Autor |
Eintrag |
Erfahrener


Beiträge: 25
Geschlecht: User ist offline
|
Das Model
|
Datum:26.11.25 17:49 IP: gespeichert
|
|
Lina hatte gedacht, es wäre bloß ein Requisit. Ein hübsches Stück Stoff, das man ein paar Minuten trug, um auf alten Fotos „authentisch“ auszusehen. Doch als die Kostümbildnerin die Bänder in den Händen hielt und langsam zog, spürte sie, wie aus einem Kleidungsstück etwas anderes wurde – eine Kraft, die ihren Körper formte, bis er sich neu anfühlte.
Das Schnüren kam in Etappen. Erst Druck, dann Spannung, dann dieser seltsame Moment, in dem der Atem den Takt verlor. Luft war noch da, aber flach, knapp, dosiert. Lina hörte plötzlich das eigene Herz, weil alles andere stillstand. Ihr Rücken richtete sich auf, ihre Schultern drängten sich zurück, der Bauch wich – nicht freiwillig, sondern geführt. Die Haltung war ungewohnt, streng, aber klar. Es war, als wolle das Korsett sagen: So musst du jetzt sein.
Anfangs war es unangenehm. Bewegung fühlte sich an, als müsse sie die Luft mitdenken. Beim Gehen hob sie die Füße vorsichtig, der Stoff hielt sie in Schach. Als sie sich setzte, war es, als drücke eine Hand in ihren Rücken. Über ihrem Brustkorb flimmerte Hitze, während der Atem immer kürzer wurde.
Doch zwischen den Momenten des Drucks geschah etwas Merkwürdiges. Mit der erzwungenen Ruhe kam Konzentration. Jeder Gedanke wurde genauer, jede Geste bewusster. Ihre Stimme klang weicher, leiser. Sie merkte, wie sie begann, das Korsett nicht mehr nur zu ertragen, sondern zu bewohnen. Der Zwang darin verwandelte sich langsam in eine Form von Kontrolle – oder vielleicht Illusion von Kontrolle.
Die Stunden zogen vorbei. Der Fotograf kam zu spät, das Licht schwand, andere baten sie um Geduld. Immer wieder wurden die Schnüre nachgezogen, jedes Mal etwas fester. Der Moment, in dem sie ausatmete, bevor der Stoff sich enger legte, war der letzte, in dem sie frei atmete. Danach wurde das Korsett Teil ihres Körpers.
Am Abend kündigte die Kuratorin an, sie sollten am nächsten Morgen weiterarbeiten. Sie lächelte freundlich, fast beiläufig: „Könnten Sie das Korsett gleich anbehalten? Dann sparen wir Zeit.“
Lina stand etwas verloren da. Die Luft, die sie holen wollte, blieb irgendwo im Hals stecken. Ein Teil von ihr wollte protestieren – der andere fühlte, wie schwer es war, überhaupt wieder loszulassen. Der Druck war quälend, aber stabilisierend. Ihre Haltung war künstlich, aber würdevoll. Vielleicht war das Korsett längst mehr als Kleidung; vielleicht hatte es einen Ort in ihr gefunden, der diese Art von Halt selbst gesucht hatte.
Sie nickte schließlich, mit einem kurzen, fast lautlosen Atemzug.
„Gut. Ich behalte es.“
Draußen zogen die Straßenlichter an ihr vorbei, weich, still. Sie ging etwas langsamer als sonst – nicht nur wegen der Enge, sondern weil ein Teil von ihr spüren wollte, wie weit sie diese neue Haltung tragen konnte.
Die Nacht war kurz, unruhig, aber seltsam lärmfrei gewesen. Lina lag auf dem Rücken, die Hände flach auf dem Stoff, und spürte, wie das Korsett sie selbst im Schlaf daran erinnerte, wo sie begann und wo sie endete. Jede Bewegung war begrenzt, jeder Atemzug klein. Irgendwann hatte sie aufgehört, dagegen anzukämpfen, und stattdessen begonnen, in diesem engen Rhythmus zu atmen – vorsichtig, gleichmäßig, fast zärtlich.
Als sie am Morgen aufstand, war der erste Schritt zögerlich. Ihr Rücken war gespannt, die Taille warm von der Nacht, und das Korsett fühlte sich nicht mehr fremd an, sondern wie ein festgewordenes Versprechen. Unter dem Stoff pochte ihr Herz, ruhig, aber aufmerksam.
Der Gang zur Bahn war ein Versuch: bewegen, ohne dass der Stoff nachgibt. Sie konnte sich kaum bücken, nicht richtig lachen, und doch wirkte jede Bewegung fließend, geordneter als sonst. Passanten sahen sie an – nicht, weil sie overdressed war, sondern weil sie sich anders hielt: gerade, leicht distanziert, fast unnahbar.
Im Museum roch es noch nach Staub und kaltem Kaffee. Die Kostümbildnerin lächelte überrascht, als Lina in voller Garderobe erschien. „Sie sehen… perfekt geformt aus. Sie haben’s wirklich anbehalten?“
Lina nickte und versuchte zu lächeln. Der Atem blieb flach, aber das Lächeln gelang. Dann griff die Frau wieder zu den Schnüren – prüfend, prüfend, und schließlich, ganz selbstverständlich, zog sie nach. Der Druck kehrte zurück, stärker als am Vortag, fast schneidend. Für einen Moment wurde ihr schwindlig, und sie musste sich an einem Tisch abstützen.
Doch dann schob sich dieses merkwürdige Gefühl dazwischen – ein ruhiges, inneres Einrasten. Es war, als ordne sich ihr Körper selbst. Als gäbe das Korsett ihr eine Form, die sie ohne es nicht halten konnte. Ein Teil von ihr wusste, dass es zu eng war, zu viel verlangte. Aber ein anderer Teil wollte genau das: die Grenze spüren, bis sie vertraut wurde.
Die Kuratorin kam hinzu, zufrieden. „Wunderbar. Wir arbeiten heute länger.“
Lina nickte kaum merklich. Sie spürte, wie der Atem ihr flacher wurde, wie die Haltung fester stand, und während die Stimmen um sie herum im Raum verhallten, dachte sie, dass vielleicht nicht sie das Korsett trug – sondern das Korsett sie.
|
|
|
|
|
|
|
|