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  Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld")
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Daniela 20
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:21.02.18 16:14 IP: gespeichert Moderator melden


Und weiter im Text! Habe leider wenig Zeit im Moment. Freue mich aber nach wie vor über den einen oder anderen Gruß!
Viel Spaß beim Lesen wünscht Eure Daniela 20

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München, Mitte Juni

Es hatte einige Tage gedauert, Tage, an denen Klaus, jetzt immer noch als Barbara, kaum aus dem Haus gegangen war. Er hatte einen einzigen, großen Einkauf erledigt, hatte seine Vorratskammer, den Kühlschrank und die Gefriertruhe bis oben hin gefüllt. Und hatte sich dann im Wohnzimmer, vor dem Fernseher, ein Nest gebaut, welches ihm Sicherheit und Zuflucht bot.
Schwimme ich wirklich in der Mitte des Beckens herum, anstatt zum Rand zu schwimmen und mich einem der Rettungshunde anzuvertrauen? Er seufzte leise; dieses Bild, das Evelyn vor Monaten beschrieben hatte, um die Situation von Missbrauchsopfern deutlich zu machen, wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Aber hatte er denn nicht mit anderen über die Zeit gesprochen? Diese Wochen und Monate am Internat in Ettal, als der schwarze Mönch angefangen hatte, sein Leben zu zerstören?? Vielleicht war es doch nicht genug?

Er schaltete das Fernsehen aus. Kochsendungen, Ratesendungen, Zoosendungen! Gab es denn wirklich nichts Besseres im Fernsehen? Er schnappte sich sein Notebook, sah sich die üblichen Bilder an, die Klaus normalerweise erregten, aber Klaus war weggesperrt, da konnte er noch so viel versuchen, da ging gar nichts. Und Ingeborg hatte die Schlüssel!
Was mochte sie mit ihrem Anruf erlangt haben? Hatte die Polizei den Fall wieder aufgegriffen? Hatte man den Wagen sichergestellt? Und Pater Ruprecht? Saß der wieder hinter Gittern??

Das elektronische Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Überlegungen. "Hi Ingeborg! Schön, dass du anrufst! Wie geht es dir? Besser??"

"Ja, danke. Doch, es geht so langsam bergauf. Klo klappt schon wieder ganz gut, darf halt nur nicht zu feste drücken. Kommst du zu mir?"

"Klar doch! Bin schon unterwegs! Soll ich was mitbringen? Kuchen oder so?"

"Kannst du gern machen. Aber vergiss diesmal die Schlüssel nicht!"

Klaus stutzte. Hatte er richtig gehört? ""Welche Schlüssel, Ingeborg?"

Ihre Antwort kam etwas zögerlich. "Haha, sehr lustig! Die Schlüssel zu meinem BH und dem Keuschheitsgürtel natülich. Ich muss morgen zum Arzt. Da würde ich gern ohne den ganzen Metallkram hingehen!"

Ihm blieb fast das Herz stehen. "Ich habe sie nicht, Ingeborg." Er wartete auf eine Antwort, aber es kam keine. Nur ein leises Klicken war zu hören, danach tutete das Freizeichen. Sie hatte aufgelegt.


Er wollte sich beeilen, aber die Tatsache, dass auch er immer noch in BH, Keuschheitsgürtel und Schenkelbändern steckte, machte das Leben komplizierter. Was sollte Barbara anziehen? Eine Hose ging gar nicht; er hatte da keine Wahl, er musste einen Rock oder ein Kleid anziehen. Er überlegte hin und her, den Jeansrock, oder doch besser den knielangen, schwarzen Faltenrock? Seinen gepunkteten Rock mit dem steifen Petticoat drunter? Am Ende entschied er sich für Barbaras Dirndl. Er mochte es, sich so im Spiegel zu sehen. Im Dirndl war er ganz Frau. Das Wetter passte auch, es war angenehm warm, nicht die Münchner Sommerschwüle, wie sie später im Sommer kommen würde. Nur für den Abend war mit kühlerer Luft zu rechnen, weswegen er eine Jacke in seinen kleinen Rucksack packte.
Fehlt eigentlich nur noch das Oktoberfest!, dachte er, als er seinen kleinen Roller startete. Außerhalb der Oktoberfestzeit sah man selten Frauen im Dirndl, was er schade fand. Umso mehr erregte es ihn, als Barbara selber eines tragen zu können. Barbara mochte es, wenn Männer hinter ihr her pfiffen. Seltsam war, noch mehr mochte sie es, wenn sie Blicke junger Frauen auffing, Frauen, die meist Jeans trugen. Da gab es, und mochte es noch so kurz sein, für den Augenblick eine Art von Kommunikation; hier prallten Meinungen über Mode aufeinander, ähnlich Protonen in einem Teilchenbeschleuniger. Er signalisierte: tragt Dirndl! Wohingegen diese signalisierten: bloß nicht!! Wir haben Jeans! Wenn es nach ihm ginge, er würde alle Mädchen in Dirndl stecken!
Er bremste scharf ab; beinahe hätte er einen Fußgänger angefahren, der die Grünphase der Ampel etwas großzügig auslegte; gerade noch konnte er einen Zusammenstoß vermeiden!
Er fuhr weiter, schüttelte den Kopf. Nein, besser nicht Dirndl für alle! Neunzig Prozent aller Dirndl waren Schrott; leider trugen viel zu viele Frauen hässliche Billigdinger.

Klaus bog in Ingeborgs Straße ein, wie immer glitt sein Blick zu ihrem Fenster hinauf: ja, sie stand da und wartete auf ihn. Er parkte wieder auf dem Gehweg, stellte sein kleines Gefährt direkt an der Hauswand ab. Er schloss ab, sicher ist sicher, auch durch das Hinterrad wurde eine dicke Kette gezogen. Dann ging er zur Tür und klingelte.


Ingeborg hatte lange ihr Telefon angestarrt. Nein, nein, das konnte einfach nicht wahr sein. Er verarscht dich bloß, Ingeborg! Sie hatte einfach das Gespräch beendet, wollte ein Zeichen setzen, nein, so leicht lasse ich mich nicht aufs Glatteis führen! Was aber.... wenn.....? Sie schleppte sich zurück in ihr Bett, legte sich hin, Sitzen war immer noch recht schmerzhaft, obwohl es langsam besser wurde.
Es fühlt sich schwerer an, dachte sie. Sie unterdrückte den Impuls, wild an ihrem BH herumzuzerren, oder den Keuschheitsgürtel irgendwie doch über ihre Hüftknochen zu bekommen; mach dich nicht zum Affen!, nein, gegen den abgeschlossenen Stahl würde sie nicht ankommen. Nicht ohne Werkzeug. Und passendes Werkzeug hatte sie nicht.
Er wird gleich kommen und dich aufschließen! Und lass dir bloß nichts anmerken! Das will er doch bloß! Dich ein wenig auf die Folter spannen; sehen, wie du reagierst! Aber du bist taugh, du wirst lieb sein und warten, bis er von selber die Schlüssel heraus rückt und dich aufschließt!!
Sie lag ruhig da, die Linke in ihrem Schritt, die Rechte auf der Brust. Du hast dich selber verschlossen, Ingeborg? Warum machst du das? Was willst du denn noch? Seltsame Gedanken gingen ihr durch den Kopf, vermengten und vermischten sich mit Bildern ihres Traums. Ihre an eine solide Stange gefesselten Hände, das hübsche Korsett, welches ihr von hinten um die Taille gelegt wurde, schließlich den ersten, festen Zug an den Schnürbändern. Wer steht dort hinter dir und schnürt dich?, fragte sie sich. Sie war zu früh aufgewacht, um es sehen zu können. Aber gab es denn eine andere Möglichkeit, als Barbara?

Sie rollte sich ein wenig zur Seite und achtete beim Aufstehen darauf, Druck auf ihr Gesäß zu vermeiden. Ingeborg ging an ihr Fenster, lugte vorsichtig hinaus, Nachbarn würden ihren metallenen BH sehen können, wenn sie nicht aufpasste.
Sie sah Barbara kommen, sobald diese hinten um die Ecke bog. Barbara! Sie wurde ganz wuschig als sie sah, dass Barbara wieder ihr Dirndl angezogen hatte. Sie ist viel hübscher, als ich! Sie versuchte, tief durchzuatmen, ein kleines Beben ging durch ihren Körper, sie konnte nichts dagegen tun, ein Tropfen lief langsam an ihrem Bein herab. Was ist mir dir los, Ingeborg? Hast du dich nicht unter Kontrolle?
Sie drückte auf den elektrischen Türöffner, sobald es klingelte. Machte sich gar nicht erst die Mühe, das Telefon zu benutzen. Sie riss die Wohnungstür auf, hörte noch von unten das Zuschlagen der Haustür, dann brummte der Aufzug.

Ich bin ja total durch den Wind!! Meine Schlüssel! Mit wem hatte sie vorhin telefoniert? Mit Klaus, oder mit Barbara? Das war schon ein Unterschied, wenn Barbara sagte, sie habe keine Schlüssel, dann konnte es sein, dass Klaus sie hatte! Oder umgekehrt! Du spinnst!, dachte sie.
Sie zog sich in ihre Wohnung zurück, als der Aufzug oben ankam. Sie schloss die Augen, mochte nicht hinsehen, wann hatte sie Barbara zuletzt in ihrem Dirndl gesehen? Sie wusste es nicht mehr.
Ingeborg wartete, bis Barbara die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann stürzte sie vorwärts, packte diese bei den Schultern, schüttelte sie, heftig, krampfhaft. "Wo sind meine Schlüssel, Barbara!! Schließ mich auf! Lass mich bitte aus diesem verdammten BH und dem scheiß Keuschheitsgürtel raus!! Ich will jetzt Sex mit dir! Bitte...." Dann sackte sie zusammen und vergrub ihr Gesicht unter Barbaras Dirndlschürze.

"Wa...s?" Barbara wich einen Schritt zurück, spürte die Garderobe im Rücken, weiter zurück ging es wohl nicht mehr. "Ist ja gut!" Sie überlegte, ob es nicht besser war, wieder zu gehen. Andererseits aber hatte sie ihrerseits Grund, zu bleiben. Ihr tat es leid, was sie mit der Freundin angestellt hatte, und sie wollte auch ganz gern selber mal wieder aus ihrer stählernen Unterwäsche heraus.

"Hast du sie mit?" Ingeborg fasste Hoffnung.

"Ich habe sie nicht, Ingeborg."

"Wieso hast du sie nicht mit? Ich muss morgen zum Arzt. Und vorher möchte ich ganz gern aus diesen Dingern hier raus!"

Klaus trug immer noch seinen kleinen Rucksack; erst jetzt nahm er ihn ab, ging ins Wohnzimmer und legte ihn neben den niedrigen Tisch. Vorsichtig ließ er sich in das weiche Sofa fallen, der Keuschheitsgürtel zwang ihn zu einer geraden Haltung. "Ingeborg, ich habe deine blöden Schlüssel nicht! Weiß der Himmel, wo du sie hingelegt hast? Vielleicht sind sie im Präsidium, in deinem Schreibtisch? Hast du hier alles abgesucht?" Er zögerte etwas, wagte es nicht, seinerseits nach den Schlüsseln für seinen Gürtel und BH zu fragen. Sollte er es als eine Frage formulieren? Oder besser als eine Bitte? Oder wäre harter Kommandoton jetzt besser?

Sie sah ihn an. Versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Was schwierig war, denn Barbara hatte sich, wie immer, gut geschminkt. Schwierig, aber nicht unmöglich. Lag da nicht ein leicht spöttisches Lächeln auf seinem Mund? Machte er ihr nur etwas vor? Wollte er sich daran aufgeilen, ihre Angst mit zu erleben? Quatsch, dachte sie. Außerdem war Aufgeilen im Moment für ihn ja wohl auch nicht drin. Wenn er letztes Mal so blöde gewesen war, ihr seine Schlüssel anzuvertrauen? Sie atmete tief durch, so tief, wie es der stählerne Gürtel um ihren Brustkorb erlaubte, dann beschloss sie, abzuwarten. Resolut band sie den Bademantel wieder zu, wenigstens wollte sie ihm nicht den Spaß machen, Metall auf ihrer Haut sehen zu können.

"Gibt es Neues, Ingeborg?" Er brauchte nicht zu sagen, an was genau er dabei dachte.

Sie setzte sich neben ihn. Die Kommissarin musste sich überwinden, Klaus nicht an die Gurgel zu gehen, freiwillig würde er ihre Schlüssel nicht herausrücken, so viel war allemal klar. "Ja...."

"Ja...WAS? Hat man das Arschloch verhaftet? Hoffentlich sitzt er schon in Stadelheim?"

"Nein." Sie schüttelte den Kopf. "Nein, Klaus, man hat ihn nicht verhaftet. Wir wissen, ehrlich gesagt, nicht, wo er sich aufhält. Besser gesagt, die Kollegen wissen es nicht. Vergiss bitte nicht, ich bin krank geschrieben. Morgen muss ich zum Arzt...." Sie machte eine aufgebende Geste, langte mit der Rechten an ihre Brust; es war klar, was sie vom bevorstehenden Arztbesuch hielt. So würde sie nicht hingehen. "Aber man hat mir gesagt, dass der Wagen gefunden wurde..."

"Gefunden ist gut," unterbrach Klaus sie. " Viel zu finden gab es da ja wohl nicht, nachdem ich dir genau sagen konnte, wo er steht. Hat man ihn dann wenigstens beschlagnahmt?" Der Ton seiner Frage ließ erkennen, dass er sich etwas anderes als die Beschlagnahme gar nicht vorstellen konnte.

"Das kann ich dir nicht sagen." Sie zog den Bademantel etwas enger um ihren Körper. "Kannst du vielleicht mal einen Tee für uns machen?"

Spielte sie auf Zeit? "Lenk jetzt nicht ab, Ingeborg. Ich muss das wissen. Und wenn ihr nicht wisst, wo das Schwein sich aufhält, ich..." Gerade noch rechtzeitig bemerkte er, dass er drauf und dran war, sich um Kopf und Kragen zu reden. Er stand abrupt auf, griff nach Ingeborgs leerer Tasse. "Okay, Tee machen! Aber sage mir dann bitte mehr!"

Barbara ging in die Küche. Ingeborg entspannte sich etwas. Was war das? Was hatte er sagen wollen? Wusste er vielleicht selber mehr, als er ihr sagte? Und was war mit diesem 'Parco rottami' gewesen? Italien?? Sie wusste, dass Klaus Mutter in Rom lebte.... aber doch wohl kaum auf einem Schrottplatz? Sie schloss die Augen, versuchte ihre Gedanken zu kontrollieren. Klaus klapperte mit Geschirr in der Küche. Sie sah ihn... nein, sie sah Barbara, wie sie dort den Tee zubereitete. Barbara.... Wusste sie eigentlich, wie schön sie war? Und dann fiel ihr siedend heiß ein, dass sie einen ganz dämlichen Fehler gemacht hatte! Hätte sie ihn doch bloß nie in die Küche geschickt!


% % %

Klaus räkelte sich im Bett. Immerhin, dachte er, immerhin sichergestellt. Viel mehr hatte Ingeborg ihm nicht erzählen können oder auch erzählen wollen; er wusste es nicht. Ingeborg hatte sich zugeknöpft gezeigt, kein Wunder, nach all dem, was sie hatte durchmachen müssen. Durch meine Schuld, erinnerte er sich. Sie hatte noch etwas bei ihm gut, das wusste er, und sie würde nicht zögern, es bei ihm einzufordern.
Er legte seine Hand auf sein erschlafftes Glied. Er hatte die Schlüssel zu seinem Keuschheitsgürtel und BH bei Ingeborg auf dem Küchentisch gefunden und sofort wieder an sich genommen. Es gibt Gelegenheiten im Leben, wo man zupacken muss, sagte er sich. Jetzt packte er wieder zu, bearbeitete sein befreites Glied mit der Hand, aber es reagierte nicht auf die Bilder, die das überlastete Hirn ihm bot: hübsche Frauen in Dirndlkleidern, geile Messdienerinnen, Frauen, die irgendwo festgebunden waren und irgendwie ausgepeitscht wurden, Bondage und spanking nannte man es wohl, was die Sache aber nicht änderte, es war Gewalt an Frauen. Und so brachen die Bilder seines Kopfkinos jedes Mal schon zusammen, bevor sein Glied sich recken und strecken konnte. Es ging einfach nicht mehr.

% % %

Die Haustür fiel hinter Ingeborg ins Schloss; sie hatte es hinter sich gebracht. Sie nahm den Aufzug in ihr Stockwerk, schloss die Wohnungstür auf, zog Jacke und Schuhe aus und setzte sich erst einmal auf die Toilette.
Der Briefträger hatte sie vormittags aus unruhigem Schlaf geweckt, es konnte wichtig sein, wer weiß so etwas schon, also hatte sie sich einen Morgenrock übergeworfen und den Aufzug nach unten genommen. Es war nicht wichtig gewesen, vielleicht gar nur Reklame, oder man hatte bei ihr geklingelt, weil niemand sonst im Haus geöffnet hatte. Aber ein weißes Kuvert hatte in ihrem Briefkasten gelegen, ein weißes Kuvert mit ihrem Namen, Ingeborg Wimmer, nur ihr Name, sonst nichts. Ein weißes Kuvert, nur mit ihrem Namen; es enthielt nichts, bis auf die Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel und -BH! Klaus, du altes Aas!!, hatte sie gadacht und sich beeilt, ihre stählerne Unterwäsche abzulegen, bevor sie sich auf den Weg zur ärztlichen Untersuchung machte.

Die Wunden hatten sich nicht entzündet, der Heilungsprozess hatte eingesetzt. Sie blieb noch für den Rest der Woche krank geschrieben, Montag würde sie wieder arbeiten können! Und die Dinge endlich selber in die Hand nehmen, dachte sie, wobei sie weniger an verstaubte Archivakten dachte als an den Fall mit Pater Ruprecht. Was hat Klaus damit zu tun? Wieso tauchte der Wagen so plötzlich auf?

Ingeborg machte sich einen frischen Tee, überlegte lange, welchen sie aus ihrer großen Sammlung an schwarzen, grünen und neuerdings sogar weißen Tees nehmen sollte und entschied sich schließlich für einen Tee mit Brombeergeschmack.
Sie kroch zurück in ihr Bett, stellte den heißen Tee in Reichweite auf einen kleinen Hocker, wo sie ihn vergaß. Sie schloss die Augen, driftete in einen Tagtraum, ließ ihre Hand dort arbeiten, wo endlich wieder freier Zugang war, dann aber griff sie nach ihrem Laptop, der noch neben ihr auf dem Bett lag. Diese verrückte Geschichte, die sie gefunden hatte.... 'Das Korsett-Tagebuch'..... Sie begann zu lesen, sog die Sätze in sich auf. Sah Barbara hinter sich stehen, spürte das Knie, das diese ihr in den Rücken gestemmt hatte....

Sie würde etwas liefern müssen. Eine Hand wäscht die andere, ist es nicht so? Du bist mir etwas schuldig, Klaus Behrend!



München, Ende Juni

Sie hatten sich wieder in einem Café getroffen. Und sie hatte ihm einen Zettel mit der Adresse in die Hand gedrückt.
"Versuche es wenigstens einmal! Es kostet nichts. Du verpflichtest dich zu nichts. Du hast eigentlich keine Wahl...."

"Hat man nicht immer eine Wahl?" hatte er etwas schnippisch geantwortet.

"Nimm das nicht auf die leichte Schulter, Klaus! Natürlich hat man immer eine Wahl. Aber glaube mir, ich weiß genug über diese Sachen, um zu wissen, dass du nur die Wahl hast zwischen untergehen oder davon zu fliegen!"

"Davon fliegen, Lyn? Soll ich irgendwo hinfliegen? Nach Thailand und Frauen aufreißen?"

"Ach, red keinen Scheiß!! Ich meinte, alles hinter sich zu lassen. Und allein schaffst du es nicht!", reagierte Evelyn gereizt.

"Und ich soll jetzt, deiner Meinung nach, jahrelang zu irgendso einem Psycho-Freak rennen und mir die Seele aus dem Leib quasseln? Ohne mich, Lyn!"

Sie hatte ihn angesehen, nur mit den Schultern gezuckt. "Es ist deine Wahl. Du musst wissen, womit du leben kannst!"


Sie waren wortlos auseinander gegangen, aber er hatte den Zettel eingesteckt; eine Seitenstraße vom Stachus, Hinterhof irgendwo. Und er hatte suchen müssen, es nicht gleich auf Anhieb gefunden. Jetzt aber las er das Klingelschild BERATUNGSSTELLE und drückte auf den Klingelknopf.
Ein Lautsprecher knackte. "Ja bitte?"

Er räusperte sich. "Guten Tag! Mein Name ist...." Soll ich meinen Namen nennen?? Ist das hier nicht anonym?? "Ich möchte gern zur Beratungsstelle!"

Nichts. Er wartete einige Sekunden. "Hallo??"

"Wohin möchten Sie?"

Er holte tief Luft. Bemühte sich, das Zittern seiner Stimme zu unterdrücken. "Ich möchte zur Beratungsstelle...."

Ein elektrischer Türöffner ertönte. "Kommen Sie rein. Zweiter Stock!"


Oben angekommen; die Tür war angelehnt, er klopfte an, trat sofort ein. Kein Weg mehr zurück!, dachte er.
Eine ältere Dame begrüßte ihn am Empfang. "Sie möchten sicherlich zur Beratung. Nennen Sie mir bitte ihren Vornamen und um welche Art von Problem es sich handelt. Damit wir den Richtigen für Sie finden!"

Er nickte, sah sie aber etwas ratlos an.

"Drogen, sexuelle Probleme, Missbrauch, Gewalt, Eheprobleme, Probleme mit Eltern oder Arbeitsplatz.... Sie verstehen schon?"

"Äh, ja. Sexuelle Probleme." Er merkte, wie er rot anlief. Konnte er ihre Gedanken lesen?? Kriegt keinen mehr hoch.... Er schwitzte. Schweiß tropfte ihm aus dem Achselhöhlen.

Sie deutete ihm, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. "Es kann etwas dauern. Haben Sie Geduld. Ohne Geduld geht hier gar nichts."

Er wartete. Studierte die Zeiger eine simplen Wanduhr. Wie kann eine Minute so lang sein? Und warum verharrte der tickende Sekundenzeiger jedes Mal so verdammt lange? Läuft die Zeit nicht kontinuierlich ab?
Man reichte ihm ein Glas Wasser, gerade, als er überlegte, ob er überhaupt etwas würde sagen können. Seine Nervosität legte sich etwas. Eine Tür wurde geöffnet, eine Dame mittleren Alters kam heraus, die Augen verheult, das Maskara verlaufen. Eine sanfte Männerstimme war zu hören... ".... Sie haben eine Chance. Jeder Mensch hat eine Chance!"

Erst jetzt bemerkte er das rote Licht, das über der Tür gebrannt hatte und jetzt ausgegangen war. Die Sekretärin sprach ihn an: "Bitte, Klaus. Sie können jetzt zu Herrn Pfeiffer gehen. Er hat jetzt für Sie Zeit!"
Klaus bedankte sich mit einem kurzen Nicken, dann betrat er das kleine, spärlich möblierte Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

"Kommen Sie herein und machen Sie es sich bequem, junger Mann! Was kann ich denn für Sie tun?

Er sah sich um. Sein Gegenüber hatte schütteres Haar, er mochte Mitte 50 sein, das Gesicht war offen und ehrlich. Mit einer Geste deutete er auf einen bequemen Sessel; der Mann selber saß in einem zweiten Sessel.
"Sie haben Glück, dass man Sie herein gelassen hat. Nicht jeder schafft es bis hier oben!" Er nickte ihm vertrauensvoll zu. "Wir haben gar nicht die Kapazität, uns um jeden zu kümmern!"

"Wie bitte? Und wieso ich....? Wieso habe ich Glück gehabt?"

"Sie haben keine Namen genannt, als Sie klingelten. Sie wollten anonym bleiben. Und sie haben zweimal laut und deutlich gesagt, dass Sie zur Beratung möchten. Es muss sich also schon um etwas Ernsthaftes handeln. Dann legen Sie mal los! Ich habe Zeit für Sie, aber wir haben nicht den ganzen Nachmittag. Sie haben ein Sexualproblem?"

Habe ich ein Sexualproblem?? Klaus sank etwas tiefer im Sessel, betrachtete seine Hände, die nach etwas Unsichtbarem greifen wollten. "Ich.... ich habe schlimme Dinge getan...." Daniela! Ich habe sie im Stich gelassen... sie könnte noch leben, wäre ich nicht feige davon gelaufen....

"Warten Sie!!" Herr Pfeiffer hob die Hand. "Ich möchte nicht wissen, was Sie getan haben! Dafür haben wir gar keine Zeit; nicht hier und nicht jetzt. Wenn Sie jemanden umgebracht haben, gehen Sie zur Polizei. Wenn sie gesündigt haben, gehen Sie zu ihrem Pfarrer und beten dreißig Rosenkränze. Ich möchte wissen, was man Ihnen angetan hat, nur das zählt jetzt. Das muss unsere Ausgangslage sein. Dann sehen wir weiter!"

"Sie sind mir ja ein schöner Psychiater!", rutschte es Klaus heraus.

Er lachte kurz auf. "Nein, weit gefehlt. Ich bin kein Psychiater! Oder sehen Sie hier irgendwo eine Couch und Pillenschachteln?"

"Dann also Psychologe!"

"Auch daneben!" Herr Pfeiffer schmunzelte ihn an.

Klaus gewann etwas Selbstvertrauen. "Was wird das hier? Munteres Beruferaten? Was sind Sie denn, wenn ich mal fragen darf? Immerhin sollte ich doch wenigstens mal wissen, mit wem ich es zu tun habe... wenn ich Ihnen hier gleich mein Herz ausschütten soll!"

"Da ist was dran, Klaus. Ein Punkt für Sie. Ich bin Pädagoge!"

"Lehrer??" Klaus setzte sich auf, rutschte auf die Sesselkante vor. "Da bin ich wohl bei der falschen Beratungsstelle gelandet. Ich dachte, es wäre für Erwachsene..."

"Bleiben Sie sitzen, junger Mann!" Der Mann fixierte ihn mit freundlichem Blick. "Sagen wir lieber 'Erziehungswissenschaftler, wenn Ihnen das lieber ist. Mit Diplom!! Sehen Sie, Menschen, die zu mir kommen schleppen ihre Probleme meist seit Kindertagen mit sich herum. Egal, wie alt sie sind. Eben hatte ich eine Frau hier sitzen, die ist nie darüber hinweg gekommen, zu sehen, wie ihr Vater ihre Mutter vergewaltigt hatte. Glauben Sie mir, lebenslänglich im Knast ist gar nichts dagegen! Da kommen sie nach dreizehn Jahren raus... in so einem Fall aber...." Er schwieg.

Klaus ließ sich zurückfallen. "Es ist eine lange, sehr lange Geschichte..."

"Legen Sie los. Lassen Sie nichts aus! Ich werde Sie, wenn möglich, nicht unterbrechen!"



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maximilian24
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:23.02.18 19:02 IP: gespeichert Moderator melden


"weißes Kuvert"? Sind das die Notschlüssel die Barbara vorbei gebracht hat? Und wo sind die Originale?
Alt werden will jeder, alt sein aber keiner
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Daniela 20
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:25.02.18 18:39 IP: gespeichert Moderator melden


Heute kommt meine Geschichte zur Abwechslung mal etwas früher, weil ich gerade Zeit habe. Die toll gelaufenen Olympischen Spiele sind vorbei; mir haben sie diesmal gut gefallen, obwohl ich gerade in der zweiten Wochen wenig Gelegenheit hatte, am Fernsehen zuzuschauen. Jetzt also weiter hier im Text! Ich wünsche allen Lesern ein schönes und spannendes Lesevergnügen. Langsam bewegen wir uns auf die Ziellinie zu....

Herzliche Grüße, Eure Daniela 20

PS: Nächsten Sonntag dann wohl wieder zur gewohnten Stunde!

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Angst! Sie hatte sie gespürt, hatte gespürt, wie sie ihr langsam, wie ein gefräßiger Wurm, durch den Körper gekrochen war. Ingeborg gab sich ihrer Phantasie hin. Die dunkle Nacht in der Kirche, als sie immer wieder mit aller Kraft versucht hatte, sich von der Messdienerstrafbank zu befreien. Das Heulen des Sturms draußen, das Knacken der Äste der großen Bäume, die draußen vor der Kirche standen. Es war ein Spiel gewesen, dass sie selber begonnen hatte, um Barbara zu einer Aussage zu bewegen. Ein Spiel, dass sie beinahe verloren hätte.
Sie erinnerte sich an das zunehmende Zittern ihrer Knie, an ihre verzweifelten Versuche, den spitzen Stacheln des Sitzbrettes nicht zu nahe zu kommen. Und an den Moment, als sie das Unvermeidbare hinnehmen musste, als sie nachgab, als die scharfen Spikes durch den dünnen Stoff ihrer Messdienerkleidung drangen und an den höllischen Schmerz, der unmittelbar folgte.
Und sie erinnerte sich an den Rausch der Sinne, den sie in jener Nacht erlebt hatte, an nicht aufhörende Orgasmen, ausgelöst durch eine perfide Mischung aus Hilflosigkeit, Angst und Schmerz.

Sie wolte es noch einmal erleben. Vielleicht nicht unbedingt wieder so, dass sie tagelang nicht sitzen konnte, aber dieselbe Hilflsoigkeit, die Angst, das Hinabgleiten in eine Welt, die nur dem Zutritt gewährte, der sich hingeben konnte. Opfere dich, nur so kommst du wieder dort hin, Ingeborg! Barbara - oder Klaus - würde mitmachen, daran gab es keinen Zweifel. Hatte er nicht erst vor wenigen Tagen seinen Spaß daran gehabt, so zu tun, als hätte er ihre Schlüssel nicht gehabt?

Sie hatte lange überlegt, bis ihr wieder die Stelle aus jenem Korsett-Tagebuch in den Sinn kam, die praktisches Handeln erforderte. Klaus müsste das Korsett beschaffen, von dem er einmal gesprochen hatte. Und sie selber müsste einige Einkäufe machen....
Was genau bräuchte sie? Einen kräftigen Haken unter der Decke. Ein langes Seil. Lederriemen mit Schnallen. Eine kräftige Stange. Schrauben. Und sie wusste schon, wo sie alles bekäme!

"Eine Stange, sagten Sie?" Der Angestellte des Baumarktes betrachtete sie durch seine dicke Brille. "Was für eine Stange soll es denn sein? Eine Eisenstange?"

Ingeborg bekreuzigte sich innerlich, als sie sah, an welchen Verkäufer sie geraten war. "Nein, eine Holzstange. Eine kräftige Holzstange suche ich."

"Aha! Wofür soll sie denn sein?" Er ging ihr voraus und sah somit Ingeborgs gestenreich vorgetragene Erklärung. Falls er überhaupt eine Antwort auf seine Frage erwartete. "Sehen Sie, hier haben wir alles, was das Herz eines Tischlers erfreut.... oder eines Zimmermanns! Wie wäre es mit einer Dachlatte? Nicht? Balken vielleicht? Möchten Sie Ihr Loft renovieren?" Er war stehen geblieben, drehte sich um und sah sie fragend an.

"Äh, nein. Ich brauche eine kräftige, solide Stange für.... - DAS wirst du ihm jetzt nicht auf die Nase binden, Ingeborg!! - für gymnastische Übungen! Ja, für solche Übungen.... Sie wissen schon." Um ihre Worte zu untermauern griff sie nach einer imaginären Stange über ihrem Kopf und deutete einige Klimmzüge an. "Muss etwas für meine Kondi tun, meinte der Arzt."

"Ach so!" Klang er etwas enttäuscht? "Ja, dann kann ich mir ein genaues Bild machen...." Er stutzte; zu gern hätte Ingeborg jetzt in seinen Kopf schauen wollen, sich dieses genaue Bild einmal ansehen zu können. "Schauen Sie, hier haben wir ein schönes Rundholz; 3 cm Durchmesser, das ist stabil, lässt sich aber auch gut greifen. Die genaue Länge schneide ich Ihnen ab. Ein Meter?? Oder vielleicht besser 80 cm, das reicht bestimmt auch für Ihren Zweck. Und dann brauchen sie noch diverse Haken und ein kräftiges Seil....

"... und zwei Lederriemen mit Schnallen!" Verdammt! Es war ihr so rausgerutscht.

"Lederriemen mit....?? Wofür....??"

Der ist nicht auf den Kopf gefallen!! "Ich brauche sie für etwas anderes," log sie und bemühte sich, ihrem zweifelnden Gegenüber direkt in die Augen zu schauen. Hoffentlich stimmt es nicht, dachte sie, dass die Augen der Spiegel der Seele sind. Denn dann würde er etwas ganz anderes als gymnastische Übungen sehen können!
Sie atmete auf, als sie ihre Einkäufe in ihrem kleinen Mini verstaute und sich auf den Heimweg machte. So schnell würde sie hier wohl nicht wieder einkaufen!


% % %


Er hatte ihn nicht unterbrochen. Hatte lange und geduldig zugehört, war dann am Ende seiner langen Geschichte aufgestanden und zu einem kleinen Kühlschrank gegangen, den Klaus erst jetzt bemerkte. "Möchten Sie?"
Klaus nahm die Coladose gern an, öffnete sie und trank einen tiefen Schluck, der ihm gut tat. Dann hatte er eine Frage: "Sie haben sich gar keine Notizen gemacht?"

