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  Agonie (Fortsetzung von "Frust")
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Daniela 20
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:20.01.13 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


20. Januar. Endlich, der Dunkelwinter ist vorbei, jetzt kommt der hellere Teil, der uns ins Frühjahr hinüberführt. Was aber noch einige Zeit dauern wird. Seit einer Woche hat es hier Schnee und Frost, da ist es gut, dass wir noch eine Menge spannende Handlung vor uns haben!
Spannend wird es heute, womit ich nicht die relativ unwichtige Niedersachenwahlprognose um 18 Uhr meine. Nein, wir alle wissen: Sonntags um 22 Uhr, das ist der spannendste Moment des Wochenendes! Jetzt schon im dritten Winter in Folge!
Damit liebe Grüße an alle von Daniela!

---

Der Deckel war angerostet. Er hatte es mehrere Male versucht, die Dose zu öffnen, jetzt aber eingesehen, dass er etwas Werkzeug brauchte. Er wusste, wo alles war und hatte bald einen Hammer und einen Schraubenzieher gefunden. In der Küche legte er die Dose auf den Fußboden, setze alsdann mit akrobatischer Verrenkung einen Fuß auf die Dose und begann, den Deckel mit dem Schraubenzieher zu bearbeiten. Vorsichtig ließ er ihn unter den Deckelrand greifen, immer wieder rutschte er ab, alles war echt idiotisch und er begann sich bereits zu fragen, was der ganze Blödsinn hier solle, als der Deckel endlich einen knappen Zentimeter nach oben rutschte.
Immerhinque! Jetzt drehte er die Dose ein bisschen, fand eine neue Stelle und schaffte es diesmal auf Anhieb, den Deckel wieder ein Stück höher zu befördern. Er wiederholte den mühseligen Vorgang einige Male, bis der Deckel endlich in hohem Bogen durch die halbe Küche flog und die Dose ihren Inhalt preisgab.

Es waren fünf Briefumschläge, alle mit sauberer Handschrift an seine Oma adressiert. Briefumschläge ohne Absender. Liebesbriefe??

Klaus hob die Dose auf, setzte sich an den Küchentisch und überlegte. Hatte er überhaupt irgendein Recht, so hinter seiner Großmutter hinterherzuspionieren? Wohl eher nicht. Aber die Neugier fragt nicht nach Recht oder Unrecht. Es schien ihm auch unwahrscheinlich, dass es alte Liebesbriefe waren. Hätte ihn dann nicht eine Hitler-Visage von den Briefmarken anstarren müssen? Nun ja, so alt war seine Oma nun auch wieder nicht. Eher wohl Briefmarken mit dem Konterfei von ´Papa´ Heuß. Diese hier aber schienen noch recht neu zu sein. Wie er feststellte, war das Porto sowohl in D-Mark als auch in Euro angegeben. Nanu?
Der gut lesbare Poststempel gab leider überhaupt nichts her. Irgendein mehr oder weniger anonymes Postzentrum, irgendwo in Deutschland. Schade, dass die Zeiten vorbei waren, als jede Stadt noch ihren eigenen Stempel hatte. Jegliche Individualität drohte ausgelöscht zu werden, alles im Zeichen von Effizienz und Sparsamkeit... Scheiße, dachte er.

Er nahm ein Glas Leitungswasser und sortierte dann die Briefe nach dem Datum des Poststempels. Der erste war Anfang Januar geschrieben worden, dann folgte einer im Februar und ein weiterer im März, dann, Anfang April, gab es die letzten beiden mit nur kurzem Zwischenraum.
Waren es diese Briefe, die für seine Großmutter so wichtig gewesen waren, dass sie zweimal Kopf und Kragen riskierte, nur um ihrer habhaft zu werden? Und wenn ja, wenn sie wirklich so wichtig waren, warum hatte sie ihn dann nicht einfach gebeten, in den Keller zu gehen und diese Dose für sie heraufzuholen? Weil er dann vielleicht Fragen gestellt hätte?
Und wenn ja, überlegte er weiter, während er einen großen Schluck zu sich nahm, was hätte daran so unangenehm sein können? Für seine Großmutter? Oder vielleicht gar für ihn. Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Er musste sie lesen. Seine Hand zitterte leicht, als er den ersten Brief dem Umschlag entnahm. Sein Herz schlug schneller, Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn.

%%%


Monika hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen. Unerträgliche Sommerschwüle lag in der Luft. Sie hatte sich ausgezogen, hatte das ausgezogen, was auszuziehen ihr möglich war, und lag nun nackt auf ihrem Bett. Ihre Hand umspielte ihre Scham, ihr Atem ging schneller. Hier, hier war noch weiche, warme Haut, und hier, nur ein paar Millimeter weiter, hier war harter, kalter Stahl. Zwischen Haut und Stahl gab es eine runde Kante aus hautfreundlichem Neopren, eine Kante, die die Haut davor schützte, aufgerieben zu werden. Der Stahl aber beschützte sie vor anderen Dingen, vor Penissen, insbesondere männlichen, aus Kontrolle geratenen, und vor Fingern, insbesondere weiblichen, die in ihren Schoß eindringen wollten, die wieder und immer wieder auf der Suche nach aufwallender Hitze und entspannender Erlösung waren, die aber immer wieder an jener stählernen Barriere aufgeben mussten. Es war zum Verzweifeln.

Unruhig wälzte sie sich hin und her. Hatte sie das Taillenband zu eng bestellt? Sie fächelte sich mit einer Postkarte Luft zu, einer Postkarte, die Daniela ihr aus irgendeinem verschlafenen Nest an der Ostküste zugeschickt hatte. Zwei Mädchen in historischen Kleidern, Kleider mit enggeschnürten Taillen und ausladend weiten Reifröcken. Sie stutze. Erst jetzt betrachtete sie die beiden Mädchen genauer. Daniela? Zusammen mit ihrer Freundin Bettina? Bettina, die gequält lächelte? Wie das nun?
Monika fand eine kräftige Lupe in ihrem Schreibtisch, setzte sich zurück ins Bett und richtete den Schein ihrer Nachttischlampe auf das Foto. Daniela!! Einen Moment suchte sie nach sichtbaren Zeichen für jenes Loch, durch das man seinen Kopf stecken musste, um dann, mit dem eigenen Gesicht inmitten eines fiktiven Bildes, fotografiert zu werden, aber da gab es kein Loch, keine Fiktion. Sie betrachtete Danielas Hände. Die linke Hand hatte sie in die linke Hüfte gestemmt, ihre Finger gingen fast bis zur Mitte ihres steifen Mieders, sie musste sehr eng geschnürt sein. Ihre rechte Hand hatte das Mädchen um einen der oberen Reifen ihres Reifrocks gelegt, hielt diesen leicht angehoben. Den ausgestreckten Zeigefinger hatte sie fast parallel zu jener spitz nach unten zulaufenden Kante ihres Mieders gelegt, welches für die Kleider der damaligen Zeit so typisch war.
Sie verstand, worauf der Finger deutete, ohne dass gleich allen diese obszöne Botschaft deutlich wurde. Und sie verstand auch den symbolischen Sinn des umklammerten Reifens, der zusammen mit weiteren, nach unten immer breiter werdenden, ihren Rock stützte. Dieses Kleid war in sich eine Bastion, eine Festung, hier waren es die Reifen des weiten Rocks, der den Zugang zu jener Stelle vereitelte, auf die der Finger des Mädchens deutete.

Sie schloss die Augen. Bild und Lupe entglitten ihren Händen. Sie spürte heißes Feuer in sich emporlodern. Daniela! Oh, wie sie sie vermisste! Diese wunderschöne Nacht, die sie im Kölner Studentenwohnheim miteinander verbracht hatten! Würde es so etwas jemals wieder geben?
Sie verkrampfte. Ihre Hand lag auf ihrem Taillenreifen. Gesichert wie Fort Knox. Mit zwei Schlössern. Ihre Mutter hatte den einen Schlüssel. Claudia den anderen. Sie war sich sicher, dass keine von beiden sie aufschließen und dann gehen lassen würde, unverschlossen, unbeaufsichtigt. Einzig diese Absprache mit Agnes war notgedrungen von beiden akzeptiert worden, und Agnes bestand auf dieser Enthaltsamkeit.
Früher war es anders gewesen, früher hatte sie zu ihrer Mutter gehen können, die den alleinigen Schlüssel besaß, früher hatte sie etwas herumjammern müssen, um ihre Mutter zu erweichen, früher war sie immer noch irgendwie dorthin gekommen, wo sie hinwollte. Früher aber gab es auch dieses andere, an das sie nicht so gerne dachte, dieses andere, das vor vielen Jahren einmal als ein Burgfräulein-Spiel begonnen hatte, und das vor einigen Monaten mit diesem gläsernen Stab geendet hatte.

Daniela! Monika spürte, sie war eindeutig zu weit gegangen. Sie hatte die Kontrolle über sich verloren, hatte es ebenfalls als ein lustiges Spiel hingestellt, als im letzten Herbst alles angefangen hatte. Sie erinnerte sich an jenen Moment, als sie Daniela das erste Mal gesehen hatte, als dieser der Bademantel entglitten war und sie plötzlich in diesem weißen Korselett vor ihr stand. ´Bleib, wie du bist!´ hatte sie ihr ins Ohr geflüstert, und Daniela hatte das enge Kleidungsstück anbehalten, hatte sich vom ersten Moment an ihr unterworfen. Warum? Sie wusste es nicht. Sie hatte keine Antwort darauf, warum Menschen so sind, wie sie sind. Warum manche ein glückliches Leben haben, zufrieden mit sich selbst, und andere von überzogener Selbstdarstellung zerfressen werden, warum manche sich glücklich eingliedern können, andere immer nach Macht streben, nach Dominanz.

Selbstanalyse? Weit war sie damit noch nicht gekommen. War sie nicht selber jemand, der es genoss, Macht über andere zu haben? Aber warum? Agnes hatte einiges bei ihr in Gang gesetzt, hatte sie fast mit der Nase darauf gestoßen, aber noch immer hatte sich ihre Situation nicht wesentlich verbessert. Erneut steckte sie in einem Keuschheitsgürtel, aber sie erinnerte sich, dass Agnes bei ihrem Besuch im Krankenhaus gemeint hatte, dass Keuschheit widernatürlich sei. Statt dessen hatte sie von dieser Enthaltsamkeit gesprochen, als sei dies das Schlüsselwort. Sie war doch keine Nonne!! Sie wollte Sex, und nicht zu wenig!

Ihre Hände krampften ein weiteres Mal um Taillen- und Schrittreifen ihres neuen Keuschheitsgürtels. Sie zog und zerrte, drückte bis sie glaubte, all ihre Kraft verloren zu haben. Sie hatte sich selbst in eine unhaltbare Situation manövriert. Sie hatte eine Absprache mit drei sehr verschiedenen Menschen getroffen, ohne festzulegen, wie lange diese gelten sollte, beziehungsweise, wie sich diese wieder aufheben ließ. Eine Absprache für die Ewigkeit, dachte sie, während sie weinend unter ihrer Bettdecke Zuflucht suchte.

%%%


Oktober VII.

Kriminalkommissarin Wimmer zog das Bild aus dem Drucker, das ihr gerade von der Pathologie übermittelt worden war. Man hatte Hautreste unter den Fingernägeln des Opfers gefunden und somit die Hoffnung gehabt, man könne eventuell eine DNA-Analyse machen und somit dem Täter einen Schritt näherkommen. Auch wenn dieser Schritt normalerweise in den Dschungel der Großstadt führte, denn hier konnte man nicht, wie in einem Dorf, die ganze Bevölkerung zum Speicheltest vorladen.
Jetzt aber hatte sich auch diese Hoffnung zerschlagen.

Sie ging durch die Tür ins Nebenzimmer, wo Hauptkommissar Rick gerade mit der Durchsicht einiger Papiere beschäftigt war. "Chef?"

"Was gibt´s, Wimmer? Haben sie den Täter?"

"Leider nein. Neues von der post mortem."

"So? Zeigen Sie mal her!" Rick ließ sich die Mappe geben und studierte das ausgedruckte Foto. "Hm, Oberschenkel, zwei lange Kratzer. Und was sagt uns das?" Er blickte sie herausfordernd an.

"Sie hat sich selber da gekratzt. Die Hautpartikel, die unter den Fingernägeln gefunden wurden, stammen von ihr selbst."

"Hm." Rick verzog das Gesicht. So etwas mochte er gar nicht. Eine Spur weniger, ein Rätsel mehr. "Blöde. Haben Sie eine Idee, Wimmer?"

Seine Mitarbeiterin überlegte einen Moment. Kurz huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, dann aber schüttelte sie den Kopf. "Nicht direkt."

"Indirekt aber schon?" Rick kannte seine Mitarbeiter. Er öffnete die unterste Schublade seines Schreibtisches, nahm eine kleine Schale hervor und stellte diese vor sich auf den Tisch. "Greifen Sie zu! Etwas Schokolade hilft immer!"

Ingeborg Wimmer lächelte ihn an. Ihr Chef verstand sich auf Frauen, das musste man ihm lassen. "Sie wollte uns ein Zeichen geben, Chef!", sagte sie, während sie mehrere der kleinen, bunten Linsen in sich hineinstopfte.

"Ein Zeichen, so so", wiederholte ihr Chef, ohne einen leicht sarkastischen Unterton zu verbergen. "Und was für ein Zeichen?"

"Keine Ahnung, Chef. Aber vermutlich eines, das Rückschlüsse auf ihren Mörder zulässt."

´Der Rick´ kratzte sich am unrasierten Kinn. "Wenn Sie ´Rückschlüsse´ sagen, dann höre ich da heraus, dass sie möglicherweise ihren Mörder erkannt hat. Warum aber hat sie dann nicht wenigstens einen richtigen Buchstaben hinterlassen? Aus diesen beiden Kratzern wird doch kein Mensch schlau!"

Wimmer nahm noch einige der süßen Dinger. "Vielleicht sehen wir das Entscheidende nicht. Also, warum hat sie nicht einen, sondern zwei lange, parallele Kratzer hinterlassen?"

"Na, ein einziger Kratzer hätte ja wohl überhaupt nichts ausgesagt, Wimmer."

"Genau. Es muss also etwas bedeuten, dass es zwei Kratzer sind! Vielleicht sind es zwei große I´s?"

"I. I. als Initialen? Quatsch, kein Mensch heißt so!" Jetzt brauchte er selber einige der bunten Schokolinsen. Man war in eine kreative Phase eingetreten.

"Und wenn es doch ein einziger Buchstabe sein sollte? Ein großes H vielleicht? Nur dass sie halt nicht mehr dazu gekommen ist, den Querbalken zu schreiben... äh, kratzen."

"Spekulationen bringen uns nicht weiter, Wimmer. Nein, ich glaube nicht, dass es ein Buchstabe sein sollte, auch kein doppeltes I."

Ein lautes Klopfen unterbrach alle Kreativität. Eine Mitarbeiterin des Archivs entschuldigte sich für die Störung, legte eine angeforderte Aktenmappe auf den Schreibtisch und wollte sich gerade wieder verdrücken, als Rick sie zurückpfiff. "Moment bitte, warten Sie mal. Sagen Sie, können Sie etwas mit diesen beiden Kratzern anfangen? Wir suchen einen Mörder..."
Die junge Frau nahm das Foto in die Hand und studierte es einen Augenblick sorgfältig. "Al-Kaida", sagte sie schließlich zum Erstaunen und grenzenloser Belustigung der beiden Beamten.

"Al-Kaida?? Sagenhaft, das muss ich Ihnen lassen! Wie sind Sie darauf gekommen?" Der Rick sah sie mit schiefem Seitenblick an.

Die Sekretärin wünschte sich weit weg. Was sollte das hier? Verarschen konnte sie sich auch allein. "Nun ja, diese langen und offensichtlich parallel gezogenen Schrammen erinnern mich ein wenig an das frühere Logo der Twin-Towers in New York... Sie wissen schon: 11. September." Sie strahlte den Kommissar an, zuckte dann mit den Schultern. "Aber wenn Sie eine bessere Erklärung haben - bitte, mir tut das nichts."Sprachs und verschwand wieder auf den Gang der ´Löwengrube´. Beinahe wäre sie auch gefressen worden.

"Netter Versuch", meldete Ingeborg sich zu Wort.

"Ja, da können wir uns ja gleich beim FBI melden", brummelte ihr Chef.

"CIA, Chef. Das FBI ist drüben nur für das Inland zuständig.

