gerade nicht mehr ein. Durch ihn kam ich auf die Idee. Komisch, wenn ich mir überlege, was dieser Typ damals für mich bedeutet hat…“
„Haben sie sich in ihn verliebt?“
„Um Gottes Willen, nein! Es war anders. Er war eher sowas wie – naja, ein großer Bruder vielleicht. Das kommt etwa hin.“

Auch wenn es nicht genau so gewesen war. Im Grunde genommen hatte der „Fährmann“ eine Bruderrolle übernommen. Aber da war auch noch mehr gewesen. Es war so eigentümlich, wie einen die Vergangenheit an manchen Tagen geballt heimsuchte. Claire versah ihren Dienst am Nachmittag grübelnd, aber immerhin nicht in der ausgelaugten Ruhelosigkeit, in der sie sich vor den Ereignissen der Mittagspause befunden hatte. Pünktlich um fünf Uhr machte sie Feierabend. Als sie durch die Gänge dem Ausgang zueilte, war sie froh, nicht erneut auf ihren Chef zu treffen. Die ungewohnte, überrumpelnde Vertrautheit und Intimität, in der das Gespräch in seinem Büro stattgefunden hatte, war einerseits sonderbar wohltuend gewesen, andererseits aber auch relativ furchteinflößend. Wie hatte es dazu kommen können, daß sie sich so öffnete? Noch dazu gegenüber einem Mann, der ihr Vorgesetzter war, und obendrein nicht ganz uninteressiert an ihr schien.

Vorfreude auf Mike und die Dinge, die er mit ihr am Abend mit ihr anstellen könnte, begleiteten sie auf ihrem Weg durch die Stadt. Endlich richtete sich ihr Denken wieder in die Zukunft, statt in den Finsternissen der Vergangenheit zu verharren. Aber nur solange, bis sie aus der Straßenbahn stieg, und auf einmal Charon vor ihr stand.



© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.

[Edit]: Dieser Eintrag wurde zuletzt von Turambar am 08.06.11 um 18:04 geändert
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3.

Der Dienstag brachte die drückende, feuchte Hitze zurück. Schwüle, unbewegte Luft lastete wie ein Kissen auf der Stadt, erstickend, drohend, gewitterschwanger. Am Mittag bauten sich rings umher hohe Wolkentürme auf, zunächst diesig weiß, dann grau und beinahe schwarz werdend. Entfernter Donner rollte dumpf durch stickige Luftmassen. Es schien, als würde die ganze Stadt in Erwartung den Atem anhalten, in regloser Starre vor dem drohenden Unheil.

Doch als am Nachmittag Mike und Claire auf dem Friedhof zusammentrafen, hatten sich die Wolken in die Berge verzogen, die heftigen Gewitter mit Sturm und Hagel tobten sich in den Tälern und auf den Höhen aus. Die Stadt hinterließen sie ohne Abkühlung in drückender Atmosphäre; angespannt und aggressiv. Der Asphalt kochte auf den Straßen wie das Blut in den Köpfen der Menschen.

Die Kleidung klebte ihr am Leib, als Claire neben ihren Mann an das verunstaltete Grab trat. Um ihre Hand in seine zu legen, musste sie ihm die Faust öffnen. Die Handfläche fand sie beinahe glitschig, heiß und pulsierend wie in ohnmächtiger Wut. Er sah sie nicht an, aber sie merkte, wie sich sein Körper in ihrer Gegenwart, unter ihrer Berührung entspannte, als würde sie die in ihm angestaute Spannung ableiten oder erden.