"Ja, das ist richtig. Sehen Sie, Klaus, Sie sind kein Patient, auch kein Klient, wenn ich es mal so sagen darf. Hier werden keine Dossiers angelegt. Wenn Sie hier sind, sind Sie hier und wir können uns unterhalten, mehr ist es nicht.

"Und was halten Sie nun von meiner Geschichte? Schlimm, nicht wahr?"

Pfeiffer schüttelte leicht den Kopf. Was man deuten konnte, wie man wollte. "Darf ich Ihnen selber erst einmal eine Frage stellen? Macht es keinen Spaß mehr?"

"Wie bitte? Was... was soll keinen Spaß mehr machen?"

"Das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel. Mal als Klaus aufzutreten, dann wieder als Barbara." Er wiederholte seine Frage. "Ich gehe einfach mal davon aus, dass es Ihnen irgendwie auch etwas gegeben hat; was, sei erst einmal dahingestellt. Tatsache ist, man hätte Sie nicht gegen Ihren Willen zwingen können. Sie haben mitgespielt, nicht wahr?

Klaus nickte. "Ja, das habe ich wohl. Aber jetzt ist es mir zur Belastung geworden. Verstehen Sie, ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin: Klaus, oder doch Barbara. War es mir zu Anfang wohl ein kindliches Bedürfnis, meine tot geglaubte Schwester irgendwie weiterleben zu lassen - und vergessen Sie nicht, ich sollte doch für ihren Tod verantwortlich sein! - so hat sich in den letzten Monaten alles dahingehend geändert, dass ich mehrmals mit dem Gedanken gespielt habe, sie umzubringen!"

"Sie umzubringen??"

"Barbara, Herr Pfeiffer. Natürlich nicht meine kleine Schwester!"

Der ältere Herr, der sich kurzzeitig etwas aufgerichtet hatte, fiel wieder zurück in seinen Sessel. Er berührte seinen Nacken mit der rechten Hand. "Sehen Sie, Ihr Vorgehen war nicht verkehrt. Es war keine Sünde. Sie brauchen weder zur Polizei noch zum Pfarrer zu gehen. Es war nur eine kindliche Reaktion auf Dinge, die in Ihrer Familie nicht besprochen wurden."

"Ja, aber jetzt...."

"Klaus! Ich bin kein Zahnarzt! Ich kann Ihnen weder einen Zahn ziehen, der tief in Ihnen nagt, noch kann ich Ihnen Ihr Seelenheil garantieren. Im Grunde genommen wäre es einfacher, Sie würden den verlorenen Spaß wiederentdecken. Ich könnte mir vorstellen, dass sie als Frau toll aussehen. Vielleicht nennen Sie es einfach nicht mehr Transvestismus, das klingt immer so freak-mäßig, sondern einfach Travestie? Ein Künstler, der sich verkleidet! So einfach kann es sein. Glauben Sie mir, alles andere ist ein sehr sehr schwerer Weg. Falls Sie ihn gehen wollen..." Er seufzte leise, leerte seine Coladose und stellte sie auf den kleinen Tisch.

Auch Klaus leerte seine Dose, behielt sie aber in der Hand. "Eine gute Bekannte von mir - sie hatte mir Ihre Beratungsstelle so sehr empfohlen -, sie hatte mir auch schon einen ganz ähnlichen Rat gegeben. Sie meinte, ich solle mich mit Barbara versöhnen. Sie endlich voll und ganz als Teil von mir akzeptieren und nicht mehr als ein fremdes, gar bedrohliches Wesen auffassen."

Herr Pfeiffer stand auf. "Ja, das sehe ich im Moment auch so. Aber ich werde über ihre Sache nachdenken! Kommen Sie ruhig wieder, bei mir finden Sie immer ein offenes Gehör! Also, alles Gute, Klaus, und ich drücke Ihnen die Daumen, dass dieser famose Pater hinter Schloss und Riegel kommt. Ihnen wird es nicht so viel helfen, aber den Kindern, an denen er sich sonst noch vergreifen könnte!

Klaus war auch aufgestanden, hielt seine Coladose aber immer noch umklammert. "Ich danke Ihnen, Herr Pfeiffer! Nur...." Er zögerte.

"Nur...? Sagen Sie es ruhig. Mir ist nichts fremd."

"Warum habe ich da mitgemacht? Hinterher, bei diesen Sado-Maso-Sachen? Und ich meine, nicht nur passiv....??"

"... sondern auch aktiv?" Herr Pfeiffer hatte den Faden aufgenommen, rieb sich wieder den Nacken. Überlegte etwas, dann begann er, eine Melodie zu summen. "Erkennen Sie das Lied?" Klaus nickte. "Kennen Sie auch den Text? Der ist nämlich interessant!" Leise summte er noch einmal vor sich hin, versuchte, selber den Text zu singen, gab es aber schnell wieder auf. "Na, damit würde ich wohl keinen Blumentopf gewinnen! Es ist ein Lied von Emily Browning: 'Sweet Dreams'. Sie singt: 'Some of them want to abuse you, some of them want to be abused!'. Verstehen Sie das? Diese beiden Dinge liegen eng beieinander. Sie lassen sich nicht wirklich trennen. Aber wenn Sie eine tieferschürfende Erklärung wollen, bitteschön, gehen Sie zu einem Psychiater! Der wird Ihnen etwas von Dopamin erzählen, wie süchtig unser kleines Hirn danach ist, und so. Aber der wird Sie, als sehr interessanten Fall, wahrscheinlich gleich da behalten! Ich würde es nicht riskieren!" Er lachte still in sich hinein. "Wissen Sie, ich würde mich eher an den Rat von Emily Browning halten, die sagt: 'Travel the world and the seven seas!' Man kann nicht vor sich selber weglaufen, aber man kommt auf andere Gedanken, wenn einem irgendwo in Afrika das Klopapier ausgeht!" Er lachte, laut und ansteckend diesmal, dann gab er Klaus die Hand und begleitete ihn zur Tür.


München, Anfang Juli

Bindfäden, dachte Klaus, wieso sagt man, es regenet Bindfäden? Aber irgendwie war der Vergleich auch treffend; Schnürlregen nannte man es wohl in Österreich. Auch nicht schlecht.
Er war schlecht gelaunt, die Nässe zog ins Haus, obendrein war es recht kühl, sollte er denn wirklich jetzt, mitten im Sommer, die Heizung anwerfen? Gut, dass wenigstens der Backofen etwas von seiner Hitze an die Küche abgab. Die Eieruhr rappelte, er sah durch das vergilbte Sichtfenster des Herdes, hm ja, die Pizza war goldbraun an der Kante, länger sollte es sie besser nicht im Ofen lassen.

Er goss sich ein Bier ein, bugsierte die Pizza auf einen Teller, der mal wieder viel zu klein war, holte Messer und Gabel aus der Besteckschublade und setzte sich an den Tisch. Mühselig schnitt er eine Stück vom Rand ab - doch wieder etwas zu hart geworden! - öffnete seinen Mund und schob das noch heiße Stück Pizza hinein. Just in dem Moment klingelte sein Handy, er sah, dass es Ingeborg war und meldete sich sofort. "Inge..org! ... ie ge.s ..ir??" Scheiß Pizza!!

"Wir haben ihn!!" Triumpf schwang in ihrer Stimme mit. "Klaus??"

Er beeilte sich, das Stück Pizza zu zerbeißen und mit einem Schluck Bier runter zu spülen. "Ja, bin da. Hatte gerade Pizza im Mund! Was ist??"

"Wir haben ihn, Klaus!"

"Wen haben wir?"

"Ruprecht Huber. Alias Pater Ruprecht. Er wurde gestern im Zug an der Grenze festgenommen! Du weißt, es gibt wieder Kontrollen in den Zügen! Hat der gute Mann sich wohl nicht überlegt, dass er da ein Risiko läuft."

Bei Klaus ging die Sonne auf. Zumindest symbolisch. "Im Zug? In was für einem Zug denn?"

"Er war unterwegs in einem Zug, der aus Rom kam! Stell dir mal vor, der muss in Italien gewesen sein...." Schwang da etwas in ihrer Stimme mit? Neugierde?

"Vielleicht war er bei seinem Verein, dieser komischen Bruderschaft? Was weiß ich...." Eigentlich alles, dachte er mit klopfendem Herzen.

"Ja, das ist die Frage...."

"Aber echt eine tolle Nachricht, Ingeborg. Du, entschuldige bitte, meine Pizza....."

"Aus Italien??"

"Hä?? Vom Penny!! Hahaha!" Er bemühte sich, ein Lachen hören zu lassen. "Und was jetzt? Ist er also wieder in Haft? Hoffentlich bleibt er diesmal dort!"

"Nun ja, es ist ja nicht mein Fall. Im Grunde genommen sind es ja zwei unterschiedliche Vorwürfe. Einerseits der wohl langjährige Missbrauch von Schutzbefohlenen, andererseits diese Fahrerflucht mit Todefolge, falls - FALLS - er das überhaupt gewesen ist. Es gibt noch keinen Untersuchungsbericht der KTU."

"Mord, wolltest du wohl sagen! Es liegt doch auf der Hand, dass er Thomas vorsätzlich angefahren hat. Wenn das kein Mord war, dann gute Nacht!"

Ingeborg schwieg. "Klaus, verrenn dich da nicht in etwas! Eine Mordanklage ist eine verdammt ernste Sache. Und wird wohl mehr als schwierig zu untermauern sein. Immerhin, ich tue, was in meiner Macht steht. Bin ja wieder im Dienst!" Wie um ihre Worte zu unterstreichen ließ sie ein hohles Husten hören. "Zumindest wieder im Archiv. Das hat sich während meiner Abwesenheit ja nicht von allein digitalisiert!"

Er hatte ein leckeres Stück geschafft, während Ingeborg redete. "Ja, danke, Ingeborg. Danke, dass du dich darum kümmerst. Ich weiß, du tust es für mich...."

Sie ließ ihm Zeit. Atmete etwas heftiger. "Klaus, ich habe eine kleine Bitte. Es... es ist mir wichtig. Ich möchte wissen...."

"Was möchtest du wissen?"

"Das Korsett, Klaus. Ich möchte wissen, wie das ist. Wie sich das anfühlt. Du hattest einmal gesagt, Monika hatte ein Korsett, das mir passen könnte?"

Augenblicklich klatschte der Regen wieder an das Küchenfenster. "Ja, das hatte ich gesagt. Aber..."

"Besorge es mir! Ich möchte, dass du mich in dieses Korsett schnürst! Bitte..."

Was ist mit dieser Frau los?? "Und wie stellst du dir das vor? Monika ist in Australien. Weit weg. Soll ich einfach zu ihrer Mutter gehen, klingeln und sagen, kann ich bitte mal Monikas Korsett ausleihen? Die Polizei möchte gern geschnürt werden??"

Ingeborg lachte. "Ja, das klingt wie eine gute Idee!" Sie schnaufte leicht. "Lass dir was einfallen, Klaus. Bitte. Dafür liefere ich dir auch deinen verdammten Pater ans Messer! Ruf mich an, wenn du so weit bist!!"

Klaus sah sein Handy an und überlegte, ob er es an die nächste Wand schmeißen sollte. Nein, besser nicht. Diese ganze Scheiße.... 'Es wäre einfacher, Sie würden den verlorenen Spaß wiederentdecken!' Stimmte das so? Würde es ihm Spaß machen, Ingeborg in dieses rotschwarze Lackkorsett einzuschnüren und dann die kleinen Schlösser daran zu befestigen? Seine Hand glitt wie von selbst zwischen seine Beine. Ja, es gab Anzeichen dafür, dass es ihm Spaß machen würde!

% % %

Ingeborg beendete das Gespräch und war gut mit sich zufrieden. Sie hatte ganz bewusst davon gesprochen, dass sie ihm den Pater ans Messer liefern würde, obwohl sie wusste, wie gering ihre Aussicht auf Erfolg war. Was hatten denn die Ermittlungen bis jetzt gebracht? Die Anklage wegen Pädophilie würde nicht viel bringen, hier stand ganz einfach Aussage gegen Aussage. Und Klaus Aussage war, bei aller Symphatie für das Leiden des jungen Mannes, wohl nicht viel wert. Man hatte nach weiteren Zeugen gesucht, aber wenn es überhaupt welche gab, wollten sie nicht aus ihrer Anonymität heraus oder sie hatten schlichtweg Angst vor einem langen Prozess, ausgefochten in aller Öffentlichkeit. Es war klar, welche Printmedien sich auf jeden Prozessteilnehmer stürzen würden.
Sie lachte etwas und schüttelte den Kopf, als ihr ein alter Spruch in den Kopf kam: 'BILD sprach zuerst mit der Leiche!' Es sah also nicht gut aus. Und das heimlich gedrehte Video, oben im Chinesischen Turm? Was genau hatte Huber da eigentlich gesagt? Hatte er hier jemals zugegeben, sexuellen Umgang gehabt zu haben? Mal ganz abgesehen davon, dass er auf dem Video nicht eindeutig zu identifizieren gewesen war, diese nur in Verbindung mit dem heimlich aufgenommennen Foto dieser Sanitäterin stattgefunden hatte. War das wirklich gerichtsfest?

Sie stand auf, räumte eine Akte weg, legte sie auf einen Rollwagen. Was konnte sie tun? Nichts, wenn sie ehrlich war. Einem Polizeibeamten sind so ziemlich die Hänge gebunden, wenn er nicht offiziell ermittelte. Mord, hatte Klaus gesagt. Es war ihre einzige Chance. Mord verjährt nicht. Aber gab es überhaupt Spuren, oder Indizien, die nach so langer Zeit noch aufgegriffen werden konnten? Sie musste die KTU anrufen, egal, ob sie nun an der Sache offiziell dran war, oder nicht.

% % %

Und jetzt? Klaus war mehr als ratlos. Es war klar, was Ingeborg von ihm erwartete. Und es war klar, dass es nur einen Weg gab, das verdammte Korsett überhaupt zu bekommen!
Was auch immer du tust, es darf nicht in die Hose gehen, Klaus Behrend!! Seine innere Stimme war nicht zu überhören. Wenn, überlegte er, wenn Monikas Mutter mich erwischt.... Falscher Gedanke!! Sie darf dich nicht erwischen!!
Welche realistischen Optionen hatte er? Was steht immer am Anfang eines Verbrechens?? Quatsch, das ist ja kein Verbrechen. Höchstens ein kleiner Diebstahl. Sollte er wirklich auffliegen; Monika würde ihm bestimmt nachträglich aus der Patsche helfen. Auch wenn es schwer ist; wegen Australien und so. Aber Monikas Spruch 'Alle Wege führen nach Rom' war ja wohl in erster Linie sinnbildlich zu verstehen. Und sein Weg führte in dieser Sache über Ingeborg zu Pater Ruprecht. Ohne ihre Mithilfe hätte er von vornherein keine Aussicht auf Erfolg.

Er beschloss, das Nachbarhaus zu observieren. Wurden Fenster geöffnet? Konnte man Stimmen im Garten hören? Blieb das Haus dunkel, oder wurde abends Licht angemacht? Bloß nichts überstürzen!! Außerdem hatte er keine Ahnung, ob dort, im Schuppen unter einem Farbeimer, immer noch der Hausschlüssel lag. Wenn nicht, würde es ihm wohl kaum gelingen, das Haus zu betreten, ohne Spuren zu hinterlassen.
Wenn er überhaupt rein käme! Und dann? Wo sollte er denn suchen? Mit einer Taschenlampe durch die dunklen Flure und Zimmer laufen, ein Taschentuch über Mund und Nase gezogen, à la Dick Turpin? Oder warum nicht gleich mit so einer lächerlichen schwarzen Augenmaske, wie die Panzerknacker bei Onkel Dagobert??

Wie auch immer, es war nicht ganz unmöglich. Mit etwas Glück würde es klappen. Aber mit etwas Pech säße er ganz schön tief in der Scheiße!

% % %

Ja, war die kurze Antwort gewesen, ja, es gebe Spuren. Spuren, die sich mit einiger Phantasie dem Unfallort in der Nähe von Bamberg zuordnen ließen. Die KTU hatte schlecht ausgebesserte Karosserieschäden entdeckt, eine kleine Delle, die notdürftig und sicherlich ohne großen Sachverstand ausgebeult worden war. Ein Lackschaden war überpinselt worden, nicht mit dem Originallack von Volkswagen in Leuchtorange, sondern mit einem ähnlich saturierten Nagellack. Was man leider nicht gefunden habe war der berühmte Gesichtsabdruck auf der Motorhaube... Ohne Geständnis, Frau Kollegin....

Ingeborg Wimmer hatte früher Feierabend gemacht. Ein Geständnis? Das ließe sich schon machen! Es war klar, dass die Sache schnellstens an die Staatsanwaltschaft übergeben werden müsste! Jetzt aber musste sie erst einmal sehen, dass sie mit ihrem eigenen Plan vorwärts kam.

Also, wie war das jetzt? Sie hatte sich ihren nur spärlich ausgerüsteten Werkzeugkasten geholt, entsprechendes Werkzeug gefunden und an die Arbeit gemacht. Womit sollte sie anfangen? Mit den leichten Dingen? Oder dem verdammten Deckenhaken? Für einen Moment wünschte sie sich, sie würde in einem schicken Loft mit hölzernen Deckenbalken wohnen, statt ihrer Betondecke. Aber wenigstens gab es in ihrer Wohnung eine wünschenswerte Deckenhöhe; wenn sie sich streckte waren es immer noch ein guter Meter bis zur Decke. Allemal ausreichend.
Eine Leiter hatte sie nicht. Also bugsierte sie mit einiger Mühe ihren Küchentisch in ihr Schlafzimmer, schob ihn zu einer geeigneten Stelle vor ihrem großen Spiegelschrank und kletterte hinauf, nachdem sie sich mit einer kräfigen Schlagbohmaschine bewaffnet hatte. Einer Maschine, die sie zuvor bei einem netten Nachbarn ausgeliehen hatte. Der kräftige Deckenhaken, den sie gekauft hatte, hatte eine Gewindelänge von 2 cm. Sie setzte den Bohrer an, nachdem sie zuvor mit einem Nagel eine minimale Delle in die Decke geschlagen hatte, dann schaltete sie den Bohrer ein, drückte, was das Zeug hielt, ein Erdbeeben konnte kaum schlimmer sein, Bohrstaub geriet ihr in die Augen, sie konnte kaum etwas sehen, drückte fester, hatte das Gefühl, vorwärts zu kommen, dann stellte sie den Bohrer aus.
Pfui Teufel! Ingeborg rief sich den Dreck aus den Augen, ja, immerhin ein Loch, wie tief mochte es sein? Sie steckte einen Bleistift hinein, nur ein Zentimeter, nicht gerade üppig. Doch der Haken passte., er ließ sich mit einiger Mühe in das Loch schrauben, optimal war es nicht, aber es musste ganz einfach halten. Sie zog das Seil, das sie gekauft hatte, durch die Öse des Hakens, zog daran, erst vorsichtig, dann immer kräftiger - es hielt.
Wesentlich einfacher war es, die beiden Lederriemen an den Enden der Holzstange anzubringen. Mit einer Aale bohrte sie Löcher in das kräftige Leder, zwei Schrauben ließen sich mit leichtem Kraftaufwand in das Holz bohren; fertig. Ebenfalls kein Problem machte der zweite Haken, den sie genau in der Mitte der Stange einschraubte und an dem sie nun das eine Ende des Seils anknotete. Fertig!
Ingeborg stellte den Tisch zurück in die Küche, dann testete sie die Apparatur, so gut es eben ging. Sie schnallte den einen Lederriemen fest um ihr linkes Handgelenk, dann zog sie mit der Rechten so am frei herab hängenden Seil, dass ihre Hand nach oben gezogen wurde. Gut, das funktioniert ja prima! Sie bemerkte ein leises Kribbeln an strategischer Stelle. Wenn Barbara jetzt hier wäre, sie würde ihre rechte Hand auch festschnallen und sie dann hochziehen und... und...
Und wo soll sie das Seil befestigen?? Ingeborg sah sich um. Es blieb eigentlich nur ihr Bett. Genau, Barbara müsste das Seil an ihrem Bett befestigen, eine andere Möglichkeit gab es leider nicht. Und dann wird sie mich in das Korsett einschnüren, bis mir die Luft weg bleibt, und ich kann nichts dagegen tun, weil ich da hilflos aufgehängt bin!! Der Gedanke an die bevorstehende Aktion ließ sie schaudern. Es schnürte ihr den Magen zu, sie begann heftig zu atmen. Beruhige dich, Ingeborg, sagte sie zu sich selbst. Vielleicht macht Barbara doch noch einen Rückzieher, oder sie springt diesmal wirklich in die Isar. Sie würde warten müssen.


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Daniela 20
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:04.03.18 23:03 IP: gespeichert Moderator melden


Ach, jetzt habe ich es doch verpasst! Tut mir leid. War gerade sehr beschäftigt gewesen!

Heute werde ich mit meinem Text wohl keinen Blumentopf gewinnen! Eingeklemmt zwischen SPD-Mitgliederentscheid und OSCAR Vergabe. Aber, liebe Leser, nur Geduld, die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
Und vielleicht gibt es ja doch den einen oder anderen, der sich heute über meinen Text freut.... und über das Ende eines eisigen Spätwinters!

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München, Mitte Juli

Er hatte sich nicht getraut! Nein, Klaus hatte sich nicht getraut, einfach hinzugehen und zu fragen, ob er mal das schwarz rote Lackkorsett haben könnte? Sie wisse schon, welches er meine? Das Korsett, das man so schön abschließen konnte? Es wäre vielleicht für ihn die einfachere Lösung gewesen. Vielleicht sogar die bessere Lösung. Denn er konnte davon ausgehen, dass es nicht geklappt hätte. Keine Chance, hätte er Ingeborg sagen können, und diese ganze Sache wäre ins Wasser gefallen. Denn, dass Ingeborg, mit ihrem schmalen Kommissarsgehalt, sich irgendwo für mindestens 400 Euro ein Korsett maßschneidern lassen würde, das konnte er sich nicht vorstellen.
Aber er hatte nicht so gehandelt. Je mehr er darüber nachgedacht hatte, umso mehr begann der Gedanke, ihn zu erregen. Er versuchte, sich zu erinnern. Daniela hatte es getragen! Aber wann?
Die Erinnerung kam nicht sofort. Ja, Daniela hatte das rote Lackkorsett damals getragen. Er erinnerte sich, sie war mit Barbara zusammengefesselt gewesen. Monika hatte es so eingerichtet. Monika, die damals mit ihm - als Barbara - scheinbar tun und lassen konnte, was sie wollte. Und auch mit Daniela. Wann mochte das gewesen sein? Sicherlich nicht in den ersten Herbstferien, als er Daniela kennen gelernt hatte? Wann war sie das zweite Mal in München? In den darauf folgenden Osterferien vielleicht? Frust hatte sich damals bei allen breit gemacht. Frust besonders bei ihm, weil Monika ihn gezwungen hatte, diesen Keuschheitsgürtel zu tragen. Sie hatte ihn in der Hand.... dieses Video, nachdem er mit Daniela....

Die Erinnerung sträubte sich. Daniela war bei ihm gewesen, hatte ihn gebeten, das Korsett aufzumachen. Er hatte es tun wollen, aber es ließ sich nicht aufschnüren und schon gar nicht abnehmen, Daniela kämpfte mit der Atemlosigkeit, am Ende war sie ohnmächtig geworden, dort im Schuppen... Und Monika? Er und Daniela hatten gesehen, wie der Blechsarg aus der Kirche herausgetragen wurde.
Er wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Der Sommer war mit hohen Temperaturen nach München zurückgekehrt. Schwitzte er deshalb, oder weil er sich erinnerte?

Klaus hatte tagelang keine Gelegenheit versäumt, das Nachbarhaus zu observieren. Er hatte es vom Garten aus getan, auf Geräusche geachtet, die hätten kommen müssen; hatte lange auch oben im kleinen Kabuff, das Monikas aus Australien stammender Vater sich dort oben im Haus seiner Großmutter eingerichtet hatte, aus dem schmutzigen Giebelfenster gespäht. Nichts. Licht wurde nicht angemacht, Fenster nicht geöffnet, Rollläden nicht hochgezogen.

Es war niemand da! Es hatte lange gedauert, bis diese Einsicht zu ihm durchgesickert war. Es gab wirklich nur zwei Möglichkeiten: entweder Monikas Mutter war nicht zu Hause, oder sie lag tot in ihrem Bett und niemand hatte es bisher bemerkt. Sollte er es wagen?
Und wenn man ihn doch erwischte? Würde man ihm glauben, dass er eigentlich nur auf Wunsch einer Kriminalbeamtin hier eingebrochen war??

Klaus wusste, dass zuviel Nachdenken in diesem Fall auch nicht gesund war. Manchmal musste man ein Risikon eingehen. Zufälligerweise fielen ihm wieder die alten Filmaufnahmen ein, der er am 6. Juni auf einem Bildschirm in Rom gesehen hatte. Die amerikanischen Soldaten damals, die aus ihren Landungsbooten heraus auf den unter starkem Beschuss liegenden Strandabschnitt von Omaha Beach stürmten, hatten die nicht auch ein unkalkulierbares Risiko eingegangen? Wäre Europa jemals vom verdammten Nationalsozialismus befreit worden, wenn diese Männer damals gesagt hätten, no, das Risiko ist mir zu hoch??

Er atmete tief durch. Hör endlich auf zu denken, Klaus Behrend. Du machst dich ja total verrückt. Geh jetzt da rüber, kriech durch den kaputten Gartenzaun, hol den Schlüssel aus dem Schuppen und besorge dir dann das blöde Korsett! Am Ende verliert Ingeborg noch die Lust an dem ganzen Fall mit dem scheiß Pater.... Er schloss die Augen; seine innere Stimme war laut und deutlich gewesen. Also los!

Klaus wartete bis neun Uhr abends. Es war noch hell, als er durch das Loch im Zaun schlüpfte. Mittlerweile war er sich ziemlich sicher, dass Monikas Mutter verreist war. Und so spät würde sie wohl nicht aus dem Urlaub nach Hause kommen.
Vorsorglich hatte er sich dunkle Sachen angezogen; man konnte ja nie wissen, wer gerade heute Abend aus einem Fenster blickte oder mit seinem Hund Gassi ging. Der Schuppen war unverschlossen. Das spärliche Licht, das durch die verdreckten Fenster fiel, reichte ihm aus, sich schnell zu orientieren. Niemand schien in den vergangenen Jahren Farbe gebraucht zu haben, immer noch standen mehrere bekleckerte Dosen im Schuppen. Klaus musste unter mehreren Dosen nachsehen, bis er Glück hatte und den Schlüssel fand.

Die Haustür lag zur Straßenseite hin. Aber auf der Straße war es ruhig, niemand kam vorbei, niemand würde ihn beobachten. Er musste ein leichtes Zittern seiner Hand unterdrücken, als er aufschloss, die Tür öffnete und eintrat. Es war dämmrig, die Straßenseite lag im Schatten. Die Luft roch abgestanden.
Er würde in Monikas Zimmer suchen müssen. Fand er das Korsett dort nicht, könnte es schwierig werden. Er huschte die Treppe hoch, fand das Zimmer und trat ein. Schnell sah er sich um.
Das Zimmer war aufgeräumt. Das Bett war verstaut. Nichts war außergewöhnlich, bis auf den Bilderrahmen, der umgedreht auf einem Regal lag. Klaus hob ihn hoch, er zeigte ein Kinderbild von Monika mit ihrer Mutter. Wer mochte es aufgenommen haben? Vielleicht der Vater? Hatte er damals bereits ein Auge auf seine kleine Tochter geworfen? Hatten die schlimmen Ereignisse damals bereits ihren Anfang genommen?

Klaus öffnete eine Schranktür, es roch noch ein wenig nach Monika, stellte er fest. Scheinbar hatte niemand mehr diesen Schrank lange Zeit geöffnet. Etwas fiel polternd zu Boden. Klaus nahm es auf und erkannte sofort die Zwangsjacke, die Daniela damals getragen hatte, als Monika ihm ihre Falle gestellt hatte. Er legte sie zurück in den Schrank, durchsuchte einige Fächer und mehrere Schubladen, bis er endlich fand, wonach er gesucht hatte. So ein Blödsinn, überlegte er, würde es Ingeborg überhaupt passen? Aber passte ihr nicht auch Danielas Keuschheitsgürtel? Ihm war längst klar geworden, woher Ingeborg ihren stählernen Gürtel und BH überhaupt hatte.
Er bemühte sich, keine Spuren seiner Anwesenheit zu hinterlassen, dachte sogar daran, das Bild wieder so hinzulegen, wie es gelegen hatte. Dann nahm er das steife Korsett, rollte es zusammen und steckte es unter seinen dünnen Pullover. Wenig später verschloss er die Haustür, legte den Schlüssel zurück unter den Farbeimer, wo er ihn gefunden hatte, dann kroch er zurück durch das Loch im Zaun. Es war geschafft!

% % %

"Wir haben es!!" Ingeborg Wimmer war für den Moment im Unklaren, wer was hatte. Es kam selten vor, dass sie auf ihrem Dienstapparat angerufen wurde, die direkte Durchwahlnummer war nur wenigen bekannt, und diese meldeten sich normalerweise mit ihrem Namen und/oder der diesbezüglichen Dienststelle.

"Wie bitte? Wer hat was?" stotterte sie in den Apparat.

"Ingeborg? Wir haben das Korsett!" Sie erkannte Klaus Stimme; die Worte brauchten etwas länger, in ihr Bewusstsein zu sickern.

"Korsett...??"

"Ja. Ich habe es ge..., äh, geborgt. Das ab...., äh, das Korsett von Monika. Du wolltest es einmal ausprobieren, wie es ist, geschnürt zu werden!"

Diese Worte überspülten sie wie eine Riesenwoge. Oder wie ein Tsunami? fragte sie sich. Sie hatte, nachdem sie die Vorrichtung in ihrem Zimmer eingebaut hatte - eigentlich war es ja nicht mehr als der eiserne Haken, den sie halbwegs in ihre Betondecke bekommen hatte! - alles wieder hübsch weggepackt und - vergessen! Das kommt vor, kein Fetisch ist ständig aktiv, alles kommt in Wellen, jetzt aber war er gerade mit einer Riesenwelle wieder zurückgekommen! Für einen Moment verkrampfte sich ihre Hand um den Telefonhörer, Bilder einer hilflosen Frau traten vor ihre Augen, sie musste tief Luft holen, musste die plötzliche Erregung irgendwie zurückdrängen, aber es war ihr, als hinge sie jetzt schon unter ihrer Fessekonstruktion und....

"Ingeborg?? Bist du noch da?"

Sie versuchte, sich zu sammeln. "Ja, bin noch da! Warum rufst du mich nicht auf meinem Handy an??"

"Hab ich versucht, Ingeborg. Gleich mehrmals heute Vormittag. Bist aber nicht dran gegangen!"

Ach, Mist, jetzt fiel es ihr wieder ein. "Scheiße, hab vergessen, es nach dem Laden in die Tasche zu stecken! Aber hier...."

Er unterbrach sie. "Wieso? Wird dein Diensttelefon abgehört? Glaubst du, dass jemand was dagegen haben könnte, dass du während der Arbeit ein Korsett trägst? Du sitzt doch eh nur da unten rum und blätterst in deinen Akten!"

Ihr Mund war trocken. "Nichts." Sie überlegte, was jetzt als Nächstes kommen sollte. "Und jetzt? Was machen wir jetzt?"

Ein leises Lachen war die Antwort. "Jetzt treffen wir uns und ich helfe dir dabei, das steife Ding anzuziehen! Ich habe schließlich so einiges riskiert, um es für dich zu besorgen. Mitgegangen, mitgehangen, Ingeborg!"

"Jetzt? Ich muss arbeiten!" Blöde Antwort, Ingeborg!

"Natürlich nicht jetzt! Aber Samstag, oder Sonntag. Wie es dir am besten passt!"

Irre Bilder tanzten vor ihren Augen. Wieder begann ihr Herz heftiger zu schlagen. Sie sah Handgelenke, die an eine solide Stange geschnallt wurden. Hände, die einen festen Griff an der Stange suchten, die nun hochgezogen wurde. Füße, die unsicher in turmhohen Ballettstiefeln schwankten..... Die Schuhe brachten sie wieder zur Vernunft. Solche Schuhe hatte sie gar nicht. Sie hatte nur mal Bilder davon gesehen, junge Frauen, die man zwang, mit solchen Dingern an den Füßen auf einem Laufband zu laufen.
Sie schüttelte den Kopf. Dummes Zeug, Ingeborg! Dreh hier mal nicht durch! Aber es war verdammt schwierig, nicht durchzudrehen!

"Ingeborg??"

"Ja, ich... äh...." Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Im Grunde genommen wusste sie nicht einmal, was sie denken sollte.

"Samstag? Oder Sonntag? Du kannst es natürlich auch allein machen, wenn dir das lieber ist." Seine Stimme verriet ihn. Es wäre keine Option für ihn.

"Nein nein!! Da werde ich ganz bestimmt deine Hilfe brauchen!" Sie hatte es hastig hervorgestoßen. Es ging nicht ohne Hilfe. Diese Hilflosigkeit.... "Samstag! Ja? Wäre Samstag denn passend? Glaubst du....?" Ingeborg ließ die Frage im Raum hängen. Sie konnte es nicht aussprechen.