Rick reagierte nicht. Er hatte die Wand angestarrt, hatte gesehen, wie diese langsam nachgab, wie sich massiver Beton in tödlichen Staub verwandelte, wie Menschen durch diesen Staub hindurch auf den Erdboden knallten, wie ihre Körper aufplatzen und nie zu löschende Bilder im kollektiven Bewusstsein hinterließen. Waren wirklich schon zehn Jahre vergangen? Und wann hatte der letzte Mensch als Folge dieser Wahnsinnstat sein Leben verloren? Ein deutscher Soldat in Afghanistan, vor wenigen Tagen erst. Nein, er hatte nie etwas gegen den Islam gehabt. Aber seit dem 11. September vor mittlerweile elf Jahren wusste er, dass diese Religion ihren Anhängern etwas Falsches versprach, wenn sie behauptete, sogenannte Märtyrer kämen nach ihren Bluttaten direkt ins Paradies. Nein, so etwas konnte es nicht geben. Es war schlichtweg pervers, so etwas zu glauben.

Müde strich er sich mit der Hand übers Gesicht. "Wir brauchen Konkretes, Wimmer. Sehen Sie mal zu, dass Sie mehr über diese Geile-Dirndl-Sause erfahren. Irgendjemand muss das doch organisiert haben. Haben wir ein ordentliches Foto von der Toten? Wenn nicht, dann fahren Sie in die Pathologie und lassen Sie sie dort ein wenig herrichten; die wissen dort, wie man das macht. Vielleicht kann Ihnen auch die Ärztin noch sagen, wo dieses Sause stattfindet. Noch Fragen?"

"Gaudi, Chef. Nicht Sause!"

"Na, nu sausen Sie mal ab! Ich will Ergebnisse. Wenigstens muss die Leiche schnellstens identifiziert werden. Ich werde sofort mal bei der Vermisstenstelle nachfragen, ob da schon was vorliegt. So, und jetzt ab dafür!"





Juli IV.

Klaus hatte die vier Briefumschläge vor sich auf den Küchentisch gelegt. Die Frage, ob dies ein Eingriff in die Privatspäre einer anderen Person war, stellte sich im Augenblick nicht mehr. Er entnahm dem im Januar geschriebenen Umschlag den ersten Brief. Er war nicht besonders lang, die Schrift war regelmäßig und noch wenig ausgeprägt, zeigte höchstens dass sich jemand Mühe beim Schreiben gemacht hatte.

Ettal, den 10. Januar

Liebe Frau Meisner! Jetzt sind wir wieder hier zurück und unser Alltag hat längst wieder begonnen. Seit einigen Tage liegt dicker Schnee, wann immer wir können sind Nick und ich draußen zum Skilaufen. Liegt bei Ihnen auch Schnee?
Gern denken wir beide an die schönen Tage zurück und ich möchte Ihnen von Herzen danken, dass ich das Weihnachtsfest mit Ihnen und Nick verbringen durfte. Hier wäre es doch längst nicht so schön gewesen!
Nick hatte mir schon seit dem Sommer immer wieder von Ihnen erzählt, oft habe ich ihn beneidet, wenn er am Wochenende zu Ihnen nach München fahren konnte. Ich selber hatte leider niemanden hier in der Nähe, den ich hätte besuchen können.
Ettal gefällt uns beiden sehr gut. Alle sind hier sehr nett zu uns und wir glauben, dass wir hier bestimmt einige gute Jahre verbringen können.
Jetzt höre ich, dass zum Abendessen gerufen wird. Da will ich mich lieber beeilen, denn wir sollen pünktlich sein.
Noch einmal vielen Dank für die schöne Zeit!!
liebe Grüße von Thomas


Thomas!? Klaus traute seinen Augen nicht. Welcher Thomas? Doch nicht etwa der ´ungläubige Thomas´? Er merkte, wie sich leichte Übelkeit bei ihm bemerkbar machte. Er schloss die Augen, sah einen eher zierlichen, zehnjährigen Jungen vor sich, der mit feuchten Augen ein Weihnachtsgeschenk auspackte.
Ohne Pause nahm er sich den zweiten Brief vor, den vom Februar.

Ettal, 23. Februar

Liebe Frau Meisner! Das war wirklich eine tolle Überraschung, dass ich Sie wieder besuchen durfte!! Vielen vielen Dank!! Auch Nick war wohl froh, für einige Tage mal von der Schule wegzukommen. Schade nur, dass das Wetter in München längst nicht so schön war, wie hier. Aber wir haben beide die Ruhe und den Frieden in Ihrem Haus sehr genossen.
Hier ist es in den letzten Wochen doch etwas stressiger geworden. Wir müssen jetzt viel mehr Schularbeiten machen, als vorher. Nick kommt wohl nicht mehr so gut mit wie noch vor Weihnachten. Aber er hat jetzt einen neuen Tutor bekommen, Pater Ruprecht, die üben jetzt immer noch am Abend, da wird das wohl bald wieder besser. Nick mag ihn ganz gern, sagt, dass er nicht so steif wie die anderen Lehrer ist. Ich kenne ihn nur von einigen Nachtwachen, es muss ja immer ein Lehrer während der Nacht Aufsicht haben, ist wohl Gesetz oder so.


Es folgten einige nette, aber belanglose Zeilen über den Winter und über einen neuen Lehrer, dann fuhr der Schreiber fort: Gern will ich auf Ihren Wunsch eingehen und mich, so gut es geht, um Nick kümmern. Ich schreibe Ihnen dann auch mal, wie es ihm geht und ob er schulische Fortschritte macht. Kein Problem für mich. Für Nick tue ich doch alles... und für seine liebe Oma!
liebe Grüße aus Ettal sendet Ihnen Thomas


Er begann zu zittern. Das hier war nicht gut. Sein Herz schlug schneller, schlug ihm bis in den Hals hinauf. Die Kehle war trocken, ausgedörrt. Pater Ruprecht! Seine Hand ballte sich zu einer Faust.
Klaus schob die Briefe von sich. Er stand auf. Sollte er die letzten drei auch noch lesen? Vielleicht wäre es gut, wenn jemand bei ihm wäre. Aber wer? Gab es irgendjemand, der ihn würde wieder aufbauen können, wenn er zusammenbrach? Einen Arzt, einen Sanitäter? Nein, gab es nicht. Wohl aber eine Sanitäterin! Daheim, in seiner kleinen Dachwohnung, hatte er ihre Nummer. Aufgeschrieben für den Fall der Fälle, ohne zu wissen, was für ein Fall das sein sollte. Jetzt wusste er es.

Klaus packte die Briefe wieder in die Dose, verschloss sie, sorgfältig darauf achtend, dass der angerostete Deckel nicht wieder verklemmte, dann machte er sich auf den Weg.
Er hatte Glück. Er erreichte die Frau schon beim ersten Versuch, und sie hatte frei. Sie versprach, sofort zu ihm zu kommen.



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Toree
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:20.01.13 22:46 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo Daniela,

erst einmal herzlichen Dank für den neuen Teil.

Aber ich bin am Grübeln!!!

Hatte ich zuerst gedacht, Klaus währe der Tote von der Isar, war der zweite Gedanke an Daniela (was ja immer noch sein kann). Aber was mich nun verwundert, die zwei Kratzer!
Wie passen die in die Geschichte

Hmm, eine Person mit einem ´H´ im Namen.....neee, nicht das ich wüste.

Al- Kaida, also A K
Die einzige Person mit einem A im Namen ist Agnes.
Einen Nachnamen für Agnes wüßte ich jetzt nicht.
Muss mal zurück schauen und neu lesen.

Ich glaube Klaus wird sich noch auf einiges gefasst machen müssen.

Man wieder sieben Tage warten bis zum nächsten Teil!!!



LG

Toree
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:21.01.13 13:15 IP: gespeichert Moderator melden


AK wäre dann wohl ich. Ich bin es aber nicht gewesen, schwöre

Mal wieder ein super Teil dieser Geschichte. Danke Daniela.
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:21.01.13 15:15 IP: gespeichert Moderator melden



Hallo Daniela,
verfolge regelmäßig, wie noch mehr, deine schöne Story. Durch den
¨kriminellen Teil¨ blicke ich noch nicht durch, Daniela kann es nicht sein
denn die ist zur Zeit in den Staaten, hat ja Monika sogar eine Fotokarte
von sich im Dirndl geschickt. So wie ich deine Storys bis jetzt kenne wirst du
uns nicht dumm sterben lassen.
Dank Dir für deinen Fleiß. Ich lese deine Storys immer wieder mit Genuss.

Mfg der alte Leser Horst


Gruß der alte Leser Horst
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maximilian24
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:22.01.13 22:24 IP: gespeichert Moderator melden


Dass die alte Frau Meisner eine "Leiche im Keller" hat, war schon klar. Dass dabei aber ein Kousin von Klaus heraus kommt, ist doch eine Überraschung. Obwohl der Bezug zu Ettal und zum Pastor (wir würden in München dabei wohl einen Pfarrer vermuten) lässt noch tiefer blicken. Ich bin schon gespannt, welche Hilfe Klaus bei der Aufarbeitung der Briefe erhält.
Ja, und die arme Monika! Die ist ja jetzt förmlich in eine Sackgasse gefahren. Nachdem sie mir immer schon (manchmal trotz ihrer Sturheit und Strenge) irgendwie sympatisch war, wünsche ich ihr, dass sie da bald wieder heraus findet.
Und Dir, liebe Daniela20, wieder einmal ein Kompliment, insbesondere dafür wie Du es schaffst mich (uns?) in sadistischer Weise auf die Folter zu spannen.
Dein Maximilian
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zur Sicherheit besser verschlossen, zur Zeit im Neosteel TV-Masterpiece...

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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:23.01.13 00:19 IP: gespeichert Moderator melden


Hi Daniela,

erst einmal wieder einmal herzlichen Dank für einen weiteren, atemberaubenden Teil Deiner Geschichte. Jetzt kommt also ein Thomas ins Spiel, und Klaus scheint nahe dem Zusammenbruch zu sein deshalb. Aber mag es am Ende nur deshalb sein, weshalb er seine Sanitäterin anruft, und sie so schnell zusagt? Aber was mag wohl dann Oma Meisner sagen, wenn sie mitkriegt, daß ihre Geheimnisse von Klaus enthüllt wurden? Und das sogar noch vor Zeugen?

Keuschheit und Enthaltsamkeit - da mögen wohl wirklich Welten dazwischen liegen. Keuschheit als erzwungen, Enthaltsamkeit als selbst gewählt, um dann den Sex mit jemandem zu genießen, der oder die es eben wert ist, weil echte Liebe zwischen den beiden im Spiel ist. Auf so einen Menschen zu warten, mag in der Tat die Enthaltsamkeit wert sein. Und der Sex mag dadurch viel bedeutsamer werden. Aber das Warten darauf, ohne den Termin zu kennen, wann man wirklich den passenden und liebenden Menschen kennenlernt, kann wirklich zur unnatürlichen Qual werden - wenn es denn überhaupt irgendwann dazu kommt. Ich denke schon, daß die Liebe für´s Leben ein attraktiver Gedanke ist - aber vielleicht bin ich da auch zu romantisch und zu wenig realistisch. Ich habe schon zu viele Fehler begangen und zu lange gesucht - und bin dann am Ende bei Keuschheit im Selbstverschluß gelandet... Aber das mag ja gewisse Parallelen zu Monika haben, die sich inzwischen ja auch mehr als verirrt hat mit ihrer Situation.

Ja, die Geidi-Gaudi wird sicher ein guter Start sein, um die Identität der Verblichenen herauszufinden. Was immer dann auch die Kratzer zu bedeuten haben - das wird sich dann wohl später herausstellen.

Ich bin auf die nächsten Teile Deiner Geschichte absolut gespannt!

Keusche Grüße
Keuschling

PS.: Ich zweifle übrigens sehr an der offiziellen Darstellung der Ereignisse des 9 - 11, aber das ist eine andere Geschichte, die hier nicht hingehört, zumal sie ja mit Deiner Geschichte nicht viel zu tun hat.

[Edit]: Dieser Eintrag wurde zuletzt von Keuschling am 23.01.13 um 00:24 geändert
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:23.01.13 09:25 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo Daniela,

ausnahmsweise lag ich ja mal mit dem doppelverschluß richtig. Ich bin echt gespannt, was es denn mit Klaus/Babaras Oma auf sich hat. Bisher sind die Briefe je eher harmlos. Ich hatte eher erwartet, das "Oma" auch ein dunkel-lustvolles Keuschheitsgürtel - Geheimnis hatte und diese die Spuren beseitigen wollte. Was kommt statt dessen? Hatte Sie "Thomas" entsprechend umgestaltet wie Klaus zu Babara?

Bin echt gespannt wie man es wohl auf einer streckbank ist.

kochy25
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:23.01.13 10:45 IP: gespeichert Moderator melden


Hallo Daniela,
zu beginn meinen Dank für die Info. Nun kann ich nur noch warten, daß
schöne an deinen Posting ist der Termin und die präzise Zeit. Nun habe ich die
Befürchtung unser wunderbares Forum könnte mal wieder an dieser Stelle klemmen
Na wird schon klappen.
Nochmals danke und ein fröhliches weiter so.

M f G der alte Leser Horst.


Gruß der alte Leser Horst
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Daniela 20
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:27.01.13 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


Endlich wieder Sonntag!! All meinen Lesern wünsche ich für heute gute Spannung! Zum besseren Verständnis will ich noch einmal darauf hinweisen, dass die Handlung auf verschiedenen Zeitebenen stattfindet, bewegt sich die Haupthandlung momentan noch im Sommer, so läuft die Ermittlung der Kriminalbeamten bereits Ende Oktober / Anfang November. Und ich muss wohl nicht betonen, dass die Lektüre der vorangegangenen Erzählungen "Herbstferien " und "Frust" zum Verständnis dieser Geschichte unerlässlich ist. Eure Dani!

---


Annegret Meisner faltete säuberlich ihre wenigen Sachen, die sie hier im Krankenhaus bei sich hatte, und legte sie in ihr kleines Köfferchen. Endlich! Sie war froh, dass sie endlich wieder gesund war. Nein, alt werden war wirklich nichts für Feiglinge. Was zählte all die Lebenserfahrung, die man in langen Jahren angesammelt hatte, wenn man im hohen Alter unter ganz anderen Voraussetzungen mit dem Leben fertig werden musste? Im Grunde genommen wusste jeder Säugling besser, wie es war, wenn man nicht so konnte, wie man wollte, wenn man nicht die nötigen Kräfte aufbieten konnte, wenn Körper und Hirn schwach waren.
Wie hatte sie nur so blöde sein können, diese Briefe so lange aufzuheben? Hatte sie nicht immer wieder daran gedacht, dass es besser sei, sie endlich zu verbrennen, zu vernichten, aber jedes Mal hatte sie nur denken können, es sei auch noch Zeit bis morgen, und wenn sie es dann nicht täte, dann halt bis übermorgen. Ja, nächste Woche ganz bestimmt, da würde sie sie in kleine Fetzen reißen und ins Klo schmeißen und an der Kette ziehen.
Aber das hatte sie jetzt gelernt, dass es für alte Menschen kein morgen gibt, dass jederzeit der Moment des letzten Atemzuges kommen konnte, dass man bis dahin hinter sich aufgeräumt haben solle, in seinem schmutzigen Leben. Obwohl man doch immer nur versucht hatte, es sauber zu halten.

Sie würde den Jungen wegschicken. Würde ihm sagen, er solle sich einen schönen Abend machen, seine Freundin ins Kino einladen, auf ihre Kosten. Gingen die jungen Leute überhaupt noch ins Kino?? Sie wusste es nicht richtig. Aber sie erinnerte sich daran, davon gelesen zu haben, dass jetzt eine neue, dreidimensionale Wunderwelt auf die Kinobesucher wartete, etwas, das sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Sie erinnerte sich an den ersten Farbfilm im Kino, das war schön gewesen. ´Münchhausen´ mit Hans Albers! Oh, war das eine bunte Welt! Ganz anders als das staubige Grau, das sich bereits auf viele deutsche Städte gelegt hatte. Zerstört und vernichtet durch alliierte Bomberverbände! Aber nicht Passau. Passau hatte noch Glück gehabt. Dort war sie mit der Mutter hingefahren, dem tristen Alltag zu entfliehen, zu sehen, wie der Mensch sich am eigenen Haarzopf aus dem Sumpf herausziehen konnte. Einem Sumpf, der täglich näher kam, wenn der Ortsbauernführer zu den Nachbarn ging, um mit stolz geschwellter Brust zu verkünden, dass der Sohn, der Gatte oder Vater sein Leben für ´Führer und Vaterland´ hingegeben hatte. Nein, an den Führer glaubte sie schon damals nicht mehr, denn sie hatte es verstanden, wenn der Pfarrer davon gepredigt hatte, dass man keine anderen Götter neben dem Gott der Christenheit haben solle.
Ihr Vater? Nein, ihr Vater war nicht mitgekommen, nach Passau, auf der geistigen Flucht. Ihr Vater stand im Felde, wie man es im Weltkrieg noch so schön gesagt hatte. Als handelte es sich um ein sanft wogendes, summendes und duftendes Kornfeld. Nein, jetzt sprach man nur noch von der Front, dieser seltsamen Linie auf der Landkarte in der Küche, auf der ihre ältere Schwester schon lange keine Fähnchen mehr nach Osten bewegte. Guck nicht hin!, hatte diese immer gesagt, wenn sie wissen wollte, warum es denn da plötzlich nicht weiter ging, im fernen Russland. Sie musste es wissen, denn sie war schon Jungmädelführerin. Ein Volk von Führern, groß und klein, die einander in die Irre leiteten.