Der Ort zeigte keine Spuren mehr einer polizeilichen Arbeit. Falls es hier jemals Absperrungen oder Ähnliches gegeben hatte, so wie das im Fernsehen gerne gezeigt wurde, dann war alles längst wieder aufgeräumt worden. Was blieb, war die schwarz verkohlte Erde vor dem Stein. Verschmorte Plastikteile lagen als die Überreste der Grablichte in grauer Asche und schwarzen Holzresten. Die Blumen und kleinen Sträucher, die Claire und ihr Vater gepflanzut hatten, waren verschwunden, niedergebrannt bis auf die Wurzeln. Mit roter und schwarzer Farbe hatte jemand in krakeligen Wiederholungen vielfach ein Zeichen auf Cassandras Grabmahl gesprüht. Zunächst hatte Claire die Schmierereien für Hakenkreuze gehalten, einige nach links, andere nach rechts ausgerichtet. Aber das war falsch. Jedes dieser Symbole hatte nur drei Arme, die auch nicht eckig, sondern rund waren. Einen Moment tauchte irgendwo in ihrem Geist ein schemenhaftes Bild auf: Ein betrunkener Riese, eine stickige Straßenbahn, ein Klappmesser. Mikes Hand schloss sich etwas fester um ihre, und das Bild verblasste.

Einige Zeit standen sie so stumm nebeneinander, in brütender Hitze und noch brütenderer Stimmung. Mikes Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst, seine Augen rot und feucht. Claire selbst empfand nur dumpfe Trauer und einen Anflug von Furcht. Sie wusste, daß Mike nicht gerne hier her kam. Er war alles andere als religiös, ihr Vater hatte einmal gesagt, daß Mike Kirchen meide, wie der Teufel das Weihwasser. Daß ihr ausgerechnet an diesem Ort jene Worte in den Sinn kamen, beschämte Claire. Es war Mikes Hilflosigkeit im Angsicht der letzten Ruhe seiner Tochter, die ihn von hier fernhielt. Das hatte nichts mit seiner Abneigung gegen alles Kirchliche zu tun. Im Gegenteil hatte Claire ihn schon oft als einen nicht nur sehr sensiblen, sondern auch durchaus spirituellen Geist erlebt. Erst als er sich vom Grab abwandte und sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, sprach Claire ihn an.

„Wie lange stehst du hier schon?“
„Keine Ahnung…“
„Hast du…“
„Mit dem Friedhofswärter gesprochen. Ja, hab‘ ich. Er soll jemanden zum saubermachen bestellen und uns die Rechnung schicken. Wird wohl gleich morgen… Wir sollen uns um die Bepflanzung dann selbst kümmern, weil…“
„Das mache ich schon. Wenn du willst, können wir zusammen neue Blumen aussuchen. Ich richte das Grab mit meinem Vater.“
„Danke… Weil ich…“
„Schon klar. Mike?“
„Hm?“
„Diese Schmierereien. Was soll das sein? Ich hab‘ erst gedacht, daß ist so Nazikram…“
„Kann schon sein. Manche Nazis benutzen das auch, aber… Ich weiß nicht. Warum ein Grab beschmieren, und dann mit `nem Zeichen, das nicht eindeutig ist? Nazis hätten Hakenkreuze gesprüht. Richtige…“
„Aber was dann? Und warum? Warum ausgerechnet Cassandra?“

„Weiß nicht. Vielleicht will ich’s auch gar nicht wissen. Das Symbol ist uralt, gibt’s in zig Kulturen auf der ganzen Welt. Ist ursprünglich auch nichts rechtsradikales dabei. Auch das Hakenkreuz wurde von den Nazis mißbraucht, und jetzt steht es in Europa für Rassenhass, Völkermord und sinn- und hirnlose Vernichtung. Während es in Asien noch etwas ganz Normales und Positives ist. Ein Zeichen für Glück…“
„Nicht wirklich, oder?“
„Doch, schon. Das hier ist wahrscheinlich genauso alt. Was es ursprünglich bedeutet hat, wo es herkommt, weiß man gar nicht. Oder ich weiß es jedenfalls nicht. Es ist keltisch, glaub‘ ich. Vielleicht irgendwelche Spinner, die sich für Druiden halten, oder was weiß ich.“
„Warum unser Grab? Warum nicht ein anderes?“
„Kann ich in die wirren Köpfe von diesen Grusel – Esotherikern `reinschauen? Vielleicht – vielleicht haben sie einfach das Grab des Menschen mit der kürzesten Lebensspanne `rausgesucht.“
„Bah!“
„Du wirst mich vielleicht für bescheuert halten, aber vor ein paar Tagen hab‘ ich an genau das Zeichen gedacht. Oder nee, gedacht ist falsch, eigentlich hatte ich es einfach in meinem Kopf. Für eine Sekunde oder so, nicht länger.“
„Mach mir keine Angst. Wann war das?“
„Ich habe dir davon erzählt. Letzten Freitag, als ich diesem Nazi eine geballert habe. Als ich ausgerastet bin. Da war dieses Rad, drei ineinander verschränkte Arme, die sich drehten. Und sie sahen ein bisschen so aus, wie die Zeiger von unserer dämlichen Uhr. Danach hatte ich die Brille von diesem Arzt in der Hand und seine Backe war dick.“
„Jetzt würde ich dich gerne für bescheuert halten, aber ich kann’s nicht. Irgendwie gefällt mir das nicht. Macht mich nervös…“