"Glaube ich.... was??" Ist er schon genervt? Wie weit kann ich gehen?

"Glaubst du, dass Barbara am Samstag Nachmittag für mich Zeit hat? Wird sie mir helfen können....., also mit dem Korsett?" Sie hielt die Luft an.

Er antwortete nicht. Ingeborg presste den Hörer an ihr Ohr, war da etwas zu hören, etwas anderes außer dem Knistern der Leitung? Nein, nichts.Wenn er jetzt auflegt, dann ist alles vorbei! ALLES! Perdu! Er darf einfach nicht auflegen!!!"

Klaus räusperte sich, es klang angestrengt, wirkte alles andere als natürlich. "Ich werde sie fragen", antwortete er nach langem Zögern. "Also gut. Will dich dann nicht länger von der Arbeit abhalten! Bis in drei Tagen also!" Er legte auf.

Auch Ingeborg legte mit zitternder Hand den Hörer zurück auf ihr Telefon. Arbeit? Sie würde vor Samstag kaum noch etwas Vernünftiges zustande bringen!


% % %

Barbara!! Immer wieder Barbara! Es tat seinem männlichen Ego nicht sehr gut, dass alle Frauen immer nur mit Barbara zu tun haben wollten. Erst Monika, jetzt Ingeborg. Evelyn auch irgendwie. Nur Daniela war die Ausnahme gewesen. Daniela!! Ich bin schuld.... Er konnte es nicht abstreifen. Hätte er anders gehandelt, sie würde wohl noch leben. Aber an jenem Zeitpunkt, als sie von der Brücke hinab in die eisigen Fluten der Isar stürzte, war es bereits zu spät gewesen. Ja, er hatte falsch gehandelt, aber schon viel früher! Als es zu der Auseinandersetzung bei der GeiDiGaudi gekommen war?? Er überlegte. Nein, viel früher. Als Daniela ihn in seiner kleinen Dachwohnung aufgesucht und gebeten hatte, mir ihr zusammen hinzugehen, aber als Klaus, nicht als Barbara. Hätte er doch bloß auf sie gehört!! Und Stunden später war sie tot.....

Und jetzt? Hatte er etwas aus dieser schrecklichen Erfahrung gelernt? War er dabei, wieder einen Fehler zu machen? Er würde den verlorenen Spaß wiederfinden, koste es, was es wolle.
Klaus ging in sein Schlafzimmer. Er hatte das Korsett ziemlich achtlos in eine Ecke geworfen, so, als ließe sich sein Diebstahl ungeschehen machen, wenn er alles einfach ignorierte. Er hob es auf, nahm es mit ins Wohnzimmer, wo er es unter einer altmodischen Stehlampfe genauer untersuchte. Auffallend war, es hatte nicht die übliche Planchette, sondern einen sehr kräftigen Reißverschluss. Er probierte ihn aus, er ließ sich mühelos schließen und wieder öffnen. Neben dem Reißverschluss war auf der rechten Seite eine verstärkte Leiste angebracht, die sich über den Reißverschluss klappen ließ und diesen verdeckte; wenn man dies getan hatte konnte man oben den Griff des Reißverschlusses über einen angebrachten Dorn legen, welcher ein kleines Loch hatte; hier ließ sich ein kleines Vorhängeschloss einhaken. Verschloss man es, konnte man die Leiste, die den Reißverschluss verdeckte, nicht mehr zurückklappen, und auch der Schieber selber ließ sich nicht mehr bewegen.
Er drehte das Korsett um und betrachtete die sonderbare Rückenschnürung. Diese war ganz normal, konnte aber mit zwei stark versteiften Patten so abgedeckt werden, dass es unmöglich wäre, die Schnürung irgendwie zu lockern oder gar zu öffnen.
Er wollte sich die Kontruktion genauer ansehen. Aus dem Sofa holte er ein furchtbares, mit Fransen verziertes Kissen, das gewiss schon bessere Tage gesehen hatte. Er öffnete wieder den Reißverschluss, breitete das Korsett auseinander und legte es so auf das Kissen. Dann vershloss er wieder den Reißverschluss, jetzt guckte das Kissen mit seinen lächerlichen Fransen oben und unten aus dem Korsett hervor. Klaus drehte die Konstruktion herum, ordnete die Schnüre der Rückenschnürung, die etwas durcheinander geraten waren, und begann, die Schnürung zu schließen. Einige Male musste er die Schnur nachziehen, sie glitt ohne große Mühe durch die metallenen Ösen, die dicht an dicht angebracht waren.
Als das Korsett bis auf einen kleinen Spalt geschlossen war, machte er eine Schleife, zog die Bänder zu einer passenden Länge, wickelte sie sich um eine Hand und verstaute sie dann in einer kleinen Stofftasche, die innen an der rechten Patte angenäht war.
Die cirka zwei Zentimeter breite Patte endete in einen etwa dreißig Zentimeter langen Gurt, der ebenfalls stark versteift war. Klaus untersuchte das Material, konnte aber nicht sagen, ob es sich um kräftiges Plastik oder sogar eine dünne Metalleinlage handelte, da alles vom schwarzen Lackleder verdeckt war.
An der Basis der linken Patte war ein schmales Loch. Durch dieses schob er den Gurt; jetzt legte sich die rechte Patte fest über die Schnürung. Nun ließ sich auch die linke Patte über das Ganze legen, beide Gurte trafen sich auf der Vorderseite des Korsetts, wo über einem weiteren, mit einem Loch versehenen, Stift zusammen kamen, der nun ebenfalls mit einem kleinen Schloss abgeschlossen werden konnte. Auch dieser Stift befand sich auf der vorderen Leiste, die den Reißverschluss abdeckte. So verschlossen war dieses Korsett absolut ausbruchsicher!

Seine Oma musste ein Maßband haben! Er suchte in einem der Schränke, fand schließlich ein zusammenklappbares Nähschränkchen und darin auch ein Maßband. Er legte es um die Taille, weil er wissen wollte, wie eng man dieses Korsett schnüren konnte. 55 cm! Das war verdammt eng! Er wusste nicht mehr, hatte Daniela es damals ganz zugeschnürt gehabt, als sie es an jenem Tag trug, als sie an ihn gefesselt war und Monika in der Osternacht beinahe verreckt wäre? Sie hatte ihn gebeten, das Korsett zu lockern, aber da hatte es nichts zu lockern gegeben. Es war bei diesem Korsett schlichtweg unmöglich, an die Schnürung zu kommen, sobald es einmal mit den kleinen Schlössern abgeschlossen war. Er wusste nur noch, dass Daniela kaum Luft bekam und am Ende, in genau jenem Schuppen, wo der Schlüssel unter dem Farbeimer lag, wohl ohnmächtig geworden war.
Würde es denn Ingeborg passen? War die durchtrainierte und ältere Polizeibeamtin nicht kräftiger gebaut als Daniela? Und der Keuschheitsgürtel? Der ließ sich verstellen, das hatte er vergessen.
Klaus lachte leise vor sich hin. So eine blöde Frage! Natürlich würde es passen! Es war ja ein Korsett, und er war wohl kräftig genug, sie ordentlich einzuschnüren! Ja, das würde ihm bestimmt Spaß machen!!


% % %

Samstag. Samstag! SAMSTAG!! Ingeborg litt schon jetzt an Atemnot, wenn sie bloß an Samstag dachte. Und konnte irgendwie an gar nichts anderes mehr denken. Samstag Nachmittag würde Barbara ihr das steife Korsett um die Taille legen, hinter sie treten und dann....
Sie zitterte. Jedes Mal, wenn sie sich den Moment bildlich vorstellte, kam sie nicht weiter. Jedes Mal begann sie, unkontrolliert zu zittern. Was ist los, Ingeborg Wimmer?, fragte sie sich. Ist es nicht genau das, was du willst?

Sie kam nicht weiter. Der Donnerstag ließ sie, dank eines Haufens Arbeit, noch halbwegs zur Ruhe kommen, aber bereits der Freitag war schlimm. Sie war nur noch ein Nervenbündel, konnte sich überhaupt nicht mehr konzentrieren; schließlich beschloss sie, eine Stunde eher Feierabend zu machen. Der falsche Entschluss, wie sich alsbald zeigte. Kaum, dass sie zu Hause war, schienen die Zeiger ihrer Uhr fest zu stehen. Es wäre besser gewesen, sie hätte die ganze Nacht im Präsidium durchgearbeitet.
Sie hatte Hunger, bekam aber von dem, was sie gekocht hatte, kaum einen Bissen herunter. Vielleicht besser so, dachte sie, Barbara könnte mich nicht fest genug schnüren, wenn ich jetzt noch viel äße....

Hatte sie diese 'Replik' nicht schon einmal gehört? 'Du kannst mich nicht fest genug schnüren, wenn ich jetzt esse. Stell dein Tablett ab und komm lieber her und schnüre mich fester. Nachher will ich versuchen, etwas zu essen!' Wie oft hatte sie den Film 'Vom Winde verweht' schon gesehen? Unzählige Male. Aber immer noch erinnerte sie sich an das erste Mal, ein junger Teenager war sie gewesen, ein Mädchen, das von großen Reifröcken und engen Korsetts träumte und sich wunderte, wie man sich in solchen Kleidern wohl fühlt.
Fest genug? Barbara sollte sie morgen fest genug schnüren können? Wofür eigentlich? Sie hatte kein Kleid, das in der Taille so eng war, dass es nur über einem fest geschnürten Korsett getragen werden konnte. Was erwartete sie denn eigentlich? Sie würde Barbara sagen, wann es fest genug war, dann würde diese eine Schleife machen, die Bänder vermutlich oben unter den Rand des Korsetts stopfen und dann... hm?
Hatte sie irgendetwas übersehen? Vielleicht ließ sich dieses Korsett gar nicht fest genug schnüren? Wenn es so ein billiges Ding von der Stange war? Bloß nicht! Ingeborg biss sich nervös auf die Unterlippe. Das wäre Mist. Ganz großer Mist! Ich will schon fühlen, wie das ist, wenn man in so einem richtigen Korsett drin steckt!

Irgendwie hatte sie es bis zu den Tagesthemen geschafft. Sie hatte ihre Vorrichtung im Schlafzimmer zig Mal überprüft, es wäre ja blöde, wenn alles zusammenbrach, wenn sie darunter stand.
Sie sah nicht hin, wer wieder einmal irgendwo in der Welt Schlimmes getan hatte. Ändern ließ es sich sowieso nicht. Die Menschen waren und blieben schlecht, als Polizistin wusste sie ein Lied davon zu singen. Einfach nur schlecht, nicht einmal böse. Viele Straftäter hatte sie vernehmen müssen, die Böses bis hin zu Kindesmisshandlung, Gewalt in der Ehe und sogar Mord begangen hatten, sich dessen aber nicht wirklich bewusst werden wollten. Und hatte ihre Religion nicht bereits zweitausend Jahre lang versucht, das Böse zu besiegen? Sie musste lachen. Es würde bestimmt noch einmal zweitausend Jahre dauern, bis in der Hölle das Feuer ausging!

Morgen! Morgen wird Barbara kommen und das Korsett mitbringen! Sie wird mich am Schnürbalken festschnallen, mir dann das Korsett umlegen und es dann schnüren, bis es eng genug ist!
Und dann? Hätten sie dann Sex miteinander? Vielleicht trägt Barbara auch mal wieder ihr Korsett? Sie hatte sie lange nicht mehr damit gesehen. Überhaupt hatte sie Barbara lange nicht mehr gesehen! Wie das wohl wäre? Zwei eng geschnürte Leiber... aufeinander... Wenn Barbara keinen Keuschheitsgürtel trägt, sie könnte....
Ingeborg schüttelte den Kopf. Sie ging an ihren Schrank, fand einen anständigen Whisky, goss sich davon etwas in ein Glas, das musste reichen. Nur, um besser schlafen zu können! Sie merkte, dass sie feucht wurde. Sollte sie ihren Keuschheitsgürtel anlegen? Ihre Hand war schneller. Heute eher nicht! Und sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf.

Samstag, Mitte Juli

Klaus wachte mit einem ordentlichen Brummschädel auf. Auch er hatte abends, um die Nerven zu beruhigen, etwas trinken müssen, aber in den Vorräten seiner verstorbenen Großmutter nur süße Liköre gefunden. Sie schmeckten ihm, und so hatte er wohl ein wenig zu viel von dem Zeug getrunken.

Heute also! Seine Hand tastete unter die Bettdecke; ja, es lag noch da, genauso wie er es gestern Abend hingelegt hatte. Genauso, wie ich mich gestern Abend daraufgelegt habe!, korrigierte er sich. Er hatte lange überlegt, ob er das Korsett einmal selber anprobieren sollte - immerhin war Barbara enge Korsetts durchaus gewöhnt, aber etwas war an dem Gedanken nicht richtig, passte nicht ins Bild, wollte ihn nicht zusätzlich stimulieren. Dieses furchtbare Korsett sollte Ingeborg vorbehalten bleiben; außerdem wollte er nicht die Erinnerung an seinen Abend mit Daniela kaputt machen, und Barbara hatte ihre eigenen Sachen.

Trotzdem hatte er den Wunsch, es an seinem Körper zu spüren. Und hatte es schließlich auf seinem Bett ausgebreitet und sich nackt, wie er war, darauf gelegt. Hatte er deswegen unruhig geschlafen und verrücktes Zeug geträumt?

Er stand auf, sein Kreislauf würde einen starken Kaffee benötigen. Heute also! Es störte ihn etwas, dass Ingeborg ihn gefragt hatte, ob Barbara Zeit für ihn hätte. Er bemühte sich, zu verstehen, warum die Frauen, die er kannte, immer so sehr auf sein weibliches Alter Ego abfuhren, konnte sich aber nur oberflächliche Erklärungen geben. Bestand da eine Art weiblicher Dominanz, wenn er als Mann in die Rolle einer Frau schlüpfen musste? Er hatte nie viel darüber nachgedacht. Damals, als kleines Kind, da waren die Kleider seiner Schwester wohl die Rettung für ihn gewesen; Böses war ihm fremd in dem Alter. Erst später dann, als Monika eine Barbara aus ihm gemacht hatte, hatte er bei ihr die Lust ihres dominanten Verhaltens spüren können. Und Ingeborg?? Es war klar, sie akzeptierte Klaus, aber sie liebte Barbara. Es war schlichtweg zum Verrücktwerden!

Eine heiße Dusche und ein ordentlicher Kaffee später ging es ihm körperlich besser. Seelisch nicht. Immer noch grübelte er, war es richtig, was er vorhatte? Tat er denn nicht bloß etwas, was Ingeborg sich lange gewünscht hatte? Etwas Hilfestellung? Ein Freundschaftsdienst? Tat er es denn nicht bloß für sie?
Klaus fischte zwei Toastscheiben aus dem Toaster, den er gekauft hatte, schmierte Butter und Marmelade darauf. Nachdenklich begann er zu essen.

Wie ist das, wenn man etwas tut? Ist es überhaupt möglich, die eigenen Person ganz in den Hintergrund zu stellen? Dieses: Ich tue es für dich!, gibt es das überhaupt? Oder war da nicht doch etwas an dem alten Spruch, dass einem das Hemd näher ist als der Rock??

Rock! Er musste sich anziehen. Konnte nicht den ganzen Tag nur so in Unterwäsche herumlaufen. Und was sollte er anziehen? Klaus seufzte laut. Am liebsten hätte er ein brennendes Streichholz an Barbaras Sachen gehalten. Weg, nur weg mit dem ganzen Scheiß!! Aber er wusste, es würde nicht gehen. Nicht, solange Barbara immer noch da war.

Er hatte noch Zeit. Konnte noch darüber nachdenken, was er anziehen sollte. Klaus, oder Barbara? Wem von beiden würde es nachher mehr Spaß machen, Ingeborg in das enge Korsett einzuschnüren, enger, immer enger, auch wenn sie vielleicht schon um Erlösung bat? Barbara war sinnlicher, aber Klaus war der Stärkere. Auch wenn es verrückt klang. Hätte Barbara überhaupt die Kraft zum Schnüren? Klaus ja, da gab es keinen Zweifel. Aber er musste an etwas anderem zweifeln. Klaus konnte er nicht mehr hundertprozentig trauen. Nicht, seitdem er in jener schlimmen Sturmnacht Ingeborg sich selber überlassen hatte und bereit gewesen war, sich in die Isar zu stürzen. Klaus wäre ein Risiko. Und Barbara? Da war immer dieser Wunsch, sich zu unterwerfen. Barbara war eine geborene Sub. Am Ende würde sie Ingeborg bitten, sie in das Strafkorsett einzuschnüren und die Schlüssel wegzuwerfen!
Strafkorsett?? Ja, das war es wohl. Ist es nicht immer im Leben eine Frage von Schuld, Strafe und Versöhnung? Er wusste es nicht. Er wusste eigentlich gar nichts mehr. Nur, dass es jetzt wohl kein zurück mehr gab. Ingeborg wartete auf ihn. Aber auch das wusste er nicht ganz genau.


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Daniela 20
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:11.03.18 22:56 IP: gespeichert Moderator melden


Könnte bitte mal jemand warme Frühlingsluft in meine Richtung pusten?? Na, wenigstens der Schnee ist jetzt mal weggetaut!! Im Moment habe ich leider die Lust an meiner Geschichte etwas verloren; der März ist immer so ein Monat, wo es ans Eingemachte geht. Und es ist ein halbes Jahr her, dass ich all dies hier geschrieben habe. Jetzt wird ja nur noch veröffentlicht. Aber bald ist dann auch mit dieser Geschichte Schluss!

Dir, lieber Maximilian, wünsche ich gute Besserung! Danke, dass du dich gemeldet hast!

Jetzt wünsche ich allen eine hoffentlich spannende Lektüre!

Eure Daniela 20

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Schon Mittag?? Ingeborg sah ungläubig auf ihren Wecker. Wann war sie endlich eingeschlafen? Sie wusste es nicht mehr. War es 2 Uhr gewesen? 3 Uhr? Sie erinnerte sich nur noch, dass bereits helles Tageslicht durch den dünnen Stoff ihrer Vorhänge drang, ebenso hatte bereits ein lärmender Vogelchor eingesetzt. Erstaunlich, denn wo kommen bloß die ganzen Vögel her? Tagsüber sieht man sie kaum; noch weniger hört man sie.

Heute!! GLEICH!! Die Erkenntnis brach wie ein Steinbruch über sie hinein. NEIN!!! Ihre Hand griff zum Telefon, sie suchte Klaus Nummer. Ich muss es stoppen! Bevor er von zu Hause abfährt! Sie blickte auf das Display, die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Herrgott! Was ist denn bloß los? Sie quälte sich hoch, ihr Körper war wie Gelee, jetzt wusste sie es, sie hatte zu viel getrunken, hatte es nicht steuern können.
Konnte sie denn überhaupt noch etwas steuern? Ihre eigenen Gefühle hatte sie längst schon nicht mehr im Griff. Sie merkte, dass sie anfing, zu hyperventilieren! Beruhige dich, Ingeborg! Es ist doch nur ein blödes Korsett! Und das mit der Fesselung am Schnürbalken, du musst es nicht tun! Niemand weiß davon. Du kannst es wieder abbauen, niemand wird jemals davon erfahren, was du vorhattest!

Sie blieb lange unter der Dusche. Beobachtete ihre Haut, ließ das warme Wasser über ihre Brustwarzen fließen. Es tat soo gut! Ingeborg trocknete sich ab, hüllte sich in ihren weißen Bademantel. Weiß, die Farbe der Unschuld! Aber weiß war der alte Bademantel schon lange nicht mehr. Es war komisch, je öfter sie ihn wusch, umso grauer wurde er!! Da stimmt doch was nicht!
Ingeborg hatte Hunger. Kein Wunder, denn seit Mittwoch hatte sie nicht mehr richtig gegessen. Ein Fehler? Sie musste essen, wollte sie nicht zusammenklappen, bevor der Spaß überhaupt begonnen hatte! Sie kochte sich einen Tee, legte ein Brötchen auf ihren Toaster. Wurst und Käse holte sie aus dem Kühlschrank, dazu die übliche Packung Kärgarden.

Sie würde ihn anrufen. Sich entschuldigen. Von einem dummen, unüberlegten Plan sprechen. Von ihrem Wunsch, einmal solch ein regides Korsett am eigenen Leib zu spüren, ein Kindertraum, mehr nicht. Und sie würde Barbara zum Essen einladen.
Langsam beruhigte sie sich. Nach dem sehr späten Frühstück ging sie zurück in ihr Schlafzimmer. Griff nach der hölzernen Stange, wollte das Seil aus dem Haken in der Decke ziehen. Sie betrachtete die ledernen Riemen, die sie an den Enden der Stange angebracht hatte. Legte den einen um ihr linkes Handgelenk, schnallte ihn mit der anderen Hand fest. Hielt dann auch das andere Handgelenk an den rechten Riemen. Bitte, hätte sie gesagt, bitte schnall mich fest! Und dann zieh am Seil und binde es am Bettgestell fest!

Sie befreite sich wieder. Atmete tief ein und aus. Sie müsste sich anziehen. Konnte nicht den ganzen Tag so bleiben. Zieh dich an, Ingeborg. Zieh dir eine Hose an und ein Top und geh nach draußen! Nimm deine Badesachen mit! Geh schwimmen!!
Ingeborg öffnete ihren Schrank. Bückte sich nach Schuhen, die sie ganz unten aufbewahrte und bekam eine Tüte in die Hand, die sie längst vergessen hatte. Sie nahm den Inhalt heraus, legte beide Teile auf den Tisch und betrachtete sie. Zwei Teile, die alles ändern sollten.

% % %

Klaus starrte das Display mit Evelyns Nummer an. Ein kleines Wischen mit dem Finger, und dann.... Er betrachtete seine Hand, sah seinen Daumen, der reglos auf dem Display verharrte. Ruf sie an!, schrie es in ihm. Ruf jetzt Evelyn an! Sie wird Zeit für dich haben! Sie versteht dich! Sie wird herkommen und dich von dieser Sache befreien, die längst keinen Spaß mehr machte!
Er dachte nach. Überlegte, wieso es keinen Spaß mehr machte. Warum Barbara keinen Spaß mehr machte. Brauche ich sie noch?? Was ist denn bloß los mit mir?
Klaus sah die vielen Kleider und Röcke, die sich in seinem Schrank, dessen Türen offen standen, angehäuft hatten. Es gibt keine Barbara, überlegte er, und all diee Sachen gehören nicht zu meiner Biografie. Sie ist eine Chimäre, ein Fabelwesen, das mich jahrelang wie einen Zirkusbären an der Nase herumgeführt hat!

Das schrille Läuten seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Ingeborg! Er drückte das Gespräch weg. Sie wartet auf dich, du hast es ihr versprochen! Sie wartet auf Barbara, und Barbara soll sie in das Korsett einschnüren! Sein Herz schlug schneller. Du kannst nicht einfach vor dir selber weglaufen, Klaus Behrend! Und wieder hörte er die Stimme des netten Mannes in der Beratungsstelle.... es wäre einfacher, Sie würden den Spaß wieder entdecken!
Klaus griff nach seinem Kissen, warf sich darauf, konnte einen Weinkrampf nicht unterdrücken. Egal, wie ich mich jetzt entscheide, es ist so oder so das Ende von allem....

% % %

Zu sagen, Ingeborg sei nervös, wäre eine schlichte Untertreibung gewesen. Wann hatte sie versucht, Klaus anzurufen? Vor einer Stunde? Vor zwei Stunden? Sie hatte sich die Worte zurecht gelegt, hatte genau überlegt, was sie sagen wollte, damit es nicht zu sehr nach einer dummen Ausrede klang. Auf einen Nagel getreten? Magen verdorben? Unerwarteter Besuch aus Übersee? Nein, alles Quatsch. Und die Wahrheit? Hätte sie ihm einfach die Wahrheit sagen können? Dass sie kalte Füße bekommen hatte? ER hatte für sie alles riskiert, dieses blöde Korsett zu beschaffen, hatte im Grunde genommen sogar eine Straftat begangen, zu der sie ihn mehr oder weniger angestiftet hatte! Und SIE bekam jetzt kalte Füße??
Sie hatte ihn nicht erreicht. Und dann hatte sie wieder Angst bekommen, er könnte sich erneut etwas angetan haben. Die Luipold Brücke stand noch da, die Isar lockte immer noch mit ihren Fluten. Einmal lebensmüde, immer lebensmüde, dachte sie.

Du kannst es nicht ändern, Ingeborg. Du kannst ihm nicht helfen, und du kannst nicht einmal dir selber helfen! Pack das Ding wieder weg und zieh dich an! Geh schwimmen! Geh Rad fahren! Geh joggen! Geh irgendwo hin und friss ein riesiges Eis....

Dann hörte sie es, ein leises, tuckerndes Geräusch. Ein Geräusch, das langsam näher kam und schließlich vor ihrer Haustür erstarb. Ingeborg erstarrte in der Bewegung. Sie hielt den Atem an. Es wird jemand anders sein! Sie überlegte, zum Fenster hinauszuschauen, aber das elektronische Läuten an ihrer Wohnungstür war schneller. Mechanisch ging sie zur Tür, nahm den Hörer ab. "Ja, bitte?"

% % %

Klaus wusste nicht, warum er sich für den knielangen, engen Jeansrock entschieden hatte. Er hätte auch nicht sagen können, wieso er sich überhaupt für einen Rock entschieden hatte. Oder, warum er hier war. Sie will es so! Ingeborg wollte, dass Barbara kommt! Er fluchte etwas, als er sah, dass der Fahrstuhl wieder einmal kaputt zu sein schien. Und er fluchte über seine hochhackigen Schuhe - andere hatte Barbara nicht. Mühsam kämpfte er sich jetzt, Stufe für Stufe, bis in Ingeborgs Stock empor. Die Wohnungstür war angelehnt; von Ingeborg war nichts zu sehen. Er klopfte, kam sich ein wenig dumm vor, überlegte ein letztes Mal, zu gehen, so lange noch Zeit war. Aber seine Zeit war abgelaufen.

"Barbara!" Ingeborg war aus ihrem Schlafzimmer gekommen. Sie wirkte erhitzt, so als habe sie sich beeilen müssen. Ingeborg trug einen schwarzen Gymnastikanzug, sie zog und schob noch im Schritt und am engen, weiß abgesetzten Halsausschnitt, auch die langen Ärmel mussten noch ganz heruntergezogen werden. Noch einmal griff sie sich in den Schritt, dann blickte sie wieder auf und sah ihn mit großen Augen an. "Schön, dass du gekommen bist, Barbara!!"

Er reagierte nicht. Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich, sein Blick verriet Unsicherheit. "Du hast es dir so gewünscht."

"Und...., hast du es mit?" Ihre Stimme schwankte, als sie auf seine Tasche deutete. Vielleicht hoffte sie noch, dass er das Korsett nicht dabei hatte.Sie würde zurück ins Schlafzimmer gehen, sich den engen Anzug, den sie erst vor wenigen Wochen auf Ebay ersteigert hatte, wieder ausziehen, das 'Ding' enfernen, sich in ihren flauschigen Bademantel hüllen und für sie beide einen Tee kochen.
"Lass mal sehen!" Es war ihr so über die Lippen gekommen. Eigentlich wollte sie es lieber nicht sehen.

Er umklammerte seine Tasche fester. "Nein!"

"Du hast es nicht dabei?" Sie schöpfte Hoffnung, gab ihrer Stimme aber den Ton leichter Enttäuschung. "Ach, weißt du, nicht so schlimm...."

"Ich habe es dabei. Aber du sollst es nicht vorher sehen. Ich werde dich mit verbundenen Augen schnüren!" Wenn sie es nicht sieht... Er erinnerte sich nur zu gut an das erste Mal, als Monika ihm Barbaras Sachen angezogen hatte. Auch ihm waren die Augen verbunden, er hatte nur raten können, was mit ihm gemacht wurde. Es hatte einerseits das Gefühl intensiviert, andererseits ihm aber das Gefühl gegeben, dass es gar nicht passiert war.
"Willst du so bleiben?" Er deutete auf ihren Gymnastikanzug. "Ist der neu?"

"Ebay. Hab den neulich ersteigert. Ich weiß, dass du...." Sie schwieg. "Ja. Ich dachte, das wäre gut so. Dass das Korsett nicht direkt auf der Haut zu liegen kommt. Warum soll ich es nicht sehen??"

Klaus überhörte ihre Frage. "Hast du etwas, womit ich dir die Augen verbinden kann?"

Ingeborg versuchte, nachzudenken, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber alles in ihr war nur noch wie eine drückende Stille, die wusste, sie würde dem herannahenden Sturm nicht mehr ausweichen können. Sie drehte sich um, ging ihm voran ihr Schlafzimmer. "Eine schwarze Strumpfhose vielleicht? Wenn du sie ein par Mal zusammenlegst, dann müsste es gehen. Sie fand eine, gab sie ihm.

"Und das da?" Er nahm die Strumpfhose, deutete mit der Hand auf ihr Zusammengewerkeltes. "Was ist das?" Seine Stimme zitterte etwas. Frag nicht so blöd, Klaus Behrend! Du weißt genau, was es ist, und du weißt was sie gleich sagen wird!

"Es ist... ich möchte..." Sie kam nicht weiter. Irgendetwas stimmte nicht. Was ist los, Ingeborg? Traust du dich nicht mehr? Ist es nicht das, was du dir lange gewünscht hast? Dass Barbara dich fest einschnürt und du nichts dagegen machen kannst? Sollte sie auf ihre innere Stimme hören? Oder alles zurückdrängen, sich der Versuchung widersetzen? 'Ich widersage dem Bösen...', in der Osternacht, hatte sie es nicht vor wenigen Wochen erst in der Osternacht laut und deutlich gebetet?
"Dann gib mal deine Hände her!" Barbara hatte ihre Antwort nicht mehr abgewartet. Wozu auch? Es war viel zu offensichtlich, was sie mit dem selbstgebastelten Schnürbalken vorhatte. Ingeborg schloss die Augen, ihre Glieder waren wie Gummi. Würde sie überhaupt stehen können? Sie spürte, wie sich der erste Riemen fest um ihr linkes Handgelenk legte und dort festgeschnallt wurde. Ihre rechte Hand wurde sanft, aber fest, zur Seite gezogen. Wieder spürte sie den Riemen am Handgelenk. Er wurde enger, legte sich fest um ihren Arm.

Klaus ließ von ihr ab. Ingeborg stand vor ihm, hatte ihm den Rücken zugewandt. Ist es wirklich so einfach?, überlegte er. Warum mache ich es bloß? Er nahm die Strumpfhose, die ihm zuvor zu Boden gefallen war, wickelte sie drei- viermal so zusammen, dass sie ein dichtes, aber weiches Polster bildete, dann legte er sie Ingeborg von hinten vor die Augen, zog die beiderseits herabhängenden Strumpfbeine hinter ihrem Kopf zusammen, sie waren lang und wurden durch den Zug noch länger, führte sie noch einmal um ihre Augen herum, sorgfältig darauf achtend, dass sie wirklich nichts sehen konnte, dann knotete er sie hinter ihrem Kopf zusammen.

Sie atmete heftig. Testete den ihr verbliebenen Spielraum; sie hatte keinen. Ihre Finger, die versuchten, irgendwie an die festgeschnallten Riemen zu kommen, griffen ins Leere. Es war zu spät. Sie merkte, wie ihre Arme plötzlich hochgezogen wurden, sie wollte sich dem widersetzen, aber ihre Muskeln gehorchten nicht, zu stark war der Zug am Seil, zu schwach ihr Wille, es noch zu beenden. "Nicht!!" Es war unkontrolliert aus ihr herausgebrochen. Aber der Zug an ihren Händen nahm weiter zu, schon waren ihre Hände in Höhe ihres Kopfes, sie versuchte, wenigstens noch die Strumpfhose von ihrem Kopf zu bekommen, es ging nicht, ihre Finger kamen nicht mehr an den Stoff, sie musste ihre Arme ausstrecken, sie begann, zurückzuziehen, es half alles nichts, er war stärker als sie; sie hatte ihre Apparatur zu gut gebaut.
Er?Wieso er? Erst jetzt fiel es ihr auf. Ist das noch Barbara, die mich schnüren wird? Spricht Barbara nicht mit einer viel weicheren, leiseren Stimme? Aber das hier..... Klaus?

Klaus sah, dass es kaum weiter ging. Ingeborg stand kerzengerade vor ihm, schon tänzelte sie etwas auf den Fußspitzen. Und wenn er noch weiter zog? Er zog noch etwas stärker am Seil, sah, wie sich ihre Füße auf die Zehen stellten; es musste sehr unbequem sein. Er sah sich um, knotete das Seil an ihrem Bett fest, der einzigen Stelle, wo es ging.
Er trat hinter sie, umarmte sie von hinten, streichelte ihre Brüste durch den dünnen Stoff des Gymnastikanzuges. Ließ seine Hände die Taille entlang abwärts wandern, suchte ihren Schritt, entdeckte dort etwas, was dort vor seinen Blicken verborgen geblieben war. Er erfühlte eine leichte Erhebung... Oh, kein Keuschheitsgürtel heute? Nun ja, sie soll ja auch ihren Spaß haben!
Ihm fielen die beiden kleinen Schlüssel ein, die man brauchte, um das Korsett wieder öffnen zu können. Wo sollte er sie verstecken? Im Wohnzimmer? Er ging hinüber, es gab keine Blumentöpfe, es gab keinen Teppich, wie konnte man nur so wohnen? In einer Ecke des Raumes befand sich ein hoher, eiserner CD-Ständer. Mindestens vierzig oder fünzig CDs mochte er beinhalten, er nahm eine hervor, legte einen der Schlüssel hinein, wiederholte es dann, mit einer anderen CD, mit dem zweiten Schlüssel. Das musste gehen. Welche CDs er genommen hatte, merkte er sich nicht.