Fra Meisner atmete schwer auf. So viel Erinnerung man mit sich herumschleppte. Und sie hörte wieder die mahnenden Worte ihrer Mutter, auch hier: Guck nicht hin!, als sie unten an der Ilz fragte, was das für zerlumpte Leute seien, die dort die Kähne entluden. Ausgemergelte Gestalten in gestreifter Häftlingskleidung, bewacht von SS-Soldaten. Guck nicht hin!!, hatte die Mutter gesagt, und sie hatte es als eine Aufforderung verstanden, nun erst recht hinzugucken. Immer hatte sie in ihrem Leben hingucken müssen; ob sie aber auch immer recht gehandelt hatte, mochten andere für sie entscheiden.

Aber sie sah gern wieder hin, als das Schwarzwaldmädel in die Kinos kam, als Sonja Ziemann neue bunte Lebensfreude vermittelte. Man hatte alles überlebt, lebte in einem neuen Staat, hatte die Schuldigen ihrer Strafe zugeführt. Man bezahlte mit neuem, hartem Geld, und man hatte einen neuen Führer... nein, Führer hieß das nun nicht mehr, irgendein steinalter Mann vom Rhein, der komisch sprach und noch komischer aussah... so ganz anders als der Führer halt.
Und sie selber war nun mit ihren fünfzehn Jahren das Schwarzwaldmädel, nur dass es da den kleinen Fehler gab, dass sie nicht aus dem Schwarzwald kam, sondern dem Bayrischen Wald, was zumindest den Amis egal sein konnte.

Dann - Heimatfilme bis zum Erbrechen. Die verwundete Seele, die nach Ruhe und Frieden suchte. Man ging gern ins Kino, denn anderes gab es nicht. Stillstand. Während die Städte wiederaufgebaut wurden, während in den Ballungszentren Industrie und Wirtschaft wieder in Gang kamen, während alle schon wieder so taten, als hätte es die ´Tausend Jahre´ zwischen 1933 und 1945 nie gegeben, wurde sie Zeugin von Stillstand und langsamem Verfall. Nichts geschah oben im Wald, nichts änderte sich. Eine Nation, die mehr Zeit damit verbrachte, den verlorenen Ostgebieten hinterherzutrauern, statt sich um die zu kümmern, die noch geblieben waren.

Bis sie selber den großen Sprung nach München gemacht hatte. Ein neues Leben, ein neues Kino! Jetzt hatte man das Provinzielle abgeschüttelt, jetzt reiste man mit Phileas Fogg alias David Niven In 80 Tagen um die Welt, in riesigen Lichtspielpalästen mit gekrümmen Leinwänden, bei denen man ständig den Kopf hin und her drehen musste!!

Plötzlich musste sie lachen. Egal, wie man den Kopf drehte und wendete, das Kino blieb Flucht, Selbstbetrug. Nichts, auf dem man wirklich bauen konnte. Egal, ob es nun in Cinemascope oder dreidimensional war, es war hohl und fiktiv, etwas, das meist an der eigenen Realität meilenweit vorbeidriftete. Aber vielleicht war eben diese Scheinwelt in manchen Fällen doch die bessere Alternative. Ihr Gesicht bekam einen harten Zug, sie dachte an ihre ältere Schwester, die die Niederlage nicht hatte hinnehmen wollen, die nicht ohne eine starke Führerperson leben konnte, oder wenigstens einem absoluten Ideal. Ihr ganzes Leben hatte sie sich verpfuscht, als sie die Schriften von Ulrike Meinhof in die Finger bekommen hatte, als sie plötzlich wie ausgewechselt war, von einem Tag auf den anderen. Parolen konnte sie wieder von sich geben, etwas das sie schon als junges Mädchen gelernt hatte. Nur dass sie nie gelernt hatte, das Wesen von Parolen zu erkennen, ihren zerstörerischen Geist, ihren verlogenen Absolutheitsanspruch.
Frau Meisner sah für einen Moment alles wieder auf sich einstürzen, die ewigen Diskussionen, mit den Eltern, mit ihr, der jüngeren Schwester. Wieder sah sie den früh eingeübten Fanatismus in den Augen der Schwester aufblitzen, wieder sah sie sie davonlaufen, mit ihrem Rucksack und dem um den Kopf gewickelten Arabertuch, um am Kampf gegen das imperialistische Israel teilzunehmen, einem Kampf, für den sie eigentlich schon viel zu alt gewesen war. Es war das letzte Mal, dass sie ihre Schwester gesehen hatte, damals, kurz nach den Olympischen Spielen, als die Eltern ihnen das Startkapital in ein angenehmes Leben hinterlassen hatten. Nichts hatte Gertrud davon haben wollen, und sie schieden im Streit - sie, die die Schwester eine Kapitalistin schimpfte, und Gertrud, die sich selber als Freiheitskämpferin sehen wollte. Freiheit für das palästinensische Volk! waren ihre letzten Worte, seitdem hatte sie nie wieder von ihr gehört. Natürlich konnte man am Existenzrecht Israels zweifeln, so wie man generell an allem zweifeln konnte, nicht zuletzt an jenen seltsamen Gebilden, die die Menschen Staaten nannten, und die scheinbar nur deshalb geschaffen waren, um Unfriede zwischen ihnen zu säen. Traurig war es nur, dass es Gertrud nie in den Sinn gekommen war, einmal an dem zu zweifeln, dessen Existenz sie mit ihrem unerschütterlichen Glauben an den ´Endsieg´ - der jetzt ´revolutionäre Kräfte´ genannten Wahnidee - in höchstem Maße gefährdete: an sich selbst.

Alles vorbei! Aus und vorbei! Frau Meisner schüttelte sich. Jetzt reiste sie nirgendwo mehr hin. Nicht mehr mit Phileas Fogg um die Welt, und nicht mehr auf der Suche nach ihrer Schwester in den Jemen. Es war vorbei. Jetzt konnte sie froh sein, wenn ihr Neffe sie morgen abholen würde. Die Brust wurde ihr schwer und sie seufzte erneut schwer auf. So ist das Leben, dachte sie. Man kennt es erst, wenn es vorbei ist.

%%%


Evelyn hatte doch länger gebraucht, als sie gesagt hatte. Sie parkte ihren Wagen vor dem Haus mit dem kleinen Vorgarten, überlegte, ob es hier wohl nur mit einer Parkerlaubnis für Anwohner gestattet sei, aber dann schnappte sie sich ihre Handtasche, stieg aus und knallte energisch die Fahrertür zu. Egal. Das hier war wohl eher ein Notfall, zu dem sie gerufen worden war. Der Mensch musste auch einmal Glück haben dürfen, besonders bei der Parkplatzsuche.
Es hatte sie erstaunt, von Klaus zu hören. Wochenlang hatte sie keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt, nicht nach jenem seltsamen Abend, als sie als Rettungssanitäterin zum Haus seiner Oma gerufen worden war und dort ihn - sie - getroffen hatte. Barbara! Dieser blöde Name. Sie hatte es deutlich gemacht, dass es für das Formular besser sei, wenn er dort mit seinem richtigen Namen unterschrieb, damit es später in der Klinik zu keinen Differenzen käme. Und dann hatte sie ihr gesagt, sie könnte nach Dienstschluss vorbeikommen, wenn es ihr recht sei.

Und dann: dieser junge Mann, der in seltsame stählerne Unterwäsche eingesperrt war. Ein Keuschheitsgürtel, den er nicht ablegen konnte, einen BH, der ihm weibliche Brüste auf den schmächtigen Körper bannte. Sie erinnerte sich an die verzweifelte Suche nach kleinen Schlüsseln, die irgendwo liegen mussten, wie sie alles durcheinander gewühlt hatten, bis sie den kleinen Zettel fand, diesen Gruß eines unverhofften Besuchers, der die Schlüssel an sich genommen hatte.

Ob er wohl immer noch in seinem Keuschheitsgürtel steckte?? Eine Frage, die seit Wochen in ihr brannte. Nein, wohl eher nicht. Kein Mensch tut so etwas. Es sei denn, man hat keine Wahl. Kein Schlüssel, keine Wahl, so einfach war das doch! Gleich würde sie es wissen. Sie drückte auf den Klingelknopf. Wartete einen Moment, drückte erneut.
Augenblicklich hörte sie wieder seine gestresste Stimme am Telefon. Kannst du... kannst du kommen? Ich... ich brauche jemanden.... ich pack das nicht allein. Schweigen. Sie sagte, dass sie kommen könnte. Bitte, bitte komm schnell, ja, sonst.... Aufgelegt.
Unruhig drückte sie ein weiteres Mal auf den Klingelknopf, hielt diesmal ihren Finger darauf, zählte die Sekunden, wie sie es gewohnt war, wenn sie bei Verunglückten den Puls zählte. Dann drückte sie gegen die Tür, die lautlos aufsprang.
Als sie die Treppe hochging stellte sie verärgert fest, dass sie ihre Notfalltasche nicht dabei hatte. Etwas Traubenzucker in der Handtasche, konnte man damit Leben retten?

Auch die Wohnungstür war nur angelehnt. Sie hörte das leise Quietschen, stieß die Tür weit auf. "Barbara??" Aus der kleinen Küche hörte sie etwas, das wie das Umkippen einer Flasche klang, gefolgt von einem unterdrückten ´verdammt!´. Gut, er lebte also noch. Oder sie.
Sie ging in die Küche. Klaus saß auf dem Boden, oder besser gesagt, das was von ihm übrig war. Er hatte Hemd und Hose ausgezogen, hatte sich seine Perücke auf den Kopf gesetzt, schief und an die Verkleidung eines Clowns erinnernd, der schwarze Petticoat verkomplettierte das bizarre Bild zusammen mit einem lose angezogenen hellblauen Spitzen-BH. Einem BH, der in seinen Körbchen nichts hatte, was er hätte halten sollen.

Er blickte auf, als er sie sah, lächelte. "Hallo Lyn. Schön dass du gekommen bist." Die umgefallene Whiskyflasche neben sich auf dem Boden war verschraubt, sein Glas leer. Er bemerkte ihren zweifelnden Blick und zuckte mit den Schultern. "Ist ja auch keine Lösung."

Sie sah in an, nickte zufrieden. "Und das da?"

Eine Erklärung brauchte er nicht. Das da... die Perücke, der Petticoat, der BH. Wieder zuckte er mit den Schultern, diesmal resigniert, hoffnungslos. "Ich weiß es nicht. Vielleicht..."

Evelyn half ihm auf die Beine. Nicht das erste Mal, dass sie jemandem auf die Beine half. Aber es war das erste Mal, dass sie jemandem offen ins Gesicht sagte, dass er scheiße aussah.

"Ich weiß", murmelte er. "Es musste schnell gehen..."

"Was um alles in der Welt ist denn passiert??"

"Sie hat mich eingeholt..." Eine kryptische Antwort.

"Deine Oma? Geht es ihr wieder besser?"

Er musste lachen. "Nein, nicht die Oma. Die Vergangenheit hat mich eingeholt, Lyn. Eine scheiß Vergangenheit." Er schlug den Blick nieder.

"Mein Gott! Das klingt ja fast so, als wärst du an einem Verbrechen beteiligt gewesen!" Sie täuschte gespieltes Entsetzen vor.

Sein Blick heftete sich an die Tischplatte. "Ja... ja, beteiligt. Ja, das war ein Verbrechen, und ich..." Er stockte, wischte sich mit der Hand über die feuchten Augen, "ich war daran beteiligt." Klaus langte zu einigen Briefen, die vor ihm auf dem Tisch lagen. "Hier, Lyn, ich schlage vor, du liest erst mal diese Briefe. Danach dann kann ich dir alles erzählen... vielleicht", setzte er nach einer kurzen Gedankenpause hinzu.

"Briefe? Was für Briefe? Von wem? Wer hat die geschrieben, und an wen? Und wann?"

"Thomas. Thomas war ein Schulfreund von mir. Vor zehn Jahren. Er hat sie an meine Großmutter geschrieben. Aber lies sie erst einmal!"



Es folgten Minuten der Stille. Er beobachtete sie, sah wie sie voll Konzentration die ersten zwei Briefe las, wie sich beim dritten Brief dunkle Falten über ihrer Nasenwurzel bildeten, wie sie beim vierten Brief nach einem Taschentuch griff und wie sich ihre Hände beim Lesen des fünften Briefs zu Fäusten zusammenballten.

"Dieses verdammte Schwein!!" Sie presste die Worte hervor, aufgewühlt über das, was sie gerade gelesen hatte. Klaus nickte nur.

"Aber... ich verstehe das nicht ganz. Wer ist dieser Nick, von dem da die Rede ist?"

"Er." Die Antwort kam stockend, die Stimme war weich.

"Wer er ?"

"Klaus."

Sie sah ihn an. Sie sah sie an. Barbara lächelte sie an. Aber nur ihr Mund lächelte, nicht die Augen. "Barbara, ich kapier das nicht. Du musst mir etwas helfen. Magst du ... magst du davon erzählen?"

"Es war in der Sexta ... in der ersten Klasse. Meine Eltern hatten Arbeit im Ausland bekommen, Italien, und ich war ins Internat gekommen. Eine Schule mit gutem Ruf, so hieß es. Katholisch, was anderes kam ja gar nicht in Frage. Thomas und ich teilten uns ein Zimmer. Seine Eltern waren auch weg, diplomatischer Dienst, Washington, glaube ich. Auf jeden Fall sehr weit weg. So weit, dass er nicht mal in den Ferien zu ihnen fahren konnte."

"Und da hast du ihn Weihnachten mit zu deiner Oma genommen?"

Barbara nickte. "Ja, genau. Sie hatte sich gefreut, ihm etwas familiäre Gemütlichkeit bieten zu können."

"Und Nick? Wieso nennt er dich Nick?"

"Wir hatten einen neuen Lehrer bekommen, kurz nach Weihnachten. War ganz plötzlich da. Es hieß, er sei zu Studienzwecken an unsere Schule gekommen, aber nichts Genaues wusste man nicht. Ein netter Kerl...." Barbaras Gesicht spiegelte deutlich andere Erinnerungen wider.

"Dieser Pater Ruprecht?"

"Ja. Er hatte gleich beim ersten Besuch in unserer Klasse, als wir uns alle vorstellten, gesagt, Klaus, das käme ja wohl von Nikolaus. Und da er der Ruprecht sei, passten wir beide wohl prima zusammen." Ihre Erinnerung kam stockend. Barbaras Gesicht hatte alle Farbe veloren.

Evelyn nahm die Flasche, goss etwas der goldenen Flüssigkeit in zwei Gläser und schob das eine Glas wortlos über den Tisch. Sie trank, setze ab. "Knecht Ruprecht. Der mit der Rute?"

Barbara antwortete nicht. "Er war anders als die anderen Patres. Offener. Er interessierte sich für uns. Ich hatte damals Probleme, beim Stoff mitzukommen. Latein und so. Ignis quis vir - der Feuer wer Mann! Pater Ruprecht beaufsichtigte die Exerzitien, unsere Nachhilfestunden. Er war tüchtig..."

"Das glaube ich gern! Ha!" Evelyn kramte in ihrer Handtasche. Sie fischte eine Schachtel Zigaretten hervor, warf einen kurzen Blick auf Barbara. "Was dagegen?"