Mike bestand auf einer Pause für Claire, zumindest für eine Nacht, ogegen sie keine einwände hatte. Es war nicht nur wegen der Druckstellen an Becken und über dem Steiß, sondern viel mehr lag es an der Stimmung, die einfach nicht passte. Sie hatte an den letzten beiden Tagen den Keuschheitsgürtel zeitweise völlig vergessen, von einem gelegentlichen Zwicken und Drücken abgesehen. Die dauernde Einschränkung ihrer Bewegungen integrierte sich nach und nach wieder in ihren Alltag, auch die Reize, die das Tragen auslöste, ignorierte sie, oder nahm sie als etwas eher Normales wahr. Auf der Heimfahrt nach ihrem Besuch auf dem Friedhof aber hatte sie sich unwohl gefühlt. Nicht körperlich, sondern weil sie das Gefühl hatte, nicht mehr zusammenzupassen. Warum tat sie sich das an, fügte sich selbst dauerhaft Leid und Schmerzen zu, wenn sie davon doch schon reichlich genug erleben musste?

Am Abend hatten sie sich geliebt, ohne irgendwelche Spielereien und ohne jede Hilfsmittel. Es war schön gewesen, sie hatten beide ihre Erfüllung erlebt, aber dennoch fehlte etwas. Sie blieben an der Oberfläche, anstatt tief zu tauchen, wie ein Bad im seichten Wasser des Strandes, von der Brandung geschützt. Den atemberaubenden und tollkühnen Sprung von der Klippe in die Brandung des Ozeans blieben die Beiden sich gegenseitig schuldig.

„He, Claire?“
„Was’n?“
„Hast du ihn angerufen?“
„Ähm, wen?“
„Charon?“
„Oh, ja!“
„Und?“
„Er will gerne kommen, morgen abend.“
„Fein. Roland wird sich freuen.“
„Und du?“
„Weiß ich noch nicht. Aber nach allem, was du von ihm erzählt hast, bin ich schon wild `drauf, ihm mal zu begegnen.“
„Ich bin ja mal gespannt.“



© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
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Turambar
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  RE: Unter fremden Monden Datum:07.06.11 18:22 IP: gespeichert Moderator melden


4.

Für einen Moment war Mike versucht, Claire aufzuwecken, um sie aus ihrem Albtraum heraus zu führen. Sanft strich er ihr Strähnen von Haaren aus der schweißnassen Stirn. Die Decke lag zusammengeknüllt zu ihren Füßen, halb aus dem Bett gerutscht. So präsentierte sich Claire ihm völlig entblöst, ihr Körper schutzlos und hilflos, während ihr Geist sich mir den Wirrnissen eines gänzlich fremden und für Mike unerreichbaren Traum – Zeit – Kontinuums herumschlug. Nackte Beine zuckten wild, lagen wieder still und begannen dann erneut zu strampeln.