Zurück im Schlafzimmer erwartete ihn leises Wimmern. War es echt? Oder gehörte es bereits zu ihrem Kopfkino? Die Füße! Sie konnte nicht mehr mit dem ganzen Fuß auftreten. Klaus sah in ihren Schrank, doch, sie hatte high heels, auch wenn diese nicht so hoch waren, wie die Dinger, die Barbara manchmal trug. Er nahm das Paar hervor, welches die höchsten Absätze hatte, zehn Zentimeter war auch nicht schlecht, die Schuhe hatten sogar kleine Riemchen, besser ging es gar nicht.
Er kniete sich hin, tippte wortlos gegen ihren Fuß, und, als dies nicht half, hob ihren Fuß ein wenig an, bis er ihr den ersten Schuh anziehen konnte; mit dem anderen ging es etwas leichter. Er sicherte die Schuhe gegen ungewolltes Ausziehen mit den kleinen Riemchen. Abzuschließen waren sie nicht, aber es würde sie, in dem steifen Korsett, auch so einige Mühe kosten, die Dinger von den Füßen zu bekommen.

Ingeborg hätte nie gedacht, dass diese Schuhe, die Bruno ihr einmal geschenkt hatte, noch einmal von Nutzen sein würden. Getragen hatte sie sie ein einziges Mal, sie hatten einen kurzen Spaziergang zusammen gemacht, aber nach nicht einmal zwei Stunden, unterbrochen von vielen Pausen auf diversen Parkbänken, hatte er ein Taxi rufen müssen, um sie nach Hause zu bekommen. Jetzt konnte sie wieder stehen, wenn auch recht wackelig auf den ungewohnt hohen Absätzen.

"Besser?", fragte er sie. Sie nickte. Wollte ihre Spannung auf das Unvermeidliche jetzt nicht mit Worten zerstören. Ingeborg hörte ihn kurz in den Flur gehen, das metallene Klappern verriet, er holte seine Tasche. Das Öffnen einen Reißverschlusses war zu hören, die Tasche fiel zu Boden, Papier raschelte einen kurzen Augenblick. Es war so weit.

"Bist du parat?" Er wartete die Antwort nicht mehr ab, es sollte ihm jetzt egal sein, ob sie parat war, oder nicht. Er fragte sich, ob Monikas Korsett Ingeborg überhaupt passte. Er würde es gleich wissen. Er hatte bereits bei sich zu Hause die Schnürung weitest möglich geöffnet, anlegen würde er es ihr auf jeden Fall können! Und dann, Klaus??
Vorsichtig legte er es ihr von hinten um die Taille, hielt die beiden Hälften irgendwie zusammen, wechselte nach vorn um besser sehen zu können, hakte unten den stabilen Reißverschluss zusammen, es machte nichts, dass das Korsett jetzt oben wieder auseinanderfiel, langsam schloss er den Verschluss jetzt, musste etwas kräftiger ziehen, denn das Material schien wenig benutzt gewesen sein. Die Länge passte! Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als er es sah.


Bin ich zu weit gegangen? Ingeborg spürte, wie sich der feste Stoff um ihre Taille legte. Sie achtete auf jedes Geräusch, einige Male hörte sie ein hässliches Quietschen, sie hatte Ähnliches schon einmal gehört, wenn sie die Schuhe, die sie jetzt trug, mit den Oberflächen aneinander schlug. Lackleder??
Dass dieses Korsett keine gewöhnliche Planchette als Schließe hatte, wunderte sie. Ein Reißverschluss? Der würde wohl nicht lange halten? Sie sah nicht, was Barbara - nein, Ingeborg, das ist nicht Barbara! - tat, als das Korsett vorn geschlossen war. Irgendetwas musste dort sein. Aber was?

Diesmal trat Klaus nicht hinter sie, sondern drehte sie der Einfachheit halber zur Seite, sodass er mit dem Schnüren beginnen konnte. Zuerst zog er vorsichtig an den 'Eselsohren', den kleinen Schlaufen, die in der Mitte an beiden Seiten knapp hervorugten; verknotet war das Korsett ganz unten. Er zog die überflüssige Schnur durch die Ösen, die Schlaufen wurden länger, dann war die Schnürung so weit angezogen, dass sie, ohne irgendwo herunterzuhängen, glatt auf dem untergeschobenen Schnürschutz lag. Es war so weit.

Sie hatte die Augen längst geschlossen; unter der engen Binde machte es keinen Sinn, sie geöffnet zu halten. Ingeborg atmete tief ein, schon spürte sie den Druck des festen Stoffs auf ihren Oberkörper. Jetzt also, jetzt würde Barbara anfangen, sie in dieses Ding einzuschnüren. Sie griff fester mit den Händen zu, es gab keine Chance, den ledernen Fesseln zu entkommen. Ihr Körper schien bis zur Schmerzgrenze gestreckt. Die hohen Absätze waren keine wirkliche Hilfe, immer noch lag ihr Hauptgewicht auf den Zehen; verlagerte sie es auf die Ferse, begann sie sich zu drehen.
Sie merkte, wie es langsam enger wurde. Sie konnte plötzlich nicht mehr Luft holen, wie sie es gewohnt war, bis tief in den Bauch hinein. Der Druck in der Taille verstärkte sich.

Klaus ging ganz mechanisch vor. Hatte er jemals einen anderen Menschen geschnürt? Eher nicht. Er kannte es eigentlich nur aus der eigenen Erfahrung, wenn er sein weibliches Ich geschnürt hatte. Zuerst hatte er alle Schnüre von oben bis unten angezogen, dann die Taille geschnürt. Jetzt machte er sich im Lendenbereich zu schaffen. Das Korsett lag ein gutes Stück über Ingeborgs Hüften und stand noch weit auseinander. Er griff in die Schnüre und sah, wie die steife Lacklederhülle sich eng auf Ingeborgs Hüften legte. Er zog fest zu, hielt die Schnürung mit der einen Hand fest und zog dann die überschüssige Schnur an den Eselsohren wieder heraus. Schließlich wiederholte er die Prozedur mit dem oberen Teil des Korsetts, der ihren Brustkorb umschloss.

Ingeborg konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. Das Gefühl, als das Korsett unten enger wurde, war kaum zu beschreiben; irgendwie verpflanzte sich der Druck auf ihre Scham, erregte sie jetzt umso mehr, da sie sich dieses Teil eingeführt hatte. Sie versuchte, sich an die Geschichte zu erinnern, die sie in letzter Zeit immer wieder gelesen hatte. Sie hatte sie im Internet gefunden und war sicher der Grund dafür, dass sie jetzt so hilflos an diesem Balken hing: >Mutter hatte vom Personal in meinem Zimmer auch eine Haltestange installieren lassen, die nun immer an zwei Seilen von der Decke hängt. Erst muss ich meine Hände durch zwei Lederschlaufen an den Enden der Haltestange stecken, die Mutter dann fest um meine Handgelenke schnallt. Dann zieht Mutter an den Seilen die Haltestange so nach oben, bis ich nur noch auf den Zehenspitzen stehen kann. Wenn sie mir dann das Korsett zuschnürt, geht es viel leichter und schneller!
Ich fühle mich dann schon sehr hilflos und ausgeliefert, denn ich kann nichts dagegen tun, wenn Mutter das Korsett so eng schnürt, wie sie es für richtig hält! Aber irgendwie empfinde ich die strenge Behandlung und das schnelle Schnüren auch als sehr aufregend! Ich kann es nicht mit Worten beschreiben ....Ich musste schon mühsam nach Luft ringen und war doch fast enttäuscht, als Mutter die Schnürprozedur beendete.
< Angeblich stammte der Text aus dem Tagebuch eines jungen Mädchens aus dem Jahr 1897, aber Ingeborg war realistisch genug, es für pure Phantasie zu halten.
Warum schnürt er mich bloß so langsam?? Ist es ihm unangenehm? Hat er vielleicht gar keine Lust? Hört er etwa schon auf? Das Korsett geht nicht enger?? Die Fragen schossen durch ihren Kopf, ließen sich nicht steuern, ließen sich nicht unterdrücken. Aber die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Klaus wunderte sich, wie anstrengend es war, Ingeborg zu schnüren. Er hatte eine kleine Pause eingelegt, hatte die Schnüre aber nicht losgelassen, aus lauter Angst, das Korsett könnte von selbst wieder auseinander gehen. Wie viel hielt dieses Material überhaupt aus? Sollte er nicht besser darauf verzichten, es noch enger zu schnüren? Was, wenn das Korsett kaputt ginge? Wie sollte er es dann jemals wieder zurückbringen? Zurückbringen? Hattest du zurückbringen gedacht, Klaus Behrend? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du da noch einmal hinüber gehst! Niemand wird dieses Teil vermissen! Und wenn überhaupt, Monikas Mutter wird glauben, diese hätte es nach Australien mitgenommen!
Er überlegte. Wägte ab. Wie weit stand die Schnürung noch auseinander? Er hatte nicht ordentlich geschnürt; im Brust- und Lendenbereich waren es wohl noch vier Zentimeter, aber in der Taille war der Spalt größer, dort mochten es noch gut sechs Zentimeter sein. War es nicht wirklich schon eng genug, für ein erstes Mal??

Sie klammerte sich erneut fest an der Haltestange, die immer noch hoch über ihrem Kopf an einem kräftigen Seil hing und an die ihre Hände fest angeschnallt waren. Sollte sie irgendwie aktiv werden? Sie rüttelte kräftig an der Stange, sie wand sich mal nach links, mal nach rechts zur Seite, sie spürte, dass seine Hand mitging, dass er die Schüre noch fest in der Hand hielt. Sie warf den Kopf in einer leicht theatralischen Geste zurück, stöhnte noch einmal auf. "Nicht so fest, Barbara! Ich bekomme ja kaum noch Luft!"

Barbara! Immer wieder Barbara!! Und ich, Klaus, interessiere ich denn gar nicht? Er verstärkte seinen Griff, spannte die Muskeln an, begann zu ziehen, heftiger als zuvor, die Schnur schnitt in seine Hände, er durfte sie nicht loslassen, sie würde zurückrutschen, sich seiner Gewalt entziehen, alles wieder zunichte machen. Er zog so heftig, dass Ingeborg für einen Moment in der Luft schwebte, sie hielt sich krampfhaft an der soliden Stange fest; etwas anderes wäre ihr auch gar nicht möglich gewesen. Jetzt war das Korsett oben und unten geschlossen, nur in der Taille fehlten noch einige wenige Zentimeter. Noch einmal verdoppelte er seine Anstrengung, sah, wie der Spalt sich langsam vollends schloss, dann machte er mit einiger Mühe eine Schleife, der Spalt öffnete sich ein wenig, er konnte es nicht vermeiden, zur Sicherheit verknotete er die Schleife noch. Es war geschafft.

Ihr drohte schwarz vor Augen zu werden! Beruhige dich, Ingeborg! Du hast es so gewollt! Du wirst jetzt nicht hier vor Barbaras Augen ohnmächtig werden!! Ingeborg versuchte, Luft zu holen, stellte fest, dass es nicht ging... doch, es ging, aber nur mit Mühe konnte ihr zusammengeschnürter Brustkorb gegen das unerbittliche Korsett ankommen. Es war tierisch eng.
Ihre Beine waren wie aus Gummi, sie hatte sie kaum mehr unter Kontrolle. Sie musste sich setzen, sie spürte ein seltsames Gefühl von Leichtigkeit, das von ihr Besitz ergreifen wollte... Lass gut sein... ich will nicht sterben....
"Alles in Ordnung?", hörte sie seine Frage, gepämpft, wie durch Watte. Sie nickte schwach. Ich habe es so gewollt!! Mein Gott, wie hielten die das früher nur aus?? Sie überlegte, dass ihr die langjährige Übung und Anpassung fehlte. Wahrscheinlich war sie weit weniger eng geschnürt, als sie dachte. Es fühlte sich nur so verdammt eng an. Und wenn sie sich nicht bald hinlegen konnte, würde ihr doch noch schwarz vor Augen!

Klaus sammelte die lang herunterhängenden Schnüre, wickelte sie um seine Hand, verstaute sie dann sorgfältig in jener kleinen Tasche, die auf der Innenseite der rechten Patte angebracht war. Er nahm den daran befestigten, verstärkten Gurt, führte ihn durch den Spalt an der Basis der linken Patte, dann führte er beide Gurte um ihre Taille, nestelte sie auf der Vorderseite über den Dorn, der an der vorderen Leiste angebracht war, welche den Reißverschluss abdeckte und unzugängig machte. Schließlich fand er die kleinen Schlösschen, hakte sie oben und in der Mitte am Korsett ein, er drückte sie zusammen, es gab kein Zögern, kein Überlegen mehr, es musste getan werden, sie hatte es so gewollt.
Er hielt einen Augenblick inne, unsicher, was nun geschehen sollte. So weit war er in seinen Überlegungen nie gekommen. Und jetzt, Klaus Behrend? Macht es Spaß, die Freundin so eng geschnürt vor dir zu sehen? Er umfasste ihre unglaublich schmale Taille, ja, es fühlte sich geil an, aber irgendwie auch nicht. Es fehlte etwas, war es der Keuschheitsgürtel, war es etwas anderes? Oder einfach nur ihre natürliche, zarte Haut, die er so liebte? Auf jeden Fall würde er sie losmachen müssen; ewig konnte sie nicht so stehen, die Hände hoch über dem Kopf.

Ingeborg wusste im Moment nicht, wie sie richtig Luft holen sollte. Brust- und Bauchatmung waren sehr eingeschränkt, und mit den Füßen konnte sie nun mal beim besten Willen nicht atmen. Gut, ersticken würde sie nicht, etwas Luft bekam sie schon, aber sie merkte eine zunehmende Leichtigkeit des Seins, wahrscheinlich werde ich gleich abheben, oder halt bewusstlos werden, überlegte sie.
Sie hang mehr als dass sie stand, ihre Handgelenke schmerzten von den ledernen Riemen, aber auch ihre Füße protestierten bereits heftig gegen die hohen Absätze. Ist es das, was du wolltest? So eng eingeschnürt zu sein? Sie merkte, wie sie den Kopf schüttelte, vielleicht auch schüttelte er sich ganz von selbst, wie auch immer, etwas stimmte nicht, etwas fehlte. Sie erschrak, als sie merkte, was es war. Es erregte sie nicht, überhaupt nicht. Ingeborg klemmte die Beine zusammen, hoffte auf wenigstens etwas Stimulus, aber das sonst so aktive Kopfkino blieb aus, wollte ihr keinen Spaß gönnen.
Sie spürte, wie Klaus den Knoten in der Strumpfhose löste und ihr die dichte Augenbinde abnahm. Das Licht blendete sie, sie musste dagegen anblinzeln, es half, ihr Blick wurde klar und fiel in den großen Spiegel vor ihr. Schlösser? Was sind das für Schlösser? Sie hatte Probleme, sich selber zu erkennen. Ja, so sollte es aussehen, so hatte sie es sich vorgestellt, bis auf diese seltsamen kleinen Schlösser. Das Spiegelbild regte ihre Phantasie wieder etwas an, aber Phantasie und Wirklichkeit wollten nicht zusammenpassen, stießen sich voneinander ab, wie gleiche Pole zweier Magnete; hier das kaum wahrnehmbare Kopfkino ihrer Phantasie, dort Hilflosigkeit und zunehmender Schmerz.
Erst jetzt wurde sie der beiden Hände gewahr, die sich von hinten um ihre Taille gelegt hatten und langsam über das Lackleder ihres Korsetts wanderten. Finger verharrten an den kleinen Schlössern, zogen daran, schienen deren Sicherheit zu prüfen. Schlüssel? Hat er die Schlüssel? Ich muss hier bald wieder raus, Klaus Behrend!! Warum hast du mir das angetan?
Seine Hände wanderten an ihrem rechten Arm entlang, lösten die Fesselung; ihr Arm fiel herab wie ein toter Ast bei einem Sturm. Er macht mich schon los? Ich habe.... ich brauche.... Sie erinnerte sich an das enorme Teil, das sie sich eingeführt hatte. Es durfte noch nicht vorbei sein, nicht bevor es richtig angefangen hatte!
Mit etwas Mühe hob sie den rechten Arm, befühlte die beiden Schlösser, zog daran; sie gaben nicht nach. "Abgeschlossen!" stöhnte sie leise.

"Ja. Ich habe beide Schlüssel im Wohnzimmer versteckt." Klaus wollte optimistisch klingen; es gelang ihm nicht richtig. "Sonst...." Er sprach nicht weiter, machte sich daran, auch ihren linken Arm zu befreien.

Sie reagierte schnell, drehte ihren immer noch festgeschnallten Arm von ihm weg. "Klaus!" Sieh unterm Kopfkissen nach... Sie brachte es nicht heraus, ihr fehlte die Luft, Atmen war schwierig, Sprechen fast unmöglich.

"Was?" Er ließ von ihr ab, befreite ihren linken Arm nicht, beugte sich zu ihrem Kopf vor. "Was ist Ingeborg? Bin ich zu weit gegangen?"

Nein. Nein, Klaus, du bist nicht zu weit gegangen. Du bist noch nicht weit genug gegangen!
"Das Kopfkissen... Sieh unterm Kopfkissen nach..." Die Fernbedienung! Er würde wissen, wie man sie bedient!

Klaus zögerte. Warum sollte er unterm Kopfkissen nachsehen? Hatte er die Situation überhaupt noch unter Kontrolle? Er ließ von ihr ab, ging um das Bett, verhedderte sich beinahe im dort festgebundenen Seil. Klaus hob das Kopfkissen an, rückte es zur Seite...
Er schloss die Augen, als er sah, was dort lag. Er streckte seine Hand danach aus, sie zitterte, wollte nicht zugreifen. Das Display blinkte, wartete auf eine Eingabe. Die Knöpfe! V1, V2 und RANDOM. Sie waren noch da, genau wie vor wenigen Jahren, als er, damals auf der ersten GeiDi-Gaudi....
Plötzlich wusste er, was er eben zwischen Ingeborgs Beinen ertastet hatte! Er wich einen Schritt zurück, totenbleich im Gesicht. Nein! Nein, das würde er nicht noch einmal machen! Für nichts in der Welt!
"Nein, Ingeborg! Nein nein nein! Da mache ich nicht mehr mit! Hörst du! Das ist krankhaft, egal, was du dir davon versprichst! Ohne mich! Kapiert! Du kannst deinen Scheiß allein machen, aber lass mich dabei raus." Er redete hastig, erregt, stieß die Worte hervor. "Mit diesem Drecksding hat alles mal angefangen. Aber jetzt ist Schluss!! Hörst du? Ich kann nicht mehr, will nicht mehr!" Seine Worte gingen in einem Tränenausbruch unter, Ingeborg konnte sie kaum verstehen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, das Kopfkissen wieder an seinen Platz zu legen, ließ sie stehen, bzw. hängen, wo sie war, stürmte zum Schlafzimmer hinaus. Ingeborg hörte, wie er einen Bügel auf den Boden fallen ließ, dann wurde ihre Wohnungstür geöffnet, sie fiel sofort darauf mit einem Krachen ins Schloss; es war vorbei. Das leise Tuckern seines Motorrollers hörte sie nicht mehr, ihr Schlafzimmer ging nach hinten raus, und sie fragte sich, ob er jemals wiederkommen würde.




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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:12.03.18 11:43 IP: gespeichert Moderator melden


Eine sehr interessante Folge!
Mir ist der schleichende Übergang in der Wahrnehmung von Ingeborg aufgefallen. Wie sie mit der Zeit der Schnürung Barbara je länger je mehr als Klaus wahrnimmt, bis es nur noch Klaus ist.
Wie lange wird es wohl dauern bis Ingeborg die Schlüssel findet und wird die Geschichte mit der Fernbedienung zu lösenden Gesprächen mit den beiden führen?

Ich hoffe, Daniela, dass mit dem baldigen Ende der Geschichte Du dann hoffentlich auch wieder Versöhnung mit der Geschichte finden wirst. Ich denke kaum, dass Dir im Moment nach einer Fortsetzung ist. Dennoch hoffe ich, dass Dich die Schreibmuse wieder finden wird. Ich denke mit Monika in Australien könnte problemlos auch noch die Geschichte weitergeführt werden.

Ein grosser Fan Deiner Schreibkunst
Mario
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maximilian24
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:13.03.18 19:56 IP: gespeichert Moderator melden


Das war wieder eine tolle Fortsetzung, die wieder mit einem Höhepunkt beendet wurde. Jedem, der jetzt nicht ungeduldig auf die nächste Fortsetzung warten will, kann ich nur empfehlen, die aktuelle Fortsetzung nochmals zu lesen. Jedenfalls mir ist es so ergangen: Zuerst war ich am Plot (am Fortgang der Handlung) interessiert. Und beim zweiten Lesen war ich dann beeindruckt vom fortschreitenden Aufbau der Gefühle und Hintergründe zu den Handlungen. Diese Schilderungen sind wieder einmal so facettenreich herüber gekommen. Und schliesslich endete meine "zweite Lesung" mit einem sentimentalen Kopfkino. Nachdem sich Ingeborg wohl von der Fesselstange befreien konnte, wird sich auch ihre Atmung wieder stabilisieren. Vielleicht schafft sie eine Ruhepause in der sie erkennt, dass sie das Verhältnis zwischen Klaus und Barbara übermässig strapaziert hat. Und wann wird sie sich daran erinnern, dass die Schlüssel in ihrer Wohnung versteckt sind?
Ich freue mich schon auf die Fortsetzung.
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Daniela 20
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:18.03.18 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


Endlich etwas Frühlingssonne!! Nur die Temperatur muss noch nachlegen!! Unsere Geschichte geht langsam zu Ende. Wie geht es Ingeborg, wie Klaus, nach den jüngsten Ereignissen? Geht jetzt alles den Bach runter??
Ich wünsche meinen treuen Lesern spannendes Lesen! Und heute endlich mal wieder zur gewohnten Zeit! Eure Daniela 20

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Samstagabend, Mitte Juli

Er wachte mir dröhnenden Kopfschmerzen auf, brauchte lange, sich zu erinnern, was vorgefallen war. Er war nach Hause gekommen, hat sich ausgezogen, Barbaras Sachen abgelegt, hatte sie von sich geschleudert, ohne zu achten, wo sie hinfielen. Was er brauchte fand sich in einem Schrank im Wohnzimmer, der Vorrat an alkoholischen Getränken war nicht gerade überwältigend, aber für den Augenblick mehr als ausreichend. Er kippte mehrere Gläser hinunter, trank das scharfe Zeug, als sei es Wasser, nur so ließ sich der Kopf halbwegs abschalten, nur so die Scham vor seinem Tun verbergen.
Er wusste, er hatte eine Grenze überschritten, die er nicht hatte überschreiten wollen. Hatte er es ihr zuliebe getan? Oder doch eher, weil er versucht hatte, den verlorenen Spaß irgendwo wiederzufinden?
Er saß lange da, saß und grübelte im alten Ohrensessel seiner Großmutter, dachte über sein eigenes Elend nach und vergaß darüber das Elend anderer. Seine Großmutter mit ihrem perversen Hass auf die Menschheit? Wie mochte es angefangen haben? Hatte auch sie immer nur ihren Spaß, ihr Vergnügen, im Sinn gehabt, und war schließlich der Versuchung erlegen, alles nur diesem einzigen Zweck unterzuordnen? Wie können Menschen Spaß daran haben, anderen Schmerzen zuzufügen? Sie zu erniedrigen? Zu demütigen und umzubringen?
Er hatte seine Hand noch unter Kontrolle gehabt, so gerade eben. Er hatte das Verlangen gespürt, zuzugreifen, die verdammte Fernbedienung in die Hand zu nehmen, auf V1 oder besser noch V2 zu drücken, ihrer Bitte zu entsprechen, seinem eigenen Verlangen nachzugeben. Was genau ihn davon abgehalten hatte, es nicht zu tun? Er wusste es nicht.
Er wollte es auch gar nicht wissen. Wollte sich nur noch wegsaufen, weg aus diesem Leben, von diesem Planeten. Er hatte noch ein weiteres Glas getrunken, hatte befriedigt die herannahende Leichtigkeit des Seins gespürt, überlegt, ein weiteres Glas zu trinken, dann aber resolut die Flasche geschlossen. Er hatte es nicht getan, hatte die Fernbedienung nicht angefasst.. Er hatte standgehalten. Er hatte widersagt. Das war der Unterschied.

Klaus schleppte sich aus dem Bett. Nahm eine Brausetablette gegen die Kopfschmerzen. Stellte sich unter die Dusche, um alles von sich abwaschen zu können. Und machte sich anschließend einen starken Kaffee und aß einige Chips..
Erst als er am Tisch saß kam ihm Ingeborg wieder in den Sinn. Sie würde sich selbst befreit haben! Ihr rechter Arm war schon frei gewesen, sie hätte leicht auch den linken Arm befreien können. Und das Korsett? Er erinnerte sich, ihr gesagt zu haben, dass er die Schlüssel im Wohnzimmer versteckt hatte. In zwei verschiedenen CD-Hüllen. Sie würde sie finden. Und wenn nicht?

Er griff zu seinem Handy. Suchte Ingeborgs Nummer im Telefonverzeichnis, ließ es lange klingeln; sie meldete sich nicht.

% % %


Der Schock, als er so plötzlich, so unvermittelt gegangen war, hatte sie nur kurz ergriffen. Ingeborg war ein viel zu rational denkender Mensch, um in Panik zu verfallen. Sie hatte die rechte Hand frei gehabt, hatte mühelos ihren linken Arm befreien können. Nur richtig atmen konnte sie immer noch nicht. Schnell hatte sie gemerkt, es bedurfte einiger Übung, mit weniger Luft auszukommen; vor allen Dingen musste sie die Oberhand bewahren, durfte sie sich nicht echauffieren, wie man wohl gesagt hätte, als enge Korsetts noch zur täglichen Kleidung gehörten.
Sie war in die Küche gegangen, steif wie ein Besenstiel und unsicher auf ihren hohen Hacken, hatte einige Schluck Wasser getrunken, sich an den Tisch gesetzt. Es begann, weh zu tun. Sitzen war in diesem Falle nicht das, was sie sonst unter Sitzen verstand. Die untere Kante des Korsetts drückte nun gegen ihre Oberschenkel, die obere Kante gegen ihre Brüste.
Sie wollte ihre high heels ausziehen, hatte aber keine Ahnung, wie sie in ihrem steifen Panzer sich so weit bücken sollte, um an ihre Füße zu kommen und die schmalen Riemen zu lösen. Der bloße Versuch war sehr anstrengend, Atmen dann gleich noch schwieriger.
Ihre Hände umfassten ihre Taille, besser gesagt, was von ihrer Taille noch übrig geblieben war. Sie merkte eine Welle der Erregung aufkommen, als ihre Hände auf der Rückseite nicht die erwartete Schnürung ertasteten, sondern das steife, solide Lackleder der beiden Patten, die die Schnürung verdeckten. Mit einiger Mühe stand sie auf, ging zurück ins Schlafzimmer, richtete ihre Lampe so, dass sie im vollen Licht stand, und betrachtete ihr Korsett von allen Seiten. Ein Gefängnis, dachte sie. Es ist ein gottverdammtes Gefängnis! Und wie komme ich jetzt hier wieder raus?
Sie verstand sehr schnell, wie gut alles verschlossen war. Sie musste wenigstens das eine Schloss öffnen können, welches die Patten vor ihrem Bauch miteinander verschloss. Die vordere Klappe, die den darunterliegenden Reißverschluss unzugänglich machte, war weniger entscheidend. Hatte Klaus nicht gesagt, er habe die Schlüssel im Wohnzimmer versteckt? So groß war ihr Wohnzimmer nicht! Und notfalls würde sie es mit Gewalt versuchen! Probeweise nahm sie das hervorstehende Stück des einen Gurtes zu Hand, befühlte es, musste aber feststellen, dass es sich irgendwie kaum biegen beziehungsweise bewegen ließ; es schien im Inneren irgendwomit verstärkt zu sein; mit einer simplen Schere war dem Ding wohl nicht beizukommen. Es war sowieso fraglich, wie es gelingen sollte, eine Schere oder ein Messer unter den eng anliegenden Gurt zu bekommen.

Sie war in ihr Wohnzimmer gestöckelt, leise über die hohen Absätze fluchend. Wenn sie die erst einmal von den Füßen hätte! In der Tür war sie stehen geblieben, das Zimmer war unordentlich wie immer, wie lange war es her, dass sie Staub gewischt hatte? Vergeblich hatte sie unter den wenigen Blumentöpfen nachgesehen, die sie hatte; nein, Schlüssel hatte sie nicht gefunden.
Es war anstrengend, ganz verdammt anstrengend. Ihr Kopf hatte sich komisch angefühlt. Ihre Beine wirkten, wie abgeschraubt. Sie brauchte eine Pause, legte sich auf ihre Sofa. Sitzen war nicht recht möglich.

Ingeborg wachte Stunden später auf. Es war dunkel, es mochte bereits später Abend sein. Ihr Handy? Wo hatte sie ihr Handy liegen? In der Küche? Alles tat ihr weh. Mühselig kam sie zum Sitzen, das verdammte Korsett schnitt ihr die Luft ab und drückte gegen ihre Oberschenkel. Mit beiden Händen griff sie nach den kleinen Schlössern, die an der Vorderseite baumelten. Zog daran - nichts. Obwohl sie wusste, wie blöde der Versuch war, ihre Hände griffen nach hinten, untersuchten mit hilflosen Fingern die steifen Patten - no way! Sie überlegte fieberhaft, mit welchem Gegenstand sie versuchen sollte, die verstärkten Gurte in ihrer Taille aufzuschneiden - es fiel ihr nichts ein. Außer einer wackligen kleinen Schere aus einem China-Laden hatte sie nichts, und wie hätte sie mit einem Messer unter einen der Gurte kommen sollen?
Ihr wurde schlecht, als ihr langsam dämmerte, wie aussichtslos ihre Bemühungen waren, aus diesem Korsett herauszukommen, ohne die Schlösser öffnen zu können. Wieviel Uhr mochte es sein? Sie stand auf und hätte sich beinahe wieder hingelegt, die beschissenen heels an ihren Füßen hatte sie glattweg vergessen! Wenn sie die Mordsdinger wenigstens von ihren Füßen bekäme!
Ihr Handy meldete einen entgangenen Anruf. Klaus hatte versucht, sie anzurufen, vor Stunden schon. Sie sah, es war bereits nach Mitternacht. Ihre Blase meldete sich, könnte sie wenigstens die dicken Dinger loswerden? Es ging, der Stoff ihres Gymnastikanzugs war elastisch und ließ sich mit etwas Mühe beiseite ziehen. Auf der Toilette begann sie, zu grübeln. Warum hast du so panisch reagiert, Klaus Behrend? Hattest du vergessen, dass es nur ein Spiel ist? Warum wolltest du mir nicht das geben, was ich haben wollte, als ich da hilflos an der Stange hing? Was ist los mit dir? Und was war gestern eigentlich mit Barbara geschehen? Und sie fragte sich, ob jetzt alles aus wäre. Ich muss ihm den verdammten Pater ans Messer liefern! Dieses alte Drecksschwein! Klaus wird nie mit sich selber ins Reine kommen, solange der nicht im Knast war und sich nicht mehr an kleinen Jungen vergehen konnte!