Barbara schüttelte den Kopf. Sie stand auf, holte eine Untertasse aus dem Küchenschrank. Als sie sich wieder setzen wollte, hielt Evelyn sie fest. "Geh!" Zieh dich richtig an, ja? Wir haben Zeit. Wir haben alle Zeit der Welt!" Sie ließ sie gehen, ungewiss, ob Klaus oder Barbara wieder zurückkommen würde. Dann griff sie noch einmal zu den Briefen.
Im Februarbrief hatte Thomas es geschrieben. Pater Ruprecht ist ein netter Lehrer. Aber er geht uns allen so langsam mit seinem Standardspruch auf die Nerven: "Gut, dass ihr keine Mädchen seid!" In jeder Unterrichtsstunde sagt er es mindestens drei Mal. Scheinbar mag er keine Mädchen....
Konnte es so offensichtlich sein? Sie wusste es nicht. Sie war dazu ausgebildet, Blutungen zu stillen, Druckverbände anzulegen, gebrochene Gliedmaßen zu schienen. Das hier überstieg bei weitem ihre fachliche Kompetenz.

Sie überlegte, ob sie besser gehen sollte. Das hier war krank. Sie konnte in Teufels Küche kommen. Aber war sie nicht schon längst da? Außerdem war sie Sanitäterin, war sie verpflichtet, kranken und verwundeten Menschen zu helfen. Sie war sich nicht sicher, ob Klaus - oder Barbara - krank war, aber dass er verwundet war, daran konnte kein Zweifel herrschen. Verwundet an der Seele. Jetzt war nur noch die Frage, ob Klaus oder Barbara wieder zurück in die kleine Küche kommen würde.
Doch niemand kam. Die Minuten tickten dahin, dehnten sich zu Ewigkeiten. Evelyn wurde unruhig, ging hinaus ins winzige Flur, lauschte an der Schlafzimmertür. Schwache Geräusche drangen an ihr Ohr. Ein Reißverschluss? Sie setzte sich wieder an den Küchentisch. Las noch einmal die beiden letzen Briefe, die Thomas kurz hintereinander Anfang April geschrieben hatte. Und dann? Warum hatte es nach diesen keine weiteren gegeben? Oder hatte die alte Frau sie nicht aufgehoben?

Sie hörte die Schlafzimmertür. Drehte sich um und blickte zur Küchentür. Es verschlug ihr einen Moment die Sprache; Barbara hatte ihr Dirndlkleid angezogen, die Haare ordentlich frisiert ... ach, Quatsch, es war ja ein Perücke!, leichtes, dezent aufgetragenes Makeup, elegante Stilettos. Sie lächelte, und Barbara lächelte zurück.
"Du siehst gut aus, Barbara. Komm!" Ihre ausgebreiteten Arme nahmen den leicht zitternden Körper der anderen auf, gaben Nähe und Geborgenheit. "Sch... schon gut. Du siehst wirklich gut aus, Barbara. Ich wollte, ich könnte so gut aussehen!"

"Was für ein Dirndl hast du, Lyn?" Es war eine Frage, die keine männliche Neugier hören ließ.

"Nein... Nein, ich habe kein Dirndl. Leider... hab mir nie was daraus gemacht." Warum hatte sie leider gesagt? Sie hatte sich wirklich nie etwas aus Dirndlkleidern gemacht. Ungern erinnerte sie sich an Familienfeste, wo sie selbst als Sechzehnjährige noch gezwungen wurde, Dirndl zu tragen. Kein Wunder, dass sie später Rettungssanitäterin geworden war, statt Krankenschwester! Jetzt war sie total durcheinander. Sie umarmte einen jungen Mann, der so ein Dirndl trug. Einen Mann??
Sie versuchte, den Faden wieder aufzunehmen. "Pater Ruprecht...?"

"Knecht Ruprecht! Ja, ich war nicht gut in Latein, zu viele Fälle, Deklination und Konjugation, Gerundium und... und...."

"Gerundivum!"

"Ja, Gerundivum! Alles ein Brei für mich. Pater Ruprecht gab Nachhilfestunden."

"Sagtest du bereits." Sie ärgerte sich; wollte doch nicht drängeln.

"Manchmal hatte Pater Ruprecht auch die Nachtwache. Ein Lehrer oder Pater musste immer wach bleiben. Und dann, das muss so im März gewesen sein, da entschuldigte er sich, hatte keine Zeit für die Nachhilfestunde." Barbara erzählte fließend, ohne zu stocken. "Das war dumm, denn am nächsten Tag mussten wir eine Lateinarbeit schreiben, und eigentlich wollte er es mir noch einmal erklären."

Evelyn hörte gebannt zu. Auch hatte sie bemerkt, dass Barbara all dies wesentlich freier erzählen konnte, als zuvor noch Klaus. "Und? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass jetzt etwas ganz Beschissenes passiert."

"Wir hatten immer so ab neun Uhr abends Nachtruhe. Das heißt, dann sollten wir im Bett liegen, konnten noch etwas lesen, wenn wir Lust hatten, oder vielleicht etwas Radio hören, oder Musik. Mit Kopfhörer. An jenem Abend kam Pater Ruprecht so gegen halb zehn ins Zimmer, uns Gute-Nacht zu sagen."

"War das normal?"

"Normal war, dass der Aufsichtslehrer an die Tür klopfte, eintrat aber in der Tür stehen blieb, uns eine gute Nacht wünschte und dann wieder ging. Mehr nicht."

"Aber bei Pater Ruprecht war es mehr?"

"Er kam immer ganz rein. Nahm uns das Buch ab, deckte uns ordentlich zu, streichelte uns gern noch mal über den Kopf."

Evelyn nickte bloß. Sie konnte es sich gut vorstellen. Die vertrauensvolle Atmosphäre. Die Kinder, die sich nach Nähe sehnten. "Aber an jenem Abend im März... da war dann noch etwas?"

Barbara legte eine Pause ein. Trank einen Schluck Whiskey. "Er sagte, dass es ihm leid täte, wegen der augefallenen Nachhilfestunde. Und er fragte, ob ich eventuell wach genug sei, noch einmal mit ihm zu kommen, er wolle es mir gern erklären, aber nicht hier, wegen Thomas, der schon schlief."

"Du bist mit ihm gegangen?"

"Klaus ging mit, ja. Warum auch nicht. Pater Ruprecht erklärte es mir wirklich, und ich hatte Glück: am nächsten Tag kamen genau die Sätze in der Arbeit vor, die wir geübt hatten."

"Mehr nicht?"

Barbara zog die Nase hoch. "Doch. Ein paar Tage später hatte ich wieder bei ihm geübt. Als wir fertig waren, lachte Pater Ruprecht, klopfte mir auf die Schulter und meinte, wir beide wären doch ein gutes Paar, ich, der Nikolaus, und er, der Knecht Ruprecht. Und dann fragte er mich, ob ich einmal seine Rute sehen wollte."

Tonlos. Barbara hatte all dies tonlos von sich gegeben. So als wäre es für sie das Normalste der Welt, über diese Sache zu sprechen. Die Sanitäterin war sich aber sicher, dass dies bisher wohl eher nicht passiert war.

Barbara erzählte weiter, was passiert war. "Zum Schluss dann streichelte er mir übers Haar und meinte, gut, dass ich kein Mädchen bin. Das sagte er dann immer, jedesmal wenn...." Sie kam nicht weiter. Ihre Stimme hatte für einen Moment wieder Klaus´ tiefere Stimmlage angenommen.

"Du hast es niemandem erzählt??"

"Ich habe es gebeichtet..."

"DU hast es gebeichtet?? Du hast doch gar nichts getan!"

Barbara schüttelte müde den Kopf. "Ich habe mitgemacht, habe nichts dagegen getan... und... und..." Sie legte ihre Hände wie zum Schutz auf ihren Dirndlrock.

"Du hast reagiert? Dein Körper hat ... mitgemacht, wie du selber sagst?"

Barbara nickte kaum wahrnehmbar. "Es war das erste Mal...."

"Und du hast all das bei der Beichte gesagt? Ist ja irre... Aber da war wohl nicht dieser Pater Ruprecht der Beichtvater, oder?"

"Nein, jemand anders. Aber weißt du was?"

Evelyn sah ihn gespannt an, wagte es nicht, die Situation zu unterbrechen.

"Der Priester sagte mir, das sei nichts Böses. Christliche Nächstenliebe... es müsse aber sein und mein Beichtgeheimnis bleiben... Pater Ruprecht sei ein guter Mensch...."

Dicke Tränen quollen aus Barbaras Augen hervor. Evelyn reichte ihr ein Tuch. "Du hast es aber doch jemandem erzählt, oder?"

"Ich habe es Thomas erzählt, gleich am nächsten Morgen." Sie kräuselte die Lippen.

"Er hat dir nicht geglaubt?"

Barbara schüttelte den Kopf, leise, unmerklich. "Nein, er hat mir nicht geglaubt. Meinte, ich müsse wohl geträumt haben. Solche Schweinereien macht hier doch keiner! Aber in den kommenden Wochen blieb es nicht aus, dass er es mitbekam, wenn Pater Ruprecht Nachtwache hatte und er spät noch aufs Zimmer kam."

"Und du? Warum bist du denn jedes Mal mitgegangen? Wie das Lamm zur Schlachtbank...."

"Ich weiß es nicht. Es war so eine seltsame Mischung aus vielen verschiedenen Gefühlen und Ängsten. Ohnmacht im warsten Sinne des Wortes. Niemand hätte mir geglaubt. Wenn schon der beste Freund es nicht glauben wollte..." Barbara sah sie an, die Augen schimmerten feucht. Ich wäre vermutlich im hohen Bogen von der Schule geflogen. Aber es gab doch keinen anderen Platz für mich. Außerdem, und das war fast das Schlimmste für mich, irgendwann stellte ich fest, dass das ja alles gar nicht so schlimm war, und Pater Ruprecht war ja auch immer so nett zu mir..."

"Opfermentalität", murmelte Evelyn. "Man fraternisiert mit seinem Peiniger." Sie war aufgewühlt, musste sich eine weitere Zigarette anzünden. Gekonnt bließ sie einen Rauchkringel in die Luft. "Was ist mit Thomas? Am Ende hat er es dir ja doch geglaubt. Hier in seinem ersten Brief vom April da steht... wart mal!" Sie suchte den Brief und die entsprechende Textstelle hervor. "Ja, hier steht es. Also erst schreibt er, er habe es selber gesehen, und wisse jetzt, was er tun müsse. Aber er schreibt nicht, was. Hast du eine Ahnung, was er vorhatte?"

"Er hat dem Bischof geschrieben."

"Er hat... was? Dem Bischof geschrieben? Welchem Bischof denn?"

Barbara schüttelte den Kopf. "Weiß ich nicht mehr. Dem Münchner Bischof vielleicht. Aber ich kann es wirklich nicht genau sagen. Thomas meinte, das müsse man gleich nach oben melden, das hätte gar keinen Zweck, wenn man es zuerst mit der Schulleitung versuchte. Also wandte er sich gleich an den Bischof. Ich erinnere mich noch, dass er mich fragte, wie man den Bischof anzureden hätte, ob Eure Heiligkeit etwas übertrieben sei." Sie lachte. "Thomas, der blöde Kerl! Ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist."

"Ihr habt euch nach dem Abitur aus den Augen verloren?"

"Nach dem Abi? Ne, damals schon. Nach den Osterferien kam er nicht mehr zurück zur Schule. Ich glaube, seine Eltern hatten was anderes für ihn gefunden, aber ich habe eigentlich keine Ahnung."

Evelyn horchte auf. "Was sagst du da? Er ist quasi einige Wochen, nachdem er diese hochbrisanten Briefe an deine Oma geschickt hatte, so mir nichts dir nichts abgemeldet worden?" Ihre Handtasche! Jetzt konnte sie gut etwas Traubenzucker gebrauchen. Sie bot Barbara davon an, die dankend annahm.

Diese machte ein betretenes Gesicht. "Ich hatte ja keine Ahnung von den Briefen. Mir gegenüber hatte er nur gesagt, er wolle dem Bischof davon schreiben, was hier an seiner feinen Schule für ein Schweinkram geschehe, aber von den tatsächlichen Briefen habe ich nie was erfahren."

"Also auch nie was davon, dass er tatsächliche eine Antwort erhalten hat. Er hat dir nie was gesagt?" Barbaras Blick war schon Antwort genug. "Und dieses Antwortschreiben vom Bischof, oder wem auch immer, denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass seine Heiligkeit persönlich geantwortet hat, wo ist das jetzt?"

Barbara zuckte mit den Schultern. Evelyn musste sich fast in den Arm kneifen um nicht zu vergessen, dass dieses hübsche Dirndl-Mädchen keins war. "Ich hab keinen Schimmer. Vielleicht hat er ja gar keines bekommen ... obwohl...." Sie runzelte die Stirn, wendete die Augen nach innen, zurück in die Vergangenheit.

"Obwohl ... was??"

"Ich weiß es nicht. Es hat vielleicht gar nichts zu bedeuten. Aber da war etwas, gleich in der ersten Woche nach den Osterferien. Ich hatte jetzt ja das Zimmer für mich allein, aber ein neuer Schüler sollte zu uns kommen. Freie Plätze konnte die Schule sich wohl nicht leisten. Und da war ein Tag, an dem ich mehrere Stunden nicht ins Zimmer durfte. Kammerjäger oder so, wurde mir gesagt. Dass alles gründlichst sauber gemacht werden sollte, bevor der Neue kam. Ich habe mir nichts dabei gedacht, denn irgendwie waren alle unsere Zimmer ein wenig versifft. Du weißt doch, wie das an diesen Schulen ist: Draußen hui, innen pfui!"

"Ich möchte lieber nicht wissen, wie es innen an solchen Schulen ist. Aber jetzt wissen wir es! Von wegen Kammerjäger! Da hat jemand nach dem Brief gesucht! Sag mal, wie lange ging das dann mit Pater Ruprecht und dir noch weiter? Bis zum Sankt Nimmerleinstag wohl eher nicht, vermute ich jetzt mal?"

"Nein. Nach Ostern nur noch ein paar Mal. Und eines Tages war er wieder weg. Uns wurde nur gesagt, er sei mit seinen Studien hier bei uns jetzt fertig geworden."

"Studien!? Haha! Jetzt wissen wir ja wohl, worin seine Studien bestanden. Und du? Hast du jemals was unternommen?"

Barbara sandte ihr einen langen Blick, dann stand sie auf, strich sich leicht geniert mit den Händen den Dirndlrock glatt, ordnete die spitzenbesetzte Schürze. "Siehst du doch."

Ja, sie sah es. Sie sah, wie Klaus reagiert hatte. "Fing das ... das da, fing das damals schon an? Hast du damals schon Röcke und Kleider angezogen?"

Barbara lachte auf. "Wie denn? Glaubst du, man hat an so einer Schule irgendein Privatleben?? Natürlich nicht. Aber ich habe Klaus damals schon irgendwie zu Grabe getragen, auch wenn das, was ich mit d e m Sack da erlebt hatte, nur relativ kurz gewesen war. Aber es war schlimm genug. Du kannst dir vorstellen, dass es nicht dabei geblieben war, dass ich mir seine Rute angucken sollte! Alles, was Klaus mit ihm zusammen machen musste, war ätzend, widerlich, abartig. Er hat ihn umgebracht!!"

Evelyn war verwirrt. "Er hat ihn umgebracht?? Thomas? Hat er Thomas umgebracht??"

"Ach! Du verstehst es nicht! Kennst dich ja auch nur mit deinem blöden Verbandszeug aus! Pater Ruprecht hat Klaus umgebracht. Nicht so, dass es jeder sehen konnte, aber so, dass ich es immer gespürt habe! Dieser widerwärtige Schweinehund..." Barbara schlug die Hände vors Gesicht, warf den Kopf auf die Tischplatte, begann laut und heftig zu schluchzen.

Evelyn war zutiefst geschockt. Sie streichelte Barbara über den Rücken, fühlte unter dem engen Mieder des hübschen Kleides den Verschluss des BHs. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Füllte die Gläser nach, reichte Barbara ein weiteres Taschentuch. Sie hatte alles gehört, was es über diesen Fall zu sagen gab. Dennoch konnte sie es kaum verstehen. Wie konnten Menschen..., nein, noch einmal: wie konnten Männer Kindern so etwas Furchtbares antun? Noch dazu ein Lehrer, ein katholischer Pater?? Nein, sie verstand es nicht. Wohl aber verstand sie jetzt, warum es Klaus nicht mehr gab.



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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:27.01.13 23:08 IP: gespeichert Moderator melden


Hi Daniela,

Vielen Dank Dir für diese sehr interessante und inspirierende Fortsetzung, die viel zum Thema Flucht enthält. Flucht vor Realitäten, Vergangenheiten oder sich selbst.