Aufgewacht war Mike durch einen Stoß ihres Knies in seine Leisten; so also dankte sie ihm ihre nächtliche Freiheit! Mike beschloß, gnädig über die kleine Unartigkeit hinwegzusehen, weil seine Frau sich ganz offensichtlich nicht in der selben Welt befand. Dort, wo sie jetzt war, gab es augenscheinlich schon genug Ärger. Er sah sie die Fäuste ballen, während ihre Lippen sich stumm bewegten, seltsame Worte andeutend, die Mike nicht verstand. Claires gelegentliche Albträume waren nichts Neues für ihn. In der Regel reichte es aus, wenn er sie dann vorsichtig in den Arm nahm, ein wenig streichelte und küsste. Meistens glitt sie dann hinüber in andere, weniger stürmische Träume, ohne überhaupt wach zu werden. Wenn sie zu sehr litt, erwachte sie von selbst. Das waren die Träume von ihrem Kind, die ihr „entglitten“, wie sie es Mike gegenüber nannte. Jene Träume, in denen sie wehrlos tiefer und tiefer in den Strudel gerissen wurde, bis sie es nicht mehr ertrug und daraufhin aufwachte.

Von Mike geweckt zu werden, weil sie schlecht träumte, hasste sie normalerweise. Dennoch zog er es kurz in Erwägung, denn er kannte Claire und wusste, daß das jetzt kein Traum des Verlustes war. Ihre Bewegungen waren anders, auch die lautlosen Worte hatten nichts mit den ihm bekannten Träumen zu tun. Aber sie stand ohne Zweifel unter Stress, machte dabei aber keine Anstalten, zu erwachen, oder unter Mikes Berührung den Film zu wechseln.

Er wollte sie ansprechen, erstarrte jedoch bei dem Versuch, hielt inne voller Verwunderung und Überraschung. Sie zog die Knie an, klappte die Schenkel auseinander und ließ die rechte Hand an ihre Scham wandern. Fasziniert und entgeistert beobachtete Mike, wie ihre Finger sich an die Arbeit machten, an den Schamlippen zupften, hineinkniffen und sich schließlich dazwischen versenkten. In schnellem Rhythmus reibend drang Claire tiefer in ihre eigene Spalte hinein, nahm die Bewegungen ihrer Hand mit dem Becken auf, öffnete sich, machte sich herausfordernd zugänglich. Dabei blieb Anspannung und Angst weiterhin in ihrem Gesicht abgezeichnet. Schweiß perlte auf ihrem gesamten Körper, jeder Muskel schien gespannt, die linke Hand hatte sie so fest zur Faust geballt, daß die Knöchel weiß hervortraten. Es stand außer Frage, daß sie schlief, daß sie im Schlaf eine eigenartige und beunruhigende Masturbation ausführte. Mike war sich völlig sicher, daß sie das noch nie getan hatte. Jedenfalls nicht, solange er neben ihr schlief. Besonders erschrocken war er von der Vehemenz, mit der sie dabei vorging, wie sie sich selbst so gewaltsam aufspreizte, der verbissene Druck, mit dem sie ihre Perle bearbeitete. Untermalt war das ganze von den verstörenden Bewegungen ihrer Lippen, die nicht länger stumm blieben, sondern ein leises Zischen und Fauchen ausstießen. Unter flatternden Augenlidern, die ihre hektisch wandernden Pupillen vor Mikes ängstlichem Blick verbargen, liefen Tränen hervor, ein feiner Speichelfaden aus ihrem Mundwinkel wischte sich am Kissen ab, als sie ihren Kopf drehte.

Charon wartete vor dem „Speicherstübchen“ auf Claire und Mike. Als er die beiden kommen sah, trat er seine Zigarette aus und kam strahlend auf sie zu; Claire nahm die Umarmung an und sie küssten sich auf die Wangen. Leise summend schwebte über der Fahrbahn aus glänzendem Blei ein Schulbuß an den Straßenrand, senkte die Stützen ab und schaltete den Hooverantrieb aus. Als das Fahrzeug fest mit dem Untergrund verankert war, schossen die gewölbten Türen nach oben, und eine Schar Schüler ergoß sich auf den Gehsteig. Es dauerte eine Weile, bis sich das Gewimmel um sie herum beruhigte. Trotz der späten Stunde war es hell genug, der weiße und der rote Mond spendeten kaum weniger Licht als die Sonne.