Ingeborg überlegte, ob sie ins Bett gehen sollte, oder besser einen schnellen Kaffee kochen und dann mit der Suche beginnen? Sie entschied sich für Letzteres. Es war eine Frage, wie lange sie es noch aushalten könnte. Bereits jetzt hatte sie immer wieder das Gefühl, mit einer heraufziehenden Ohnmacht zu kämpfen. Riechsalz?? Was war das eigentlich für ein komisches Zeug? Konnte man immer noch Riechsalz in der Apotheke bekommen? '.... ja ja, mein Mann schnürt mich immer viel zu fest...' Man würde sie wohl nicht mehr gehen lassen!
Ihre Suche begann von vorn. Denk nach, Ingeborg Wimmer! Du bist ein Bulle! Du hast schon ganz andere Wohnungen durchsucht! Sie überlegte, wie sie es machen sollte. Das Wohnzimmer gedanklich in mehrere Blöcke aufteilen? Systematisch vorgehen? Ihr fiel ein, wie Sherlock Holmes es gemacht hätte. Er hätte die Dicke der Staubschicht betrachtet. Licht! Ich brauche Licht! Sie nahm ihr Handy, wählte die Taschenlampen-app, auch wenn sie wusste, dass jetzt weltweit wieder diverse Rechner alles registrieren würden - die Kamera! Sollte sie die Kamera abdecken? Wer konnte jetzt eigentlich mitgucken?? Sie hielt einen Finger vor das winzige Objektiv, vielleicht war es besser so, vielleicht war es übertrieben, was weiß man denn schon über diesen ganzen Scheiß??
Der Staub schien es gut mir ihr zu meinen. Ihre Regale wirkten unberührt. Sie versuchte es mit Überlegen. Was war Klaus für ein Mensch? Was wusste sie überhaupt über ihn? Sehr wenig, wie sie sich eingestehen musste. Er mochte Technik... und Frauenkleider. Half ihr das weiter? Technik? Gibt es hier Technik? Ihre Augen glitten über ihren Flachbild-Fernseher, wo sollte man hier etwas verstecken? Der CD-Player? Sie schaltete das nicht mehr ganz neue Gerät ein, drückte auf die OPEN-Taste, die CD-Lade fuhr heraus - nein, keine Schlüssel!
Ihre Füße begannen zu schmerzen: fucking heels!! Sie würde bald eine Pause einlegen müssen. Und wenn das Versteck gar nicht so kompliziert war? Vielleicht lagen die Schlüssel einfach ganz hinten unterm Sofa! Ingeborg versuchte, sich zu bücken, es ging ums Verrecken nicht, sie kam nicht hinunter, musste sich umständlich auf das Sofa fallen lassen und von dort auf den Fußboden gleiten. Sie musste noch tiefer, musste mit dem Kopf auf die Erde, totale Erniedrigung, und wer weiß, wieviele Kerle sich daran jetzt aufgeilen, diese Frau, die da so eng geschnürt in ihrem Korsett herumturnt..., vielleicht sollte sie die App doch besser ausschalten, aber dann könnte sie auch nicht sehen, was unter ihrem Sofa lag. Sie fand einen Zettel, Brunos Handschrift, scheiß Bruno, einfach so nach Passau abgehauen...., sie las ihn nicht, knüllte ihn zusammen und warf ihn wieder unters Sofa. Einen Schlüssel fand sie nicht.
Ingeborg knipste die Taschenlampe aus, schleppte sich zurück in ihr Sofa, zog eine Decke über sich. Wo hast du meine Schlüssel versteckt, du alter Dreckskerl??

% % %

Er konnte nicht schlafen. Der späte Kaffee rumorte in seinem Inneren; schlimmer noch waren die vielen Gedanken, die ihn ebenfalls nicht zu Ruhe kommen ließen. Immer wieder haderte er mit dem Spaß, den wiederzufinden er gehofft hatte. Es hatte nicht geklappt.
Das leise elektronische Tuten seines Handys riss ihn aus seinen Überlegungen. Eine SMS von Ingeborg? >WO SIND DIE FUCKING SCHLÜSSEL?? ICH HALTE ES NICHT MEHR LANGE AUS!!<
Klaus antwortete nicht. Legte sein Handy weg. Nein! No way!! Du hast es so gewollt! Nun such mal schön!! Nein, ich werde dir nicht antworten! Außerdem so eng war das Korsett doch gar nicht. Ich hätte es noch mindestens fünf Zentimeter enger schnüren können! Stell dich nicht so an, Ingeborg! Wirst schon nicht abkratzen!! So viele Gedanken! Aber er schrieb nichts. Steckte die Hand unter die Bettdecke, befühlte sein Glied. Es hatte sich aufgerichtet, lag plötzlich wieder, wie in alten Zeiten, prall und steif in seiner Hand und wartete auf seine Reaktion, auf die Bewegung seiner Hand, eine Bewegung, die ihn immer noch an jene schrecklichen Wochen erinnerte, damals im Internat. Nur dass es damals nicht seine eigene Hand gewesen war.
Er tat, was er tun musste. Entlud sich in einem gewaltigen Ausbruch, sackte zusammen, schlief ein. Spaß hatte es trotzdem nicht gemacht.


% % %

Sie wachte auf, weil ihr kalt war; ihre Kuscheldecke war zu Boden gefallen, obendrauf lag ihr Handy. Das Display war erloschen, die Aktion mit der Taschenlampen-App hatte zuviel Saft gekostet; sie hatte vergessen, es zum Aufladen in die Steckdose zu stecken. Müde erinnerte sie sich an ihre letztes SMS - ob er wohl geantwortet hatte?
Es ging ihr nicht gut. Ihr Mund war knochentrocken, das enge Korsett hatte sie gezwungen, wie ein ausgepowerter Hund zu hecheln. Normales Atmen war absolut unmöglich. Ihr Körper war arg verschwitzt, der enge Gymnastikanzug klebte an ihr, aus dem Ding würde sie so schnell auch nicht herauskommen. Ihre Hände glitten wieder über ihre eingeschnürte Taille, wie kann ich so dünn sein?? Die Frage, wie lange sie noch so dünn bleiben müsse, wollte sie sich lieber nicht stellen. Vielleicht hatte Klaus schon geantwortet? Sie rappelte sich hoch, machte einen Umweg über die Küche, die high heels nervten mehr als zuvor, - wenn Bruno mich so sehen könnte!! - trank ein halbes Glas Wasser, aber selbst Wasser schien nicht mehr den Weg in ihren Magen finden zu wollen; was, wenn sie dann etwas essen musste? Kein Mensch kann in so einem Korsett etwas essen!
Im Schlafzimmer fand sie ihr Ladekabel, stöpselte es ein, wobei sie einem weiteren Schwächeanfall nahe war, dann kontrollierte sie ihren Status: nein, nichts. Keine neuen SMS! Scheißkerl!! Sie schloss ihr Fenster, zog den dunklen Vorhang zu, sperrten den anbrechenden Tag aus, ein Tag, vor dem sie Angst hatte, der noch nicht anbrechen sollte. Wie lange muss ich es noch aushalten?? Und sie merkte zum ersten Mal, dass sie heftiger an beiden Schlösschen zog, dass sie mit ihren Fingernägeln über die verstärkten Patten in ihrem Rücken kratzte. Und wenn ich hier wahnsinnig werde? Was dann?
Ingeborg wühlte sich in ihr Bett. Wusste nicht, wie sie auf der weichen Matratze liegen sollte, drehte und wendete sich, bis sie endlich Ruhe fand.


Stunden später - das sonntägliche Gebimmel einer nahen Kirche hatte sie geweckt, da halfen weder Doppelverglasung noch dicke Vorhänge - stand sie im Bad und bemühte sich, mit abwechselnd heißem und kaltem Wasser ihren Kreislauf in Gang zu bekommen. Duschen ging leider nicht - sie befürchtete, das Korsett könne Schaden nehmen, oder sie selber - aber manchmal tat es auch ein Waschlappen.
Ihre bleistiftdünnen Absätze kratzten über ihre hellen Fliesen, hoffentlich hinterließen sie keine Schäden. Noch einmal hatte sie vorhin versucht, mit den Händen an ihre Füße zu kommen; jedes Mal fehlten nur ganz wenige Zentimeter, jedes Mal verstärkte sich bei dieser Turnübung der Druck des Strafkorsetts so sehr auf ihren Oberkörper und ihre geschundene Taille, dass es nicht auszuhalten war.
Strafkorsett?? Habe ich 'Strafkorsett' gedacht? Hatte es denn so etwas früher auch schon gegeben? Abschließbare Korsetts, in die Mädchen aufs Engste eingschnürt wurden, wenn sie sich auflehnten? Auflehnten, rebellierten gegen die einengende Kleiderordnung, gegen ihre untergeordnete Stellung in Familie und Gesellschaft? Und, so überlegte sie weiter, hätte es die Umbrüche des 20. Jahrhunderts nicht gegeben, müssten Frauen diese schrecklichen Dinger vielleicht immer noch tragen, rechtlos ihren Männern ausgeliefert, die sie jeden Morgen einschnürten, egal, wie sehr sie dagegen protestierten? Wie sähe dann mein Leben aus? Vielleicht die Frau von Bruno? Bruno, der über sie bestimmte, der...

Sie hätte das Piepsen ihres Handys beinahe überhört. Ingeborg eilte zurück in ihr Schlafzimmer, griff nach dem Handy, ließ das Display aufleuchten, ja, eine SMS von Klaus, oh ja, von Klaus!! Sie las: >MORGEN! ALLES OK?<
Oh, verdammt verdammt! Was soll ich antworten? Dass ich kurz vor dem Sterben stehe? Weil ich die blöden Schlüssel nicht gefunden habe? Aber will ich ihm seinen Triumph gönnen? Welch ein Triumph denn? Du hast es selber so gewollt, Ingeborg!! Gib ihm nicht die Schuld für deine Sucht!! Sucht? Was für eine Sucht denn??
Sie sah auf die Uhr. Gerade 10 Uhr. Wie lange hatte sie es bis jetzt ausgehalten?? Noch keine 24 Stunden. Vielleicht sollte sie ihn jetzt zappeln lassen. Gar nicht anworten. Mal sehen, wie es ist, wenn ich gar nicht anworte! Wie lange es dann dauert, bis er angetuckert kommt! Wird sich doch bestimmt Sorgen machen, ob ich noch lebe! Oder??


Donnerstag, Ende Juli

"Ganz schön heftig!" Evelyn schüttelte den Kopf. Sie hatte sich nach Dienstschluss mit Klaus in einer Tapas Bar getroffen und versuchte nun, sich einen Reim auf das zu machen, was Klaus ihr erzählt hatte.
"Also, lass mich noch einmal rekapitulieren! Du bist bei deiner Nachbarin eingebrochen. Hast dort dieses Korsett geklaut..."

"Geliehen!" unterbrach Klaus sie.

Lyn warf ihm einen etwas ungehaltenen Blick zu und fuhr unbeirrt fort. ".... geklaut. Und hast dann deine Kripo-Freundin an den Armen gefesselt, sie bis fast zur Bewusstlosigkeit eingeschnürt, hast das Ding abgeschlossen und bist dann nach Hause gefahren? So mir-nichts-dir-nichts??"

"Ja, so in etwa stimmt es. Ich werde das Korsett zurückbringen...."

"Das ist doch wohl nebensächlich! Was hast du dir bloß dabei gedacht, sie einfach so zurückzulassen? Bist wohl von allen guten Geistern verlassen??"

Der Vorwurf stand im Raum. Er war nicht neu, er hatte ihn sich selber oft genug gemacht. Neu war indes diese seltsame, etwas antiquierte Formulierung: 'von allen guten Geistern verlassen'.

"Sie hat es selber so gewollt. Und diese Idee mit der Fesselstange, .... ich wusste nichts davon. Sie hat das Ding selber zusammengebastelt. Vorher hatte sie immer nur gesagt, sie wollte mal wissen, wie es sich anfühlt, in einem Korsett zu stecken. Ich hatte mir wenig Böses dabei gedacht." Trotzdem bohrte er seinen Blick jetzt in die Taschplatte; Evelyns inquisitorischem Blick wollte er lieber entgehen.

"Ja, klar. Sie hat es selber so gewollt! Habe ich das nicht irgendwo schon einmal gehört? Ehrlich gesagt, du bist ganz schön tief gesunken, Klaus. Nur, was ich nicht verstehe, warum bist du dann so plötzlich abgehauen?? War noch mehr passiert?"

Für einen kurzen Moment überlegte er, wieder davon zu laufen. Aber er wusste, Evelyn stand auf seiner Seite, egal, welchen Bockmist er gemacht hatte. "Sie wollte mehr..."

"Ja...?"

Er spürte wie sein Magen sich zusammenzog. Suchte nach passenden Worten. Fand keine. "Ich sollte sie...., sie wollte...., ohne mich...."

Evelyn schüttelte den Kopf. "So wird das nichts, Klaus. Daraus wird ja kein Mensch schlau. Also, du solltest sie.... hm, was, Kitzeln wird es ja wohl nicht gewesen sein?"

Er musste lachen, verschluckte sich beinahe an seinem Getränk. Aber es half. Plötzlich konnte er von der Fernbedienung erzählen, und welchen Zweck sie hatte.

"Du kanntest das Ding schon?"

Er erzählte ihr von Daniela, von ihrem ersten Zusammentreffen, abends in der Kirche, als er nach seiner Oma geschaut hatte. Und was an jenem Abend bei der GeiDi-Gaudi passiert war.

"Herbstferien, sagtest du? Ging sie noch zur Schule?"

"Ja, sie ging in die Abiturklasse. Sie war hier, um ihre Tante zu besuchen. Meine Oma wohnte ganz in der Nähe. Sie freundete sich mit Monika an, der Tochter von Omas Nachbarin. Und kam im Jahr darauf dann wieder nach München. Nach dem Abi und einer USA-Reise. Später erzählte Daniela mir davon, was die beiden so getrieben hatten." Was Monika mit ihm, bzw. Barbara getrieben hatte, behielt er lieber für sich. Evelyn musste nicht alles wissen.

"Also gut, ja. Ich will lieber gar nicht wissen, was man mit dieser Fernbedienung anstellen kann. Du solltest also das Dings da nehmen und sie... hm... stimulieren, sage ich einmal. Hast dann Panik bekommen und bist abgehauen."

Er nickte. Wollte sie nicht unterbrechen.

Konnte sie sich denn selber befreien, und ist sie aus diesem blöden Korsett herausgekommen? Oder steckt sie immer noch drin und ich muss mal besser nach ihr sehen?

"Sie schickte mir noch in der Nacht eine SMS und wollte wissen, wo ich die Schlüssel für das Korsett versteckt hatte."

"Und hast du es ihr geschrieben?" Evelyn sah ihn scharf an.

Klaus schüttelte den Kopf. Ich las es erst am nächsten Morgen.

"Dann hast du ihr also am nächsten Morgen geschrieben, wo du sie versteckt hattest?"

Er sah weg. Schwieg. Schüttelte wieder den Kopf, kaum dass man es sehen konnte.

"Du hast es ihr nicht gesagt??"

"Sie wusste doch, dass sie im Wohnzimmer suchen sollte!"

"Im Wohnzimmer? Bist du bescheuert? Da gibt es doch hundert Versteckmöglichkeiten!!" Evelyn rückte ein wenig von ihm ab. "Und dann?"

"Ich schrieb ihr eine SMS und fragte, ob alles okay wäre! Sie hatte nicht geantwortet. Erst jedenfalls nicht. Später dann - ich hatte schon überlegt, zu ihr hin zu fahren - bat sie mich noch einmal, ihr das Versteck zu nennen. Ich glaube, da war sie schon ziemlich fertig."

"Dann hast du es ihr also gesagt? Die arme Frau!"

Klaus schwieg. Drehte seinen Kopf jetzt ganz weg.

"Immer noch nicht? Mein Gott, Klaus! Was zum Teufel ist denn da in dich gefahren?"

Seine Schultern begannen zu zucken, er versuchte, seinen aufkommenden Weinkrampf, hier in aller Öffentlichkeit, zu unterdrücken. Ihre Worte hatten ihm zugesetzt.

"Wann hast du es ihr gesagt? Und wo hattest du die Schlüssel versteckt?"

Er beruhigte sich etwas. "Am späten Nachmittag. Ja, ich dachte, soll sie mal ruhig 24 Stunden in dem Ding stecken, wenn sie so gern wissen möchte, wie es ist. Versteckt hatte ich sie in einer CD-Hülle."

"Hoffentlich kein Schlager!" rutschte es Evelyn heraus.

Klaus fasste es als Frage auf. "Nein, ich weiß nicht. Schlager hört sie nicht. Ich hatte irgendeine CD genommen. Welche, weiß ich nicht mehr."

"Kann man nur hoffen, dass sie nicht allzu viele CDs hat!" Evelyn trank einen Schluck. "Ehrlich gesagt, du bist auf dem besten Wege, dich zu einem notgeilen Schwein zu entwickeln. Hätte nicht von dir gedacht, dass du so weit gehen würdest. Die Nummer da neulich abends in der Kirche, das war schon heftig. Aber das hier ist doch auch unterste Sohle. Sei bloß vorsichtig!! Du weißt doch, was man vom Teufel sagt: Gibt man ihm den kleinen Finger, nimmt er die ganze Hand!"

"Ja, ich weiß. War scheiße von mir!" Er kramte ein Taschentuch hervor, schneuzte sich.

"Bist du mal bei dieser Beratungsstelle gewesen?"

Klaus berichtete von seinem Besuch.

"Gut, Klaus. Gut. Geh ruhig noch einmal hin! Ich weiß, diese Besuche sind nicht ganz einfach. Einmal ist kein Mal. Man sollte nicht glauben, dass ein einziges Gespräch alles ändern wird. Man sollte aber auch nicht glauben, dass einige Dutzend Gespräche etwas helfen. Man muss auch dementsprechend handeln!" Sie suchte nach ihrer Geldbörse. "Ich hatte einen langen Tag. Aber sag mal, um mal noch das Thema zu wechseln: wie geht es mit unserem Pater weiter? Läuft es mit der Anklage? Ich hoffe mal, es wird bald zum Prozess kommen! Belastungsmaterial haben wir auf jeden Fall geliefert! Brrr! - sie schüttelte sich - weißt du noch, dieser eklige Wintertag im Englischen Garten? Ein Glück, dass ich den Kerl dann so gut vor die Linse bekommen habe!"

"Klar weiß ich das noch! Ingeborg erzählte mir, der Fall liege schon lange bei der Staatsanwaltschaft. Eigentlich müsste es bald zu einer Anklage kommen. Jetzt wird auch noch wegen Fahrerflucht mit Todesfolge gegen ihn ermittelt! Wir müssen uns wohl weiterhin in Geduld üben!"

Sie bezahlten ihre Rechnungen, dann verabschiedeten sie sich voneinander. Es schauderte ihn, als er ihre Worte noch einmal überdachte.



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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:19.03.18 19:22 IP: gespeichert Moderator melden


Liebe DAniela!
Wenn das kein "strenges" Forum wäre, würde ich Dich jetzt doch einmal scharf kritisieren. Du spannst uns sowas auf die Folter, wie sonst niemand! Aber hier ist es gerade das sprichwörtliche Salz in der Suppe. Somit ist für die neue Woche wieder "alles drin" vom Happyend bis zum totalen Crash! Ich als fast regelmäßiger Leser, ich weiß somit wieder nichts, aber diesmal eben auf einem higher level.
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Daniela 20
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:25.03.18 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


Es geht in die Schlusskurve....

Ich will nicht viele Worte machen, der Text mag für sich selber sprechen. Nächsten Sonntag dann ist Schluss. Dann habt Ihr, meine lieben Leser, am Sonntagabend wieder Ruhe!! Eure Daniela 20

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München, Mitte August

"Ach ja, Klaus, nicht wahr? Kommen Sie herein in die gute Stube!" Der nette Herr begrüßte ihn freundlich und bat ihn zu sich in sein Besprechungszimmer. "Ich hatte, ehrlich gesagt, gehofft, Sie so schnell nicht wiederzusehen. Was ist geschehen?"

Klaus hatte seine anfängliche Unsicherheit schnell wieder abgelegt. Er schüttelte die Hand, nahm dann auf demselben Stuhl Platz, wo er schon vor einigen Wochen gesessen hatte. "Es tut mir leid. Aber Ihre Gebete scheinen nicht geholfen zu haben!" Er blickte etwas linkisch zur Seite.

"Haben sie nicht? Wie können Sie das wissen?"

"Nun ja...." Klaus machte eine unbeholfene Geste mit der Hand in den Raum.

"Sie meinen, weil Sie wieder hier sind? Was haben Sie denn erwartet? Dass Ihnen die Ketten abfallen wie einst Petrus im Kerker? Gottes Wege sind unergründlich! Haben Sie das immer noch nicht begriffen?" Der Therapeut machte es sich in seinem Stuhl gemütlich; den Eindruck von Inquisition machte er nicht auf Klaus.

"Soll ich erzählen?"

"Ja. Bitte erzählen Sie. Schweigen bringt uns hier nicht wirklich weiter. Stimmt's, oder habe ich Recht?" Er lächelte ihn an. "Aber heute machen wir es mal anders. Heute möchte ich Sie bitten, zu berichten, was in den letzten Wochen in ihrem Leben geschehen ist. Also nicht wieder wie letztes Mal, als es mir wichtiger war, zu erfahren, was man Ihnen angetan hatte. Also, berichten Sie und haben Sie keine Angst! Hier in diesem Raum ist schon so Vieles erzählt und berichtet worden; nichts kann mich mehr schockieren!"

Klaus nahm dankend die ihm angebotene Tasse Kaffee und die Aufforderung, zu berichten, an. Eine Tasse, an der man sich festhalten kann, ist immer eine gute Sache. Etwas unsicher und stockend begann er, von dem zu berichten, was er mit Ingeborg erlebt hatte. Der nette Herr unterbrach ihn nicht, hörte ihm mit großer Aufmerksamkeit zu. Klaus beendete seine Schilderung mit dem Moment, als er Ingeborg verlassen hatte.

"Ja, das ist ja wirklich eine krasse Geschichte. Aber haben Sie keine Angst, das sage ich jedem, der hier sitzt. Sehen Sie, es gibt keine Abstufungen zwischen richtig und falsch. Entweder man handelt richtig, oder man handelt falsch. Sie sind also davon gelaufen? Aha! Jetzt wird es richtig interessant!"

Klaus merkte leichte Irritation in sich hochsteigen. "Interessant, sagen Sie? Wollen Sie wissen, was mit meiner Bekannten passierte? Ob sie die Schlüssel fand? Wie lange sie in diesem Korsett stecken musste?"

Der Mann blieb ruhig und wehrte mit entschiedener Geste ab. "Gott bewahre! Nein, ich meine, interessant, wie Sie sich weiterhin verhalten haben. Was Sie gedacht und gemacht haben. Ihre Reaktion auf die ganze Sache.... Ihre Suche nach dem verlorenen Spaß. Haben Sie ihn gefunden?"

Klaus schüttelte schwach den Kopf. "Das machte keinen Spaß mehr...." Er blickte zu Boden, wollte sich nicht ins Gesicht blicken lassen. Seine Hände umklammerten die Kaffeetasse.

"DAS nicht? Aber....." Er ließ seinen Therapeutenblick auf ihm ruhen. Geduldig, abwartend.

"Sie schickte mir schon nach wenigen Stunden eine SMS und fragte, wo ich die Schlüssel versteckt hatte. Bis zum Nachmittag des folgenden Tages kamen mehrere SMS...."

"Sie haben gar nicht an sie gedacht!" Es war keine Frage.

Klaus blickte ihn an. Sein Blick war schwer auszuhalten. Er biss die Lippen zusammen, es fiel ihm schwer, seine Gesichtsmuskeln zu kontrollieren.

"Stimmt's? Ihre Bekannte war Ihnen in dem Moment völlig egal. Sie haben sich daran ergötzt, in diesem Moment Macht über sie zu haben. Sie musste für Sie leiden! Und - korrigieren Sie mich, wenn ich daneben liege - DAS hat Ihnen dann Spaß gemacht!"

Klaus nickte, kaum wahrnehmbar.

"Und Sie behaupten immer noch, meine Gebete für Sie hätten nichts gebracht?" Er lächelte wieder.

"Ich.... ich verstehe nicht. Ich habe ganz großen Mist gemacht, und Sie sagen....?"

Der Therapeut unterbrach ihn. "Sehen Sie, jetzt wollen wir mal den Lieben Gott außen vor lassen. Nähern wir uns der Sache von einem psychologischen Standpunkt. Ihr, ich nenne es mal: Spiel, hat Sie an eine Entscheidungsgrenze gebracht. Wären Sie ein Teenager würde ich eventuell von einem 'Level' sprechen. Aber so jungen Leuten ist es schwer verständlich zu machen, in wieweit das Leben ein Spiel ist, und in wieweit nicht. Sie wissen aufgrund Ihrer persönlichen Erfahrungen schon lange, dass es kein Spiel ist. Obwohl sich sprachlich dieser unsägliche Begriff etabliert hat, dass einem übel mitgespielt wurde. Jetzt aber frage ich Sie: richtig oder falsch? War Ihre Reaktion, Ihr Verhalten, richtig, oder falsch? Spaß hin oder her."

"Sie war falsch."

"Gut. Ich habe auch nichts anderes erwartet. Sonst wären Sie wohl gar nicht erst ein zweites Mal gekommen. Dumm ist nur, Sie erwarten Maßnahmen von mir, Maßnahmen, die ich Ihnen schuldig bleiben muss. Sie sind kein Kind mehr, dem man die Ohren lang zieht - was ja einerseites körperliche Gewalt darstellt und andererseits auch nie wirklich geholfen hat. Klar ist nur, wenn Sie es nicht schaffen, auf Umkehrschub zu stellen, werden Sie es auf gar keinen Fall schaffen!"

"Umkehrschub? Ich verstehe nicht ganz...."

"Entschudligen Sie! Ich hatte mal einen Klienten, der war Pilot. Ein landendes Flugzeug stellt nach dem Aufsetzen die Triebwerke auf Umkehrschub, dann wird der Schub nach vorn ausgestoßen und bremst das Flugzeug ab. Erst, wenn es langsamer geworden ist, werden auch die Bremsen betätigt. Andernfalls ließe sich solch ein schweres Flugzeug nicht richtig abbremsen." Er lachte leise. "Bei Ihnen sollte ich vielleicht lieber von einem alten Auto reden?"
Er wartete Klaus rätselnde Reaktion gar nicht erst ab und hob die Hand. "Sehen Sie, ich habe es schon einmal gesagt: ich bin kein Zahnarzt. Es gibt da im Gehirn nichts, was man mit einer Zange herausziehen könnte. Uns bleibt allein die Sprache. Und hier sind Bilder ein gutes Mittel. Wenn ich Ihnen einfach sage: 'Lassen Sie den Scheiß sein!', dann geht das zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder heraus. Wenn ich Ihnen aber ein gutes Bild liefere, dann haben Sie etwas, mit dem Sie sich beschäftigen können."

"Ja." Klaus nickte ihm beipflichtend zu. "Das macht durchaus Sinn. Aber was hat es nun mit einem Auto zu tun??"

"Stellen Sie sich ein Auto vor. Ihr Auto. Es hat Ihnen jahrelang treu gedient. Hat sie von Ort zu Ort gebracht, es Ihnen ermöglicht, viel zu erleben und von der Welt zu sehen. Aber irgendwann will es nicht mehr richtig. Der Motor stottert. Die Bremsen funktionieren nicht mehr zuverlässig. Das Chassis beginnt zu rosten. Sie stellen fest, da lässt sich nichts mehr reparieren. Wenn unser Auto kaputt geht, muss man es nicht ewig weiter vor sich herschieben, sondern man kann es einfach stehen lassen. An einem geeigneten Platz, damit die Seele Ruhe findet. Und Sie fassen den einzig richtigen Entschluss: Sie bringen es zum nächsten Autofriedhof, einem Schrottplatz...."

"Parco rottami", murmelte Klaus leise.

"...einem Schrottplatz, wo Sie sich von ihrer alten Karre verabschieden. Was mit dem Wagen geschieht? Sie werden es wahrscheinlich nie sehen. Lange noch werden Sie wissen, dass er dort steht, bis er irgendwann verschrottet wird. Am Ende ist es nur noch eine Erinnerung, mehr nicht. Und genauso können Sie es mit ihrem Problem machen! Trennen Sie sich von ihrer alten 'Karre'. Beginnen Sie etwas Neues. Suchen Sie eine berufliche Herausforderung! Machen Sie am besten etwas Technisches, da kommt man auf keine dummen Gedanken. Machen Sie sich einen festen Plan, damit Sie nicht herumirren!

"Und Barbara?" Es war ihm so herausgerutscht. "Meine Bekannte, die mich hier hergeschickt hatte, meinte ja, ich müsse mich mit Barbara, mit meinem alter ego, versöhnen."

Der Therapeut legte die Hände in den Schoß, sank nach vorn, bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Er antwortete nicht sogleich, begann, stattdessen, eine Melodie zu summen. "Kennen Sie dieses Lied? 'Sweet Dreams', von Emily Browning." Leise begann er, den Text zu singen: "'Some of them want to abuse you, some of them want to be abused!' Ja, Barbara ist sicherlich etwas kompliziert. Aber Barbara ist eigentlich nicht das große Problem. Ich glaube, Ihre Bekannte hat nur das halbe Problem gesehen, wenn sie sagt, Sie sollen sich mit Barbara versöhnen. Barbara - Ihr alter ego, wie Sie sagen, ist nicht zu mir gekommen. Solch ein alter ego ist doch eigentlich eine schöne Sache. Viele haben so etwas. Gehen zu Kostümfesten, Fasching, jetzt dieser neue Quatsch da Ende Oktober - wie heißt das doch gleich...."

"Halloween!"

"... richtig, Halloween. Oder man geht zum Reenactment und spielt SS- Soldat - was auch immer gerade daran so toll sein soll? Alle tun das. Und Sie haben halt Barbara. Aber nicht Barbara ist zu mir gekommen, sondern Klaus. Sie müssen sich mit Klaus versöhnen. Klaus, der lange geglaubt hat, er habe seine Schwester umgebracht. Klaus, der im Internat böse Dinge tat, so böse, dass er sie nicht einmal beichten konnte und diese 'Sünde' nicht vergeben werden konnte, bis zum heutigen Tag. Bei Klaus liegen all ihre Probleme, mit ihm müssen Sie sich versöhnen!!

Es wurde an die Tür geklopft. Die Sekretärin öffnete, entschuldigte sich für die Störung, erinnerte ihn an einen wichtigen Termin.

Er stand auf, nahm Klaus die Kaffeetasse ab, die dieser immer noch in der Hand hielt. "Werfen Sie die Flinte nicht ins Korn, Klaus. Das wird schon. Diese Dinge brauchen viel Zeit. Unser Unterbewusstsein sträubt sich gegen Veränderungen. Ich werden weiter für sie beten.... oder tun Sie es am besten selbst. Dann hilft es schneller." Er gab Klaus die Hand, begann wieder, leise zu singen: ".... travel the world and the seven seas...."

"Nur eines noch!" Klaus war in der Tür stehen geblieben. "Warum habe ich das gemacht? Nur, um den Spaß wiederzufinden? Ich wusste doch, dass meine Bekannte leiden würde. Aber...."

".... es hat Ihnen gar nichts ausgemacht, nicht wahr? Im Grunde genommen haben Sie es sogar genossen."

"Ja, so ist es wohl. Doch sagen Sie, gibt es eine Antwort auf meine Frage? Bin ich - er zögerte - bin ich verrückt? Nicht ganz richtig im Kopf?"

"Nein. Nein, das sind sie ganz bestimmt nicht. Mit Ihrem Kopf ist alles in Ordnung, Klaus. Aber Ihre Seele hat ihren Halt verloren. Sie wechselt zwischen gut und böse hin und her."

"Gut und böse?? Gibt es das überhaupt? Ist das nicht nur eine semantische Frage?"

Noch einmal gab es kurz den Therapeutenblick. "Sie werden es herausfinden, wenn Sie sich entschieden haben. Ich wünsche Ihnen viel Glück! Aber jetzt muss ich wirklich los! Wenn ich es mal so sagen darf: Bleiben Sie nicht stehen. Aber fliegen sie nie schneller, als dass Ihr Schutzengel noch mitfliegen kann!!"

Klaus bedankte sich, grüßte im Vorbeigehen die Sekretärin und wandte sich zur Tür.

"Klaus!??"

Er blieb stehen, drehte sich um und sah den netten Leiter der Beratungsstelle, der ihn noch einmal gerufen hatte. "Ja?"

"Ich hatte Ihnen letztes Mal gesagt, es sei leichter, den Spaß wiederzufinden. Sie haben mich nie gefragt: leichter als was?"

Klaus wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er nickte nur leicht mit dem Kopf.

"Leichter, als sich selbst zu finden. Versuchen Sie es! Es ist schwierig, aber nicht unmöglich! Viel Glück!!"


München, Ende August

Sprachlosigkeit hätte man ihr vorwerfen können. Aber Ingeborg hatte sich hinter einem Schutzwall aus Arbeit verbarrikadiert. Man hatte sie von ihrer Arbeit, der Digitalisierung alter Akten, abgezogen; Wichtigeres musste erledigt werden, so hatte man ihr gesagt. Letzten Endes aber doch nur einen weiteren Schreibtischjob angeboten. Es war nicht das, was sie wollte, aber bis jetzt war so viel zu erledigen gewesen, dass sie diese andere Sache fast aus den Augen verloren hätte.

Jetzt aber hatte sie es schwarz auf weiß vor sich liegen, das Schreiben der Staatsanwaltschaft München 2. Es war ihr nicht auf dem üblichen Dienstwege zugestellt worden, allein aufgrund der Tatsache, dass sie den Fall Huber nicht bearbeitet hatte. Für die Pädophilie Anklage war ein anderes Dezernat zuständig, die Anklage wegen Fahrerflucht mit Todesfolge wurde von der Staatsanwaltschaft Bamberg bearbeitet; dort war der junge Thomas Wagner zu Tode gekommen.

Klaus? Er hätte mich ja auch mal anrufen können! Diesen Gedanken hatte sie lange vor sich hin gehalten; nach jenem mehr oder weniger missglückten Abend im Juli hatte sie erst einmal keine Lust, sich mit ihm auseinander zu setzen.
Auch jetzt nicht. Sie hatte nicht vor, ihr letztes gemeinsames Abenteuer irgendwie zu evaluieren. Das fehlte noch! Nein, um Gottes Willen, bloß nicht noch darüber reden, was an jenem Tag falsch gelaufen war. Fragen, warum er so ausgerastet war, nachdem er die Fernbedienung unter ihrem Kopfkissen gefunden hatte. Ich werde sachlich bleiben! Nur das Wichtigste über diesen ehemaligen Pater Ruprecht berichten, und dann.... Und dann? Ingeborg hatte keine Ahnung, wie es mit Klaus, bzw. Barbara, und ihr weitergehen sollte. Falls überhaupt. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es vorbei war....