Es ist eine sehr heftige Fortsetzung, die dennoch sehr erleuchtend ist, was Klaus / Barbara betrifft. Barbara - irgendwie erinnert mich das, insbesondere nach Lesen dieser Folge, an die Barbara-Zweige, die man vor Weihnachten schneidet, am Barbara-Tag, und ins Wasser stellt, so daß sie zu Weihnachten blühen, und so etwas Leben in der dunkelsten Zeit des Jahres symbolisieren. Und die Vergangenheit von Klaus ist sehr dunkel, mit der Transformation zu Barbara als scheinbar einzig mögliche Zuflucht. Es ist sehr gut, daß Lyn als barmherzige Samariterin oder warmherzige Sanitäterin nun bei ihm ist, und ich hoffe, sie kann mehr als ihn nur trösten. Denn wie sollte man jemanden überhaupt trösten können, der das Opfer solch schändlicher Übergriffe war, die leider nicht nur als Geschichte wohl stattgefunden haben.

Für die Retrospektive von Oma Meisner danke ich Dir sehr herzlich, sie ist Dir großartig gelungen! Mit solcher Leichtigkeit derart schwere Themen gut informiert anzugehen, macht die hohe Qualität eines Autors mehr als deutlich! Ich finde, es ist ein Wink des Schicksals, daß sie das Vernichten der Briefe immer wieder nur verschoben hat. Und es hat wirklich sehr merkwürdige Züge, daß jeder Mensch offenbar bestrebt ist, sein Leben von jedem Schmutz befreien zu wollen, was ja nicht wirklich möglich ist, oder ihn zu verbergen, anstatt seine Fehler und dunklen Seiten einfach offen zuzugeben, von denen kein Leben wirklich frei ist, wie jedem klar sein sollte, damit man wirklich davon lernen kann. Aber womöglich verhalten wir Menschen uns so, damit jeder andere sich im Vergleich dann schuldig und unterlegen vorkommen muß, da er seine eigenen Missetaten ja kennt, sozusagen um als überlegenes, blütenweißes Vorbild trotz dunkler Taten dastehen zu können. Wie komisch wir Menschen offenbar gestrickt sind - oder ist das "nur" eine Frage der Erziehung und Erfahrung, die uns zu dem macht, was wir sind.

Ich freue mich schon auf die nächste Folge!

Keusche Grüße
Keuschling
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:27.01.13 23:46 IP: gespeichert Moderator melden


Hi Daniela,

nun wissen wir eine furchtbare Wahrheit. Eigentlich kann Klaus aus diesem Grunde gar nicht
aus der Barbara heraus kommen. Nun warte ich noch was die Oma dazu beitragen kann.
Denn so wie Du es geschrieben hast scheint sie mehr zu wissen als den Inhalt der Briefe.
Bin nun sehr gespannt.
Danke für dein Geschenk dieses Teils der Story. Es ist übrigens der 14. Teil,
Bin gespannt unter welchen Teil du Ende schreibst.
M f G der alte wartende Leser Horst


Gruß der alte Leser Horst
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:02.02.13 00:48 IP: gespeichert Moderator melden


puh.....!!
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:03.02.13 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


Ui, schon wieder Sonntag!! Jetzt muss ich mich aber beeilen, den Text für das Forum fertigzumachen. Wieder habe ich mich über Zuschriften und Kommentare sehr gefreut, egal ob sie lang und tiefschürfend waren, oder nur aus einem Wort bestanden. Ja, ich weiß, die Materie ist nicht leicht zu verdauen. Aber ich hatte es ja schon im Herbst angekündigt, dass dieser letzte Teil meiner München-Trilogie anders werden würde.

So, und nun weiter im Text!! l.G. von Dani

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Oktober VIII.

Ingeborg Wimmer hatte keine Lust, als sie am nächsten Morgen zur Arbeit kam. Manchmal verfluchte sie ihren Job. Immer kam man zu spät. Immer wurde man erst gerufen, wenn der Mord schon geschehen war. Warum wurden überhaupt Menschen umgebracht?
Sie war nicht die erste Kriminalbeamtin, die drauf und dran war, an dieser Frage zu Grunde zu gehen. Lief nicht letztendlich alles auf eine kranke Gesellschaft hinaus? Eine Gesellschaft, in der Menschen in einer Notlage im Stich gelassen wurden? Eine Gesellschaft, die keinen echten Halt mehr bot, in der alles im immer schneller werdenden Flusse den berühmten Bach hinunterging?
Sie stöhnte auf, hielt sich den Kopf, sützte die Ellenbogen auf der Schreibtischunterlage ab. Gut, dachte sie, immerhin können wir die Leute vor Verbrechern schützen, sobald wir wissen, wer sie sind. Dumm nur, dass diese leider nie irgendwelche Visitenkarten am Tatort hinterließen.

Das Schrillen des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. "Ingeborg Wimmer, Mordkommission." Hoffentlich keine neuer Mord.

"Frau Wimmer! Guten Morgen! Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Sie jetzt die Sachen der Isarleiche abholen können... ja, hier im Institut. Die Chefin möchte Sie auch gern noch einmal sprechen."

Immerhin. Pathologie bedeutete eine kleine Fahrt durch die Stadt. Verkehr, Radio hören. Man würde auf andere Gedanken kommen. Wo war der Rick? Nicht in seinem Büro. Egal, sie brauchte sich ja nicht unbedingt abzumelden. Trotzdem legte sie einen Zettel auf seinen Schreibtisch. ´Bin zur Pathologie. I.W.´ Besser war besser.

Die Ärztin erwartete sie bereits. "Schön, dass Sie gleich kommen konnten, Frau Wimmer."

Die Kriminalbeamtin lächelte gequält. "Das klingt ja fast so, als ginge es um Leben oder Tod!"

"Bei uns geht es leider immer nur um Tod; wenn Sie Leben suchen sollten Sie nach nebenan in den Kindergarten gehen!"


Im Kindergarten, ja, dort sollte es wohl Leben geben. Ingeborg Wimmer merkte, dass die unerwartete Wendung des Gesprächs ihr unangenehm war. Ihre biologische Uhr tickte immer lauter. Wenn ihr nicht bald der Richtige über den Weg liefe, dann.... Kein Windelwechseln, kein Kindergeschrei, kein Leben. Ja, Leben, sie sehnte sich so sehr nach Leben, nach Richtung und Zukunft, hatte es satt, ihr eigenes Leben so sehr Gevatter Tod vermacht zu haben. Vielleicht sollte sie sich mehr unter die Leute begeben? Mal zu einem Fest gehen, sich anbaggern lassen?

"Frau Wimmer??" Der Ärztin war es aufgefallen, dass ihr Geprächspartner gerade ein Schwarzes Loch gerammt hatte. "Sie können Ihre Sachen mitnehmen, zur weiteren polizeilichen Untersuchung, falls das notwendig ist."

"Ihre Sachen? Viel kann das ja nicht gewesen sein."

"Nein. Eigentlich ja nur ihre Kleidung, der Janker, das Dirndl, die Unterwäsche."

"Ihre Unterwäsche?"
Hatte sie eventuell etwas zu schnell, etwas zu aufgeregt reagiert? So weit sie sich erinnerte, hatte das Opfer keine Unterwäsche getragen, bis auf...

"Ja, diesen Keuschheitsgürtel und den stählernen BH."

"Sie haben die Dinger aufgeschnitten?"
Ingeborg Wimmer!! Du hast deine Stimme nicht im Griff! Wenn sie so weitermachte, würde alle Welt gleich wissen, dass sie seit Sonntagmorgen immer wieder überlegt hatte, wie es wohl wäre, wenn man in so einem Ding eingesperrt wurde. "Und einen stählernen BH hatte sie auch an?" Bleib cool, Ingeborg. Sachlich. Stell sachliche Fragen.

"Ja, ich hab mal im Internet recherchiert. So was nennt sich da Keuschheits-BH. Kommt aber eher selten vor. Ich habe einige Bilder gesehen, aber meist sitzen diese BHs hundsmiserabel; man sieht sofort, dass sie von Männern entworfen wurden, die keine Ahnung von Brüsten haben. Also ich möchte nicht in so einem Ding stecken!"

Ingeborg Wimmer biss sich auf die Zunge. Beinahe wäre es aus ihr herausgerutscht. "Ist bestimmt unbequem." Sie räusperte sich, ihre Stimme klang belegt. "Sie haben die Dinger aufgeschnitten?"
Dieselbe Frage zweimal zu stellen, war immer verdächtig. Hoffentlich merkte die Ärztin es nicht.

"Nein. Ein Kollege hat die Schlösser aufgebohrt. Das waren so ganz gewöhnliche kleine Sicherheitsschlösser, wie man sie überall bekommt. BH und Keuschheitsgürtel sind intakt, könnte ja sein, dass Sie da noch irgendwelche Spuren sichern wollen. Wir sind jedenfalls so vorsichtig wie möglich gewesen."

"Hatte sie große Brüste?"
Bist du verrückt, dachte sie. Was soll denn diese Frage??

Die Ärztin blickte sie verwundert von der Seite an. "Ganz normal würde ich sagen. Tut mir leid, dass ich Ihnen keine genaue Körbchengröße angeben kann. Ist das wichtig für Ihre Ermittlungen?"

"Alles ist wichtig. Aber ich meinte eher, ob sie ein durchtrainierter Typ war, oder eher so eine Sofapflanze."

"Durchtrainiert wohl eher nicht. Eher so mittel. Aber sie sieht so aus, als hätte sie im Sommer eine Menge Sonne abbekommen. So was hält sich ja lange, wenn man es richtig macht." Die Ärztin ging voraus. "Kommen Sie, wir schauen sie uns noch einmal an. Da war ja auch diese Sache mit den Kratzern!"

Die beiden Frauen begaben sich in einen gekachelten Raum, in dem nichts, aber auch gar nichts etwas Wärme, etwas Freude bereitete. Die Ärztin öffnete eine ziemlich quadratische Tür, dick wie die eines Kühlschranks, eine von vielen, wie Wimmer bemerkte. Es war ja auch nicht das erste Mal, dass sie hier war.
Beide Frauen besahen sich den nackten Körper der jungen Frau, nachdem die Ärztin das weiße Laken zurückgeschlagen hatte.

"Nun ja, Sie sehen ja, alles ganz normal. Nicht zu dick, nicht zu dünn. Nicht zu groß, nicht zu klein. Höchstens zwanzig Jahre, würde ich sagen."

"Und die Kratzspuren?"

"Hier, am Oberschenkel. Ich hatte ihnen ein Bild gemailt."

"Man sieht ja gar nichts." Wimmer wirkte leicht irritiert. "Auf Ihrem Bild war das aber deutlicher."

Die andere Frau lachte. "Tja, Photoshop! Wenn ich Ihnen das hier geschickt hätte, hätten Sie nichts damit anfangen können. Aber hier, hier sind zwei gleichlange parallele Kratzer. Sie hat sie sich selbst zugefügt, wie wir anhand der Hautpartikel unter ihren Fingernägeln feststellen konnten. Warum und weshalb, das will ich lieber Ihnen überlassen."

"Ja, danke, wir arbeiten daran. Der Rick vermutet, dass sie uns damit irgendetwas sagen wollte. In unseren Mutmaßungen sind wir schon so weit gekommen, dass eine Mitwirkung von Al-Kaida nicht auszuschließen ist." Wimmer deutete ein Grinsen an.

"Al-Kaida? Sie spinnen! Doch nicht im Ernst?"

"Eine Kollegin meinte, die Kratzer erinnerten sie an das Logo der Zwillingstürme von New York..."

"Da hat aber jemand eine blühende Phantasie. Ich muss schon sagen, ihr macht euch!" Sie deckte den Leichnam wieder zu. "Dann sind wir wohl fertig hier. Kommen Sie mit in mein Büro, dann gebe ich Ihnen den Karton mit ihren Sachen."

Im Büro sah es etwas freundlicher aus. Eine Topfpflanze schmückte das Fensterbrett, sichtlich nach Wasser lechzend.

"Passen Sie auf, dass die Ihnen nicht auch noch verreckt!", lästerte die Kriminalbeamtin.

"Was heißt hier ´auch noch´? Hier ist noch niemand verreckt. Wir sind schließlich kein Hospiz." Sie suchte einen Karton hervor. "So, hier sind alle ihre Sachen. Wollen wir hoffen, dass Sie den Fall bald aufklären."

Ingeborg Wimmer nahm den Karton entgegen und studierte den Inhalt. Zu oberst lag das Dirndlkleid, trocken jetzt, aber schmutzig, genau wie die Bluse und die Schürze. Sorgfältig zusammengefaltet dann der Janker. Wimmer nahm ihn heraus. Dann setzte ihr Herz für einen Moment aus. Metallisch silbern glänzte es ihr entgegen. Sie streckte die Hand danach aus, dann hielt sie in der Bewegung inne.
Herr im Himmel, was war das für ein Ding?? Sie brauchte nicht einmal eine Frage zu formulieren, die Ärztin verstand ihr stummes Entsetzen auch so.

"Ja", sagte sie tonlos, "das haben wir auch bei ihr gefunden...." Sie schwieg, holte Luft, setzte erneut an. "Man lernt doch nie aus. Aber fragen Sie mich jetzt bitte nicht, wie es funktioniert, das haben wir nicht herausgefunden!"



%%%


Juli V.

"Na endlich!" Verdammt, es war ihr so rausgerutscht. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, auf keinen Fall irgendetwas zu sagen, was der Bub in den falschen Hals bekommen konnte, empfindlich wie er war. Also beeilte die alte Frau Meisner sich, schnell noch ein paar nette Worte hinterherzuschicken. "Schön, dass du kommst, Bub. Ich hätte es ja auch allein nach Hause geschafft, man hätte mir hier ein Taxi bestellt, kein Problem..."

Er schnitt ihr das Wort ab. Scheinbar war er nicht gut aufgelegt. "Wenn es kein Problem ist, Oma, warum sollte ich dann unbedingt kommen?" Seine Augen verhießen nichts Gutes.

"Weil es schöner ist..."

"Schöner für dich, ja. Aber wie es mir geht, scheint dir ja wohl eher egal zu sein!" Seine Stimme klang gereizt.

"Aber Bub! Was ist denn los? So kenn ich dich ja gar nicht! Ist was passiert?"

"Nenn mich nicht immer Bub! Ich bin kein Bub!" Er hielt Abstand, als sie gemeinsam zur Haltestelle der Tram gingen. Vielleicht aber auch nur, um ihr bei ihren unbeholfenen Versuchen, mit dem ungewohnten Rollator klarzukommen, nicht im Wege zu sein.

"Nein", murmelte sie leise und mehr für sich selbst. Plötzlich brach die ganze Erinnerung wieder auf sie ein. Diese junge Frau im Dirndlkleid, die da plötzlich vor ihr stand. Ich bin Barbara, hatte sie gesagt. Und es fiel ihr auf, dass er jetzt nicht gesagt hatte, dass er kein Bub mehr sei. Nein, er hatte es ohne mehr gesagt. Sie musste sich auf ihr komisches Vehikel konzentrieren, hier im Freien war es etwas ganz anderes als im Spital auf den langen Korridoren.
Im Freien?? Konnte sie denn wirklich noch vom Freien sprechen? Damals, als sie als junge Frau mit ihrem Heinkel-Tourist Motorroller durch München und ganz Oberbayern brauste, damals war das etwas anderes gewesen, damals war sie ungebunden, war sie frei gewesen.

Die Trambahn kam herangeknattert. Klaus half ihr beim Einsteigen, ein Wagen mit Niederflurtechnik wäre besser gewesen, das Leben schien einzig dazu da zu sein, einem Hürden in den Weg zu legen, über die man klettern oder springen musste, zog man es nicht vor, sein Leben lang im Dreck unter allen Hindernissen hindurchzukriechen.
Beide setzten sich nebeneinander, schwiegen sich aus. Sie blickte aus dem Fenster, sah altbekannte Häuser und Gebäude an sich vorüberziehen. War es das? Dass siebzig, achtzig Jahre lang alles nur an einem vorüberzog? Aber wozu?
Plötzlich erkannte sie, dass alles ganz anders war. Dass nicht das Leben an einem vorüberzog, sondern dass man selbst an allem vorüberzog. Dass man jederzeit die Möglichkeit hatte, anzuhalten, etwas zu verweilen, etwas genauer zu studieren. Dass man selber die Richtung bestimmen konnte. Dass man jeden Tag etwas an Freiheit hinzugewann, das erkannte sie auch. Bald würde es nichts mehr geben, um dass sie bangen müsste. Sie schloss die Augen, achtete nicht mehr auf das Geräusch der Bahn, auf den Straßenlärm, der duch Fenster und Ritzen zur ihr drang, nahm das Drängeln und Schieben und Schubsen der ein- und aussteigenden Fahrgäste nicht mehr wahr. Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.