Etwas überrascht war Claire darüber, daß Mike keine Anstalten machte, ihren alten Freund Charon zu begrüßen. Dabei hatte er sich doch so gefreut, diesen nun endlich persönlich kennenlernen zu können… Jetzt bemerkte sie, daß ihr Mann nicht nur Handschellen trug, sondern auch geknebelt war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, warum genau er so herumlief, war sich aber vage bewusst, daß es etwas mit Charons Versprechen zu tun hatte. Nur konnte sie sich leider genausowenig erinnern, was für ein Versprechen er ihr gegeben hatte. Oder war es überhaupt an sie gerichtet? Und nicht vielleicht an Mike?

„Schön, daß du gekommen bist, Charon!“
„Ja, ich denke, es wird auch höchste Zeit, Claire.“
„Aber sag mir ein, bitte: Warum ist Mike gefesselt? Und warum darf er nicht sprechen?“
„Liegt das nicht auf der Hand? Damit er nicht die Fragen stellen kann, die du selbst aussprechen musst, natürlich!“
„Was für Fragen? Ich hab‘ gar keine.“
„Jetzt hast du schon zwei gestellt.“
„Lass uns reingehen. Ich habe Hunger, und der Gehweg ist viel zu kalt klimatisiert.“
„Ach, wo. Die Temperatur ist doch auf allen Straßen immer gleich eingestellt. Du bist nur nervös, Claire, darum ist dir kalt. Das ist alles.“

Statt in ein gemütlich eingerichtetes Lokal mit gut bürgerlicher Küche zu gelangen, betrat Claire an der Seite von Charon das Schwarze Zimmer. Groß und leer schien der Raum, fensterlos, erhellt wurde er nur von vier großen Kupferschalen in den Ecken. Flackerndes Ölfeuer loderte dort unter verchromten Abzugshauben, durch die der schwarze Rauch in eine andere Wirklichkeit verschwand. Außer den Feuerstellen gab es nur noch drei Möbel in dem Raum. Vor der Wand gegenüber des Eingangs standen zwei große Ohrensessel mit dicken Armlehnen, die vollständig mit glänzendem, schwarzen Leder überzogen waren. Wie die Sessel im Büro ihres Chefs, dachte sich Claire. Mike hastete an ihr vorbei und warf sich in eines dieser Polstermöbel, nach wie vor die Hände in Handschellen und einen entschieden zu roten Ballknebel im Mund. Der andere Platz wurde von Charon belegt, Claire blieb in der Mitte des Raumes neben dem zentralen Möbelstück alleine stehen.

Charon zündete sich eine Zigarette an, reichte auch Mike eine, der plötzlich nicht mehr geknebelt war. Erneut spürte Claire Verwirrung und einen Anflug von Furcht in sich aufsteigen. Wann hatte Mike wieder angefangen zu rauchen? Und warum? Und vor allem: Warum wusste sie es nicht, wo er doch ihr Mann war, und sie liebte. Kurz öffnete sie den Mund, um ihre Gedanken laut auszusprechen, traute sich dann aber nicht. Es waren die falschen Fragen. Während die beiden Männer schweigend rauchten, sah sie sich verloren im Raum um. Boden und Wände waren mit straff gespanntem, schwarzem Gummi überzogen, das seidig matt glänzte, aber das Meiste des Feuerscheins einfach absorbierte, verschluckte und verdaute. Sie trat einen Schritt zurück, der Boden gab ein paar Millimeter nach. Sie sah sich um, beobachtete ihre Bewegung in neunzehn schmalen, endlos hohen Spiegeln. An jeder Wand gab es davon fünf, einzig dort, wo sich die Eingangstür befand, fehlte an ihrer Stelle der Mittlere.