Sie ließ das Telefon mehrere Male klingeln, bevor Klaus sich meldete. "Hi!" Oder doch eher "hi?"??

"Hi Klaus! Lange nichts mehr gehört..."

"Nun ja... Iss halt so. Musste mal auf andere Gedanken kommen. Sommer genießen und so."

"Weg gewesen?"

"Nicht wirklich. Und du, was machst du so? Wie geht es dir?"

"Viel Arbeit. Geht so. Hatte leider noch keinen Urlaub nehmen können." Sie sprach es nicht aus.

"Ja..."

Sie hatte sachlich bleiben wollen, nur über das Schreiben der Staatsanwaltschaft sprechen. Aber jetzt merkte sie, dass solch ein Gespräch gar nicht möglich war, solange über anderes nur geschwiegen wurde. Also gut, würde sie halt den ersten Schritt tun müssen. "Soll ich dir das Korsett wiederbringen?"

"Das Korsett?" Er zögerte, seine Antwort kam irgendwie seltsam einstudiert. "Ach so! Das Korsett! Mir egal. Kannst es gern behalten, falls du es noch einmal anziehen willst." Und etwas hastig fügte er hinzu: "Aber glaube ja nicht, dass ich...."

"Nein nein! Schon gut, Klaus. Brauchst du nicht. Kann das Ding ja auch selber schnüren. Obwohl das schon irre geil war, wie du mich da geschnürt hattest und ich so hilflos an dem Balken hing."

"Ja." Seine Antwort wirkte seltsam leer. "Gibt es sonst was, Ingeborg?"

Sie konnte zum Hauptthema übergehen, was gut war. Der Anruf lag ihr eh schon schwer genug im Magen; sie wollte ihn gern hinter sich bringen. "Wir haben Post von der Staatsanwaltschaft bekommen!"

"Endlich!! Wurde ja auch langsam mal Zeit. Und, wie ist die Lage? Zehn Jahre bei Wasser und Brot??" Seine Stimme hatte plötzlich wieder Stärke bekommen.

"500 Euro Bußgeld wegen Führens eines nicht polizeilich angemeldeten Personenkraftwagens!"

"Wie bitte?" Klaus begann, leicht zu stottern. " Was? Sag das bitte noch einmal! Das soll ja wohl ein Witz sein!"

Ingeborg wiederholte, was sie ihm soeben mitgeteilt hatte. "Nein, leider nicht. Es tut mir leid, Klaus. Ich kann dir vorlesen, was hier, in der Zusammenfassung, steht. Die Anklage wegen Pädophilie wurde fallen gelassen, weil sich trotz erheblichen Verdachts gegen den Beschuldigten keine eindeutige Beweislage zugunsten der Anklage ermitteln ließ. Mit anderen Worten: es hat niemand gegen ihn aussagen wollen.... oder können. Da steht schlicht deine Aussage gegen seine Aussage."

"Aber was ist mit dem Video? Da redet der Kerl sich doch selber um Kopf und Kragen!"

"Nicht verwertbar vor Gericht. Die Feststellung seiner Person durch das gelieferte Bildmaterial sei nicht ausreichend. Und das schöne Foto, das deine Bekannte von ihm geschossen hat, als er den Chinesischen Turm verließ, kann auch nicht verwendet werden, da es dem Video nicht hunderprozentig zuzuordenen sei!"

"Ach du Scheiße!" Ingeborg hörte, wie Klaus erst einmal tief Luft holen musste. "Aber dieses lächerliche Bußgeld? So ganz kapiere ich das noch nicht. Hat man denn den Wagen untersucht? Konnte man denn nicht feststellen, dass mit diesem Wagen Thomas ins Jenseits befördert wurde?"

"Hier steht, die Anklage wegen eines angeblich bewusst herbeigeführten Tötungsdeliktes wurde gar nicht erst zugelassen. Ja, Huber hat sogar zugegeben, in diesen Unfall verwickelt gewesen zu sein. Aber seine Darstellung der Dinge sieht ganz anders aus. Angeblich hatte Thomas ihn erpresst. Er habe Geld haben wollen um zu seinen in den USA lebenden Eltern reisen zu können. Kein großer Betrag, 10.000 Euro. Und die hatte Pater Ruprecht auch tatsächlich vor jenem Tag von seinem Konto abgehoben, und wenige Tage später wieder eingezahlt."

"Erpressung? Was ist das jetzt für ein Quatsch? Wieso soll Thomas das Schwein denn erpresst haben? Er wusste doch gar nichts davon, dass der jetzt in Regensburg bei den Domspatzen war!"

"Doch. Angeblich habe Thomas ihn dort zufällig wiedergetroffen, als er mit seinem Bamberger Internat einen Ausflug nach Regensburg gemacht hatte. Und er habe ihm damit gedroht, ihn auffliegen zu lassen."

"Auffliegen, Ingeborg?"

"Von seinen Schweinereien zu erzählen! Der wäre sofort seinen Job los geworden!"

"Aber, jetzt mal ehrlich, ist nicht wenigstens das ein Eingeständnis seiner Schuld? Sonst hätte er ja wohl keinen Grund gehabt, irgendwas zahlen zu wollen."

"Ich weiß, das kann man so sehen. Aber rein rechtlich ist das völlig unerheblich. Hier wird dein Pater ja sogar eher als Opfer betrachtet."

"Mein Pater?? Sag das bitte nicht noch einmal. Aber was genau ist denn nun an jenem Winterabend geschehen?? Man kann doch nicht jemanden überfahren, und dann, hu-hei, einfach davonfahren?"

"Huber hat hier zu Protokoll gegeben, er habe an dem Abend bei dichtem Schneetreiben nicht die Hand vor Augen gesehen. Thomas habe Zeit und Ort des Treffpunkts bestimmt. Es war Abend und dunkel, er sei mit dem Wagen ins Schleudern gekommen, sei seitlich wohl gegen einen Laternenpfahl gestoßen, habe den Wagen aber wieder unter Kontrolle bekommen. Anschließend habe er an einer Bushaltestellenbucht eine halbe Stunde gewartet, aber Thomas sei nicht aufgetaucht. So sei er wieder nach Regensburg zurückgefahren. Von Thomas habe er nie wieder gehört. Auch nicht davon, dass dieser in Bamberg zu Tode gekommen war."
Ingeborg schwieg. Jetzt ist alles aus. Aus und vorbei, dachte sie.

Auch Klaus schien für den Moment nicht zu wissen, was er sagen sollte. "So eine neunmal verdammte Kacke!! Das kann doch wohl nicht wahr sein! Also gut, okay, ja, mag ja sein, dass es kein Mord war. Aber da ist doch immer noch die Tatsache, dass er Thomas Tod verschuldet hat. Das kann man doch nicht einfach so wegwischen, als sei nichts geschehen! Da muss es doch eine Strafe geben!! Was sehen denn deine Paragraphen hier vor??" Er war lauter geworden.

"Es ist vorbei, Klaus. Was meine Paragraphen vorsehen, kann ich dir gut sagen. Fahrerflucht mit Todesfolge kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden...."

"Na bitte! Das klingt schon besser! Fünf Jahre würden dem Schwein schon gut tun, mal so richtig in sich zu gehen!"

Ingeborg ließ sich nicht beirren. " ... mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Kann, Klaus! Aber nur, wenn man nicht zu spät kommt! Und wir sind leider viel zu spät gekommen!"

"Was soll das heißen? Wie denn zu spät?"

"Der Fall ist verjährt. Hätte man ihm eine absichtliche Tötung nachweisen können, dann hätten wir eine Chance gehabt. Mord verjährt ja nicht. Aber Fahrerflucht mit Todesfolge verjährt nach fünf Jahren." Sie holte Luft. Konnte sich gut vorstellen, was jetzt durch Klaus Kopf ging. "Es ist vorbei, Klaus. Du kannst froh sein, wenn der Kerl dich jetzt nicht wegen übler Nachrede belangt. Wahrscheinlich wird es auch in seinem Interesse sein, möglichst schnell irgendwo in der Versenkung zu verschwinden und Gras über die Sache wachsen zu lassen. Und, wenn du mich fragst, aufhören wird er wahrscheilich nicht. Aufhören damit, Kinder für seine sexuellen Triebe zu missbrauchen. Er wird weitermachen, und wir werden ihn weiterhin auf dem Radar behalten. Aber jetzt ist er gewarnt. Jetzt wird er vorsichtig sein, aufpassen, dass ihm keine Fehler unterlaufen. Und wir wissen, wo das eines Tages enden kann." Ihr war schlecht geworden bei dem Gedanken, den sie gerade gehabt hatte.

"Was meinst du, Ingeborg?" Seine Stimme zitterte leicht.

Ingeborg musste heftig schlucken. "Er wird sich in die Enge getrieben fühlen. Er könnte..." Sie musste eine kurze Pause machen. "Ach, Scheiße. Nichts, Klaus. Alles ist gut. Die Welt dreht sich weiter, morgen wäre ein neuer Tag. Pass gut auf dich auf, ja? Melde dich mal!!" Sie beendete das Gespräch, ließ ihn nicht mehr antworten.

Es gab nichts mehr zu sagen, sowieso.

Ingeborg zitterte. Wieder dachte sie an ihren Wunsch, wie schön es wäre, könnte sie nur einmal ein Verbrechen verhindern. Statt immer nur gerufen zu werden, wenn alles zu spät war.
Sie legte ihr Handy auf den Tisch, erschrak fast zu Tode, als eine eingehende SMS die Stille zerriss. Müde schaute sie auf das Display. Bruno? Sie öffnete die Nachricht und las. "Ein freches Angebot!"? Sie musste lachen. Eine Tür öffnet sich, und ich gehe hindurch! Sie wusste nicht mehr, wo sie diesen Satz einmal gehört hatte. Aber er hatte ihr immer schon gefallen. Sie würde ihn zurückrufen, fragen, was für ein 'freches Angebot' er für sie hätte. Ja, sie würde ihn zurückrufen. Bei Gelegenheit. Bei besserer Gelegenheit, dachte sie.


München, Oktober

Er hatte schlimme Wochen hinter sich. Wochen großer Einsamkeit, Wochen großer Verzweiflung. Er kämpfte mit sich selbst. Hatte manchmal den Drang, die kaputte Beziehung zu Ingeborg wieder aufleben zu lassen, manchmal eher das Gefühl, all dies lebend nicht mehr zu überstehen. Mehrmals hatte er überlegt, Evelyn um Hilfe zu bitten. Aber wobei hätte sie ihm helfen sollen? Bei der Suche nach sich selbst? Kein Mensch kann einem anderen helfen, so etwas zu schaffen. Höchstens ansatzweise. Die Suche selber lastete auf seinen Schultern. Schlimmer noch, weil er das Gefühl hatte, allein zu sein in einer Welt, die ihn nicht verstehen würde.
Mehrere Wochen hatte er versucht, sich geistig abzulenken, vergeblich, weder gutes Essen noch spannende Filme schienen ihm das zu geben, wonach er suchte. Und das Fernsehprogramm mit seinen täglichen Kochsendungen und ähnlichem Quark verschlimmerte alles nur noch. Diese vielen Leute, die miteinander lachten und möglicherweise nicht einmal wussten, wie gut es ihnen ging? Zum Kotzen!
Irgendwann hatte er angefangen, das Bücherregal seiner Großmutter zu durchforsten. Und gestaunt, was sich dort alles an guter Literatur fand. Ein kleines, eher unscheinbar graues, Büchlein hatte ihn neugierig gemacht. Der Titel "Ich hab's gewagt" war seltsam und lies ihn das Buch in die Hand nehmen. Abgebildet war eine alte, grauhaarige Dame, die ihren Kopf in die linke Hand stützt. Tisa von der Schulenburg hieß sie.
Klaus überlegte. Von der Schulenburg?? Irgendwie sagte ihm der Name etwas, nur richtig einordnen konnte er ihn nicht. Er las den Text auf dem Buchrücken... richtig, der Widerstand gegen Hitler! Er begann zu lesen, überflog die Seiten eher großzügig, las vom Leid eines anderen Menschen, lange vor seiner Zeit. Und kam an eine Stelle, die ihm vorkam, als sei sie für ihn geschrieben: "In mir ein unerträglicher Aufruhr. Was war ich? Wozu lebte ich? Wo war der Sinn? War nicht alles verspielt, vertan? Ich sah auf die Terrasse unter mir, warum machte ich nicht mit dem allen ein Ende? Der Gedanke, dort unten halb zerschmettert herumzuliegen, war grotesk und lächerlich. Bestenfalls peinlich. Würden die Eltern noch leben, wenn ich endlich den Pass bekam? Würde man mich in Deutschland verhaften? Ich war am Ende. Ausgeweint, leer. Ich kniete nieder und suchte nach den Worten des Vaterunsers, sie kamen mühselig wieder. Doch nach dem einen Vaterunser war alle Spannung gelöst."

Es trieb ihn umher. Beten? Sollte ER beten? ER, der in so viele Dinge verwickelt war, dass seine Seele sicherlich schwarz wie die Nacht war? Er überlegte. Wann hatte er zuletzt gebetet? Richtig gebetet, nicht nur so dahergesprochen, wie während seiner kurzen Zeit als Messdienerin Barbara? Er wusste es nicht mehr. Er wusste nur noch, wann er mit dem Beten aufgehört hatte: als der schwarze Mönch das erste Mal bei ihm gewesen war und ihm anschließend, nach vollendeter Sünde, auftrug, niemandem davon zu erzählen. Nicht einmal bei der Beichte!! Hörst du?? Sein inneres Selbstgespräch mit Gott verstummte an jenem Tag.

Er wusste, er musste eine Antwort finden, bevor die vielen Fragen ihm den Verstand raubten. Er machte lange Spaziergänge durch die Stadt, bis ihm eines Tages auffiel, dass er fast nur noch in derselben Gegend unterwegs war; ganz in der Nähe des Beratungszentrums. Konnte er hier das finden, wonach er suchte? Dieser Therapeut mit seinen seltsamen Ansichten, wäre er derjenige, der ihm den Weg zeigen würde?
Nein. Nein, er würde nicht wieder hingehen. Ich mache mich doch nicht zum Affen! Mit religiösen Themen sollte ich besser ins Pfarramt gehen, aber doch nicht hier!!
Aber der alte Spruch: der Mensch denkt.... Quatsch, dachte Klaus, als er eines Tages an einem späten Nachmittag an einer Häuserecke mit demjenigen zusammenstieß, den er, trotz aller Suche, hatte vermeiden wollen. "Oh, Entschuldigung!", rutschte es ihm heraus.

"Klaus?" Der nette Mann schien wenig überrascht. " Waren Sie auf dem Weg zu mir?"

"Nein." Klaus schüttelte den Kopf übertrieben heftig. "Eigentlich nicht."

"Und uneigentlich?"

Klaus wich dem Blick aus. "Sagen Sie, wie konnten Sie für mich beten? Sie wussten doch gar nichts von mir. Nicht einmal, ob ich katholisch oder protestantisch bin? Oder vieleicht Moslem oder von mir aus auch Jude. Welchen Gott rufen Sie da an, dass er mir helfen möge? Und glauben Sie wirklich an dieses Zeug?"

Der Therapeut nahm ihn beim Arm. "Kommen Sie, gehen wir ein Stück zusammen." Er lenkte seine Schritte weg vom städtischen Lärm. "Das Zweite mal zuerst! Ja, ich glaube wirklich daran. An die Kraft des Gebetes. Allerdings ist sie größer, wenn man selber betet. Sehen Sie... - er zögerte etwas - ich bin ja nicht blöd. Ob es da wirklich einen Gott gibt - wir können es nicht definieren und werden es deshalb auch nie beantworten können. Persönlich glaube ich an meinen Schutzengel, ihm danke ich jeden Abend für den Tag, egal, wie er war. Und so wandeln sich sogar scheinbar schlechte Tage in gute Tage. Aber das Gebet, um darauf zurückzukommen, ist ein seelisches Werkzeug der Selbstfindung. Und ich sage ganz bewusst seelisch und nicht psychisch. Weil wir mit all dieser Psychologie die Psyche sozusagen entwurzelt haben. Wir haben sie von der Seele abgetrennt, und das ist nicht gut. Schlimmer noch, wir verschreiben den Menschen massenhaft Psychopharmaka, wenn diese ihre Seele verloren haben. Einzig das Gebet kann dies wieder zusammenbringen."
Er deutete auf eine Bank. "Kommen Sie, setzen wir uns ein wenig. Und die Frage nach der Religionszugehörigkeit...., nun, die ist einfach zu beantworten. Eigentlich können Sie sie selber beantworten!"

Klaus meinte, einen Versuch machen zu müssen. "Nun ja...." Der Therapeut legte eine Hand auf seinen Arm

"Schon gut, Klaus. Dem Lieben Gott ist es völlig egal, ob der Mensch das Kreuzzeichen macht, oder nicht. Ob er sich zum Beten hinkniet, oder sich verbeugt. Oder ob sein Heiliges Buch Bibel, Koran oder Thalmud heißt. Das alles sind Menschendinge. Gott steht aber über diesen Dingen. Deshalb kann ich als kleiner Mensch Gott um etwas Führung bitten, wenn ich selber diese nicht bewerkstelligen kann. So einfach ist es!"

".... in der Theorie!" fügte Klaus hinzu.

"Ach, Theorie und Praxis? Theorie ist doch nur was für Leute, die dicke Bücher schreiben! Im praktischen Leben sind die Daseinsfragen viel einfacher, konkreter. Wo bekomme ich etwas zu essen? Wo kann ich in Frieden leben? Wo finde ich Glück, für mich und für meine Familie? Glauben Sie mir, so mancher kommt zu mir, Deutsche, Einwanderer; Gestrandete, die mit solchen Problemen kommen. Nicht jeder hat eine Leidensgeschichte, wie Sie die haben."

Klaus nickte. "Aber wenn Sie sagen, das Gebet ist eher ein psychologisches Werkzeug - wenn ich sie richtig verstanden habe -, dass seine Kraft in der Selbsterforschung besteht - wieso beten Sie dann für andere? Das ergibt doch gar keinen Sinn!"

Der nette Mann schüttelte leicht den Kopf. So, als wolle er ausdrücken: Immer dieselben Zweifler! "Sehen Sie: Wenn man lange genug für sich selber gebetet hat, dann kann man auch mal für andere beten. Es tut nicht weh, kostet nichts, und denen da oben - er deutete schwach gen Himmel - scheint es zu gefallen. Genügt Ihnen das als Antwort? Versuchen Sie es einfach mal...." Er zählte laut die Schläge einer Turmuhr mit. "Oh, schon sechs! Jetzt muss ich aber wirklich los! Man wartet auf mich. Bleiben Sie gesund, lieber Freund!!" Es gab einen herzlichen Händedruck, dann ging er und verschwand in der Menge.

Klaus blieb zurück auf der Bank. Blieb sitzen, bis die hereinbrechende Dunkelheit ihn verschlingen wollte. Aber er bemerkte sie nicht. Hatte der nette Mann ein Licht in ihm entzündet?
Langsam machte er sich auf den Weg nach Hause. Kann ich das überhaupt noch??

Er kam sich lächerlich vor, als er es versuchte. Gut, dachte er, es sieht und hört ja niemand. Es wird schon reichen, wenn der Liebe Gott es sieht! Die Worte, oh je, diese Worte? Er hatte sie vergessen. Nahm die Bibel der Großmutter zur Hand, - wo um Himmels Willen steht hier das Vaterunser?? - schließlich fiel ihm ein, sein neues Smartphone müsste es wissen.... ja, er fand den Text, las ihn durch, erinnerte sich wieder. Und es war gut so.








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AlfvM
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:25.03.18 22:19 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo Daniela,
ich habe es endlich geschafft, alle Teile zu lesen und möchte mich für die tolle Geschichte bedanken.
Ich freu mich auch auf das Finale.
LG Alf
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maximilian24
Stamm-Gast

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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:26.03.18 21:33 IP: gespeichert Moderator melden


Liebe Daniela!
Einmal mehr beeindruckt mich Dein vielfältiges Wissen das mannigfaltige Erfahrungen voraus setzt. Ich fürchte dass sich junge Leser kaum vorstellen können, wie jemanden die Vergangenheit einholt die man schon längst verdrängt hat. Wenn man das "abstrakte Gottesbild" den eigenen Erlebnissen gegenüber stellt, lernt man erst die eigene Kleinheit und damit eine Hilflosigkeit kennen. Die Worte des Vaterunser bewusst gesprochen zeigen uns Demut als Werkzeug zum Tragen des eigenen Kreuzes.Ich wünsche Klaus das nötige Vertrauen zu finden.
Alt werden will jeder, alt sein aber keiner
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Daniela 20
Story-Writer



Semper firma occlusa!

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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:01.04.18 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


1. April 2018

Das Ende ist erreicht. Gibt es das überhaupt, ein Ende?? Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, so wie Versöhnung das Schlüsselwort eben dieser Geschichte ist, so ist Auferstehung das von Ostern.
Wir wissen jetzt, wie lange Klaus in Wirklichkeit brauchte, die für ihn so wichtige Versöhnung vollends zu verstehen. Wird dieses Verständnis in der Folge auch für ihn zu einer gütigen Auferstehung führen?

Allen Lesern, die mir über die Jahre hinweg mit ihren Kommentaren das Gefühl gegeben haben, eine gute Geschichte abzuliefern, möchte ich herzlichst danken. Auch ich persönlich habe einen langen Prozess durchlaufen; das Schreiben dieser Geschichte hat mir dabei sehr geholfen.
Es mag dem einen oder anderen aufgefallen sein, dass ich im Grunde genommen gegen etwas schreibe. Vielleicht erinnert man sich noch an mein kleines Profil-Avatar, ein Schild mit dem Wort DAGEGEN. Gegen was?? Gegen Unterdrückung. Ich weiß, wie schwierig unser Thema in Wirklichkeit ist. BDSM kann ungeahnte Kräfte freisetzen, kann aber auch die Gewalt über unser Tun übernehmen. So mancher mag in einer unglücklichen BDSM-Beziehung leben, ohne Hoffnung auf innere und äußere Befreiung. Ich hoffe, mit meiner kleinen Geschichte diesen Menschen unter uns etwas Hoffnung gemacht zu haben!

Jetzt wünsche ich allen Lesern von Herzen ein frohes Osterfest. Bleibt gesund und vergesst Eure Daniela 20 nicht!!

PS: Wer mehr schreiben möchte, als einen knappen Gruß, kann es auch gern unter der Rubrik 'Diskussion für Stories' --> Die München-Trilogie tun. Herzlichen Dank!!

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München, Ende Oktober, Anfang November

"Süßes oder Saures!!!" Gruselig maskierte Kinder hatten bei ihm geklingelt. Klaus hatten die hellen Kinderstimmen, die vergeblich versuchten, böse zu klingen, gut getan. Und Gott sei Dank hatte er genug Süßes für mehrere Kinder im Haus.
Gut und Böse? Gibt es das wirklich? Ist es nicht nur eine semantische Frage, hatte er selber noch vor gar nicht einmal so langer Zeit überlegt. Interessiert hatte er festgestellt, wie fröhlich die Kinder damit wirkten, auch einmal böse sein zu dürfen. Und er selber? Jene Jahre im Internat in Ettal? Wo ihnen tagsüber das Gute mit Löffeln eingegeben wurde? Wo man sie, völlig lebensfremd, nicht auf das Böse vorbereitete und dann, als öffentliche Institution, völlig versagte, als das Böse nachts an ihre Tür klopfte?

Seine Gedanken schweiften ab. Für einen Moment glaubte er, das glucksende Lachen seiner Schwester zu hören. Hier, in diesem Haus, hatte er sie die Treppe hinabgestoßen, hier hatte alles Böse sich gegen die Schwester und gegen ihn verschworen. Die Misshandlungen, die sie hatte erleiden müssen! Die Lügengeschichten, die ihm die Jahre der Kindheit schwer gemacht hatten, bis sich der gnädige Mantel des Vergessens über seine kindliche Erinnerung gelegt hatte. Selbst seine Schwester kannte den Unterschied von Gut und Böse, hatte ihm ein Bilderbuch aus der Hand genommen, als er an eine Stelle gekommen war, die sie an erlittenes Unrecht erinnerte.

Er hatte sich viel zu lange schon nicht mehr um seine Schwester gekümmert. Hatte sich so sehr auf die eigenen Probleme konzentriert, dass für andere kein Platz war. Morgen war Feiertag! Allerheiligen. Morgen würde er wieder einmal zu ihr fahren und eine gute Zeit mit ihr verbringen!

% % %

November! Klaus war etwas überascht, statt schmuddeligen Novemberwetters strahlend blauen Himmel zu sehen. Umso besser! Blauer Himmel stimmte ihn jedes Mal fröhlich, es war auch gut, einen Plan zu haben, da gab es kein langes Rumhängen im Haus.
Seine Schwester freute sich sichtlich, ihn endlich mal wieder zu sehen. Endlich?, fragte er sich. Hat meine Schwester überhaupt ein Zeitgefühl? Und bildete er sich nicht einfach nur ein, dass sie sich über seinen Besuch freute?? Sprach da nicht die simple Selbstsucht aus seinen Gedanken? Dieses Gefühl, etwas Gutes getan zu haben? Und war es nicht so, dass er jedes Mal, bei jedem seiner Besuche, sich wünschte, seine Schwester gäbe einmal ein normaleres Zeichen des Erkennens? Eine Umarmung? Ein "Hallo Klaus! Schön, dass du gekommen bist!"? Doch nichts dergleichen geschah. Es gab in ihrem Emotionsfeld nur hell oder dunkel. Nur Freude oder Traurigkeit. Beides lag eng beisammen, so eng, dass es ihn manchmal verwirren konnte. Wieso wechselte ihre Stimmung manchmal so spontan?

Oft verließ er seine Schwester im Gefühl vollster Frustration. Der Mensch braucht andere Menschen als Spiegelbild. Menschen, die Fragen stellen, Menschen, die Antworten geben. Und waren nicht manchmal gerade die Anworten am besten, die man eigentlich gar nicht hören wollte?? Hilfreich waren ihm oft Gespräche mit den verantwortlichen Betreuern. Leute, die es gelernt hatten, die Lücke der Sprachlosigkeit zwischen Bewohner und Besucher zu füllen.
Der Zufall wollte es, dass er gerade heute etwas länger als geplant blieb. Er hatte sich von seiner Schwester verabschiedet, bekam aber vom Personal noch eine Tasse Kaffee angeboten, die er dankend annahm. Kaum, dass er Platz genommen hatte, erblickte er seine Großtante Gertrud, die gerade zur Tür herein kam und ebenfalls überrascht war, ihn zu sehen.

"Klaus! Wie schön! Kommst du auch gerade?"

Klaus verneinte. "Ich wollte gerade gehen. Man hatte mir noch einen Kaffee angeboten. Wie geht es dir? Haben uns ja lange nicht gesehen."

"Danke der Nachfrage. Man boxt sich halt so durch. Ich wollte eigentlich nur kurz mal was zum Knabbern abliefern. Eine Tüte Chips sind immer gern gesehen. Und wollte anschließend noch auf den Friedhof, bevor es zu dunkel wird. Ein paar Grablichter aufstellen. Kommst du mit?"


Es zog sich etwas hin. Natürlich hatte man auch der alten Dame einen Kaffee angeboten. Und so dunkelte es schon leicht, als Gertrud und Klaus am Friedhof ankamen. Sie verliefen sich etwas, was heute wegen der vielen roten und weißen Grablichter nichts ausmachte, dann hatten sie das Grab von seiner Großmutter gefunden, die vor einem knappen Jahr gestorben war.

"Komisch," erinnerte Klaus sich plötzlich. Früher gingen wir auch immer zu Allerheiligen auf den Friedhof und zündeten Kerzen an."

"Ja? Bei wessen Grab denn??"

"Hm, ich war ja noch klein. Ich glaube, es war das Grab meiner Schwester."

"Es gab doch kein Grab!" Er hörte die Skepsis ihrer Anwort heraus.

"Nein. Es gab kein Grab. Ich glaube, sie hatten mich zu irgendeinem Kindergrab mitgenommen; ich konnte ja nicht lesen, wer dort begraben war."

"Also wirklich! Wie konnten die nur! So ein verlogenes Pack! Gut, dass wir das aufklären konnten! Wie geht es dir sonst so, Klaus? Was willst du beruflich machen? Hast du schon etwas ins Auge gefasst? Irgendwie kommst du mir so vor, als würdest du einen schweren Stein vor dir her rollen."

Er begann zu erzählen. Von seiner vergeblichen Mühe, jenen Mann zur Verantwortung zu ziehen, der seine ganze Kindheit kaputt gemacht hatte.

Gertrud säufzte laut auf, als er geendet hatte. "So ein verdammter Mist! Weißt du, manchmal habe ich einfach keine Lust mehr. Es ist doch immer noch alles beim Alten.... nichts hat sich verändert. Der Staat schützt die Schuldigen, und die kleinen Leute ziehen den Kürzeren. Hatten wir wirklich einmal geglaubt, es ändern zu können?" Sie lachte kurz auf. "Hand aufs Herz. Und wenn wir alle umgebracht hätten, es hätte ja doch nichts geändert...."

"Mord ist halt auch keine Lösung! Ich bin auf jeden Fall froh, dass die Zeiten vorbei sind."

"Sind sie es denn wirklich? Jetzt sind doch die Religiösen dran, die Unschuldige umbringen. Und dass Mord keine Lösung ist, will ich mal dahingestellt lassen! Du weißt doch, der Zweck heiligt die Mittel!"

Plötzlich wurde ihm sehr kalt. Nein, es hatte sich wirklich nichts geändert. Zumindest nicht im Kopf dieser alten Dame. Er hatte gelernt, dass Gewalt nie ein legitimes Mittel sein konnte. Ausgenommen höchstens der Tyrannenmord. Aber das war ein ganz anderes Kapitel. Er für seinen Teil hatte keine Lust mehr, hier und jetzt eine Diskussion über dieses Thema zu beginnen. Für ihn gab es andere Aufgaben. Er hatte den juristischen Kampf verloren, damit konnte er leben. Jetzt galt es, innerlich zur Ruhe zu kommen. Die Regeln, die die Gemeinschaft sich gegeben hatte, waren kompliziert und dienten dem Schutze aller. Es reichte halt nicht aus, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und diesen damit hinter Schloss und Riegel zu bringen. Genau das aber hatte es lange genug in der deutschen Geschichte gegeben; er musste froh sein, dass diese Zeiten vorbei waren.

"Ich habe auf jeden Fall getan, was ich tun konnte!" nahm er das Thema kurz und abschließend noch einmal auf.

"Ja, w a s du tun konntest...." Er hörte nicht genau hin. Oder hatte sie gesagt: was d u tun konntest?

Dunkelheit umgab ihn, aber er beachtete sie nicht. Die vielen bunten Lichter, die in der kühlen Abendluft leicht flackerten, wiesen ihm den Weg. Jetzt gab es nur noch eine Aufgabe: jetzt würde er selber gehen müssen.


Epilog 1 - München, Februar

Klaus wischte mit einem Fußtritt Post und Reklame zur Seite, die sich hinter seiner Haustür angesammelt hatten. Ein Briefkasten wäre vielleicht besser, aber der altmodische Briefschlitz in der Tür verhinderte, dass andere sehen konnten, dass niemand zu Hause war. Mehrere Zeitschaltuhren hatten während der dunklen Wintermonate für Beleuchtung gesorgt; immer noch der beste Schutz gegen Einbrecher, fand er. Natürlich hatte auch das Radio dazugehört.

War er davongelaufen? Er hatte einige Zeit überlegt, was er machen könnte, und allmählich war ihm klar geworden, dass er sich mit seiner Mutter aussprechen müsste. So war er Mitte November nach Rom gefahren, hatte sich dort über das milde Klima gefreut und die Einladung seiner Mutter, über Weihnachten zu bleiben, gern angenommen.
Was gut war. Das Gespräch mit seiner Mutter war nicht gleich ein gutes gewesen, die Dinge brauchten ihre Zeit, die Mutter brauchte ihre Zeit. Aber am Ende hatten sie sich ehrlich miteinander ausgesprochen und versöhnt.
Erst im neuen Jahr, als der Weihnachtsstress vorüber war und etwas Ruhe auch über die Ewige Stadt fiel, war ihm aufgefallen, dass er nicht ein einziges Mal an Andrea und die schlimmen Monate seiner 'Kerkerhaft' nachgedacht hatte. Der Grund war einfach: er selber war ein anderer geworden. Er war nicht mehr derjenige, der sich unterdrücken und ausnutzen ließ; die Einsicht in die Verwicklungen seines Lebens hatte ihm Kraft gegeben.


Er brauchte einige Zeit, um die altmodische Ölheizung in Gang zu bekommen. Wie war das nun? War überhaupt genug Öl da?? Und wo sollte er für den Zündfunken drücken? Endlich klappte es, langsam wurde es warm im Haus.
Er machte es sich im Wohnzimmer gemütlich, hatte sich vorsorglich noch eine dicke Wolldecke umgeschlagen. Dann sortierte er Post und Reklame. Das meiste ging sofort in den Müll; übrig blieben einige Rechnungen, ein Brief von der Staatsanwaltschaft mit der Mitteilung, dass das Verfahren gegen Huber, Ruprecht, eingestellt sei, ein Brief von Monika aus Australien, die frohe Weihnachten wünschte und von einem glücklichen Leben berichtete, und eine Postkarte aus Passau.