Klaus sperrte die Haustür auf und half seiner Oma die letzten Stufen hinauf. Endlich zu Hause! Noch im Flur setzte sie sich auf den kleinen Hocker, der neben dem Telefon stand. Wie wichtig war doch ein Zuhause! Nur jemand, der einmal für längere Zeit diesem sicheren Hort hatte entsagen müssen, konnte es wirklich verstehen. Nur hier brauchte die Seele nicht zu zittern, hier gab es immer frisches Wasser, hier lag jeder Gedanke an das finstre Tal fern. Der Psalm 23 mochte noch so schön sein, aber sie sah auch noch die Mutter, die in bangen Nächten vor dem kleinen Hausaltar kniete und inbrünstig betete, der Herr möge ihre älteste Tochter aus dem finstren Tal zurück ins Licht führen.
Ihre Hand ruhte auf dem moosgrünen Telefonhörer. "Phone home", vernahm sie die Stimme von E.T. Mein Gott, wie lange war es her, dass sie den Film in einem amerikanischen Soldatenkino gesehen hatte? Dreißig Jahre? ZEHN Jahre vor Klaus´ Geburt?? Und wie alt war seine Mutter da gewesen? Siebzehn?? Großer Gott! Wo war denn bloß die Zeit abgeblieben? Wieso hatte sie sie nicht halten können, wieso hatte sie sie durch ihre hilflosen Hände gleiten lassen, wie ein Stück nasser Seife, das umso schwieriger festzuhalten war, je fester man zudrückte?
Sie vernahm das Ticken der alten Standuhr im Wohnzimmer. Sie hatte diese Uhr von den Eltern geerbt. Schon als Kind hatte sie gern mal den Uhrenkasten aufgemacht, um nachzusehen, ob da nicht doch eines der versteckten Geislein saß, zitternd vor Angst vor dem bösen Wolf, der es fressen wollte. Aber sie hatte nie das Tierchen gefunden, und Wölfe tarnten sich mittlerweile mit braunen Uniformen, wie sie schon früh erkannt hatte. Als diese ´Wölfe´ ihr erst den Glauben an das zitternde kleine, aber starke Ziegenböckchen nehmen wollten, dann den an das Christkind.
Die alte Dame hatte nicht die Kraft, gegen die vielen Erinnerungen anzugehen. Andere mochten unter Alzheimer leiden, mochten Gnade im Vergessen finden, sie aber wurde tagtäglich mit dem Fluch der Erinnerung bestraft. Sie hatte sich den Glauben an den Erlöser nicht nehmen lassen, sie war stark geblieben. Und sie hatte ihrem Kind, ihrem kleinen Mädchen, damals den Namen des Gesalbten gegeben, Christhild, auch wenn sie immer nur Christl gerufen wurde. Allein hatte sie es fertiggebracht, das Kind großzuziehen, der Vater, ein junger amerikanischer Leutnant, war ins ferne Vietnam abkommandiert worden, weil der Krieg Soldaten brauchte und in Deutschland niemand mehr den Krieg brauchte. Gefallen war er, nach wenigen Monaten schon, während der Tet-Offensive; eines von über anderthalbtausend Opfern, die nie gefunden wurden. Was hatte Giulio, der von seinen Kameraden immer nur Julie genannt wurde, was hatte dieser schmächtige, kleine Mann, Sohn italienischer Auswanderer, in jenem fernen, fremden Land überhaupt zu suchen? Wieso konnte er nicht irgendwo daheim in Indiana mit einem Trecker das weite Farmland bestellen? Sie hatte ihn einige Male gefragt, wieso er zur Army gegangen war, und hatte den Stolz in seinen Augen gesehen, um die Freiheit zu verteidigen, die Freiheit, die wir euch Germans gebracht haben!
Sie musste tief Luft holen. War seine Tochter deshalb später nach Italien gegangen? Und noch ein Gedanke drängte sich ihr auf. Julie - Barbara. Gab es da womöglich irgendeine verborgene Verbindung, etwas, das die Wissenschaft noch nicht entdeckt hatte? Hatte nicht auch Giulio etwas an sich, das..."
"Was ist, Oma? Tut dir was weh, oder warum stöhnst du?" Klaus stand in der Küchentür; ihr war es gar nicht aufgefallen.
"Nein. Nichts ist. Es ist alles in Ordnung. Es ist nur einfach schön, endlich wieder in den eigenen vier Wänden zu sein. Sag mal, hast du heute Abend schon etwas vor?"
Klaus zuckte die Schultern. "Ne, nicht dass ich wüsste. Außer natürlich dir bei allem zu helfen."
"Brauchst du nicht! Hier, sieh, ich komm schon wieder ganz gut zurecht!" Sie erhob sich, machte etwas, das wie eine Pirouette aussehen sollte, und ging sogar die ersten Stufen der Treppe hinauf und wieder hinunter. "Die haben mich ganz gut wieder hingekriegt, diese Krankengymnasten. Ich dachte mir, du hast dich so liebevoll lange Zeit um mich gekümmert, und... nun ja, da wollte ich dich ins Kino einladen!"
Klaus war sichtlich überrascht. "Du willst mich ... ins Kino einladen? Und ewig singen die Wälder, oder was??"
"Ach Quatsch!" Oma Meisner musste lachen. "Die singen schon lange nicht mehr, die sterben wohl eher ab! Ich habe ja auch gar nicht gesagt, dass du mit mir ins Kino gehen sollst. Du kannst mitnehmen, wen du willst. Deine kleine Freundin vielleicht? Will ich ja auch gar nicht wissen, ist ja dein Leben, da muss ich ja nicht alles wissen. Aber ich dachte, wenn ich dir hundert Euro gebe, das dürfte wohl für einen schönen Abend zu zweit reichen, oder?" Sie drückte ihm den grünen Geldschein in die Hand. Grün, das waren doch immer Zwanzigmarkscheine gewesen, oder? Das gute Geld damals...
"Mensch Oma, das ist ja wirklich lieb von dir! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! Danke!!" Er beugte sich vor und gab seiner Großmutter einen dicken Kuss auf die Wange. "Und du glaubst wirklich, dass du ohne mich klar kommst? Soll ich nicht doch lieber...?"
Sie schüttelte den Kopf. Lass man gut sein, Klaus. Wenn wir um sechs zu Abend essen, dann werde ich danach sowieso bald schlafen gehen. Bin das ja vom Spital so gewohnt. Mach du dir endlich mal einen schönen Abend, du hast es dir redlich verdient!"
Dem wollte Klaus nicht widersprechen. Er wusste auch schon, wen er ins Kino mitnehmen wollte.

%%%

Zum ersten Mal verstand sie, was es hieß, im eigenen Saft zu braten. Sex, Sex, Sex!!! Sie konnte kaum noch an etwas anderes denken. War es früher auch so gewesen? Eher nicht. Früher - und das war noch gar nicht so lange her, eigentlich nicht einmal ein ganzes Jahr, da hatte sie Frieden mit sich selbst gehabt. Jetzt war alles anders. Seitdem sie ihre Erlebnisse mit Daniela gehabt hatte, mit Barbara hatte es ja leider nicht geklappt.
Jetzt aber klappte gar nichts mehr. Seit drei Wochen steckte sie schon in ihrem neuen Keuschheitsgürtel, einundzwanzig Tage das Leben einer Nonne, obwohl sie nicht im Ernst glaubte, dass Nonnen nicht wussten, was gut war. Und diese steckten im Gegensatz zu ihr nicht in einem stählernen Gürtel!
Monika war verzweifelt. Der Sommer war endlich da mit herrlichen Tagen, aber sie hatte keinen Gefallen daran. Ihre Freundinnen wunderten sich, warum sie nicht mit zum zum Baden gehen wollte, warum sie selbst jetzt noch mit langer Jeans und langen Oberteilen herumlief, wo doch bauchfrei angesagt war. Wie hatte sie nur so blöde sein können, sich freiwillig in dieses Ding einzuschließen?? Einziger Vorteil der ganzen Aktion: ihre Mutter war sauer und ließ sie in Ruhe. Ob das allerdings alle Nachteile aufwog, das mochte dahingestellt bleiben.
Doch heute gab es Licht am Ende des Tunnels. Bisher war sie einige Male aufgeschlossen worden, was in der Praxis so funktionierte, dass zuerst ihre Mutter das eine Schloss öffnete, sie dann zu Claudia hinüberging, welche das zweite Schloss entfernte, woraufhin sie unter Aufsicht von deren Mutter zum Duschen begleitet wurde. Intime Momente bis jetzt: null. Selbst wenn es ihr gelungen wäre, sich einmal dort zu berühren, wo es am meisten Spaß machte, so fehlte ihr jede gedankliche Einstimmung, war die eigenen Phantasie trocken und spröde, so dass rein gar nichts ging. Aber sobald sie wieder das Klicken der beiden Schlösser hörte, sobald loderte das Verlangen in ihr wieder auf, fuhr ihre Hand wieder dorthin, wo eine heiße, hungrige Scham auf sie wartete, vergeblich wartete.
Aber heute gab es einen kleinen Hoffnungsschimmer für sie. Pia, ihre Mutter, und Agnes, Claudias Mutter, hatten sich für den Abend verabredet, wollten gemeinsam ins Kino gehen, sich irgendeinen neuen Film ansehen, was Stunden dauern würde. Jetzt hatte Monika schon seit einer geschlagenen halben Stunde alle Schränke und Schubladen der Mutter durchsucht, leider ohne Ergebnis. Irgendwo musste der verdammte Schlüssel doch sein! Sie war sich sicher, dass die Mutter ihn nicht mitgenommen hatte, denn sie wusste, dass die Mutter Angst hatte, ihn zu verlieren. Wo aber hatte sie ihn hingelegt?
Ärgerlich ging sie zurück in den Flur. Ihre Mutter wäre doch wohl nicht so blöd... Und wenn doch? Nein, nie im Leben! Trotzdem ging sie ins Wohnzimmer, öffnete die Tür des Wohnzimmerschranks und holte das Kristallgefäß hervor, blickte hinein und musste lachen. Warum denn in der Ferne suchen, wenn der Schlüssel liegt so nah? Oh, wie blöd war sie eigentlich?? Sie steckte den Schlüssel in das rechte der beiden kleinen Schlösser, schloss auf, legte den Schlüssel zurück in die Schale und ging in ihr Zimmer, sich fertig anzuziehen.
Wenig später klingelte sie bei Claudia.

"Monika! Schön, dich mal wieder zu sehen!" scherzte diese, als sie die Tür öffnete und die Freundin an ihr vorbeistürmte, denn die beiden Frauen sahen sich fast täglich. "Was ist los, Moni? Wo brennt´s?"
Monika legte eine verkrampfte Hand auf ihren Rock, ihr Schritt zeichnete sich deutlich ab. "Hier! Hier brennt´s. Ich stehe sozusagen in Flammen!"
"Tja, das ist ja dumm. Vielleicht kann ich da mit einem Saft löschen?"
"Dafür ist es zu spät. Jetzt hilft nur noch ein Schlüssel!"
Augenblicklich runzelte Claudia die Stirn. "Wie lange bist du jetzt ohne...?"
"Drei Wochen. Langsam werde ich verrückt. Kann schon gar nicht mehr schlafen. Du must mich aufschließen! Bitte!" Vielleicht half es, wenn sie dieses bitte hinzufügte.
"Drei Wochen?" Claudia schüttelte den Kopf. "Und jetzt hast du schon Probleme? Wie wird es dann erst nach ein, zwei Monaten sein?"
"Dann werde ich verbrannt sein, oder aufgelöst im eigenen Saft. Such dir was aus!" Monika setzte ein verzweifeltes Gesicht auf. Die Vorstellung, so lange ohne echte Unterbrechung verschlossen zu sein, raubte ihr den Verstand. Gut, dass sie Claudia auf ihrer Seite wusste. "Bitte!" Sie umarmte die Freundin, die sie jedoch ein wenig wegstieß und ganz ungeniert ihre Hand in ihre Hose steckte.
"Du machst mich ganz schön heiß, Moni! So verschlossen..." Claudia grinste sie gespielt lüstern an.
"Ach komm, lass den Quatsch! Was ist denn nun mit dem Schlüssel? Wo hast du ihn? Mutters Schlüssel habe ich schon gefunden; fehlt nur noch deiner!"
"Der Schlüssel ist im Badezimmer. Von mir aus kannst du ihn ruhig haben..."
Monika stürzte schon an ihr vorbei, Richtung Badezimmer. Endlich! Sie riss die Tür auf, achtete nicht auf die warme Luft, die ihr entgegenströmte. Der Schlüssel? Wo mochte er sein? Wieso hatte sie sich nicht die Zeit genommen, Claudia zu fragen?
Sie sah ihn!! Er hing an einem Haken unter einem kleinen Hängeschränkchen. Befestigt mit einem kleinen Sicherheitsschloss an zwei Ösen, die in die Bodenplatte des Schränkchens eingeschraubt waren. Was zum Teufel?? Sie versuchte, die Ösen zu lockern, sie zu drehen, aber da ließ sich nichts drehen, man hätte erst das Schloss entfernen müssen, sonst lief da gar nichts.
Sie starrte auf den Schlüssel, konzentrierte sich, so als könne sie ihn mittels ihrer Gedankenkraft irgendwie lösen, irgendwie in ihre Hand bringen. Dann erkannte sie, dass sie ihn ja bereits in der Hand hielt, ihn nur nicht dort hinbekommen konnte, wo er gebraucht wurde. Sie sah sich um, schnappte sich einen Stuhl, schmiss den Wäschekorb um, der im Weg stand. Irgendwie musste sie ihren Gürtel zum Schlüssel bekommen, wenn es anders rum nicht ging. Kletterte auf den Stuhl, bog Bauch und Hüfte so weit nach vorn, wie es irgend ging, aber immer fehlte mindestens eine Handbreit, Schloss und Schlüssel wollten einander nicht näherkommen, egal wie sehr sie sich wand und drehte. Verärgert öffnete sie die Tür des kleinen Schränkchens, es musste doch irgendwie abzunehmen sein, sie packte mit beiden Händen zu, versuchte es anzuheben, aber sie sah die dicken Schrauben, die sicherlich in festen Dübeln steckten - nichts zu machen. Erschöpft ließ sie sich auf den Fußboden fallen.
"Und...?" Claudia stand in der Badezimmertür. "Hast du schon aufgegeben?"
Monika wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Nase. "Ist das hier deine Idee?"
"Ha! Nein, ich sagte doch, dass du von mir aus den Schlüssel haben konntest. Aber Mutter hatte wohl nicht das größte Vertrauen in mich..."
"Hat Agnes den Schlüssel hierzu?"
"Ja. Und den hat sie dabei. Tut mir leid." Sie kniete sich neben Monika. "Komm, nimms nicht so tragisch. Es ist doch nur das, was du selber wolltest. Keiner hat dich zu dieser verrückten Sache gezwungen."
"Enthaltsamkeit", murmelte Monika erschöpft. Sie fühlte sich vollkommen platt. Konnte es sein, dass ihr weggesperrtes Sexualleben ihr Energie abzog? Langsam rappelte sie sich auf. Und eine neue Frage drängte sich ihr auf: Wann würde der neue Keuschheitsgürtel mit ihr verwachsen? Natürlich nicht physisch, wie man es in manch dämlicher Story lesen konnte, sondern rein mental. Käme irgendwann der Zeitpunkt, an dem sie ihren Widerstand aufgeben würde, oder würde sie weiter kämpfen, gegen das Unerbittliche anrennen, bis ihr eigenes Verlangen sie gänzlich verzehrt hatte?
"Komm, Moni. Komm, lass uns mal einen Kaffee trinken. Und ein bisschen über Australien quatschen, ja? Ich bin ja noch gar nicht dazu gekommen, dir viel zu erzählen." Beide begaben sich in die Küche. Australien? dachte Monika. Nun gut, vielleicht würde sie das ja etwas ablenken.



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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:04.02.13 09:00 IP: gespeichert Moderator melden


Hammerfortsetzung! Da ist der Schlüssel so nahe - und doch so weit weg.
Was Kuckst Du?
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:04.02.13 09:29 IP: gespeichert Moderator melden


Hi Daniela,
nun ist dies zweimal erschienen deshalb steht hier nur der Gruß

LG Horst der alte Leser


♦♦ ♥ ♦♦


[Edit]: Dieser Eintrag wurde zuletzt von AlterLeser am 04.02.13 um 09:34 geändert
Gruß der alte Leser Horst
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:04.02.13 09:32 IP: gespeichert Moderator melden


Hi Daniela,
frage mich nun ob nicht eine Nagelschere die Schlüsselbefestigung beendet
hätte allerdings wäre der Gebrauch natürlich aufgefallen.
Zur Kommissarin Wimmer, vielleicht probiert sie ja den KG am eigenem Leibe aus und es gefällt ihr.
Bin nun gespannt wer denn am Ende die Unbekannte Tote ist. Da du ja auf verschiedenen Zeitebenen
arbeitest ist es sehr schwer das richtige zu erahnen.
Deine Fortsetzung hat mir wieder sehr gut gefallen und sage hiermit Danke.