Mitten im Raum stand ein seltsames Gestell, eineinhalb Meter hoch und einenhalb Meter lang. Von kupfernen Füßen, auf denen es stand, verschmälerte es sich nach oben hin, wo es in einer schmalen Kante wie der First eines Daches auslief. Über die ganze Konstruktion war ein feines, weißes Tuch gespannt. Claire ließ ihre Hand über das leichte und doch feste Gewebe gleiten, und spürte kostbare Seide. Ihr Blick ging nach oben. Aus der Unendlichkeit herab hingen hier zwei Handmanschetten an silbernen Ketten. Reglos und still in finstere Farblosigkeit führend, genau im Zentrum zwischen den schillernden Kaminen der Rauchabzüge.

Es war diese Leere über ihr, die sie mit Angst erfüllte. Dazu kam der Zorn, daß diese beiden Herren sich die einzigen Sitzgelegenheiten unter den Nagel gerissen hatten. Claire fühlte sich erschöpft, müde, ihre Knie begannen zu zittern. Hatte sie nicht eben erst den langen Weg durch die Unendlichkeit angetreten, um hier zu sein? Gerannt war sie, um ja pünktlich zu kommen. Um den richtigen Zeitpunkt zu erreichen, und nicht etwa kurz davor ins Nichts abstürzen zu müssen.

„Habt ihr’s bequem, ja? Wo soll ich sitzen?“
Mike lachte hysterisch, verschluckte sich am Rauch seiner Zigarette und erlitt einen erbärmlichen Hustenkrampf. Charon aber blieb völlig ruhig.
„Ah, wieder zwei Fragen, und gar keine Schlechten, wenn ich das sagen darf. Wir kommen der Sache näher. Auch wenn du eigentlich ganz genau weißt, wo dein Platz ist, Claire. Du bist schließlich hier zu hause, nicht wir. Also warum machst du’s dir nicht bequem? Du könntest zum Beispiel zunächst einmal ablegen.“

Stimmt. Er hatte völlig recht. Es war reichlich warm hier, und bei allem, was sie nicht wusste, stand es immerhin fest, daß in der Folge jede Kleidung eher unpassend sein würde.Also schlüpfte sie aus ihrem langen, nachtblauen Kleid aus fließend weichem, fast durchsichtigen Gewebe, stieg gleichzeitig aus den schwarzen Schuhen mit hohem Absatz, die sie aus purer Bequemlichkeit doch viel zu selten trug. Überrascht stellte sie fest, daß ihr gesamter Körper nun in unansehnlicher, mausgrauer Unterwäsche steckte. Sie schämte sich dieser unpassenden und viel zu biederen Verhüllung, spürte dabei, wie sie rot wurde. Hektisch versuchte sie, sich aus dem peinlichen Zeug zu befreien, das aus einem unangenehm dicken, festen Stoff bestand, fast wie sehr kompakte Gaze. Nein, eigentlich mehr wie Schaumstoff. Es war ihr unerklärlich, wie sie sowas hatte anziehen können, und noch unerklärlicher schien es ihr, wie sich sich bis eben darin so völlig normal hatte bewegen können. Entgeistert fummelte sie an der Kleidung herum, suchte in Falten und Wülsten nach dem Saum des Hemdes oder dem Bund der Strumpfhose, während ihr der Schweiß ausbrach.

Sie war gerade dabei zu verzweifeln, in Tränen auszubrechen, als Charon sich erbarmte und zu ihr trat. Langer, glänzender Stahl blitzte auf, als er ein Samuraischwert zog und es zweimal blitzschnell vor ihrem Körper niedersausen ließ. Die unangenehme Verpackung fiel wiederstandslos von ihrem unversehrten Körper ab. Zugleich spürte sie, wie der Kampf mit der Kleidung bei ihr Erregung ausgelöst hatte. Allmählich wurde ihr klar, daß sie nun bald die Anweisung erhalten würde, auf dem eigenartigen Gestell platz zu nehmen. Charons Schwert hatte sich in einen dicken, elliptischen Gegenstand verwandelt. Durchsichtig wie Glas, schillernd und funkelnd im flackernden Licht der Feuerbecken. Mit einem kurzen Ruck versenkte er das Teil in ihrer Spalte, wandte sich wortlos ab und setzte sich wieder neben Mike in den Sessel. Kein Ton wurde gesprochen, aber auf ein Winken mit der Hand hin, kletterte Claire auf den mit Seide bespannten Bock.