Nanu? Er kannte niemanden in Passau. Er drehte die Karte, die von Mitte Januar datiert war, um und las: "Hallo Klaus! Wünsche dir ein gutes neues Jahr! Wo steckst du bloß? Habe mehrmals auf deinem Handy angerufen, aber du hast nicht geantwortet. Es ist was Wichtiges passiert! Also, ruf bald mal zurück! Liebe Grüße von Ingeborg!"

Ach Herrje!! Sein neues Handy! Er hatte, als es klar war, dass er wohl länger in Rom bleiben würde, sich eine italienische SIM-Karte besorgt. Klar, dass Ingeborg ihn so nicht erreichen konnte! Sollte er jetzt zurückrufen? Große Lust verspürte er nicht, aber wenn es wichtig war?
Der Austausch der Karten war schnell erledigt. Er machte sich einen Tee, er wusste, dass es gut tat, sich an etwas festhalten zu können, auch wenn es nur eine Tasse war.
Ingeborg antwortete sofort. "Klaus!! Endlich!! Mann, ich hatte mir schon echt Sorgen gemacht. War auch mehrmals bei dir und habe geklingelt, aber du hast ja nie aufgemacht. Hatte echt schon Angst, dass du tot in der Badewanne liegst!!"

Klaus erklärte seine Abwesenheit und bat um Entschuldigung, dass er nicht von sich hatte hören lassen. "Tut mir echt leid, Ingeborg. Ich brauchte das irgendwie. Musste einfach mal weg, mich selber suchen, beziehungsweise finden. Hier in München ging das nicht. Vor allem brauchte ich Abstand von dem Drecksack Huber! Also, was gibt es denn so Wichtiges??"

Er hörte ein unterdrücktes Lachen auf seine Auslassung. "Tut mir leid, Klaus. Ich lache nicht über dich. Ich lache viel mehr, weil dein Wunsch auf wundersame Weise in Erfüllung gegangen ist."

"Was für ein Wunsch?? Jetzt mach es nicht so spannend!"

"Dein Wunsch nach Abstand! Mehr Abstand gibt es gar nicht!!!"

Er wurde ungehalten. "Mensch, Ingeborg, verschon mich mit dieser Scheiße! Jetzt sag endlich, was los ist! Hat man ihn doch noch irgendwie dran gekriegt?"

"Hast du es denn nicht in den Nachrichten gehört? Mein Gott, das war doch überall zu lesen! Er ist in die Luft geflogen! An Silvester! Sein ganzes Haus ist hin. Von ihm selber sind nur noch einige Teile übrig geblieben!" Sie machte eine Pause, wartete auf seine Reaktion, die allerdings nicht kam. Es musste ihm die Sprache verschlungen haben. "Gibt es denn in Rom keine Blöd-Zeitung??"

Endlich hatte er sich wieder gefasst. "Wie? Was sagst du da? In die Luft geflogen?? Eine Gasexplosion, Ingeborg?"

"Nein, keine Gasexplosion. Er muss Unmengen von Böllern und Feuerwerksrakten gehortet haben, oder so..."

"... oder so? Was soll das heißen? So jemand wie der ist doch nicht der Typ für das große Silvester Feuerwerk!"

"Ja, da hatte ich mich auch gewundert," gab die Kriminalbeamtin zu. Die Techniker rätseln noch immer, wie das ganze Feuerwerkszeug eine so große Verwüstung anrichten konnte. Also, wenn so etwas in einem Raum hochgeht, da geht man schnell bei drauf, wenn man nicht irgendwie abgeschirmt ist. Der Raum allein nimmt dann großen Schaden, Türen und Fenster gehen kaputt, auch dünne Wände können dem nicht standhalten. Aber das hier? Du müsstest das mal sehen! Das ganze Haus ist eine Ruine!"

Klaus ließ sich in seinen Sessel fallen. Seine Hand zitterte, als er nach seiner Tasse griff. Die Welt sah plötzlich anders aus. Sie hatte sich verändert. Nicht die ganze Welt, aber seine Welt. Leute wie Pater Ruprecht gab es und wird es immer geben.

Ingeborg meldete sich wieder. "Bist du noch da, Klaus? Sag mal, man hat winzige Spuren gefunden...."

Er wollte es gar nicht mehr wissen. Für ihn war nur noch wichtig, dass es wirklich vorbei war.

"Hast du mal etwas von einem Ort namens Weiterstadt gehört? Ein Sprengstoffanschlag? Man hat winzige Spuren des damals verwendeten Sprengstoffs gefunden. Aber die Techniker sind sich nicht sicher. Es kann auch von dem Feuerwerkszeug stammen...."

Weiterstadt?? Er hatte nie davon gehört. Es musste vor seiner Zeit gewesen sein. Es war ihm schlichtweg egal. Er verabschiedete sich von Ingeborg, stand auf, machte das Licht aus und zog sich einen dicken Pullover über. Er ging hinaus in den Garten, alter, verkrusteter Schnee knirschte unter seinen Sohlen und brach auf. Hier hatte alles einmal angefangen. Er versuchte sich die Bilder einer vergangen Zeit ins Gedächtnis zu rufen; es gelang nicht. Er blickte auf den Himmel über sich, auch die dichte Wolkendecke, die seit seiner Ankunft über der Stadt gelegen hatte, öffnete sich und gab den Blick auf einen sternenklaren Himmel frei. Ein blinkendes Flugzeug zog hoch über ihm seine Bahn und weckte unendliche Sehnsucht in ihm. Alles würde gut werden.


Epilog 2 - Wenige Jahre später

Klaus blickte nach unten. Immer wieder gönnte er sich, bei aller erforderlichen Konzentration, einen Blick aus dem Fenster. Sah unter sich das herrliche blau des Ozeans, dessen Wellen tausende Meilen weiter südlich gegen den bröckelnden Eispanzer der Antarktis schlugen. Aus einer Höhe von nur noch 3000 Fuß sah alles wieder aus wie Spielzeug, als seine Maschine im Landeanflug die Küste Südaustraliens überflog.
Nach einer weiteren leichten Kurskorrektur durch den Tower klinkte sich das ILS-System für den automatischen Landeanflug ein, kontinuierlich nahmen jetzt Höhe und Geschwindigkeit ab.
Der Autopilot kündigte "Minimum!" an, der Kapitän zu seiner Linken bestätigte mit "Continue!" die Freigabe für den weiteren Landeanflug. "Ich flieg von Hand!" Klaus drückte den kleinen Knopf am Steuerhorn, eine mechanische Stimme ertönte - "Auto pilot!" - die schwere MD11 eines großen Cargo-Fliegers war jetzt unter seiner Kontrolle. Gekonnt drosselte er den Schub auf 150 Knoten, wohl wissend, dass seine Maschine im Landanflug höhere Geschwindigkeit brauchte, als ein kleiner Ferienflieger. Ein letztes Mal überprüfte er mit schnellem Blick seine Instrumente, alles war richtig eingestellt, das Fahrwerk war ausgefahren, die automatischen Bremsklappen aktiviert.
"Leichter Wind von links!" informierte ihn der Kapitän , die vier Lichter des VASI Anflugsystems zeigten zwei weiße und zwei rote Lichter, alles war genau konfiguriert, gekonnt setzte er seinen schweren Jet auf der Landebahn des Flughafens von Adelaide auf. Leider etwas rechts von der Center Line.
"Knapp daneben ist auch vorbei," witzelte der Kapitän.

Klaus nahm es auf die leichte Schulter. "Kein Wunder, Kapitän. Hier auf der südlichen Halbkugel fällt es mir immer schwer, weil wir mit dem Kopf nach unten hängen!"

Beide lachten. Sie waren seit Auckland zusammen geflogen, hatten diesmal neuseeländische Rennpferde mit an Bord, die hier ausgeladen werden sollten. Der Flugkapitän übernahm mit dem Ausruf my airplane das Kommando für das Rollen zum Frachtterminal. Dort angekommen wurde er vom Marshaller zur korrekten Parkposition gebracht.
Die Bremsen wurden gesetzt, das Hilfstriebwerk APU eingeschaltet - es gab keine externe Stromversorgung für Frachtmaschinen - dann schaltete der Kapitän alle drei Triebwerke und das Anti-Kollisionslicht aus. Die Entladung konnte beginnen. Wenn alles glatt liefe, in wenigen Stunden wären sie schon wieder unterwegs.

Klaus verließ das enge Cockpit, er wollte sich etwas strecken und brauchte Bewegung, vor allen Dingen wollte er etwas frische Luft schnuppern. Australische Luft, die jetzt so ganz anders war, als daheim in Frankfurt. Im Moment gab es für ihn nichts zu tun, Verantwortung trug jetzt in erster Linie der ramp agent, der für Entladung und Beladung des Frachtfliegers verantwortlich war.
Er schlenderte über das Vorfeld, der Beton strahlte bereits jetzt ziemliche Hitze aus, obwohl es erst Vormittag war. Zufrieden mit sich und seinem Flug betrachtete er die große Maschine. Gab es irgendwo Anzeichen von Vogelschlag? Nein, alles war in Ordnung.

Er hatte Glück gehabt. War an die rechten Menschen geraten, hatte deren Gedanken und Ratschläge aufgegriffen. Dieser nette Mann in der Münchner Beratungsstelle? Wie hieß er doch gleich? Vergessen. Nicht vergessen hatte er hingegen den Inhalt ihrer Gespräche. Besonders über den Begriff 'Umkehrschub' hatte er lachen müssen. Trotzdem sollte es gerade dieser Begriff sein, der ihm einen neuen Lebensweg vorzeichnete. Er hatte sich damals im Februar nicht lange in München aufgehalten, hatte einige Reisen unternommen, nette Menschen besucht, die er in Rom kennen gelernt hatte. Flugreisen nach Portugal und Polen und andere europäische Länder, sogar ein längerer Flug in die Vereinigten Staaten war dabei gewesen. Und je mehr er flog, desto mehr faszinierte ihn alles, was mit Luftfahrt und Fliegen zusammenhing.
Schließlich hatte er sich in Bremen bei der Verkehrsfliegerschule beworben und war, er konnte es kaum glauben, nach einem Aufnahmetest aufgenommen worden. Der Beruf machte ihm Spaß, schien genau das Richtige für ihn zu sein. Er hatte sich nicht einmal um die Finanzierung Sorgen machen müssen. Er hatte das Haus seiner Oma in München verkauft und einen sehr guten Preis dafür erzielt. Wieso seine Oma dieses Haus, in einem begehrten Münchner Stadtteil gelegen, überhaupt besaß, wurde ihm erst klar, als er sich um die Papiere kümmerte. Scheinbar hatte sie Beziehungen zu Soldaten der U.S. Army, und, richtig, der Vater seiner Mutter war ja ein amerikanischer Soldat gewesen, der viel zu früh im Vietnamkrieg zu Tode gekommen war.

Klaus hatte sich von Anfang an für die Frachtfliegerei entschieden. Hatte keine Lust auf Kurzstrecke und Ferienflieger, scheute sich auch davor, zu viel mit hübschen Flugbegleiterinnen zusammen sein zu müssen. Gegen weibliche Kapitäne hatte er nichts einzuwenden, diese trugen immer lange Hosen zur Uniform, was für ihn das Leben leichter machte. Cargo war auch spannender. Er kam herum in der Welt, holte Blumen aus Kenia, Technik aus Singapur, Fußbälle aus Pakistan, oder eben, wie dieses Mal, Pferde aus Neuseeland.
Ein hässliches Geräusch ließ ihn zusammenfahren! Was um Himmels Willen?? Es war von der anderen Seite, von der Laderampe, gekommen. Er duckte sich, ging unter dem Bauch seiner Maschine hindurch und sah sofort den Ramp agent und den Kapitän mit sorgenvollen Gesichtern beisammen stehen.

"Was ist passiert?"

Der Kapitän zuckte mit den Schultern. Der Ramp agent sprach in sein Funkgerät. Erst jetzt bemerkte Klaus den Wagen mit der Aufschrift Veterinary Service.

"Ein Tierarzt? Ist was mit den Pferden?" Einen Moment befürchtete er, er habe nicht sanft genug auf der Piste aufgesetzt.

"Scheint ganz so. Eine Kolik oder so. Man hat den Tierarzt hinzugezogen, das Entladen des Containers musste schnell gehen. Scheinbar ist dieser dabei beschädigt worden."

Es dauerte einige Minuten, bis der Ramp Agent, der sich zwischenzeitlich entfernt hatte, wieder zurück kam. "Rufen Sie Ihre Firma an, Kapitän. Sie brauchen ein Hotel!"
Es zeigte sich, dass der Pferdecontainer irgendwie den Verschlussmechanismus der Ladeklappe beschädigt hatte. "Nein, tut mir leid, Captain, Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen. Da müssen mal die Leute von der Technik ran. Und das kann dauern.... Heute auf jeden Fall machen Sie site-seeing hier in Adelaide! Oder sehen Sie sich die schönen Weinberge an! Der bekannte Barossa-Wein kommt von hier...."

Und so kam es, dass Klaus keine zwei Stunden später auf einem gemieteten Motorrad saß und durch die schöne Umgebung von Adelaide fuhr. Barossa? Das Wort hatte genügt, ein Fenster in seine Münchner Vergangenheit aufzustoßen. Hatte Monika nicht hier unten ihren Vater wiedergefunden? Hatte sie hier nicht sogar einen Mann kennen gelernt und geheiratet? Wie hieß er doch? Jim? James??
Und plötzlich hatte er das starke Verlangen gespürt, Monika zu besuchen. Ihr von all den vielen Dingen zu erzählen, die in den letzten Jahren passiert waren, vom Tod seiner Großmutter, von seinen Erlebnissen in Rom, von der Beziehung mit Ingeborg, vom plötzlichen Auftauchen seiner Großtante Gertrud, die endlich Licht in die dunklen Seiten seiner Kindheit gebracht hatte. Und natürlich auch von seiner Schwester, Magdalena, die immer noch in ihrem Heim lebte, aber dank seines Drängens nicht mehr mit Bauklötzen und Bilderbüchern ruhig gestellt wurde, sondern seit einiger Zeit gezielt pädagogische Hilfe erhielt und mühsame Fortschritte genacht hatte. Und auf jeden Fall wollte er ihr vom Ableben seines früheren Peinigers, Pater Ruprecht, berichten, dessen Tod nie restlos aufgeklärt werden konnte.

Wo aber wohnte Monika? Er hatte keine Ahnung. Er war einfach drauflos gefahren, nachdem er das Motorrad gemietet hatte. Einfach drauflos in der Hoffnung, er könne sich durchfragen, irgendjemand würde etwas wissen. Aber Australien ist groß, es gab viele Weingüter hier unten, er irrte stundenlang umher, hatte zu wenig zu trinken dabei, hatte nichts zu essen dabei, sah immer nur Hinweisschilder, die den Weg zurück nach Adelaide wiesen.
Er machte eine Pause, stellte das Motorrad ab, langsam würde er umdrehen müssen, er sank nieder, legte sich in den Schatten unter einem Eukalyptusbaum neben der Straße....

"Are you all right, mate?"

Eine Hand schüttelte seine Schulter. Klaus erschrak, war er doch tatsächlich eingeschlafen! "Was? Wie?", stammelte er unbewusst auf deutsch und richtete sich auf.

"Oh, German?" fragte der Mann, dessen Gesicht er gegen die untergehende Sonne nicht erkennen konnte. Um dann, etwas unbeholfen, auf deutsch, mit leicht bayrischem Akzent, fortzufahren: "Geht es dir gut? Oh, sorry: Geht es Ihnen gut?"

Klaus versicherte, dass alles in Ordnung sei. Dass er bloß von seinem langen Flug und der Suche müde sei. "Schon gut. Sie sprechen Deutsch? Bayern, vermute ich."

"Yes. Bavaria. Mein ganz personal Hofbräuhaus stand in München!" Der Mann legte eine Pause ein, blickte nach oben, jetzt war sein Gesicht besser zu erkennen. "Ist nicht weißblau hier, der Himmel."

Klaus blickte auf seine Uhr. Noch war Zeit. Er streckte dem Mann seine Hand entgegen. "Ich heiße Klaus. Habe auch lange in München gewohnt."

Der Australier drückte ihm die Hand. "Welcome to Australia, Klaus. Mein Name ist....." Er ging im Lärm eines vorbeifahrenden Road trains unter. "Machst du... holiday... Wie sagt man?"

"Urlaub!" half Klaus. "Nein, ich bin Pilot. First Officer. Es gab Probleme beim Entladen eines Pferdecontainers. Es kann heute nicht repariert werden. Und da dachte ich, ich mache mich mal auf die Suche...."

Der Mann unterbrach ihn. "Und hast du ihn gefunden?"

Klaus schwieg. Eine seltsame Ruhe hatte sich über alles gelegt. Er öffnete seinen Mund, eine Antwort zu geben, aber der andere war schneller.

"Manchmal muss man weit reisen, um jemanden wiederzufinden. Ich kenne das. Hatte auch jemanden verloren. A long time ago. Hatte schlimme Dinge gemacht. Aber hier unten wiedergefunden." Wieder schwieg er. Klaus wollte ihn nicht unterbrechen. "Strech out your hand.... Hand strecken? Sagt man so?"

"Hand ausstrecken! Ja."

"Musst deine Hand ausstrecken, someone will grab it. Deine Hand nehmen und führen...." Das seltsame Gelächter eines Vogels ertönte. "Reconciliation.... Wie sagt man das?"

Klaus zuckte mit den Schultern. "Tut mir leid. Aber das kommt in der Luftfahrt nicht wirklich vor!" Beide lachten.

"Und, hast du ihn gefunden?" wiederholte der Mann seine Frage.

Ob er ihn gefunden habe?? Klaus zögerte etwas. Er hatte sich auf die Suche nach Monika gemacht. Aber noch gar nicht erwähnt, wen er suchte. Und die andere Suche?? Es war ganz plötzlich leicht dunkel geworden. Er blickte hoch und sah ein markantes Sternenbild über sich.

Der alte Mann hatte seinen Blick verfolgt. "The Southern Cross. Wir haben es auf die australische Flagge!"

"Das Kreuz des Südens. Es wundert mich nicht, dass unter diesem Himmel alles gut werden muss." Dann erinnerte er sich der Frage. "Ja. Ja, ich glaube, ich habe ihn gefunden."

Der Australier, der neben ihm gesessen hatte, stand auf, ergriff seine Hand, drückte sie fest und freute sich. "Dann ist ja alles gut. I must be off now! Familie und Enkelkind wartet."

Klaus stand auf und fühlte sich plötzlich herzlich umarmt. "Merry Christmas, Klaus! Fröhliche Weihnachten!!" Dann stieg er in seinen altmodischen Pickup, den er am Straßenrand abgestellt hatte. Ein letztes Hupen, und Klaus war wieder allein.

Er musste zurück zum Hotel. Was hätte er denn auch mit Monika reden sollen? Es war vorbei. Ihm fiel wieder der Vergleich mit dem alten, kaputten Auto ein, welches man auf einem Schrottplatz abliefert. Ja, da war etwas dran. Irgendwann ist es weg. Aus und vorbei.

% % %

Die Techniker hatten trotz Weihnachten gute Arbeit geleistet. Für den Weiterflug am nächsten Vormittag lief alles bestens. Der Kapitän hatte das Kommando übernommen, auf dieser Strecke hoch nach Singapur war Klaus der pilot non flying. Sie hatten die Rollfreigabe vom Tower erhalten und befanden sich auf dem langen Taxiway, wieder zum RWY 05. Klaus überwachte den Funkverkehr, blickte aus seinem Fenster und sah, außerhalb des Flughafengeländes, plötzlich einen Pickup mit hoher Geschwindigkeit herankommen, der neben einem kleinen Hügel stoppte. Eine Frau stieg aus, ein kleines Kind auf dem Arm, sie hatte einen langen Stock dabei und mühte sich auf den kleinen Spotterhügel hinauf.

Dann sah er es. Die weißblaue Fahne seiner Heimat. Die junge Frau schwenkte die Fahne und winkte mit der Hand.

Es ist vorbei, aber nicht alles ist aus, dachte er und freute sich und bemühte sich, wenigstens mit der Hand zurückzuwinken. Er würde wiederkommen.....

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Klaus, geboren 1992, fliegt immer noch irgendwo in der Welt umher. Manchmal macht er sich den Spaß und lässt Barbara wieder aufleben.... aber nur noch zum Spaß.
Magdalena, Klaus ältere, behinderte Schwester, geboren 1990, spricht gut auf das neue sozialpädagogische Angebot an. Man überlegt, sie in eine beschützte Wohngemeinschaft aufzunehmen.
Christl, Klaus Mutter, geboren 1965, blieb in Rom und arbeitet immer noch beim deutschen Dienst von Radio Vatikan.
Annegret Meisner - Gretl, geboren 1930, ist in München begraben. Unweit jener Stelle, die man Klaus jahrelang als Grab seiner Schwester vorgegaukelt hatte.
Gertrud, die ältere Schwester von Annegret, geboren 1925, starb wenige Jahre nach diesen Ereignissen. Sie nahm ein wohlgehütetes Geheimnis mit ins Grab.
Monika Sommer, geboren 1991, wurde Mutter und lebt glücklich mit ihrem australischen Ehemann in der Nähe von Adelaide.
George, Monikas Vater, geboren 1947, hat nie wieder ein Kind angerührt. Ausgenommen sein Enkelkind, dem er ein liebevoller Großvater ist.
Pia Sommer, Monikas Mutter, geboren im Unruhejahr 1968, lebt zurückgezogen weiterhin in ihrem Münchner Haus.
Daniela Krause, geboren 1994, liegt auf einem Kölner Friedhof. Ein kleiner, roter Stein aus Australien schmückt ihr Grab. In den Gedanken ihrer Freunde lebt sie weiter...
Von Andrea, einem etwas lichtscheuen Italiener, hat man nie wieder etwas gehört.
Evelyn Kasulke, die Münchner Sanitäterin, hilft weiterhin Jung und Alt in ihrer Heimatstadt.
Bruno Rick, "DerRick", Kriminalhauptkommissar aus Passau, geboren 1967, wartete lange auf eine Antwort seiner früheren Kollegin Ingeborg.
Ingeborg Wimmer, Kriminalkommissarin aus München, geboren 1984, musste einen ihrer Fälle ungelöst zu den Akten legen. Über ein 'freches Angebot' musste sie lange nachdenken.

Ruprecht Huber geboren 1963, verheiratet Ruprecht Jäger, alias Pater Ruprecht, pädophiler Gewalttäter, hat sich, wahrscheinlich durch unsachgemäßen Umgang mit Feuerwerk, selber ins Jenseits befördert.....

Die Handlung spielt im Jahr 2014




[Edit]: Dieser Eintrag wurde zuletzt von Daniela 20 am 02.04.18 um 17:01 geändert
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:03.04.18 16:28 IP: gespeichert Moderator melden


Jetzt werden die Woche wieder trister ohne Deinen Lesestoff...
Was ich am meisten an Deiner Geschichte mag, ist dass sich nicht alles nur um BDSM dreht, sondern auch andere Themen gut recherchiert sind und zum Teil einfach so Beiläufig in der Geschichte untergehen...
https://de.wikipedia.org/wiki/Sprengstof...JVA_Weiterstadt
Um als Beispiel zu nennen. Oder auch die ganzen Details vom Fliegen. Hut ab! Du bist eine geborene Schriftstellerin. Solche Geschichten mit soviel Tiefgang findet man hier sonst nicht.

Ich danke Dir für all die Arbeit, welche Du auf Dich genommen hast, um uns regelmässig auf sehr hohem Niveau zu unterhalten. Und es würde mich riesig freuen, wenn Dich die Muse zu einer neuen Geschichte wieder packt.
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maximilian24
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:08.04.18 19:00 IP: gespeichert Moderator melden


Liebe Daniela20!
Ich melde mich erst heute weil ich früher keinen Netzzugang hatte.
Du hast es in großartiger Weise geschafft, die Folgen schockierender Kindheits- und Jugenderlebnisse zu einer friedlichen Zukunft zu entwickeln. Und das alles in einer weitgehend real vorstellbaren Umgebung zu schildern! Herzlichen Dank für die breite Palette der Gefühlswelt durch die Du mich (uns) geführt hast.
Natürlich werde auch ich die wöchentliche Stimulanz vermissen. Ich weiß aber, wo diese Geschichten hier im Forum zu finden sind und werde mir daher ab und an die eine oder andere Fortsetzung in Erinnerung rufen.
Nochmals herzlichen Dank
Maximilian24
Alt werden will jeder, alt sein aber keiner
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maximilian24
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:19.04.18 21:23 IP: gespeichert Moderator melden


Liebe Leser!
Heute habe ich mir die letzten Fortsetzungen wieder einmal durchgelesen. Diesmal ist mir als Highlight die Entwicklung der Person von Frau Wimmer aufgefallen, nämlich wie diese im Laufe der Konfrontationen mit dem "Spielzeug" förmlich süchtig wird. Und jetzt denke ich dauernd darüber nach, ob ich auch danach "süchtig" werde?
Aber vielleicht sollte ich mir ein anderes Motiv aus den vielen Episoden heraus suchen über das ich schwärmen könnte.
Alt werden will jeder, alt sein aber keiner
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Daniela 20
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:25.12.18 12:55 IP: gespeichert Moderator melden


[N.B.: Ich hatte diesen, untenstehenden, Text gestern, an Heiligabend, als neuen Beitrag unter dem Titel "Erlösung" hier unter der Rubrik 'Stories für Damen' hochgeladen. Seltsamerweise wurde er später von irgendjemandem in die'Fetisch Stories' Rubrik verschoben, wo er höchstwahrscheinlich nicht einmal von allen geöffnet werden konnte. Da es sich hierbei um eine Fortsetzung und den Abschluss der gesamten Pentalogie handelt, füge ich ihn jetzt hier bei dieser Geschichte ein. D20]


ERLÖSUNG

(Die Kenntnis der vorhergehenden Geschichten Herbstferien, Frust, Agonie, Schuld und Versöhnung sollte vorausgesetzt werden!)



9.April 2018

Ich weiß nicht, was das hier wird. Ich bin doch fertig mit meiner 'München-Trilogie'. Sogar schon lange fertig. Mittlerweile ist sie zu einer Pentalogie angewachsen. Das Schicksal aller Protagonisten ist geklärt....

Aller? Nein. Ingeborg Wimmer, Kriminalbeamtin der Münchner Polizei, ist übrig geblieben. Ein Stein, der am Boden eines Gewässers liegt. Irgendjemand hatte ihn hineingeworfen. Ein Stein, der ringförmige Wellen ins Wasser geschlagen hatte, Wellen, die sich längst totgelaufen hatten. Nur der Stein war immer noch da. Ließ sich nicht wegdenken, nicht weg argumentieren.

Vielleicht muss auch Ingeborgs Geschichte noch erzählt werden.....

4.12.18

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München, Heiligabend, fast zwei Jahre später....


"Frau Wimmer? Wollten Sie zu mir? Da haben Sie aber Glück gehabt!"

Ingeborg Wimmer machte eine Hand frei und schüttelte die ihr entgegengestreckte Rechte. Es war ihr etwas peinlich, den wollenen Handschuh anzubehalten, aber ihr war kalt und sie kannte nichts Schlimmeres, als steif gefrorene Finger. Wie war das nun mit der globalen Klimaerwärmung? Wenn man sie brauchte, war sie gerade mal wieder nicht da. Immerhin deutete alles darauf hin, dass es dieses Jahr mit Weißen Weihnachten einmal klappen würde.
"Nun ja...." Sie wandt sich ein wenig. "Nicht direkt....."

Er lachte. "Das macht nichts. Indirekt geht bei mir auch. Sie wissen doch, ich habe für meine Klienten immer Zeit. Auch an Heiligabend! Wo drückt denn der Schuh? Ach, kommen Sie! Wollen wir nicht lieber zu mir ins Büro gehen? Ich wollte sowieso noch einmal kurz hin, obwohl heute in der Beratungsstelle eigentlich geschlossen ist! Wenn Sie Zeit haben? Kommen Sie mit, ja?"

Ingeborg Wimmer hatte eigentlich keine Zeit - wer hat am Tage vor Weihnachten schon Zeit? - aber sie hatte es gelernt, dem Schicksal nicht mehr dazwischenzufunken. Einfach zu akzeptieren, wie die Dinge liefen. Und vor allem, nicht mehr allem auf den Grund gehen zu müssen. Manche Dinge ließen sich einfach nicht erklären. Warum, wieso, weshalb.... Fragen die sich mehr oder weniger intelligente Erdenbewohner seit Lucys Zeiten gestellt haben mochten, ohne jemals wirklich eine zufriedenstellende Antwort zu erhalten.
"Doch," sagte sie, "natürlich habe ich Zeit! Immerhin haben Sie mir in einer schwierigen Lebenslage gut geholfen! Und - sie lachte - bei Ihnen wird es bestimmt angenehmer sein, als hier draußen."


Sie gingen schweigend durch einige Straßen. Der Himmel war grau, es roch nach weiterem Schnee. Von irgendwoher drangen verwehte Posaunenklänge an ihr Ohr; bald würden die Musiker ihre Instrumente einpacken, sich untereinander ein 'Frohes Fest' oder 'Gesegnete Weihnachten' wünschen, und dann zu ihren Familien eilen, vielleicht um die Bescherung vorzubereiten, vielleicht auch nur, um endlich mal wieder 'Sissy' im Fernsehen anzuschauen. Egal wie, Weihnachten war für viele eine Traumzeit, eine Zeit des gedanklichen Abkoppelns, des Hineinsinkens in große oder kleine Träume. Für viele war es aber auch eine Albtraumzeit, ein Fest, das in klirrender, innerer Kälte an ihnen vorbeizog, vielleicht weil sie die Liebe verloren hatten, die bisher eine Triebfeder für das Überleben gewesen war.
Und sie selber? Wo innerhalb dieses Bogens liege ich selber?, überlegte Ingeborg. Es war in den letzten anderthalb Jahren so viel geschehen, dass es ihr schwerfiel, den Überblick zu behalten.

Der nette Mann - wie hieß er eigentlich?? - ging auf einen Hauseingang zu. Ingeborg erkannte das Schild BERATUNGSSTELLE. Ein Jahr zuvor, im letzten Winter, hatte sie selber hier gestanden und auf den Klingelknopf gedrückt. Damals war sie am Ende ihrer Kräfte, damals hatte sie alle Hoffnung aufgegeben, hatte sie selber bereits mehrmals oben auf der Luitpoldbrücke gestanden und in die schwarzen Fluten der Isar gestarrt. Dort, wo sie vor einigen Jahren die ersten Untersuchungen an der Leiche einer noch sehr jungen Frau durchgeführt hatte, deren Fund man der Polizei gemeldet hatte. Und wo sie selber, im Zuge ihrer Ermittlungen, beinahe ums Leben gekommen war.

"Kommen Sie.... Moment, hier ist es etwas dunkel um diese Jahreszeit, ich mache das Licht an!"

"Sie haben mir schon einmal das Licht angemacht, Herr...."

Er antwortete nicht auf ihre versteckte Frage. "Das ist ja mein Job, Frau Wimmer. Kommen Sie! Oben ists schön warm!"

Ingeborg trat den Schneematsch von ihren Stiefeln und folgte ihm die Treppe hoch in den ersten Stock. Er schloss eine Tür auf und bat sie, hereinzukommen. "Kommen Sie und legen Sie ab. Wie ich sehe, halten Sie ihr Glück in den Händen? Lassen Sie es nicht wieder los!!" Er lächelte sie an. Wärme durchströmte ihren Körper.

"Ganz bestimmt nicht, Herr...- sie blickte auf das Türschild an seinem Büro - ...Herr Müller. Nein, ich werde es nicht wieder loslassen!"

"Sehr schön!! Das höre ich gern. Gehen Sie schon einmal vor. Ich mache uns schnell mal einen leckeren Gewürztee, ja? Glühwein kann ich leider nicht anbieten..."

"Gewürztee ist ausgezeichnet! Es wird in der Adventszeit sowieso viel zu viel Glühwein getrunken, als ginge es darum, die Seele weihnachtlich einzustimmen!"

"Ich befürchte, da haben Sie nicht ganz unrecht, Frau Wimmer!" hörte sie seine Stimme etwas entfernt aus der kleinen Teeküche. "Leider haben viele Menschen eine falsche Vorstellung von ihrer Seele. Mit dem üblichen In vino veritas hat das nichts zu tun." Man hörte Wasser kochen, dann das leise Klirren von Geschirr. "Bin gleich wieder da! Ziehen kann er dann ja während wir uns unterhalten! Bin gespannt, was Sie dieses Jahr erlebt haben! Machen Sie es sich schon einmal in meinem Zimmer bequem!"

Die junge Kommissarin folgte der Aufforderung, betrat das kleine Büro und setzte sich vorsichtig auf einen Stuhl, ohne ihr Glück aus den Armen zu lassen.

"So, da bin ich auch schon! Spekulatius??" Er hielt ihr eine angebrochene Schachtel hin, dankend nahm sie einen. "Eine Windmühle," sagte sie.

"Ja. Das ist ein gutes Symbol."