LG Horst der alte Leser


♦♦ ♥ ♦♦

Gruß der alte Leser Horst
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zur Sicherheit besser verschlossen, zur Zeit im Neosteel TV-Masterpiece...

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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:05.02.13 21:58 IP: gespeichert Moderator melden


Hi Daniela,

ich finde diese Fortsetzung wieder einmal herausragend und absolut gelungen! Es ist so schön, im Text so viele kleine Anspielungen zu finden, die einen inspirieren.

Ja, Kommissarin Wimmer scheint ja ziemlich neugierig auf diese Keuschheits-Ausstattung geworden zu sein. Wenn sie ihr auch das verwehrt, wonach sie sich so sehnt: Neues Leben. Und ihre biologische Uhr tickt. Sollte sie sich unter diesen Umständen wirklich noch für die verbleibende Zeit verschließen? Und wer bekäme dann den Schlüssel, etwa Rick, der wohl ebenfalls nicht unberührt von solcher Vorstellung ist?

Es bleibt weiterhin ein Rätsel, wer die Tote ist. Auch wenn auf einmal so viele Indizien scheinbar auf Daniela hindeuten. Und natürlich ebenso rätselhaft, wer das Gegenstück des Händeabdrucks an ihr ist, der das Unglück offenbar ausgelöst hat. Klaus vielleicht? Aber wieso sollte er Daniela schlagen? Fragen, nichts als Fragen bisher.

Die Rückschau von Oma Meisner finde ich wieder einmal sehr spannend. Und ebenso, welche Schlüsse sie zieht. Es ist geradezu rührend, wie sich Klaus um sie sorgt und kümmert - wo er doch die Briefe gefunden hat. Trotzdem wirkt sie so bedrückt, und das Geld, das sie Klaus gibt, erzeugt irgendwie den Anschein, als wolle sie sich freikaufen.

Monika scheint irgendwie in der selbstgewählten Falle zu stecken, geradezu sprichwörtlich. Ich bin sehr gespannt, wie sie das für sich irgendwann einmal auflösen kann, denn das hoffe ich wirklich für sie.

Vielen Dank für diese spannende und inspirierende Fortsetzung! Und ich freue mich natürlich schon auf nächsten Sonntag!

Keusche Grüße
Keuschling

[Edit]: Dieser Eintrag wurde zuletzt von Keuschling am 05.02.13 um 21:59 geändert
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maximilian24
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:05.02.13 22:43 IP: gespeichert Moderator melden


Liebe Dani!
In Ergänzung zu den Kommentaren denen ich mich voll anschließen kann, darf ich diesmal Deine Schilderungen über eine bereits fast 60 Jahre zurück liegenden ZEit hervor heben. Ich vermute nämlich, dass sich die meisten LeserInnen in diesem Forum das gar nicht mehr vorstellen können. Du schilderst aber Vorkommnisse wie ich sie selbst in Erinnerung habe, und zwar so als ob Du selbst dabei gewesen wärst. Das möchte ich den jüngeren Lesern einmal deutlich sagen.
Danke
Maximilian
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Daniela 20
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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:10.02.13 22:00 IP: gespeichert Moderator melden


Danke! Einige Leser haben wieder dafür gesorgt, dass ich zufrieden und mit einem frohen Lächeln zu Bett gehen konnte! Endlich habe ich nun auch damit begonnen, den Schluss der Geschichte zu schreiben. Aber, er wird nicht allen gefallen. Doch warten wir es einmal ab; es wird ja noch einige Wochen dauern, bis wir so weit sind! Viel Freude beim Lesen wünscht Euch nun Eure Daniela - und für alle Jecken ein Alaaf und Helau!
---

"Ins Kino?? Wann... heute Abend?" Sie klang nicht gerade begeistert, als Klaus sie anrief. "Doch, klar, natürlich komme ich gern mit. Da ist nur ein klitzekleines Problem."

Musste es denn immer Probleme geben? Klaus seufzte. "Also Lyn, was ist nun? Kannst du, oder kannst du nicht?"

"Ich habe Rufbereitschaft."

"Bereitschaft? Gibt es das bei euch auch?"

"Ja. Eine komplette Mannschaft ist immer auf der Wache. Wenn sie ausrückt, dann tritt eine andere an ihre Stelle, falls irgendwo noch etwas geschieht. Da sollten wir dann binnen fünfzehn Minuten auf der Wache sein, um übernehmen zu können. Mit anderen Worten, das Kino sollte nicht allzu weit enfernt sein."

Klaus nannte ihr den Namen des Kinos, in dem Titanic in neuester 3D-Technik gezeigt wurde.
"Oh ja, das könnte gehen, Jack! Sehen wir uns dann vor dem Kino?"

Sie verabredeten sich für halb acht, dann beendete Klaus das Gespräch. Jack? Warum hatte sie ihn Jack genannt? Jack Dawson, das war derjenige, der Rose DeWitt Bukater gerettet hatte, und zwar nicht nur vor dem Tod durch Ertrinken, sondern vor dem Tod des langsamen Dahinsiechens in einer erstarrten Beziehung. Und Lyn? War es nun umgekehrt? Wollte sie ihn nun retten? Immerhin war bei einer Sanitäterin ein Florence-Nightingale-Syndrom durchaus naheliegend. Aber in welcher Richtung sollte er gerettet werden? Klaus, oder doch eher Barbara??


Beide genossen die anheimelnde Dunkelheit des Kinos. Ja, DVDs mochten eine tolle Erfindung sein, aber das richtige Erlebnis konnte man doch nur in der allumfassenden Präsenz eines Kinos genießen. Da war ja schließlich nicht nur der Film. Es war der Ort selber, der, ähnlich einer Kirche, gewissermaßen ein geweihter Ort war, oft genug leider ein Ort, der filmischer Gewalt geweiht zu sein schien, aber manchmal auch der Ort herzzerreißender Liebesgeschichten. Manchmal sogar der Ort, an dem die Liebe physisch spürbar war, so wie jetzt, als Klaus plötzlich glaubte, etwas vernehmen zu können, was unzweifelhaft von jener Frau ausging, die hier neben ihm saß.

Dann aber geschah etwas Dummes. Statt wie früher, als man den Film Film bleiben lassen konnte, begann dieser nach ihm zu greifen. Die Fiktion, die erfundene Geschichte, begann, sich zuerst langsam, dann immer schneller von der Leinwand zu lösen. Sie schwebte vor ihnen im Raum, griff nach ihnen, begann ihre nicht zu stoppende Umarmung, die sich bald in ein unangenehmes Würgen änderte.
Klaus setzte die komische Brille ab, die man ihm an der Kasse ausgehändigt hatte. Sofort sprang der Film dorthin zurück, wo er hingehörte, auf die Leinwand, in die Vorstellungskraft der eigenen Phanstasie. Nur, dass alles jetzt schleierhaft, undeutlich und irgendwie doppelt wurde. Rose und Jack, die ein seltsames Doppelleben führten. Personen, die scheinbar von einer Art Aura umgeben waren, die das Sehen nicht unbedingt klarer machte.
Schnell setzte er die Brille wieder auf. Eine Brille, die ihn seltsamerweise von seiner Partnerin trennte, die er ohne Brille besser sehen konnte, trotz der Schwärze des Raumes.
Dann begann sie zu tanzen. Barfuß. Sie hielt einen jungen Mann an den Händen, das Paar wirbelte umher, getrieben und gejagt von irischer Musik, es tanzte im Raum vor ihm, er hätte zupacken können, hätte er es gewollt. Schließlich kam die Szene, in der sie sich auf nackten Zehen immer höher schraubte, bis sie senkrecht vor staunenden Männern scheinbar die Schwerkraft überwunden hatte und...

Ein hässliches Piepsen zerstörte alles. Klaus registrierte, wie Evelyn neben ihm ihr Handy aus der Tasche kramte, wie das Display aufleuchtete und sie die an sie gerichtete Nachricht las. Auf ihren Lippen formte sich ein deutliches scheiße, dann steckte sie das Handy weg und griff nach ihrer Tasche. Sie lehnte sich zu ihm hinüber. "Tut mir leid. Bereitschaft. Ich muss los. Danke für die Einladung." Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, dann drängte sie auch schon an ihm vorbei, schneller, als er überhaupt noch reagieren konnte. Ein Notfall war eingetreten, in fünfzehn Minuten musste sie auf der Wache sein. Spätestens.

Klaus war verwirrt. Der Abend war kaputt, ehe er richtig begonnen hatte. Hatte er Lust, nun allein auf den Eisberg zu warten, der das Schiff mit Mann und Maus in die Tiefe ziehen würde? Oder zu sehen, wie eben jener Jack erfroren und leblos absinken würde? Nein, hatte er nicht. Mit einem Mal merkte er, dass ihm kalt war. Er trug nur leichte Sommerkleidung, was tagsüber prima war, aber nicht abends in einem temperierten Kinosaal. Und Lyn? War sie nicht plötzlich und unerwartet von ihm abgetrieben, hatte sie ihn nicht allein gelassen, ohne ihn vor sich selbst zu retten?
Abendliche Wärme umfing ihn, als er ins Freie trat. Klaus wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Es war noch relativ früh. Sollte er einen Besuch in einem Biergarten einlegen? Und dort.... Liebespaare sehen? Frauen in hübschen Kleidern? Vielleicht in Dirndlkleidern?

Er atmete schwer durch. Die Phantasie des eigenen Lebens griff nach ihm, genauso wie zuvor die des Films im Kino. Er wusste, wo er eine Frau in einem tollen Dirndl sehen würde, jetzt, gleich, heute, morgen oder übermorgen. Wann immer sie wollte.

Keine halbe Stunde später eilte sie die Treppe zu ihrer kleinen Dachwohnung hoch. Gleich! Dann sah Klaus die Dose, die immer noch auf dem Küchentisch stand. Seine Oma! Vielleicht sollte er doch besser nach seiner Oma sehen. Barbara würde warten müssen. Die Großmutter würde sich freuen, wenn er nach ihr sah. Klaus schnappte sich die Dose, steckte sie in seinen kleinen Rucksack und machte sich auf den Weg.

Der Motor seines kleinen Rollers erstarb mit dem gewöhnlichen Blubbern. Klaus sah auf seine Uhr. Halb zehn, das ging ja noch. Er blickte zu den Fenstern der alten Villa empor, doch, da war noch Licht. Seine Oma hatte sich noch nicht hingelegt. Es war schön, nach so vielen Wochen endlich wieder Licht zu sehen, zu wissen, dass alles beim Alten war.
Wie üblich schloss er die Tür mit seinem eigenen Schlüssel auf. "Oma? Hallo? Ich bin´s, Klaus. Wo steckst du? Ist alles in Ordnung?" Er hängte seine Jacke auf einen Haken, ließ den Rucksack zu Boden fallen, nahm ihn dann aber wieder auf und suchte die Lebkuchendose hervor. "Oma??"

Leise Radiomusik tönte ihm aus dem Wohnzimmer entgegen. Sie war nicht dort. Auch in der Küche war sie nicht. Vielleicht war sie doch schon in ihr Zimmer gegangen? Klaus nahm mehrere Treppenstufen auf einmal. Das Bett war frisch gemacht, aber eine Oma gab es auch hier nicht. Vielleicht im Bad? Nein, da war alles dunkel.
Ihm wurde kalt. Das hier war wie ein dejà-vu. Schnell rannte er wieder hinab. Die Kellertür war angelehnt. Das Licht eingeschaltet. Unten erblickte er seine Großmutter, die auf allen Vieren auf dem nackten Boden herumkroch. "Oma!!!" Erleichtert, aber auch verwirrt, stieß er es aus. Die alte Frau zuckte zusammen, dass er glaubte, sie würde tot umfallen.

"Herr im Himmel!!! Hast du mich aber erschreckt, Bub! Hab dich überhaupt nicht kommen hören!"

"Was zum Teufel machst du denn da unten?" Seine Reaktion war heftiger, als er es gewünscht hatte. "Und ich dachte schon, dir wäre wieder etwas zugestoßen!"

"Nun mal mal nicht gleich den Teufel an die Wand! Ich... ich suche etwas." Sie sagte es tonlos, ohne irgendeine Emotion preiszugeben.

Sofort wusste er, dass es sich nicht um das Schuhputzzeug handelte. Er blickte auf seine Hand, in der er immer noch die Dose hielt. "Suchst du... suchst du die hier, Oma??"

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Zu behaupten, dass es ihr unter den Nägeln brannte, wäre der reine Hohn gewesen. Nein, unter den Nägeln brannte gar nichts, leider. Wohl aber unter der stählernen Barriere ihres Keuschheitsgürtels. Monika wunderte sich, dass ihre Kleidung noch kein Feuer gefangen hatte.
Ihr Ausbruchsversuch war gescheitert. Sie wäre mit allem fertig geworden, hätte es sicherlich auch verkraften können, wenn Claudia sie von sich aus abgewiesen hätte, aber den Schlüssel zur ihrer Rettung so dicht vor Augen zu haben, dann aber niemals das letzte Schloss ihres Keuschheitsgürtels auch nur annähernd in die Nähe des Schlüssels zu bekommen, das war wahrlich mehr, als sie verkraften konnte. Irgendjemand trieb hier ein grausames Spiel mit ihr. Doch sie erkannte nicht, wer. Und dass letzten Endes sie selber es war, das konnte und wollte sie einfach noch nicht begreifen. Fest stand nur, dass sie es nicht richtig begriffen hatte, was Agnes mit dem Begriff Enthaltsamkeit gemeint hatte, als diese sie im Krankenhaus besucht hatte.

Trotzdem hatten die beiden Mädchen einen halbwegs schönen Abend gehabt. Von irgendwoher hatte Claudia einige Leckereien hervorgezaubert, und ein Glas Martini war auch nicht schlecht an diesem heißen Sommerabend. Dann hatte sie ihren Laptop eingeschaltet und Monika lang und breit von ihrem Jahr in Australien berichtet.

"Dort möchte ich jetzt auch sein!", blickte Monika neidisch auf die Bilder.

"Ich nicht."

"Was? Wieso? Kapier ich nicht."

"Moni, dort unten ist jetzt Winter. Zumindest unten in Victoria und auf Tasmanien. Dort kann es sogar schneien."

"Echt? Dann wollen wir lieber den Sommer hier genießen!" Monika stöhnte leise, denn von genießen konnte bei ihr keine Rede sein, solange sie in dem vermaledeiten Keuschheitsgürtel steckte. Automatisch fuhr ihre Hand in den Schritt, und schon wieder spürte sie nur die harte Struktur unter ihrem dünnen Rock.

Claudia lächelte sie mitleidsvoll an. "Ist es so schlimm?"

Monika schüttelte den Kopf. "Nein, es ist schlimmer. Es wird jeden Tag schlimmer. Ich könnte aus der Haut fahren ... aber das geht im Moment ja auch nicht." Sie klopfte gegen den Taillengurt. "Alles fest verschlossen. Keine Chance."

Claudia sah ein, dass sie das Thema wohl besser wieder Richtung Australien lenken sollte. "Hättest du nicht mal Lust, hinzufahren?"

"Schon. Aber was soll ich da?"

"Wie wäre es mit: das Leben genießen? Weshalb sonst fährt man nach Australien?" Sie goss sich selber und Monika noch etwas Martini nach und holte neue Eiswürfel. "Du könntest deinen alten Herrn besuchen. Lebt der nicht in Australien?"

Monika nickte.

"Wie alt ist der jetzt eigentlich? Hast du noch Kontakt zu ihm?"

Monika brauchte nicht lange zu überlegen."Der ist jetzt 65. Und unser Kontakt ist recht einseitig." Sie erzählte Claudia von der elektronischen Weihnachtskarte mit dem surfenden Känguru.

"Ob er dich wohl vermisst?"

Monika zuckte hilflos mit den Schultern. "Keine Ahnung. Ich glaube, er hat eher ein schlechtes Gewissen, weshalb er diese Weihnachtsgrüße schickt."

"Ein schlechtes Gewissen, Moni? Wegen damals?"

Monika verzog den Mund zu einer Schnute. "Klar. Außerdem würde ich heute nicht in diesem verdammten Scheißgürtel stecken, wenn er nicht gewesen wäre."