Zunächst stützte sie sich mit den Händen ab um den gräßlichen Druck, mit dem sich die Oberkante der Konstruktion in ihr Tal bohrte, etwas abzufangen. Hilfesuchend blickte sie zu den beiden Männern. Der eine - ihr Mann, den sie liebte, dem sie gehorchte - sah sie überhaupt nicht an, seine Augen musterten eine der Feuerstellen in der Zimmerecke. Charon erwiederte ihren flehenden Blick, zog herausfordernd und leicht spöttisch die Augenbrauen hoch.

„Was ist los, Claire? Mach einfach weiter, du weißt schon bescheid.“

Sie brauchte einige Zeit, um die Hände von der Kante zu nehmen, sich nicht mehr abzustützen. Langsam beugte sie sich nach vorne, schneidender Schmerz machte Anstalten, ihren Leib in der Mitte entzweizureißen. Sie beugte sich soweit vor, wie sie es irgend ertragen konnte; es reichte gerade um den Saum des Seidentuches etwas anzuheben und an die Fußfesseln zu kommen. Sie hielt den Atem an, fixierte erst den linken, dann den rechten Fuß und richtete sich anschließend wieder auf. Schwindel schoss durch ihren Kopf, die Spiegel um sie herum begannen zu rotieren. Während Mike nach wie vor eher teilnahmslos erschien, war Charon nahezu begeistert. Kerzengerade saß er in seinem Sessel und klatschte entzückt in die Hände.

„Phantastisch, Claire! Immer weiter so, jetzt die Handfesseln!“

Ihr Blick ging nach oben in endlose Dunkelheit entlang der silbernen Ketten. Unter Tränen hob sie die Arme, bekam die Handschellen zu greifen und ließ sie um ihre Handgelenke einrasten. Geschafft! In ihr tobte ein Tumult von Gefühlen, hilflos wie sie nun war, völlig ausgeliefert nicht nur ihrer Umwelt, sondern auch sich selbst und den eigenen, seltsamen Mäandern ihrer basalsten Triebe. Angst, Lust und Euphorie. Das Ding in ihrer Scheide bewegte sich, sobald ihr Unterleib den Schmerzen auszuweichen versuchte. Schmerzen, Lust und pure Energie; ihre Nässe tränkte das Seidentuch, als Charon sich hinter sie stellte. Als der erste Schlag ihren Rücken traf, hätte sie fast geschrien, stellte aber fest, daß es unnötig war.

„Jetzt lass dich gehen, Füchsin. Lass dich einfach los. Hier, wo wir jetzt sind, in der Zeit, wo wir jetzt sind, gibt es keine Grenzen. Nicht, solange du die Türen in dir selbst offen hältst. Sag mir, ob du noch Schmerzen verspürst!“
„Nein, keine Schmerzen. Nur Energie…“