"Ein Symbol, Herr...- irritiert las sie den Namen Pfeiffer auf einem Namensschild auf dem Schreibtisch - ...Herr Pfeiffer? Ich dachte, Müller??"

"Ganz wie Sie wollen, Frau Wimmer. Namen sind nur Schall und Rauch. Wir wollen nicht, dass unsere Klienten sich zu sehr auf uns Therapeuten konzentrieren. Wenn Sie wollen, können Sie mich auch Weihnachtsmann nennen! Für mich spielt das keine Rolle. Wichtig sind immer nur diejenigen, die aus eigenem Antrieb zum Weihnachtsmann kommen, oder halt eben zu Herrn Müller oder Pfeiffer. Aber Sie hatten eben noch eine andere Bemerkung gemacht, die Frage nach der Windmühle."

Ingeborg biss in einen der Mühlenflügel; den Tee ließ sie noch etwas warten. So kurz vor dem Fest hatte sie keine Lust, sich die Zunge zu verbrennen. "Ja, Sie meinten, eine Windmühle sei ein gutes Symbol."

"Allerdings!" Der nette ältere Herr mit den gutmütigen Augen griff nach seiner Tasse, setzte sie an die Lippen, stellte sie aber dann wieder zurück auf den Tisch. "Auch so etwas Blödes! Erst macht man das Wasser heiß, und dann kann man es erst zu sich nehmen, wenn es wieder kälter geworden ist! Nie ist es richtig....
Doch, ja, zurück zur Windmühle. Stellen Sie sich vor, sie hätten einen Sack Getreide bekommen, haben aber keine Windmühle, es zu mahlen. Was machen Sie dann?"

Ingeborg richtete ihren Blick nachdenklich nach oben. "Nun ja, um auf Ihr Bild einzugehen.... Ich würde entweder verhungern, oder ich würde mir schleunigst eine Mühle bauen."

"Richtig!" Herr Müller lächelte zufrieden. Damit sind Sie schon halb aus dem Schneider..."

"Aus dem Müller, Herr Müller! Nicht Schneider!" Sie freute sich, etwas zur geistigen Verwirrung beigetragen zu haben. "Ich sehe, worauf Sie hinaus wollen. Jetzt habe ICH eine Mühle, aber ohne Wind geht da gar nichts! Auf den aber habe ich keinen Einfluss, der kommt von außen. Und ich muss sehen, wie ich damit fertig werde!"

"Bravo, Watson!!" lachte ihr Gesprächspartner, der sich nun doch am Tee versuchte. "Ja, Sie haben völlig recht! Persönlich bin ich für den Bau meiner Mühle verantwortlich, aber diese wird von Kräften bewegt, auf die ich im Normalfall keinen Einfluss habe. Das heißt, ich muss mich mit meinem Leben arrangieren. Und das können nicht viele." Er schwieg, biss nun seinerseits in einen Spekulatius und senkte seinen Kopf.
Er sah sie an. "Können Sie es, Ingeborg?"

Sie überlegte einen Moment. "Ich weiß nicht." Sie zögerte, fügte dann aber hinzu: "Ich hoffe, ich habe es endlich gelernt."

Er nickte, grübelte ein wenig über ihre Worte. "Was ist passiert, Ingeborg? Wie ich sehe, hat es in ihrem Leben gewaltige Veränderungen gegeben. Positive Veränderungen, darf ich hoffen?"

Sie lächelte. Es war ein Lächeln, das aus den Tiefen ihrer Seele zu kommen schien. "Oh ja!" strahlte sie. "Sehr positive Veränderungen!"

"Als Sie Anfang des Jahres hier bei mir waren, ging es Ihnen mehr als schlecht. Ich weiß noch, dass ich damals fast davon überzeugt war, Sie nie wiederzusehen. Sie hatten mir zwar nichts davon erzählt, was genau Sie damals trieben, und was Sie letzten Endes zu mir führte, aber, so glaube ich mich zu erinnern, Sie steckten tief in einem seelischen Sumpf und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Sagten Sie nicht etwas von einem frechen Angebot, das man Ihnen gemacht hatte?"

Ingeborg Wimmer wunderte sich ein wenig, wie gut der Therapeut sich an ihre damalige Lebenssituation zu erinnern schien. "Ja, das stimmt. Aber sagen Sie, sie meinten gerade, Sie waren fast davon überzeugt, mich nicht wiederzusehen. Zu einem Zeitpunkt, an dem ich selber mich bereits aufgegeben hatte."

"Ja. Ich sage es immer so. Es muss immer die Hoffnung auf eine positive Veränderung des Lebens bestehen bleiben. Hätte ich sie nicht, dann hätte ich wohl meinen Beruf verfehlt!"

Ingeborg ließ für einen Moment den Kopf sinken. Sie nickte leicht, dann richtete sie sich auf. "Danke. Es tut gut zu wissen, dass es Menschen wie Sie gibt! Ja, ich hatte einen falschen Weg eingeschlagen, der mich an den Rand des Untergangs, als Mensch und als Person, gebracht hatte. Erinnern Sie sich noch an Klaus Behrend, einen jungen Mann Anfang 20? Er war damals auch bei Ihnen gewesen; Sie hatten ihm wohl auch sehr geholfen. Durch ihn hatte ich von Ihrer Beratungsstelle erfahren."

"Ja, ich erinnere mich gut an ihn! Ein netter Mann, dem schon früh sehr übel mitgespielt worden war. Haben Sie noch Kontakt zu ihm? Wissen Sie, wie es ihm geht? Und was hat er mit Ihnen zu tun?"

"Wir haben nur noch sporadischen Kontakt miteinander," antwortete Ingeborg. "Er wohnt nicht mehr in München. So weit ich weiß, hatte er das Haus seiner Oma verkauft und ist nach Bremen an die Verkehrsfliegerschule gegangen." Sie machte eine Pause. "Ja, was hatte er mit mir zu tun?"

Herr Müller unterbrach sie nicht. Aber er nickte ihr zufrieden zu.

"Wir hatten wohl eine Zeitlang eine BDSM Beziehung. Sie wissen, was das ist?" Sie machte eine Pause, beobachtete ihn. Sein Blick forderte sie auf, weiterzureden. "Wir hielten uns gegenseitig in einer Beziehung fest, die einerseits auf Macht und Dominanz aufbaute, andererseits aber auch auf tiefem Vertrauen und...., nun ja, etwas Liebe war da wohl auch dabei."

"Liebe ist immer dabei. Aber sie manifestiert sich halt sehr unterschiedlich. Aber ich wollte Sie nicht unterbrechen." Er langte zu seiner Teetasse, nahm einen Schluck, hielt sie dann aber in den Händen.

"Klaus hatte irgendwie, wenige Jahre zuvor, Beziehungen zu einer jungen Studentin aus Köln gehabt, Daniela Krause. Vielleicht erinnern Sie sich an das Mädchen. Man hatte es eines Wintermorgens tot am Ufer der Isar gefunden, gleich unterhalb der Luitpoldbrücke. Ich untersuchte damals den Fall und hatte von Anfang an den Verdacht, dass Klaus etwas damit zu tun gehabt haben könnte. Wie sich später herausstellte, war meine Vermutung nicht ganz abwegig, obwohl für den wirklichen Tathergang andere Personen ermittelt werden konnten."

Herr Müller stellte seine Tasse wieder ab und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich erinnere mich. Aber an keine Einzelheiten. Dass Klaus, zumindest indirekt, etwas damit zu tun hatte, wusste ich nicht."

"Es gab noch eine dritte Person. Monika Sommer. Eine junge Frau hier aus München. Auch sie war irgendwie in diese ganze Geschichte eingebunden. Und ich wollte diesen Fall restlos aufklären. Verstehen Sie? R e s t l o s ! Ich wollte die Hintergründe über diese jungen Menschen herausfinden. Was sie zu dem getrieben hatte, was sie taten. Klaus hatte es mir nie sagen wollen. Aber ich spürte, auch hier waren menschliche Schwächen und Abgründe am Werk, über die ich mehr erfahren wollte!"

"Womit Sie ja eigentlich Ihren Bereich der Kriminalistik zu sehr ausdehnen! Nicht wahr, Frau Wimmer?"

"Ja, das war mein Fehler. Ich hatte ihn nicht erkannt. Hatte immer nur überlegt, wo ich wie weiterkommen könnte. Welche Personen mir eventuell neue Erkenntnisse verschaffen konnten."

"Und, haben Sie welche gefunden? Hat diese Monika, von der Sie sprachen, Ihnen helfen können?"

Ingeborg schüttelte den Kopf. "Nein. Leider nicht. Sie ist zu ihrem Vater nach Australien gezogen und hat dort geheiratet."

Für einen kurzen Moment huschte ein Lächeln über den Kopf des Therapeuten.

"Nein. Monika habe ich nie gesprochen. Wohl aber ihre Mutter, Pia."

"Die Heilige! Menschen mit solchen Namen haben es immer schwer. "Konnte sie Ihnen denn weiterhelfen? Ihre eigentliche Ermittlung in diesem Fall war wohl bereits abgeschlossen?"

"Ja, das war sie. Und das war ja auch der Fehler, den ich beging. Dass ich nicht loslassen konnte. In Wahrheit drehte es sich gar nicht mehr um Spurensuche, sondern um Hintergründe...."

"... um Abgründe," fiel er ihr ins Wort.

"Ja, das stimmt. Um meine ganz persönlichen Abgründe. Ich hatte, schon durch meine Beziehung zu Klaus, bereits einen Blick in eine mir bis dahin verborgene Welt tun können. Das Unheimliche in zwischenmenschlichen Beziehungen. Ich dachte, Kenntnis darüber, persönliche Kenntnis, könnte für meinen Beruf als Polizistin wichtig sein. Ich wollte das Dunkle finden, die Tiefen der menschlichen Seele ausloten...." Sie schwieg, kam einen Moment nicht weiter.

Seine Augen blickten sie an. Ein Blick, der alles sagen konnte, oder nichts. Wie zu sich selbst gewandt murmelte er: "Und ob ich schon wanderte im finstern Tal...." Er schwieg einen Augenblick "Und, haben Sie es gefunden?"

"...fürcht ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich." Sie nickte, blickte zu Boden. "Ja. Ich habe es gefunden. Nur...." Sie kam nicht weiter.

Er half ihr. "... es wurde immer dunkler. Nicht wahr? Das ist es, was Sie sagen wollten? Statt irgendwo Licht am Ende des Tunnels zu finden, gruben Sie sich immer tiefer in den seelischen Untergrund." Er machte seinerseits eine Pause, griff nach der Schachtel mit den Spekulatius, hielt dann inne. "Oh mein Gott! Sie haben.... Sie hatten eine Beziehung zu dieser Pia aufgebaut? Eine Sado-Maso-Beziehung??" Er schob seinen Stuhl ein wenig zurück.

"Ja. Ich weiß auch nicht, wie es dazu kommen konnte. Ich hatte damals von Klaus ein Korsett bekommen, ein Korsett, welches er aus dem Haus dieser Pia entwendet hatte. Es hatte dieser Monika gehört; sie hatte es nicht mitgenommen nach Australien. Er hatte es schlichtweg geklaut. Und ich hatte nun den Gedanken, dieses Korsett zu benutzen, um mit Frau Sommer - Pia - ins Gespräch zu kommen. Ich packte das Ding einfach ein und klingelte bei ihr. Pia ist eine ruhige Frau, Ende 40. Sie bat mich gleich, hereinzukommen. Als ich ihr das Korsett mit einigen erklärenden Worten zurückgab, packte sie es aus, betrachtete es und stellte mir dann eine ganz simple Frage: Passt es?"

Herr Müller, der sich vorher etwas abgewandt hatte, drehte nun, wenig nur und sehr langsam, ihr wieder das Gesicht zu. Ingeborg blickte zu Boden, ihre Lippe zitterte leicht, als sie mit leiserer Stimme fortfuhr.
"Ja, ich hätte zu diesem Zeitpunkt noch davonlaufen können. Aber ich konnte nicht, oder ich wollte nicht. Ich weiß es nicht. Ich spürte nur, dass hier bereits nach wenigen Minuten eine Bindung entstand, die ich, so dumm es jetzt auch klingt, nicht wieder lösen wollte. Nein, ich wollte sie ausbauen, vertiefen. Auch weil ich spürte, dass ich hier an der Quelle des Ganzen war, am Ursprung all jener falschen Entscheidungen, jener Qualen und Demütigungen, die ja letzten Endes sogar den Tod einer jungen Frau zur Konsequenz hatten. Auch wenn man hier nicht mehr von Schuld sprechen kann. So banal es klingt, ich erfuhr Dinge, die, hätte man sie von Anfang an richtig angegangen, richtig behandelt, so wäre all dies nie geschehen."

"Sie sprechen von Schuld, Ingeborg. Für einen Psychologen, oder halt einen Pädagogen wie mich, ist das sicherlich ein ganz anderer Begriff als für einen Kriminologen. Aber haben Sie, abgesehen von Ihrer ganz persönlichen Suche nach dem Dunkel, wirklich so etwas wie einen 'Täter' ermittelt, dem man Schuld anlasten konnte?"

"Ja. Am Ende, kurz bevor unser Verhältnis zerbrach, erzählte Pia mir vom Tode ihrer Eltern, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen, als sie selber noch sehr jung gewesen war. Ein junger Mann hatte die Kontrolle über seinen Wagen verloren, weil er...., nun ja, sagen wir einmal, er war sexuell abgelenkt. Womit sich beileibe nicht alles erklären lässt, was in den folgenden Jahren geschah. Und schon gar nicht der sexuelle Missbrauch, den Klaus in Internatszeiten erfahren hatte. Aber hier trafen, völlig unerklärlich, einzelne Schicksale aufeinander, fast so, als gehörten sie, irgendwie durch ein unsichtbares Band, miteinander verbunden."

Der Therapeut rückte seinen Stuhl wieder näher heran. Sein Körper hatte nicht mehr die angespannte Haltung, die er zuvor eingenommen hatte. "Ich glaube, Sie haben es selber schon erklärt. Ja, genau das passiert immer wieder. Es scheint, wir geben unbewusst Signale an unsere Umwelt ab, wie wir uns selber verstehen und wie wir gern von anderen wahrgenommen werden möchten. Ganz so muss es auch mit Ihnen und Pia verlaufen sein?"

"Ja." Ingeborg Wimmer klang wieder kräftiger. "Ja, genauso muss es auch bei Pia und mir gewesen sein. Auf jeden Fall antwortete ich auf ihre Frage mit einer Lüge. 'Ich weiß nicht, ob es passt', hatte ich gesagt, obwohl ich das Korsett ja bereits vorher getragen hatte. Und irgendwie verstand ich, dass Pia mich einschnüren wollte und irgendwie wollte ich es auch selber. Wie in Trance hatte ich meine Kleider abgelegt, Pia hatte mich eingeschnürt und dann - das war das besondere an diesem Korsett - es mit mehreren kleinen Schlösschen abgeschlossen. Verstehen Sie, ich kam da nicht mehr heraus. Das Ding raubte mir den Atem, auch wenn es knapp so eng geschnürt war, wie ich es schon getragen hatte, aber es behinderte mich total. Und dann kam das Verrückte! Pia sagte zu mir, ich könnte es behalten. Aber nur, wenn s i e die Schlüssel dazu behalten könnte! Und dass ich wieder nach Hause gehen und mindestens eine Woche warten sollte, bevor ich wieder zu ihr käme. Vorausgesetzt, ich wollte wiederkommen! Wenn nicht, dann würde ich bestimmt Mittel und Wege finden, das Korsett zu zerstören und loszuwerden. Aber wenn ich zurückkäme, dann wäre dies erst der Anfang...." Sie hatte sich in Rage geredet und war froh, unterbrochen zu werden.

"Der Anfang, Ingeborg? Wovon denn der Anfang?"

Ingeborg sammelte sich wieder. "Das hatte sie nicht gesagt."

"Und, sind Sie wieder hingegangen?"

"Ja. Ich bin wieder hingegangen. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Aber ich merkte bald, dass, wie Churchill es wohl gesagt hätte, dies nicht der Anfang vom Ende, sondern nur das Ende des Anfangs gewesen war. Nie hätte ich mir ausmalen können, was mich dann, in den folgenden zehn Monaten, bei Pia erwartete. Sie glauben ja gar nicht, welche - ich nenne es einmal: Hilfsmittel - sich in ihrem Fundus befanden! Da war wirklich alles da, was eine professionelle Domina glücklich gemacht hätte! Ich hatte, sobald ich ihr erst einmal den kleinen Finger gereicht hatte, keine Chance mehr..."

"Sie hätten weggehen können," warf er, sie kurz unterbrechend, ein.

Ingeborg Wimmer überlegte, ob dies eine Frage oder eine Feststellung war. "Weggehen, ja. Vielleicht. Ich weiß nicht. Sie wissen ja gar nicht, wie mein Leben von da an aussah. Aber - sie warf einen Blick auf ihr Gegenüber - ich will Ihnen gegenüber besser nicht zu sehr ins Detail gehen..., es ist...."

"Reden Sie es sich ruhig von der Seele, Ingeborg!" Herr Müller sah sie gutmütig an. "Auf mich brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen. Mir ist, nach vielen Jahren hier in der Beratungsstelle, nichts fremd. Und haben Sie keine Angst, dass es Sie irgendwie in ein schlechtes Licht setzen könnte, was auch immer Sie zu erzählen haben!"

Ingeborg atmete erleichtert auf. "Danke schön! Ich glaube fast, Sie sind der Erste, der so denkt. Wenigen Freunden habe ich mich bisher in schwachen Momenten anvertraut; fast alle haben mir danach den Rücken gekehrt." Sie seufzte laut. "Ja, weglaufen...." Ingeborg überlegte einen Moment. "Rein physisch hätte ich es wohl tun können. Ich lebte ja in keinem Kerker. Zumindest nicht immer. Aber fast immer trug ich ja meinen Kerker, mein Gefängnis sowieso mit mir herum. Das enggeschnürte, abgeschlossene Korsett. Darüber trug ich fast immer einen stählernen Keuschheitsgürtel, ebenso wie einen engen, stählernen BH. Pia mochte es, mich in diesen Dingen zu sehen. Es sollte mich vor aufdringlichen Männern schützen, sagte sie immer. Obwohl mir schon bald klar wurde, dass sie mir den Zugang, das Erleben meiner eigenen Lust verhindern wollte. Solide Schenkelbänder gehörten, genau wie ein stählerner Halsreif, fast immer zu diesem Körpergefängnis dazu. Ich merkte bald, dass ich so keine Hosen mehr tragen konnte. Aber Pia hatte genug Röcke, die ich tragen konnte, beziehungsweise tragen musste. Lange Röcke, so eng, dass man darin kaum laufen kann. Leichte Sommerröcke mit mehreren bauschigen Petticoats darunter. Und immer High heels! Zu Hause steckte sie mich auch gern in die schlimmsten Folterschuhe, die man sich denken kann. Wie eine Balletttänzerin muss man darin ständig auf Spitze stehen. Ein absoluter Horror, wenn ich daran denke. Und dann die vielen Stunden, die ich, so schon bis zur Unbeweglichkeit verschnürt, in Zwangsjacken und Monogloves verbringen musste...." Sie schüttelte den Kopf, als versuchte sie, eine Last von sich abzuschütteln.

"Sie haben sich nicht dagegen gewehrt? Nichts dagegen gesagt?" Skepsis schwang in der Stimme des Therapeuten mit.

Ingeborg lachte kurz auf. "Nichts dagegen gesagt?? Ja, wie denn, mit einem dicken, schwarzen Gummiball im Mund. So ein Ballknebel gehörte ja schon fast zur Grundausstattung!"

"Pia zwang Sie dazu?"

"Überhaupt nicht. Das ist ja das Verrückte! Morgens zum Beispiel, nach dem Frühstück. Da lag der Knebel immer neben meinem Teller. Wie so eine Art Nachtisch. Selber angelegt habe ich ihn mir! Verstehen Sie? Ich knebelte mich selber und schloss das verdammte Ding dann mit einem Schloss ab, zu dem sie den Schlüssel hatte. Danach dann ging es ans Ankleiden. Ganz nach ihrer Lust und Laune. Nein, ich weiß nicht, was Sie jetzt denken, aber so war es nicht. Ich sagte ja schon, ich konnte durchaus das Haus verlassen, wenn auch immer gut in meine stählerne Unterwäsche verschlossen. Und ich habe meine Runden in der Stadt gemacht. Vielleicht hätte ich weglaufen sollen...."

"Aber Sie konnten es nicht! Nicht wahr, Ingeborg? Sie nahmen all dies auf sich, weil es Ihnen gefiel. Weil Sie es irgendwie brauchten. Weil Sie, wie Sie sagten, das Dunkle in seiner ganzen Tiefe erforschen wollten. Habe ich recht?"

Ingeborg nickte. "Ein falscher Weg, den ich gegangen bin...."

"Nein!!" Herr Müller reagierte heftig. "Nein. Sehen Sie, das ist der übliche Denkfehler. Wir machen uns immer vor, wir stünden an einer Weggabelung und hätten hier die freie Wahl, welchen wir nehmen wollen. Aber so ist es nicht. Es gibt nur diesen einen Weg, den wir konsequenterweise nehmen m ü s s e n !"

"Hm..." Ingeborg richtete sich auf. "Das verstehe ich jetzt nicht. Wenn es so ist, dann hieße das ja, man hätte gar keine Wahl im Leben. Dann ist ja auch Ihre Beratung hier nicht viel wert...."

"Nein, Ingeborg. Sie verstehen das Bild nicht. Wir haben nicht die Wahl zwischen verschiedenen Wegen. Und meine Aufgabe als Therapeut ist es schon gar nicht, anderen neue Wege aufzuzeigen oder gar vorzuschreiben. Nein, nur wir selber haben unseren Weg zu gehen und, und dass ist die immerwährende Aufgabe, wir haben die Möglichkeit, den Weg selbst zu verändern, während wir ihn gehen. Ich kann nur dabei helfen, Steine aus dem Weg zu räumen, wie man so sagt. Erlebt man, unter einer genauen Voraussetzung, eine Sache durchaus als positiv, so kann diese, wenn die Voraussetzung sich ändert, plötzlich weniger positiv, eventuell gar negativ gesehen werden. Ich denke, bei Ihnen mag es so passiert sein. Sie hatten das Dunkle, die Unterwerfung gesucht und bei Pia genau das bekommen, was Sie haben wollten. Bis Sie feststellten, dass es nur immer dunkler wurde. Mit anderen Worten: Sie enfernten sich vom Licht. Übrigens ist all dies gar nicht so unnormal, wie Sie vielleicht denken mögen. Ich hatte hier schon viele Ratsuchende, die ganz ähnliche Lebenserfahrungen gemacht hatten."
Herr Müller machte eine kurze Pause, fuhr dann aber, jetzt weniger eindringlich, fort: "Haben Sie sich schon einmal gefragt, was genau Sie dazu brachte, dies zu tun?" Nachdenklich kratzte er sich am Kinn. "Sagen Sie, haben Sie Geschwister, Ingeborg?"

"Ja. Einen etwas älteren Bruder. Der war eigentlich ganz nett..."

"Eigentlich??"

"Nun ja, wie Brüder so sind. Aber w i r kamen gut miteinander zurecht!"

"Sie betonen das wir?"

"Ja. Die Eltern hatten Probleme mit ihm. Da gab es wohl öfter mal eine Watschn, oder so. Ich weiß nicht...."


Herr Müller nickte. Dann blickte er auf seine Uhr. "Herrje, wie die Zeit vergeht. Sowieso schon erstaunlich, dass er noch so ruhig...." Er trank einen letzten Schluck Tee und verzog das Gesicht. " Bah! Komisch, dass dieser Tee kalt immer so grässlich schmeckt. Ingeborg, ich habe noch einige Besorgungen zu machen. Möchte aber auch gern wissen, wie es Ihnen gelungen ist, wieder ins Leben zurück zu finden. Viertelstunde noch, dann muss ich los! Ja?"

Ingeborg stimmte ihm zu. "Ja, das passt gut. Ich wollte mich in einer halben Stunde mit meinem Mann treffen. Er hatte heute dienstlich in München zu tun."

"Hängt das irgendwie mit diesem 'Frechen Angebot' zusammen, dass Sie damals kurz erwähnt hatten, als Sie bei mir waren?"

Ein unerwartet herzzerreißendes Schreien zerriss die Stille. Herr Müller strahlte über das ganze Gesicht. "Hätte ich doch eben bloß nichts gesagt!! Das hat man davon!" Er lachte. "Wie heißt der Kleine denn? Und wie alt ist er?"

Die junge Mutter betrachtete besorgt das kleine Bündel, das sie lange im Arm gehalten hatte. Sie schlug die wollene Decke zurück und präsentierte den süßen Kopf eines kleinen Babys. "Er heißt Lykke. Ist gerade erst knapp zwei Monate alt!" Stolz präsentierte sie ihr Kind. "Ich befürchte, er hat wieder Hunger. Stört es Sie, wenn ich ihn etwas an die Brust nehme? Dann wird er wieder zur Ruhe kommen und ich kann weitererzählen."

"Machen Sie nur! Und auf eine Viertelstunde mehr oder weniger kommt es mir auch nicht an. Lykke sagten Sie? Was ist das für ein Name?"

"Es ist ein skandinavischer Name. Er bedeutet Glück."

"Das ist wirklich ein schöner Name! Da ist es ja gut, dass es kein Mädchen geworden ist!" Er lachte wieder.

"Dann hätten wir sie Felicitas genannt. Was ja auch Glück bedeutet!"

"Ich sehen schon, Sie waren gut vorbereitet! Aber erzählten Sie mir nun von Ihrem Glück! Wie sind Sie losgekommen?"

Ingeborg Wimmer hatte den Kleinen an die Brust gelegt; augenblicklich wurde es wieder still. "Ja, da hatte ich wohl auch Glück. Wissen Sie, ich war wirklich an einem Punkt in meinem Leben angekommen, wo es gar kein Licht mehr gab. Ich hatte zuerst Urlaub genommen, mich dann unter fadenscheinigen Voraussetzungen krank gemeldet und war drauf und dran, meine Arbeit zu verlieren. Es war, als würde ich mir selber dabei zusehen, wie ich dem Untergang entgegenlief. Manchmal ging ich abends zur Luitpoldbrücke, stand oben an der mächtigen Brüstung und schaute hinab in die schwarze Flut. Ich weiß wirklich nicht, was mich zurückgehalten hatte. Es war, als hielte mich etwas zurück, wenn ich mit dem Gedanken spielte, zu springen. Erklären kann ich es nicht.

Die Veränderung begann mit einem Brief aus Australien! Monika, Pias Tochter, die ja in Australien geheiratet hatte, schickte Ende des Jahres erste Babybilder an ihre Mutter. Es war seltsam, wie sehr diese Bilder Pia veränderten. Ich war plötzlich nicht mehr der Mittelpunkt in ihrem Leben. Eines Tages, das muss Ende Dezember oder Anfang Januar gewesen sein, überraschte sie mich damit, die Koffer gepackt zu haben, weil sie ihre Tochter in Australien besuchen wollte. Sie hatte alles geplant, ohne mich einzuweihen. Auf einen Tisch hatte sie alle meine Schlüssel gelegt. 'Passen Sie gut auf sich auf!' Das war's. Ich musste lernen, wieder ohne Pia und ohne ihre Dominanz zu leben. Meldete mich zurück zum Dienst, zog zurück in meine eigene Wohnung. Und fand schließlich den Weg zu Ihnen."

Sie legte ihr Kind an die andere Brust. "Erst während unseres Gesprächs im Januar fiel mir Brunos Freches Angebot wieder ein. Er hatte mir schlichtweg einen Heiratsantrag gemacht. Hatte mich gefragt, ob ich ihn liebte und mit ihm zusammen in Passau eine Familie gründen wollte! Wissen Sie, das war irgendwie so banal gewesen, dass ich dachte, er spinnt. Per SMS! Das geht doch nicht. Klar, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich ja monatelang nichts hatte von mir hören lassen. Aber... nun ja, er freute sich, als ich anrief, ich besuchte ihn und.... nun, den Rest können Sie sich denken."

"Das ist ja eine tolle Geschichte, Ingeborg!! Und, ist es Ihnen denn wirklich gelungen, von dem ganzen Kram wieder loszukommen?" Der aufmerksame Beobachter bemerkte die flüchtige Handbewegung in den Schritt, die Ingeborg verriet. "Oder doch nicht?"

Ingeborg Wimmer errötete leicht. "Es ist anders, als Sie denken...."

"Ich denke überhaupt nichts!"

"Bruno ist anders. Mein Mann kennt meine Schwächen. Er...., sagen wir einmal: er kooperiert. Er hilft mir, wenn ich schwach werde. Aber er dominiert mich nicht. Was auch immer an bizarren Gedanken kommt, es muss von mir kommen. Er akzeptiert mich so, wie ich bin." Sie senkte wieder ihren Blick, beschäftigte sich mit ihrem Kind. "Es ist nicht ganz einfach, das eigene Verhalten zu ändern. Aber wir kommen voran. Langsam und bedächtig. Und es geht uns gut!" Sie blickte auf, sah ihrem Gesprächspartner in die Augen. "Ja, es geht uns gut. Und Lykke hier war letzten Endes das, was alles verändert hat. Ich kann es nicht in Worte fassen...."

Herr Müller atmete hörbar aus. Er schob seinen Stuhl zurück und erhob sich langsam. "Ich glaube, ich will es einmal für Sie versuchen, Ingeborg. Es mag sein, dass Sie das Dunkel gesucht haben. Dass Sie ab und zu sogar die Sehnsucht nach dem Tode verspürten. Aber Sie haben das Leben gefunden. Ihr eigenes Leben, und das Ihres Kindes. Lykke wird in Zukunft alles für Sie verändern, dessen bin ich mir sicher! Kinder haben das unerklärliche Potential, Dinge in Bewegung zu setzen, die vorher festgefahren oder wie einbetoniert waren. Dafür ist Ihr kleiner Sohn nicht das einzige Beispiel. Genauso geschah es heute auch, schon vor langer Zeit, vor sehr langer Zeit, in einem Stall in einem fernen Land. Ein kleines Kind, dass dort, im Schein einer kleinen Öllampe, das Licht der Welt erblickte. Ein Kind, welches später von sich sagte...."

"...ich bin das Licht der Welt! Ich weiß!" fiel Ingeborg Wimmer ihm ins Wort, während sie ihr kleines Kind, das während des Stillens wieder eingeschlafen war, von der Brust nahm und vorsichtig wieder in seine Decke einwickelte. "Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben." Sie lächelte. "So, oder so ähnlich. Nicht wahr? Wissen Sie, Lykkes Geburt war wie eine Erlösung für mich, und genau diese Worte fielen mir in letzter Zeit öfter ein, wenn ich mein Kind ansah. Nur halt mit dem Nachfolgen klappt es nicht so gut."

"Sie werden vorangehen, Ingeborg. Irgendjemand muss immer vorangehen. Und Sie werden weiterhin gut auf den Wind achten, der Ihre Windmühle antreibt, ja?" Er griff nach seinem Mantel. "Haben Sie alles? Es wird Zeit, zu gehen. Ihr Mann soll nicht auf Sie warten!"


Es schneite immer noch leicht, als sie vor die Tür traten. Sie gingen noch gemeinsam ein Stück des Weges schweigend nebeneinander her. Dann trennten sich ihre Wege. Herr Müller blieb stehen und umarmte sie. "Fröhliche Weihnachten, Ingeborg. Danke, dass Sie noch einmal zu mir gekommen sind! Bleiben Sie gesund, lassen Sie Ihr Glück nicht wieder los und Gottes Segen auf all Ihren Wegen!" Er drückte noch einmal fester. Ingeborg hatte einen dicken Kloß im Hals, sie nickte, umklammerte ihr kleines Bündel fester. "Fröhliche Weihnachten, lieber 'Weihnachtsmann'. Und danke schön!!" Sie sah ihm lange nach, wie er, kleiner werdend, im Schneegestöber verschwand. Mit einem Mal spürte sie den Wind in ihrem Gesicht. Ja, dachte sie. Ich werde jetzt immer auf den Wind achten, solange ich lebe!"


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Wir sind am Ende angekommen! Ich hoffe sehr, dieser Schluss hat dem einen oder anderen Leser gefallen. Warum ich ihn so geschrieben habe? Was soll ich noch ins Detail gehen, wenn alles doch schon, Seite hoch und Seite runter, in den vorhergehenden Teilen meiner langen Geschichte geschrieben wurde. Es wäre doch nur eine Wiederholung, ein billiger Abklatsch geworden.

Jetzt wünsche ich Euch allen, wo auch immer Ihr heute Weihnachten feiert, ein schönes und besinnliches Fest. Bleibt gesund und vergesst Eure Daniela nicht!!


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maximilian24
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:25.12.18 23:33 IP: gespeichert Moderator melden


Ja liebe Daniela20!
Das hast Du wieder einmal genial gelöst. Inhaltlich ist dem wohl nichts mehr dazu zu fügen.Und somit: Besten Dank für diese besinnliche Weihnachtsgeschichte!

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maximilian24
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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:26.12.18 22:31 IP: gespeichert Moderator melden



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Versklavung einer Frau geht nur freiwillig.

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  RE: Versöhnung (Fortsetzung von "Schuld") Datum:22.10.20 17:26 IP: gespeichert Moderator melden


Einfach nur wunderschön - Danke!
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