"Ist es so einfach? Manchmal glaube ich, du machst dir da was vor. Ich erinnere mich noch recht gut an damals..."

Monika sandte der Freundin einen zweifelnden Blick. "Er hat mich missbraucht! Punkt. Ende der Diskussion."

Claudia wandte den Blick ab. "Ja, das hat er wohl. Aber ich erinnere mich noch recht gut daran, dass es dir nicht so ganz unangenehm war. Mal vorsichtig ausgedrückt. Du hattest deinen Daddy immer sehr lieb..."

"Was meinst du?? Soll ich jetzt etwa selber Schuld haben? Das sind ja ganz neue Töne!" Monikas Stimme wirkte gereizt.

"Nein nein! Bewahre! Du hast keine Schuld und klar, er hat dich missbraucht. Ich sage ja nur, es war etwas, das euch beide angeht, das sich nicht so einseitig lösen lässt, indem man sein eigenes Mitwirken negiert, immer nur auf den anderen zeigt und damit glaubt, man selber habe mit der Sache nichts zu tun."

"Und? Was soll ich tun? Wenn du schon so klug bist, dann hast du sicherlich eine Antwort auf diese Frage!"

"Nun schnapp nicht gleich ein, Moni!! Aber du musst doch zugeben, dass es etwas seltsam ist, dass du über zehn Jahre, nachdem das da mit deinem alten Herrn passiert ist, immer noch mit so einem Keuschheitsgürtel durch die Gegend rennst. Normal ist das nicht!" Claudia steckte sich ein Stück Schokolade in den Mund. Was war heutzutage überhaupt noch normal? "Ich hab ja bloß Angst, dass du es in zehn Jahren immer noch tust."

Monika verdrehte die Augen. "Bestimmt. Wenn du mir nicht den Schlüssel gibst, dann stecke ich in zehn Jahren immer noch in diesem Ding!" Theatralisch begann sie, erneut wild an ihrem Taillenreifen zu ziehen und zu zerren. "Also, was soll ich tun?"

Claudia lächelte zufrieden. Monikas anfängliche Irritation hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst; sie war nie ein besonders nachtragender Mensch gewesen. Sicherlich war sie heute Abend mehr als frustriert darüber, dass ihr schöner Ausbruchsplan nicht aufgegangen war, aber Claudia spürte dennoch, dass ihre Freundin jetzt für ihre Vorschläge zugängig sein würde. Sie musste nur aufpassen, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen.

%%%


Sie saßen sich gegenüber. Der solide Esstisch bildete eine Mauer zwischen ihnen, die der Berliner Mauer im Moment in nichts nachstand. Zwischen ihnen stand die leere Blechdose, welche über Jahre hinweg ein Geheimnis gewahrt hatte, das jetzt urplötzlich keines mehr war.

"Du hast es die ganze Zeit über gewusst!" Es war keine Frage, die Klaus an seine Oma richtete. Es war eher ein Urteil.

Die alte Frau Meisner antwortete nicht. Es war müßig, zu antworten; der Bub würde es eh nicht verstehen. Hilflos klammerten ihre Hände sich an die gestickte Tagesdecke.

"Du hast es wirklich die ganze Zeit über gewusst, hattest es quasi schriftlich vorliegen, und hast trotzdem nichts unternommen??" Seine Stimme steigerte sich, dann aber brach sie abrupt ab. Er musste sich erst über seine eigenen Gefühle klar werden. War es Wut? Oder doch eher das Mitleid mit einer alten Frau?

"Was ... was hätte ich denn machen sollen? Außerdem schrieb Thomas ja nie so ganz konkret, was da eigentlich geschehen war. Klaus, ich habe mir einfach nichts dabei gedacht..."

"Nichts dabei gedacht??" fuhr ihr Enkel ihr in die Parade. "Und warum um alles in der Welt hast du diese Briefe dann überhaupt aufgehoben, wenn du dir nichts dabei gedacht hast?? Ach Oma, jetzt lüg mich nicht auch noch an!" Abscheu. Er empfand Abscheu für sie.

Die alte Frau schluchzte auf. Es war genauso gekommen, wie sie es seit Monaten befürchtet hatte. Er war nicht fähig, die Dinge nüchtern zu betrachten.

"Du hättest zum Beispiel diese Briefe weiterleiten können. Anzeige erstatten. Ja, du hättest zur Polizei gehen können und Anzeige erstatten."

"Mit diesen Briefen? Geschrieben von einem ... einem Kind?? Die hätten mich doch gleich ausgelacht! Pubertäre Kindesphantasien! Außerdem war so etwas damals wohl eine ganz normale Sache, oder?" Sie versuchte, ihr Fehlverhalten zu verteidigen. Was ihr nicht gelang.

"Damals? Was heißt hier damals?? Du sprichst so, als wäre das alles noch zu Adolfs Zeiten geschehen!"

"Damals wäre so etwas nicht geschehen!!" Sie schlug ihre Faust auf den Tisch. Verkehrte Welt. Wieso begann sie plötzlich, eine Zeit zu verteidigen, für die sie selber nie das Geringste übrig gehabt hatte?

"Ach nein?" Klaus lachte spöttisch auf. "Natürlich nicht. Damals habt ihr sie ja gleich in die Gaskammern geschickt! Komm mir doch nicht mit so einem Scheiß jetzt, Oma. Das hier..." - er deutete auf die Briefe - "das ist ja nicht vor hundert Jahren passiert, sondern in diesem Jahrtausend! Wach auf, Oma!! Du hast einen ganz verdammten Mist gemacht, kannst du das mal einsehen?" Er merkte, wie seine Ungeduld wuchs. Im Grunde genommen war ihm jedes Wort dieses Gesprächs zuwider, im Grunde genommen wäre er lieber schreiend aus dem Haus gelaufen, hinüber in seine kleine Wohnung, hinüber zu... Barbara.

"Ja, du hast ja recht." Frau Meisner schneuzte sich die Nase. "Ich hab schon gewusst, dass es nicht richtig war. Aber ich habe nicht gewusst, was ich hätte tun sollen. Man hätte dich möglicherweise der Schule verwiesen, und dann?? Glaubst du, wir hätten so schnell für dich ein anderes kirchliches Internat irgendwo gefunden?"

Klaus sah seine Großmutter müde an und schüttelte bloß den Kopf. Kirche, Kirche, Kirche! Er konnte es nicht mehr hören. Diese Generation würde es nie begreifen, was gerade in kirchlichen Einrichtungen geschah. Und schlimmer war: er konnte es selber kaum begreifen, hatte sein Schicksal immer als einen bedauerlichen Einzelfall angesehen, als das Versagen eines einzelnen Menschen. Jetzt aber waren immer mehr ähnliche Fälle an die Öffentlichkeit gekommen; sein Fall war bloß einer von vielen.

Es war spät geworden. Eigentlich hätten sie beide besser zu Bett gehen sollen. Aber da war noch etwas, das geklärt werden musste. "Sag mal, Oma, warum hast du diese Briefe denn nun aufgehoben? Und hast du irgendeine Ahnung, ob Thomas damals eine Antwort vom Bischof erhalten hatte? Erst jetzt verstehe ich so richtig, warum damals, nachdem er die Schule so Hals über Kopf verlassen hatte, unser ganzes Zimmer so gründlich durchsucht wurde. Kammerjäger, so hatte man mir damals etwas vorgemacht, dass man da irgendwelches Ungeziefer vernichten müsse. Dabei haben diese Leute wohl nur nach irgendwelchen Briefen gesucht."

Frau Meisner stand auf. Langsam schob sie den Stuhl zurück, noch langsamer richtete sich auf. Sie fühlte sich wie zerschlagen. In der Früh, als sie aus dem Spital entlassen worden war, da hatte sie noch so viel Kraft in sich gespürt, jetzt war alles verflossen; nie wieder würde sie richtig zu Kräften kommen. "Warum ich sie aufgehoben habe, kann ich dir nicht sagen, Klaus. Nein, ich weiß es selber nicht." Sie schüttelte energisch den Kopf. "Vielleicht hatte ich einfach nur vergessen, sie fortzuwerfen. Vielleicht aber hob ich sie auf, weil ich es irgendwie nicht wahrhaben wollte, dass..." Sie ließ den Satz unvollendet. Von ihrem Schreibtisch nahm sie einen kleinen Papierstapel, blätterte ihn kurz durch, kam dann mit einem einzigen Papier zurück. "Hier, das wolltest du doch sehen, oder?"

Klaus fiel sofort der bischöfliche Briefkopf auf. Thomas hatte eine Antwort erhalten! Noch vor den Osterferien! Das erklärte wirklich vieles. Was aber schrieb der Bischof?
Nein, das sah er gleich, der Bischof hatte überhaupt nichts geschrieben. Unterzeichnet war der Brief vom Sekretär des Bischofs, welcher in wenigen Worten alle von Thomas erhobenen Anschuldigungen als pubertäre Phantasiegebilde zurückwies und dem der Pädophilie bezichtigten Pater sein vollstes Vertrauen aussprach. Das kurze Schreiben endete mit einer eindringlichen Mahnung an Thomas, derart unausgegorenes Gedankengut nicht weiter in die Welt zu setzen, er andernfalls damit rechnen müsse, das Internat verlassen zu müssen.
Klaus legte den Brief zu den anderen. "Damit war wohl zu rechnen. Ich hätte schon selber etwas unternehmen müssen, und selbst dann wäre ein Erfolg ungewiss gewesen." Er stutzte. Irgendetwas stimmte nicht. Gewiss, der Brief gab nicht viel her, aber...

Leises Schnarchen unterbrach seinen Gedankenfluss. Oma! Die Oma musste ins Bett, und er selber wohl auch. Vorsichtig weckte er die alte Dame und half ihr mit einigen Mühen, in ihr Schlafzimmer im oberen Stockwerk zu gelangen und sie bettfertig zu machen. Dann machte auch er sich auf den Weg nach Hause, denn es war spät geworden und der Tag hatte ihm einiges abverlangt. Ein Weilchen grübelte er noch darüber nach, was es gewesen sein könnte, das ihm aufgefallen war, aber er konnte wirklich keinen klaren Gedanken mehr fassen.

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Regen prasselte heftig gegen das offen stehende Dachfenster und riss Monika aus einem schönen Traum. Sie hatte ihre Hand dort, wo sie nach Meinung vieler nicht hingehörte, all jener Leute, die ein Leben lang ein total verkorkstes Sexualleben mit sich herumführten und den Fehler begangen, ihr eigenes Scheitern unter dem Mäntelchen eines moralisch ´besseren´ Lebens zu verstecken. Nein, diese Leute, die die schlechte Angewohnheit hatten, ihre eigene Moral als die einzig geltende anderen aufzudrängen, diese Leute interessieren Monika herzlich wenig und so gab sie sich genüsslich dem hin, was ihr im Moment am meisten Freude bereitete, der Masturbation. Immer wieder fuhren ihre Finger durch ihre feuchtfröhliche Spalte, immer wieder umkreisten sie ihre Knospe, bis... ja bis sie bibbernd bemerkte, dass die Feuchtigkeit zwar real war, aber leider nicht aus der verschlossenen Region zwischen ihren Beinen stammte, sondern aus dem nicht verschlossenen Dachfenster. Sie sprang auf, beeilte sich, das Fenster zu schließen und nahm dann ihre dünne Sommerdecke vom Bett, breitete sie über zwei Stühle zum Trocknen aus und suchte statt der nassen Decke eine dünne Wolldecke hervor, die sie über sich ausbreitete. Die Luft in ihrem Zimmer war immer noch brütend heiß, Abkühlung hatte die Nacht nicht gebracht, bis jetzt zumindest nicht, aber jetzt grollte tiefer Donner über die Dächer der Stadt und kündigte ein heftiges Sommergewitter an.
Monika sah auf ihre Uhr. Noch nicht einmal vier Uhr. Also noch mindestens drei Stunden, bis sie aufstehen konnte. Und noch wieviele Stunden, bis sie endlich wieder das tun konnte, was sie gerade geträumt hatte?? Ach, es war zum Verzweifeln! Seit Tagen schon spürte sie, wie sich in ihrem Körper etwas Gewitterähnliches zusammenbraute, wie sich die Energie in ihr staute, wie Wasser hinter einem soliden Damm. Nur, dass in ihrem Fall die Staumauer nicht aus Beton bestand, sondern aus solidem Stahlblech. Rostfrei!
Heftiges Klacken gegen ihr Fenster ließ sie zusammenfahren. Hagel? Sie schaltete das Licht an ihrem Bett ein und sah hinauf zum Dachfenster. Ja, Hagel. War denn schon Winter? Aber sie wusste sehr wohl, dass es auch im Sommer immer wieder einmal heftig hageln konnte, dass ein einziger Hagelschlag hunderte von Autos zerdeppern konnte, von den Ernteschäden ganz zu schweigen, was schlimmer war. Denn ohne Brot konnte der Mensch nicht leben.

Sie konnte nicht wieder einschlafen. Immer wieder fiel ihr Claudias Vorschlag ein. Nein, eigentlich ja kein Vorschlag, sondern eher eine leichtfertig hingeworfene Idee. Aber Monika spürte, dass es trotzdem viel mehr war als nur eine Idee, sondern ein ernst zu nehmender Gedanke. Es war etwas, das sie durchaus tun konnte. Eigentlich ja gar kein Problem. Zumindest keines, das man sich nicht selber im Laufe der Zeit zusammengebastelt hatte. Und wenn man selber es erschaffen hatte, musste man es doch eigentlich auch wieder abschaffen können...


Auch Klaus lag wach. Er hatte einen seltsamen Traum gehabt. Er war mit Evelyn unterwegs gewesen, an Bord der Titanic. Sie hatten sich geliebt, nicht in einer alten Motorkutsche, sondern in einem supermodernen Van. Auch die ans Fenster klatschende Hand hatte in seinem Traum nicht gefehlt. Aber es war seine Hand, nicht ihre. Dann hatte er auf einem Divan gelegen, nackt, und sie hatte angefangen, ihn zu zeichnen. Mit geübter Hand den Kohlestift führend, zauberte sie sein Bild auf den Karton. Sie hatte ihm das Bild geschenkt, ein Bild von dem er wusste, dass es wichtig war, und deshalb hatte er es auf den Schreibtisch in seiner Kajüte gelegt. Ein weiteres Mal hatte sie ihn lieben wollen, aber dann hatte es eine heftige Erschütterung gegeben, Evelyns handy hatte einen schrillen Alarmton gegeben, beide waren ins kalte Wasser gesprungen, und dann - er sah es immer noch deutlich vor sich - war Evelyn langsam in die Tiefe geglitten, hatte ihn allein zurückgelassen.
Klaus fuhr sich mit der Hand über die Augen. Es war selten, dass er so lebhaft träumte, oder er konnte sich einfach nur selten an seine Träume erinnern. Jetzt aber spekulierte er darüber, was dieser Traum zu bedeuten hatte. Es war fast so wie im Film, nur andersrum. Er dachte an die Zeichnung. Hatte er sie noch mitgenommen? Wo hatte er sie hingelegt? Sie war wichtig gewesen, er hatte sie auf den Schreibtisch gelegt.

Dann wurde er schlagartig richtig wach. Der Schreibtisch! Na klar! Warum war er denn nicht gleich darauf gekommen? Manchmal sieht man halt den Wald vor lauter Bäumen nicht! Seine Oma hatte den Brief vom Bischöflichen Sekretariat, den Thomas seinerzeit als Antwort auf sein kindliches Beschwerdeschreiben erhalten und dann wohl an seine Großmutter weitergeschickt hatte, von ihrem Schreibtisch genommen. Warum? Weil er wichtig war! Klare Sache. Aber so ganz schlau wurde Klaus aus der Sache immer noch nicht. Wieso konnte ein fast zehn Jahre alter Brief für seine Großmutter wichtig sein, Jahre nachdem er selber das Internat verlassen hatte? Ergab das irgendeinen Sinn? Es musste einen geben, sonst hätte sie ihn nicht dort hingelegt. Wahrscheinlich hatte sie ihn irgendwann einmal aus der Dose, die all die anderen Briefe enthielt, herausgenommen. Oder aber sie hatte ihn nie mit hineingetan. Was ja auch egal war. Entscheidend war, dass dieser Brief irgendeine Brisanz besaß, dessen war er sich sicher. Quod erat demonstrandum!




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  RE: Agonie (Fortsetzung von "Frust") Datum:11.02.13 20:39 IP: gespeichert Moderator melden


Armer Klaus! Wie kommst Du je aus diesem Schlamassel wieder raus? Ich hoffe stark, dass unsere Daniela20 eine Lösung hat.
Euer Maximilian
Alt werden will jeder, alt sein aber keiner
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