Sie antwortete der Stimme des Großen Wolfes. Das Schwarze Zimmer war verschwunden, hatte sich in blauem Dunst aufgelöst. Eine warme, wohltuende Weite, die weniger um sie herum, als viel mehr in ihr selber Bestand hatte. Die Schläge schickten Wellen von erregender Kraft durch ihren Körper, konzentrierten sich in ihrem erogenen Zentrum, verstärkten sich in ihrer prall ausgefüllten Mitte. Konvulsionen pulsierten von dort zurück, bis sie sie ganz einnahmen und entrückten. Charon war nicht mehr da, sie hatte ihn zum Teufel gewünscht und er wurde durch ihren Wolf, durch Mike ersetzt. Durch Mike, der ihren bebenden Leib mit Schlägen traktierte, die so viel stärker waren, als die halbherzigen Spankings, die sie in einer anderen Realität gelegentlich von ihm erhalten hatte. Doch hier hatte sie keine Schmerzen, weil alles eins war. Alle Empfindungen und Emotionen fügten sich zu einem reißenden Strom von unvorstellbarer Kraft zusammen, auf dem sie dem Höhepunkt entgegenritt. Gleichzeitig fürchtete sie sich davor, denn am Ende musste alles zusammenbrechen, die einzelnen Teile würden wieder für sich stehen und all die pulsierende Energie würde aus ihr herausrinnen und sie in blutiger Verzweiflung zurücklassen.

„Nein, Fähe, wird sie nicht. Denn du wirst einfach nur erwachen, und ich werde bei dir sein. Also hör auf, dich zu sträuben!“

Sie ließ los, wurde fortgerissen, flog durch die Sonne und träumte auf der anderen Seite noch immer. Der blaue Mond stand hoch über ihnen, ergoß sein kaltes, mystisches Licht über gewaltige Brecher, die gegen die zerklüfteten Klippen rollten. Am Horizont, jenseits des Ozeans, würde in kürze der rote Mond aufgehen, violetter Schimmer über der Weite kündigte sein Erscheinen an. Mike versuchte es mit einem Lächeln, gab es aber schnell wieder auf. Claire zog den im Seewind flatternden Mantel enger um sich.

„Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich fragen wollte.“
„Dann behalt es für dich, Claire. Jedenfalls für den Moment.“
„Es spielt aber keine Rolle, weil du die Frage auch kennst. Genauso wie die Antwort.“
„Ich? Da liegst du falsch. Ich weiß gar nichts.“
„Du wirst es wissen, aber es spielt jetzt keine Rolle. Nicht, solange wir hier nur Gäste sind“


Mike beobachtete nervös Claires Höhepunkt. Er fühlte sich einsam, ausgegrenzt von dem, was in seiner Frau vorging, hilflos gegenüber einer Macht, die sie ihm zu entreißen schien. Bei ihrem Orgasmus stöhnte sie zweimal laut auf, irgendwie hohl und entrückt. Sie war immer noch in ihrem Traum unterwegs, unfassbar weit entfernt, auch wenn sie direkt neben ihm lag. Er hoffte und fürchtete gleichzeitig, daß sie nun aufwachen würde, aber sie drehte sich lediglich zur Seite, murmelte noch etwas Unverständliches in ihr Kissen und wurde dann ruhig. Ihr Körper erschlaffte, auf ihrem schweißüberströmten Leib bildete sich Gänsehaut. Mike griff nach Claires Decke und legte sie behutsam über seine Frau.

Aus dem Erdgeschoss erklang leise der hohle, sonore Ton der Standuhr mit den drei Zeigern. Sie schlug dreimal an; die richtige, die wahre Geisterstunde einläutend, die nicht um Mitternacht, sondern eben um drei Uhr begann und bis zum Morgengrauen dauerte. Mike rollte sich in seine Decke und suchte seinen eigenen Traum, der ihn bis zum Erwachen durch die Nacht tragen sollte. Bis zum Klingeln des Weckers und bis zum Beginn des nächsten normalen und völlig rationalen Tages.




© by Turambar. Der Autor beansprucht sämtliche Rechte an dieser Geschichte. Das Runterladen zum privaten Gebrauch ist völlig in Ordnung. Was nicht in Ordnung ist, ist jegliche Vervielfältigung und Weitergabe. Das gilt auch für das WWW (man höre und staune: „Wie, Regeln gelten auch im Internet?!?“) Insbesondere bei Seiten, die nicht vollständig kostenfrei sind, wäre ich sauer. Wenn es tatsächlich jemanden in den Fingern juckt, die Texte noch woanders hochzuladen oder anderweitig zu veröffentlichen, bitte PN an mich. Man kann über alles reden.
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